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Buchschmuck

Zehntes Kapitel.
Das Christgeschenk.

Die Lücke war groß, die des jungen lebhaften Paares Abreise in den traulichen Familienkreis des Doktor Marssen gerissen hatte, das sollte allen erst nach und nach, nachdem der erste heiße Trennungsschmerz überwunden, recht klar werden. Jedem der Zurückgebliebenen fehlte der eine oder die andere, diesem am Morgen, jenem am Abend am meisten, und die fröhliche Heiterkeit, die Edda über alle auszubreiten verstanden hatte, kehrte nur selten noch in das stille Haus ein, wenn einmal ein Brief über die Alpen kam und das Glück und die Genüsse verkündete, welche das junge Paar in dem schönen Lande der Kunst und in der südlichen Natur fand. Indessen mußte man sich in das Unvermeidliche fügen, und wenigstens die Männer gingen bald daran, sich neue Unterhaltung und ein ergiebiges Feld männlicher Tätigkeit zu verschaffen.

Schon während Franzens Anwesenheit hatte man an dem Plane des neuen Hauses gearbeitet, welches sich der Baron in der Nähe und in einem Teile des Gartens seines Freundes erbauen wollte, und da die Mittel dazu reichlich vorhanden waren, so unterlag das Werk keiner weiteren Schwierigkeit. Der Besitzer der benachbarten Pension hatte sich bereitfinden lassen, einen Teil seines wenig benutzten Obstgartens an den Baron abzutreten, und so wurde die grüne Hecke, die bisher dicht vor dem Atelier gestanden, mit der kleinen Pforte weit hinausgerückt, und Eddas schöner Apfelbaum mit in den Bereich des Besitztums ihres Vaters gezogen. An dem Gartenhäuschen mit dem Atelier änderte man nichts. »Das dürfen wir nicht anrühren,« sagte Doktor Marssen zu Rolf, »denn, das hat der Junge einmal liebgewonnen, und ich verdenke es ihm nicht, da sich zu süße Erinnerungen für ihn daran knüpfen. Will er einmal ein größeres und kostbareres haben, so mag er es sich selbst nach seinem Geschmack bauen. Künstler sind eigensinnig und ihnen tut kein Mensch etwas zu Dank!«

Dafür aber ging man um so emsiger, nachdem ein tüchtiger Baumeister seine Hilfe geliehen, an den Aufbau des neuen Gebäudes, das am Ende des Weingangs in gleicher Richtung mit dem Hause Doktor Marssens seinen Platz fand und die schöne Aussicht nach den Bergen mit ihm teilte. Aber es wurde größer, geräumiger und geschmackvoller gebaut und bestand aus zwei massiven Stockwerken, die nur äußerlich mit zierlicher Holzschnitzerei geschmückt waren und von denen das obere die jungen Leute bewohnen sollten, wenn sie von ihrer Reise zurückgekehrt sein würden. Um bis dahin fertig zu werden, wandte man alle Mittel auf, und abends, wenn Karoline und Miß Rosy mit bei den Männern saßen, wurde besprochen und überlegt, wie man die Zimmer tapezieren und sie ausschmücken, was für Möbel man aus Bern holen wolle und welche Überraschungen man darin dem jungen Paare bereiten könne. Diese Beschäftigung war ebenso angenehm, wie sie über die Zeit forthalf, und da der Herbst gut und trocken und der Anfang des Winters milde war, so gelang es, das Gebäude nebst seinem Nebenschuppen im Rohbau vor Eintritt größerer Kälte unter Dach zu bringen. Sobald der Winterschnee aber geschmolzen und der Frost der ersten Monate des neuen Jahres gewichen war, setzte man den inneren Ausbau rüstig weiter fort, und im Laufe des Sommers gedieh es vollständig, ward im Herbst schon mit kostbaren und bequemen Möbeln versehen und stand endlich mit allem Erforderlichen bereit, die aus der Fremde Heimkehrenden freundlich zu empfangen und ihnen eine trauliche Heimat zu bieten. Da sowohl Rolf Juell Wind die Ausstattung seiner Tochter aus seinen Mitteln durch Miß Rosy besorgen ließ, Karoline aber für Franz nicht damit im Rückstand bleiben wollte, so füllte sich die neue Wohnung mit gar vielen hübschen Dingen an, und Doktor Marssen hatte oft Gelegenheit, mit dem Kopf zu schütteln und sich über die seltsamen Bedürfnisse zu verwundern, die sowohl sein Freund wie seine Schwester den jungen Leuten unterschoben, einzig und allein, um ihre Liebe an den Tag zu legen und ihnen ein so angenehmes Familienhaus wie nur möglich zu gründen.

Mit dem Hause zugleich war auch der große Garten hergestellt, angepflanzt und mit großen frischen Rasenflecken und Blumenbeeten verziert worden; die schönen schattigen Weingänge hatte man nur an den äußeren Rändern und in einigen Lauben gelassen, sonst aber war alles nach Rolfs Angaben und unter Beihilfe eines tüchtigen Gärtners angeordnet, und hier nickte Doktor Marssen fröhlich Beifall, denn diese Neuerung sagte ihm zu und im Sommer sah man ihn oft, die Hände auf den Rücken gelegt und eine Zigarre rauchend, in den breiten, mit feinem Kies bestreuten Wegen auf und ab wandeln und freundlich mit Rolf reden, dessen Geschmack und Verschönerungssinn er anerkennen und loben mußte. –

Eine ganz andere Zerstreuung aber, die mit größerer Gemütsaufregung verbunden war, sollte den beiden Männern und Karolinen während der Abwesenheit der jungen Leute auch von außen her zuteil werden, und fast das ganze Jahr 1864 brachten sie in dieser Beziehung in einer Spannung zu, die sich sehr leicht erklären läßt, wenn man ihr früheres Leben und die Schicksale in Betracht zieht, die sie im Laufe desselben verfolgt hatten. Ganz wie die Wetterpropheten der politischen Zukunft es verkündet und wie sowohl Doktor Marssen wie Baron Juell Wind es geglaubt hatten, geschah es: König Friedrich VII. erließ am 13. November 1863 die lange vorher entworfene und vielfach beratene, aber immer wieder zurückgelegte Verfassung, die das Herzogtum Schleswig in Dänemark für ewige Zeit inkorporieren und die Deutschen darin zu dänischen Untertanen machen solle.

»So,« sagte eines Morgens Baron Juell Wind zu Doktor Marssen, als sie eben die Zeitung empfangen und gelesen hatten, welche die erste Kunde von diesem wichtigen Ereignis brachte, »da haben wir es! Nun also hat das Drama begonnen, um dessentwillen ich so viel Verfolgung und Kummer erlitten und zuletzt einen ruhmlosen Abschied aus dänischen Diensten erhalten habe. Alle meine Vorstellungen und die meiner Gesinnungsgenossen sind also vergeblich gewesen und König Friedrich beginnt zum zweitenmal den Kampf mit dem besten und intelligentesten Teil seines Volkes. Gut, wir werden ja sehen, wie es endet und wer der Stärkste, der Glücklichste in diesem Kampfe ist!«

»Glaubst du denn, daß es zu einem Kampfe kommen wird?« fragte Doktor Marssen mit trauriger Miene.

»Zu einem Kampfe mit Meinungen, in Wort und Schrift gewiß, ob mit dem Schwerte, das bezweifle ich, denn die Deutschen sind zu friedliebend, um sich des kleinen Schleswigs wegen in einen Krieg zu stürzen, und dieses selbst ist zu schwach, um es mit dem bis an die Zähne bewaffneten Inselvolk aufzunehmen.«

Doktor Marssen schüttelte bedenklich den Kopf. »Nimm es mir nicht übel, Rolf,« sagte er, »aber obgleich du eine vernünftige Meinung über Schleswig und Dänemark angenommen hast – so bist und bleibst du doch immer ein Däne und kannst dich von dem ungeheuren und verhängnisvollen Irrtum nicht losmachen, daß die Deutschen allesammt zu friedliebend sind, um sich Schleswigs wegen in einen Krieg zu stürzen. Ja, friedliebend sind die Deutschen, aber gib acht, sie lassen sich diesmal nicht gutwillig die Butter vom Brote nehmen, wenn Friedrich VII. es zu arg treibt und allein seinen fanatischen Räten folgt.«

»Meinst du? Nun, dann irrt man sich in Kopenhagen erst recht, denn gerade auf diese friedliebende oder vielmehr den Krieg nicht liebende Gesinnung rechnet man bestimmt in den dermaligen dänischen Regierungskreisen.« –

Da traf bald nach dieser ersten wichtigen Nachricht die zweite viel wichtigere von dem plötzlichen Tode König Friedrichs VII. ein.

Rolf machte große Augen, als er die erste telegraphische Depesche darüber las und sagte: »Das ist Numero zwei, Leo, und nun wollen wir sehen, ob Christian IX. weiser und standhafter gegen seine Räte als Friedrich VII. ist. Er besinnt sich wenigstens schon, ob er die ihm vorgelegte Verfassung unterschreiben soll, und wenn er meinem Rate folgen wollte, so zerrisse er sie, schleuderte sie seinem Ministerium ins Gesicht, stützte sich auf die Herzogtümer und riefe gegen seine fanatischen Herren Minister und sein rebellisches Schreiervolk in Kopenhagen die großen Mächte zu Hilfe, denen er seine Krone verdankt. Wenn er das tut, wenn England und Rußland ihm ihre Flotten zur Hilfe oder nur zur Drohung nach Kopenhagen schicken, dann ist er geborgen und die Herzogtümer sind und bleiben seine treuesten Lande. Gib acht!«

Am nächsten Tage aber las man schon, daß die Verfassung unterschrieben und erlassen sei. Da wurde der diplomatische Rolf bedenklich und sagte zu seinem Freunde:

»Leo, das ist der dritte wichtige Schritt zum großen dänischen Drama und nun geht der Schwindeltanz mit deinen Landsleuten los. Christian hat einen schwierigen Weg beschritten, wir werden bald erfahren, zu welchem Ziele er führt – ich prophezeie ihm keinen Lorbeerkranz.«

Wenige Wochen später hatten sich die Verhältnisse Dänemarks mit den deutschen Großmächten verwickelt: das Exekutionsheer war in Holstein eingerückt und die Österreicher und Preußen machten sich fertig, Schleswig zu besetzen.

»Da haben wir's!« rief Rolf, als er es las. »Das ist der Anfang vom Ende, diesmal aber vom wirklichen Ende, denn ziehen die Preußen diesmal das Schwert, so machen sie es schärfer als vor fünfzehn Jahren und stecken es so leicht nicht wieder in die Scheide.«

Die beiden Männer wurden jetzt eifrigere Politiker denn je. Mit einer Aufmerksamkeit und Spannung ohnegleichen verfolgten sie jeden Schritt der Alliierten, sie hielten sich alle möglichen Zeitungen und der ganze Morgen und oft noch der Abend wurde mit politischen Gesprächen hingebracht, so daß den beiden Frauen oft angst und bange ward und sie sich vor den kriegführenden Männern flüchteten, als wäre der Feind selbst in ihre friedlichen Mauern gedrungen. Dabei stand Rolf seltsam genug auf Leos Seite; wie dieser wünschte er, daß die Sache endlich zum Abschluß kommen und daß das deutsche Recht über das dänische Unrecht siegen möge, denn die Tatsachen sprechen zu klar, so daß kein vernünftiger Mensch darüber im Unklaren sein konnte, und trotz der englischen Schreierei, aus der ebensoviel Blindheit wie Unwissenheit und Parteilichkeit sprach, sah er ein, daß England nicht gesonnen sei, seinem stillen Freunde und Schützling am Belt beizuspringen, da die englische Regierung wohl wußte, daß das britische Volk im großen und ganzen gegen einen so ungerechten und beispiellos törichten Krieg sei.

Als nun aber der heißblütige, siegesgewisse und im kriegerischen Geiste groß gezogene Prinz Friedrich Karl von Preußen über die Schlei setzte und dadurch die Dannewirke verloren gingen, da sagte Rolf ganz bestimmt das Ende des Dramas voraus und er ward still und las um so eifriger die rasch aufeinander folgenden Siegesberichte der Deutschen.

Auch die starken Befestigungen von Düppel gingen verloren – auch Alsen wurde auf eine unbegreiflich rasche Weise genommen, und als nun Doktor Marssen eines Tages Rolf fragte: »Nun, Rolf, was sagst du jetzt von den friedliebenden Deutschen?« da reichte der Däne ihm die Hand und sagte:

»Ich habe mich geirrt und viele mit mir. Jetzt sage ich dir, wenn Preußen standhaft bleibt und die Feder nicht verdirbt, was das Schwert errungen, dann hat der Danebrog in den Herzogtümern zu wehen für ewige Zeiten aufgehört und Dänemarks Tag der Reue ist gekommen, an dem es beklagen wird, daß es taub, blind und ungerecht gewesen ist, wie selten ein Land. O, wie werden den überklugen Herren da drüben endlich die blöden Augen aufgehen, und was wird der hochheilige fromme Bischof sagen, der mich wie einen Hund aus seinem Reiche gejagt, weil ich ihm beizeiten die Augen öffnen wollte!«

Endlich am 30. Oktober war der Friede zu Wien unterzeichnet und am 13. November in Kopenhagen vom Staatsrat angenommen, und Dänemark mußte mit Zähneknirschen besiegeln, daß es die schönen Herzogtümer für immer verloren habe.

»O mein Gott!« rief Rolf mit tränenden Augen, »wie gerecht, aber auch wie wunderbar streng ist Gott! Sieh, wie bitter die Ironie des Schicksals spielt: an demselben Tage müssen die Dänen sich von den Herzogtümern lossagen, wo sie vor einem Jahre in wilder Verbissenheit beschlossen haben, das edle Schleswig auf ewige Zeiten ihrem Reiche einzuverleiben. Ja, das ist ein seltsamer Zufall – wenn man es so nennen will – aber nein, es ist mehr, es ist Verhängnis – die Vorsehung ist dabei mit im Spiel – wer kann es leugnen? – ich nicht. Ich bedaure Dänemark, aber ich wasche meine Hände in Unschuld, und nun, Leo, gibt es keinen Streitpunkt mehr zwischen uns – Gott hat gerichtet und ich preise seine Weisheit und seinen allmächtigen Willen. Jetzt sind wir quitt, Freund, und wenn noch ein Funken alten Grolls in dir glimmte, daß ich einst dein Feind und Gegner war, jetzt ist er erloschen, ich fühle es an meinem eigenen Herzen, denn es gibt keinen Danebrog mehr, auf den dein Auge mit Wehmut blicken kann. O, daß Dänemark von Deutschland einst besiegt werden und die Herzogtümer verlieren würde, habe ich mir wohl oft gedacht, aber daß es so bald geschehen könnte, habe ich nicht geglaubt. O ja, es muß vieles im Staate Dänemark faul gewesen sein, denn so rasch verscheidet nur ein durch und durch morscher Lebender oder ein Selbstmörder, der die Hand gegen sein eigenes Herz richtet, und das, ja auch das hat Dänemark getan, indem es die Bewohner der Herzogtümer wie verächtliche Stiefkinder behandelte. Da, da hast du immer wieder meine Hand, denn nun kommt die Zeit, wo ein braver Deutscher und ein braver Däne sich die Hand bieten und Freunde sein können, um an dem Wohle ihrer Völker zu arbeiten und das Beste auf ihre Häupter herabzuflehen. Ehre und Preis dem höchsten Wesen in den Wolken, es hat den traurigen Keim jahrhundertlanger Feindschaft ausgerottet und der Friede lächelt über Deutschland und Dänemark. Mag er allen Ländern und Völkern ebenso lächeln – ich habe ihn, Gott sei Dank! kennen gelernt und weiß ihn zu schätzen. Amen!« –

*

Also ein volles Jahr war jetzt verstrichen, seitdem Edda und Franz in Italien weilten, und häufig genug waren Briefe von verschiedenen Orten eingetroffen, wo sie sich gerade längere Zeit aufgehalten hatten. Die ersten kamen vom Comer-See, dann folgten die von Venedig, von Florenz und Neapel, wohin sie sich bald begaben, um zuletzt um so ruhiger die längste Zeit in Rom zuzubringen, wo Franz mit allem Ernst und eisernem Fleiß seinen Studien oblag. Alle diese Briefe strömten von unsäglichem Glück über, einem Glück, welches ihnen nicht allein der Aufenthalt an so schönen, von der Natur und Kunst gleich hochgesegneten Orten verursachte, sondern auch ihr persönliches Zusammenleben bereitete, und wie Franz von seiner Edda mit feuriger Begeisterung sprach, so konnte Edda nicht genug die Güte und Liebe ihres Franz hervorheben, was denn natürlich ihren Angehörigen die größte Genugtuung verschaffte und sie über das Glück ihrer Kinder selber glücklich werden ließ. Allein je länger die jungen Leute im Auslande blieben, umsomehr stellte sich auch bei ihnen wieder die Sehnsucht nach der Heimat und ihren Lieben ein, und sie sprachen in ihren Briefen aus Rom oft mit leidenschaftlicher Wärme von den schönen Schneebergen der Schweiz, dem friedlichen Hause Doktor Marssens, dem stillen Garten mit der gemütlichen Veranda und namentlich von ihrem kleinen Atelier, welches ihnen vor allem ans Herz gewachsen zu sein schien.

Diese Sehnsucht nach der Vereinigung der ganzen Familie war aber nicht nur bei den Reisenden zu finden, auch bei den Zurückgebliebenen kehrte sie nach und nach mit stärkerer Gewalt ein. Die Männer ließen freilich im Hause nur wenig ihre Wünsche laut werden, um Karolinen nicht noch mehr zu wehmütigen Herzensergießungen zu stacheln, um so lebhafter aber sprachen sie von ihren Kindern, wenn sie allein waren oder sich in den Bergen aufhielten, und dem Doktor wie dem Baron wurde die Zeit entsetzlich lang, bis sie die lieben Gesichter wiedersahen.

Was Karoline nun selbst betrifft, so trug diese ihre Sehnsucht bis zum Herbst des folgenden Jahres ziemlich still in sich herum und nur Miß Rosy bekam wiederholt ihre Klagen zu hören: daß es schrecklich sei, sich von seinen Lieben so lange trennen zu müssen, wenn für diese Trennung doch eigentlich keine Notwendigkeit vorliege. Als der Sommer aber geschwunden war, die Berge sich mit tiefen Schneelagen bedeckten und die Abende lang und immer länger wurden, da riß der armen Tante fast die Geduld und sie gab sich oft ihren lauten Klagen selbst in Gegenwart der Männer hin. Stundenlang stand oder saß sie jetzt vor dem Bilde Eddas, welches diese als Reiterin im Hochlande darstellte und nun wirklich bis zur Heimkehr derselben in ihrem Zimmer hing, und sinnend weilten ihre treuen Augen auf der lieben Gestalt, die sie noch immer nicht wieder an ihr sehnsuchtsvolles Herz drücken konnte. Auch den Baron, der seit dem Oktober vorigen Jahres mit Rosy bei Doktor Marssen wohnte und auf des letzteren Vorschlag das neue Haus erst beziehen wollte, wenn die Kinder gekommen wären, auch ihn sah man oft und lange das liebliche Gesicht seiner Tochter betrachten, denn Franz hatte das fertige Porträt Eddas dem Vater einstweilen überliefert, damit er doch wenigstens die Züge seines einzigen Kindes während seiner Abwesenheit vor sich habe.

Als nun aber im November des Jahres 1864 die Briefe aus Rom plötzlich ausblieben und keine Kunde kam, warum die jungen, schreibseligen Leute schwiegen, da stieg in der Heimat die Sehnsucht nach ihnen zu einer noch nie dagewesenen Höhe und zuletzt war die Hoffnung auf die Rückkehr derselben das allgemeine Tagesgespräch geworden, nachdem die politischen Unterhaltungen allmählich verstummt waren.

Eines Abends, als die Männer einen tüchtigen Ritt gemacht und nun mit Behagen in dem warmen Versammlungszimmer bei Karolinen saßen, sagte der Baron mit etwas mürrischer Miene:

»Nun aber wird mir die Zeit doch wirklich beinahe zu lang, bis ich meine Edda und Franz wiedersehe. Jetzt könnten sie wahrhaftig bald kommen, denn Franz kann doch nicht ewig studieren und muß doch endlich einmal mit seinen Vorbereitungen zu künftigen Unternehmungen abschließen.«

Doktor Marssen lächelte in sich hinein, denn Rolf hatte soeben seine eigenen Gedanken ausgesprochen; um aber das Verlangen desselben nicht noch mehr zu schüren, sagte er mit erkünstelter Ruhe: »Nein, ewig wird er nicht studieren, und das braucht er auch nicht, aber wir dürfen ihm durchaus keine Schranken in der Benutzung seiner Zeit setzen, er könnte uns später darüber Verwürfe machen, daß wir seinen notwendigen Entwicklungsgang durch voreilige Hast unterbrochen haben.«

»Nun ja, da hast du wohl recht,« erwiderte Rolf, »aber Rom liegt ja nicht am Ende der Welt, er kann ja immer wieder hin, wenn es sein muß, aber vor der Hand könnte er doch wenigstens einmal zum Besuch herkommen. Jetzt, wo mein Herz rein gewaschen ist von allen politischen Plagen und Ängsten und mein Auge klar in die Zukunft schaut, möchte ich meine Kinder um mich haben, denn ich weiß nun, was die Sehnsucht nach ihnen ist.« –

Aber eine Woche verging nach der andern und weder die Kinder kamen, noch trafen Briefe ein, und schon wollte in Karolinen ein kleiner Sturm von Sorge ausbrechen, als eines Tages, da die Männer gerade nicht zu Hause waren, in der Mitte des Dezember ein Brief an Miß Rosy anlangte, dessen Poststempel allerdings »Rom« lautete, dessen Adresse aber von fremder Hand geschrieben war.

»Machen Sie ihn auf, machen Sie ihn schnell auf,« rief Karoline, vor Aufregung zitternd, »damit wir sehen, was er enthält. Mein Gott, es wird doch kein Unglück passiert sein!«

»Beruhigen Sie sich, meine liebe Karoline,« entgegnete die gefaßtere Engländerin, »ich muß ihn doch erst lesen und – und – so viel ich sehe,« fügte sie schon während des Lesens lächelnd hinzu, »ist kein Unglück geschehen.«

»Was steht darin? O bitte, sagen Sie es mir.«

Aber Miß Rosy schwieg hartnäckig. Der Brief war von Edda und verkündete wie alle früheren das reinste Glück; die Adresse jedoch hatte sie von einer fremden Hand schreiben lassen, damit niemand zu Hause sähe, daß er von ihr komme. Sie meldete der alten Freundin am Schluß, daß ihre Rückkehr nach der Heimat festgesetzt sei, und daß sie beabsichtigten, bestimmt im Laufe des Tages vor Weihnachten einzutreffen. Niemand im Hause aber solle etwas davon erfahren, Franz wolle die Seinigen mit ihr überraschen, um die Festfreude zu einer nie dagewesenen zu erhöhen.

Während Miß Rosy diese Zeilen las und Karoline mit angstvoller Spannung an ihrer Miene hing, erheiterte sich diese plötzlich, ihr Herz schlug hoch auf vor Freude, und als sie da das sorgenvolle Antlitz der guten Tante gewahrte, konnte sie nicht umhin, ihr den Inhalt des Briefes mitzuteilen, um sie von aller Sorge zu befreien.

»Liebe Karoline,« sagte sie, »ich will Eddas Bitten diesmal nicht erfüllen. Ich soll nämlich auch gegen Sie schweigen, allein ich weiß aus Erfahrung, daß die Vorfreude die süßeste ist, und so sage ich Ihnen: Edda und Franz kommen zu Weihnachten, aber niemand soll es wissen und da – da lesen Sie selbst den reizenden Brief.«

Karoline war außer sich vor Glück; es war fast zu groß, um es in ihrem Herzen allein bewahren zu können, allein da sie eine Vertraute an Rosy besaß, so ertrug sie es. »Miß Rosy, liebe Rosy,« rief sie, »das ist ein köstlicher Gedanke von den Kindern. Aber nun wollen wir still sein und unser Wissen niemandem verraten. Die Männer sollen und dürfen keine Ahnung davon haben, sie müssen durchaus überrascht werden; wir aber wollen insgeheim alle Vorkehrungen zu ihrem Empfange treffen und überlegen, wie wir es anfangen, daß wir allein im Hause sind, wenn die lieben Kinder kommen.«

Wenn die Männer nun etwas aufmerksamer auf Tante Karolinens Tun und Treiben gewesen wären und ihre innere freudige Hast schärfer ins Auge gefaßt hätten, so hätten sie leicht hinter das ihnen verborgene Geheimnis kommen können. Allein sie glaubten, diese Unruhe entspringe nur aus ihren vielfachen Besorgungen für das bevorstehende Fest, und ihre Einkäufe, die Anschaffung der Geschenke für alle zum Hause Gehörigen versetzten sie in eine so rastlose Tätigkeit. Mit Miß Rosy war sie jetzt vom Morgen bis Abend in und außer dem Hause beschäftigt; einen großen Teil des Tages brachte sie mit ihr in dem neuen Hause zu, wo sie alles aufs beste ordnete und nachsah, daß auch nicht ein Nagel fehlte, der den jungen Leuten irgend notwendig sein könnte. Schon eine Woche lang vor dem Fest ließ sie alle Räume darin heizen, überzog die Betten selbst und legte jede Kleinigkeit dergestalt zurecht, daß die Reisenden, wären sie plötzlich gekommen, alles zur Hand gefunden hätten, wie sie es von jeher gewohnt waren. Auch für die beiden Mägde hatten sie schon im stillen gesorgt, und diese waren beauftragt, sich am Morgen des heiligen Abends schon um sieben Uhr einzufinden, um auf Erfordern sogleich der neuen Herrschaft ihre Dienste widmen zu können. Auch die Vorratskammern waren gefüllt, der Weinkeller versorgt und alles und jedes in der neuen Wirtschaft in einem Zustande, wie eine junge Hausfrau ihn sich nur wünschen kann.

So kam endlich der Morgen des heiligen Abends heran und Karoline begrüßte ihn mit einem fast feierlichen Antlitz. Schon im Bette hatte sie im voraus dem lieben Gott für die glückliche Rückkehr der Geliebten gedankt und ihn um Erfüllung aller ihrer geheimen Wünsche gebeten. Sobald sie aber unter ihre Hausgenossen trat, beherrschte sie sich und sagte, als man gemeinsam Kaffee trank:

»Nun, Rolf und Leo, muß ich an Euch eine Bitte richten. Wie Ihr wißt, habe ich mir es nie nehmen lassen, meinen Lieben einen Weihnachtsbaum auszuputzen und ganz im stillen meine Anordnungen dazu zu treffen. Das will ich auch heute tun und Ihr dürft mich darin nicht stören. Wollt Ihr mir nun einen Gefallen tun, so geht Ihr heute den ganzen Tag aus dem Hause und kehrt erst abends Punkt sechs Uhr dahin zurück. Nun sprecht, wollt Ihr das?«

»Aber mein Gott,« rief Doktor Marssen mit erkünsteltem Zorn, »begreifst du diese Tyrannei, Rolf? Sie jetzt uns förmlich auf die Straße und verschließt uns das Haus. Wo sollen wir uns denn so lange umhertreiben? Sollen wir etwa ins Wirtshaus gehen, was ich seit meinen Studentenjahren nicht getan habe?«

Rolf lächelte und gab ihm mit der Hand einen beschwichtigenden Wink. Karoline aber ließ ihn nicht zu Worte kommen und fuhr mit energischer Miene und wachsendem Eifer fort: »Wo Ihr Euch umhertreiben wollt, ist mir ganz einerlei: fort müßt Ihr und zwar bald, ich dulde Euch diesmal nicht länger hier. Eure bärbeißigen Gesichter und Aufpasseraugen sind mir überall im Wege.«

»Komm,« sagte nun Rolf, »tu ihr den Willen, wir sind ja doch ihre gehorsamen Sklaven.«

»Nein, das sind wir nicht, Rolf, und ich begreife deine heutige Lammmütigkeit nicht.«

Miß Rosy trat an den Doktor heran, strich ihm sanft über das üppige Haar und sagte: »Nehmen Sie doch nicht mit Gewalt die Miene eines Wolfes an, Herr Doktor. Seitdem ich Sie kenne, weiß ich, daß Sie das sanftmütigste Lamm von der Welt sind, ob Sie nun poltern oder nicht.«

»Rolf!« rief Leo und sprang von seinem Stuhl auf, »laß uns ausziehen, jetzt ist es wirklich Zeit dazu. Die Schottin ist mit ihr im Bunde und zwei Frauen gegen zwei Männer, das ist eine zu starke Macht. Was meinst du – das Wetter ist günstig – wollen wir einen Ritt nach Lauterbrunnen machen und den guten Pfarrer besuchen? Das ist eine hübsche Partie im Winter, und wir werden mehr Freude unterwegs als in diesem Hause haben, wo es jetzt nur nach Honigkuchen und Wachs riecht. Und wenn uns der Pfarrer zum Abend einladet, bleiben wir bei ihm und kommen erst morgen wieder.«

»Das ist einmal ein vernünftiges Wort!« rief Karoline triumphierend. »Ja, geht nur, und daß Ihr heute abend Punkt sechs Uhr wieder da seid, darauf gehe ich die größte Wette ein.«

Die beiden Männer sahen sich an und lachten laut. Dann aber schüttelten sie den Frauen die Hände und kleideten sich warm an, während Jürgen den Rappen und Schimmel sattelte, auf denen sie gegen zehn Uhr fortritten und wirklich den Weg nach Lauterbrunnen einschlugen.

Es war ein köstlicher Wintertag, und das Thermometer zeigte nur einen Grad Kälte an. Der Boden war leicht gefroren, aber der Schnee hatte sich bisher bloß auf die Höhen herab gelassen, die fast bis auf den Fuß hinunter häuserhoch damit bedeckt waren und rings um das Bödeli ungeheure blitzende Felder zeigten. Noch lag ein leichter Nebel über der Erde, darüber in der Höhe aber funkelte dann und wann schon ein Sonnenstrahl durch und es war zu erwarten, daß der Mittag vollkommen klar und rein sein und einen ätherblauen Himmel zeigen werde. Alle Bäume und Sträucher aber waren in einen flimmernden Reifmantel gehüllt, ebenso das Gras der Wiesen und Gärten und in der ganzen Natur herrschte eine feierliche Stille, die zum Herzen sprach und es festlich stimmte, wie es so schön zum Vorabend eines so herrlichen Festes sich eignet.

»So,« sagte Karoline zu Miß Rosy, als die Männer abgeritten waren, »Gott sei Dank, nun sind sie fort und wir können wirtschaften wie wir wollen. Jetzt, Rosy, müssen wir uns beeilen, denn die Kinder können jeden Augenblick anlangen und darum muß alles rasch getan sein. Also zuerst in den großen Saal und alle Geschenke an Ort und Stelle gelegt, dann, wenn wir damit fertig sind, gehen wir noch einmal in das neue Haus und sehen, ob alles in Ordnung ist.«

Wie Karoline es sagte, so geschah es. Alle Augenblicke nach dem Fenster springend, und auf jeden in der Ferne rollenden Wagen horchend, war sie doch emsig wie eine Biene, und in zwei Stunden stand alles im Festsaale bereit und es brauchten nur die Lichter am Baum und die übrigen Kerzen angezündet zu werden, um alles vollendet erscheinen zu lassen.

»Und doch fehlt noch etwas!« sagte Miß Rosy, als sie den letzten Blick über das Zimmer schweifen ließ.

»Na, da bin ich neugierig: wie kann ich denn etwas vergessen haben?«

»Der Tisch fehlt, auf welchen die Männer ihre Geschenke legen können, denn Sie werden doch auch welche besorgt haben.«

»O mein Gott, ja, da haben Sie recht. Und sie haben tüchtig eingekauft, ich weiß es; da drüben in Rolfs Stube, in die er niemand seit drei Tagen kommen läßt, liegt alles geordnet und eingewickelt bereit.«

»Woher wissen Sie denn das?«

»Still, still, wer spricht davon? Ich habe durch das Schlüsselloch gesehen, das wird einem doch erlaubt sein? Aber jetzt kommen Sie nach dem neuen Hause. Das soll das letzte sein und dann können wir die Augen aufmachen und nach dem Wagen ausschauen, der uns das Hauptgeschenk bringt.«

Die beiden Frauen hüllten sich in warme Mäntel und traten den kurzen Weg durch den Garten nach dem schönen neuen Hause an. Die Tür war verschlossen, so hatte es Tante Karoline angeordnet, aber sie öffnete sich von innen, sobald die Frauen sichtbar wurden. Die beiden neuen Mägde waren schon am frühen Morgen unter ihrer Leitung eingezogen und harrten aufmerksam der Dinge, die da kommen sollten.

»So,« sagte Karoline zu ihnen, als sie mit Miß Rosy durch die Tür schlüpfte und wieder hinter sich zuschließen ließ, »da sind wir. Ist alles in Ordnung, Kinder?«

»Ja, Fräulein, ja, und die Zimmer sind schon alle warm.«

»Das ist gut, das ist gut. Kommen Sie, liebe Rosy.»

Beide schritten nun durch das ganze Haus, dessen Flur und Treppen sogar mit weichen Teppichen belegt waren, und besuchten alle seine wohnlichen und geschmackvoll ausgestatteten Räume. Alle waren angenehm durchwärmt und Karoline brachte feines Räucherwerk mit, das sie selbst anzündete und davon den Mägden noch gab, damit diese es später wiederholen könnten. Im Schlafzimmer der jungen Leute hielt sie sich am längsten auf und untersuchte jedes einzelne. »Ihr Mädchen,« sagte sie hier zu den beiden Dienerinnen, »auf dieses Zimmer verwendet die meiste Aufmerksamkeit, denn hier hinein tritt die junge Herrschaft heute abend zuerst; so lange, bis sie zu Bett gehen, bleiben sie drüben bei uns. Gegen abend wärmt Ihr die Betten – wo die Wärmflaschen stehen, wißt Ihr, und die Lampen müssen brennen, sobald es dunkel wird, versteht Ihr mich?«

Die Mädchen knixten und sagten wiederholt: »Ja, wir verstehen Sie und es soll alles zu Ihrer Zufriedenheit ausgeführt werden.«

»Gut, und um ein Uhr kommt zum Essen in das alte Haus, und am Abend, wenn der Baum brennt, werde ich Euch rufen lassen. So, liebe Rosy, nun können wir wieder gehen. Hier ist nichts mehr zu ordnen und nun wollen wir uns auf die Lauer legen. Kommen Sie, Rosy, o mein Gott, da schlägt es schon halb eins, wo ist heute nur die Zeit geblieben!« –

Die beiden Frauen kehrten in das alte Haus zurück und legten sich nun wirklich auf die Lauer, aber sie sollten lange vergeblich warten. Der Mittag ging vorüber und sie mußten ihr Mahl, das für vier Personen eingerichtet war, allein verzehren. Bis zwei Uhr hielt Karoline ihre Unruhe im Zaum, als die Reisenden aber auch da nicht kamen, wurde sie ungeduldig, lief hin und her und war fast gar nicht mehr vom Fenster fortzubringen.

»Wenn sie nun gar nicht kämen, oder erst nach sechs Uhr und die Männer schon wieder zurück wären, Rosy, dann wäre unsere ganze Freude umsonst gewesen, wie?«

»Das hoffe ich nicht, liebe Karolinen; vielmehr glaube ich, daß Frau Edda und Herr Marssen sich schon so einrichten werden, daß sie nachmittag zur rechten Zeit hier eintreffen.«

»Gebe es Gott! Zeigen Sie noch einmal Ihren Brief her!«

Diesen Brief trug Rosy immer in der Tasche bei sich, denn er wurde täglich wohl zehnmal in Anspruch genommen. Karoline las ihn auch jetzt wieder und sagte: »Ja, hier steht es ganz deutlich: wir treffen bestimmt nachmittags am vierundzwanzigsten Dezember bei Euch ein, es müßte uns denn der liebe Gott einen Stein in den Weg legen. – Ach, wenn er das nur nicht tut,« fügte sie seufzend hinzu, »es wäre zu schrecklich!«

»Ich fürchte es nicht, liebe Karoline, die jungen Herrschaften sind beide pünktlich, und der liebe Gott wird gewiß ein Einsehen haben!« –

Es wurde drei, dann vier, und die so sehnlich Erwarteten kamen nicht. Karoline wurde bald blaß, bald rot, und kaum konnte sie ihre Unruhe bemeistern. Endlich um ein Viertel vor fünf Uhr hörten sie Schellengeläut in der Ferne von rasch herantreibenden Pferden.

»Da sind sie!« rief Karoline, wie elektrisiert aufspringend und vor das Haus laufend. Und in der Tat, sie waren es. Ein vorn und hinten hoch bepackter Reisewagen, von vier schnellen Pferden gezogen, kam von der Brüningstraße daher, und wenige Minuten später hielt Tante Karoline Edda und Franz in den Armen, die, in Pelzen wohl verwahrt, so frisch, gesund und glücklich aussahen, wie damals, als sie abgereist waren.

O, welche Freude, welches Jauchzen gab es da von allen Seiten! Wieviel Küsse wurden ausgetauscht, wieviel Fragen gestellt! Aber nun ging Tante Karolinens Sorge los, um die gewiß halb Erstarrten zu erwärmen, zu erquicken und es ihnen in ihrem behaglichen Zimmer bequem zu machen. Vergebens versicherten die beiden jungen Leute, daß sie gar nicht von der Kälte gelitten hätten, daß sie erst vor einigen Stunden zu Mittag gespeist, sie mußten trotzdem essen und trinken, und heißgehaltene Kissen wurden Edda unter die Füße gebreitet, die sich endlich alles mit lachenden Augen gefallen ließ und nur immer wieder Karolinen die Hände drückte und sie küßte.

Da kam Jürgen, der auch schon draußen begrüßt war, mit frohem Gesicht ins Zimmer und fragte, wohin er die vielen Koffer und Kisten bringen solle?

»Alle ins neue Haus, Jürgen!« rief Karoline. »Die Mädchen werden sie in Empfang nehmen und an Ort und Stelle bringen; ich habe für alles gesorgt!«

»Ist das neue Haus fertig?« fragte Franz mit glänzenden Augen.

»Alles, alles fertig, mein Junge! – O mein Gott, wie groß ist das Glück, Euch wieder hier zu haben! – Aber Ihr werdet es erst heute abend sehen, wenn Ihr zu Bette gehet, so lange bleibt Ihr bei uns.«

»Aber wir müssen Euch doch unsere Geschenke aufbauen, liebe Tante,« rief Edda, »denn wir haben Euch viel, recht viel mitgebracht!«

»Das kann ich mir denken, aber heute ist keine Rede davon, heute bauen wir Euch auf, und morgen Ihr uns, morgen sind wir den ganzen Tag bei Euch!«

Und nun erfuhren die jungen Leute den von Tante Karoline und Miß Rosy ausgesonnenen Plan und wie die Väter überrascht werden sollten, da sie noch nicht wüßten, daß die Kinder heute kämen. »Sobald Jürgen,« sagte Karoline halb atemlos, denn sie konnte noch gar nicht zu sich kommen, »uns die Meldung bringt, daß sie in der Nähe sind – ich schicke ihn bei Zeiten auf die Lauer – so beginnt mein Fest. Die Männer dürfen nicht ahnen, daß Ihr hier seid und werden in ihre Zimmer gesperrt. Ihr versteckt Euch dort hinter die Portiere, und ich zünde die Lichter an. Wenn sie brennen, holt Rosy die Herren, und dann haltet Euch still hinter dem Vorhang, bis ich das Zeichen gebe.«

»O mein Gott,« rief die von Freude und Glück strahlende Edda, »das ist köstlich, Franz. Dann kann ich dich so recht heimlich hinter der Decke küssen, und kein Mensch sieht es.«

»Oho!« rief Karoline, »ich will nicht hoffen, daß wir das niemals zu sehen bekommen!«

»Aber die Männer lieben es nicht zu sehen, liebe Tante.«

»Was gehen Euch die Männer an – denkt nur an mich und Rosy, wir sehen es immer gern.« –

Der Abend brach mit seiner Dämmerung herein, die Lampen wurden angezündet und die Jalousien vor die Fenster gezogen, damit nicht irgend etwa ein heimlicher Lauscher die von der Reise Gekommenen erspähe. Endlich ging es gegen sechs Uhr.

»Jetzt werden sie bald kommen; ich wette, sie sind pünktlich!« sagte Karoline, vor Unruhe hin- und hertrippelnd.

Sie hatte recht. Punkt sechs Uhr kam Jürgen ins Zimmer gestürzt und meldete, daß er die beiden Herren in der Ferne wahrgenommen habe und daß sie gleich am Hause sein würden.

»Führe sie in ihre Zimmer!« rief Karoline dem herbeigerufenen Diener des Barons zu, »aber kein Mensch verrät mit einem Wort, daß die jungen Herrschaften angekommen sind!«

Da hielten die Reiter schon vor der Tür, und als sie abgestiegen und in den Flur getreten waren, hörten die in dem verschlossenen Saal Sitzenden die kräftige Stimme des Doktor Marssen zuerst, der laut sagte: »Guten Abend, Kinder, sind Briefe angekommen?«

»Nein, Herr Doktor,« erwiderte die mit einem Licht auf dem Flur stehende Resi. »Briefe sind nicht angekommen. Aber Fräulein Karoline läßt Sie und den Herrn Baron bitten, auf Ihren Zimmern zu bleiben, bis Sie gerufen werden.«

»Nun, das versteht sich von selber – wir müssen es uns erst bequem machen!« –

»Sie sind herein!« sagte Tante Karoline leise zu Edda und Franz, die vor Freude einen ganz kurzen Atem hatten. »Nun geht es bald los. Geduld! Sie haben keine Ahnung von dem, was ihnen bevorsteht. O mein Gott, mein Gott, wie mir das Herz vor Freude schlägt!«

Mit zitternden Händen und von Edda, Franz und Rosy unterstützt, zündete sie jetzt alle Kerzen und Lichter auf dem buntgeschmückten Tannenbaum an, und dann mußten sich die jungen Leute hinter ihre Portiere flüchten; denn schon hörte man die Männer auf dem Flur herankommen, die die Zeit nicht erwarten konnten, den Baum brennen zu sehen.

Da öffneten ihnen Karoline, die mit allem fertig war, die Tür. »Herein, herein, Ihr Männer, und ich grüße Euch! – Seid Ihr tüchtig durchgefroren?«

»Gewiß, und daran bist du schuld, Karoline,« antwortete der Doktor. »Guten Abend. Aber zum Teufel, es sind also noch keine Briefe aus Rom angekommen? Das ist arg!«

»Leo, Leo!« zürnte Karoline, »wer spricht vom Teufel, wo Gott eine Freude beschert! So, da habt Ihr meine Festbescherung, da brennt der Baum für Euch beide, und da hat Rolf, da hast du deine Geschenke. So.«

Die beiden Männer, die mit Paketen beladen waren, während hinter ihnen Rolfs Diener auch noch einen schweren Ballen trug, traten zögernd ins Zimmer und schauten sich wie geblendet darin um. Dann aber breiteten sie rasch ihre Geschenke auf den leeren Tisch aus, und endlich traten sie vor den Baum und nahmen ringsherum, wie neugierige Kinder, die reichen Gaben in Augenschein, die ihnen die schwesterliche Liebe beschert hatte.

»Das ist immer hübsch, Rolf,« sagte Doktor Marssen mit ernst feierlicher Stimme, »und man bleibt doch das ganze Leben hindurch ein Kind. Nun, das ist freilich das beste, was man sein kann. Karoline, wir danken dir für deine Liebe, und an jenem Tisch dort suchen wir sie zu vergelten. Aber am liebsten wäre es uns gewesen, wenn du uns einen Brief aus Rom mit aufgebaut hättest.«

»Wie? Das wäre Euch das Liebste gewesen? Noch lieber also als die Kinder selber?«

»Das ist eine seltsame Frage, Karoline – wie verstehst du das, Rolf? Klingt es nicht, als ob sie uns die Kinder selbst mit aufgebaut hätte?«

Rolf Juell Wind war stumm, sein Herz sprach lauter als sein Mund es vermochte. Er sah sich nur still im Kreise um und seufzte vor sich hin. »Ach ja,« sagte er endlich, »die Kinder wären mir noch lieber gewesen als ihre Briefe, aber es sollte einmal nicht sein.« –

Da konnte sich Karoline nicht länger halten. Sprechen konnte sie nicht mehr, aber handeln. Und so sprang sie nach dem Vorhang hin, riß ihn auseinander, und mit lautem Jubelgeschrei sprangen nun Edda und Franz hervor und stürzten sich in die Arme der vollständig überraschten und kaum ihren Augen trauenden Väter.

Es dauerte lange, bis diese sich von ihrem Schreck erholt hatten, und selbst der starke Doktor Marssen atmete vor Aufregung laut. »Ja,« sagte er feierlich, »das ist eine wirkliche Weihnachtsfreude, und ich danke Euch allen, die Ihr dazu beigetragen habt, sie uns zu bereiten. Die Kinder sind unsern Herzen das Liebste, Nächste, Teuerste auf der Welt, und Gott war so gnädig, sie uns gesund und glücklich wiederzugeben. Ich danke dir, mein Gott, daß du mir das erleben ließest!«

Da näherte sich Franz leise dem Vater und, ihn mit seinen Armen umfassend, flüsterte er ihm einige Worte in das Ohr.

»Ich bringe Euch noch mehr mit als Ihr denkt!« lauteten diese Worte.

»Wie?« rief Doktor Marssen laut und warf einen freudigen Blick nach Edda hinüber. »Junge, ist es wahr, was du mich erraten lässest?«

Franz nickte mit dem Kopf und rieb sich die Hände vor innerem Glück.

»Edda!« rief Doktor Marssen. »Komm einmal her, mein Kind!« Und als sie nun vor ihm stand und ihn mit überströmenden Augen und glühenden Wangen ansah, da schloß er sie sanft in die Arme, legte seine Hand auf ihr schönes Haupt und sagte ernst und gerührt: »Gott segne dich und uns mir dir!«

Da trat Rolf Juell Wind heran und vernahm, was Doktor Marssen verheißen war, und auch er schloß seine Tochter in die Arme und küßte sie voll Rührung und Zärtlichkeit.

Als nun aber auch Karoline endlich hörte, was die Männer so maßlos glücklich machte und feierlich stimmte, begann sie vor Freude zu schluchzen, und lange Zeit dauerte es, bis man sie wieder beruhigen konnte und alles wieder in das alte stille Gleise wirklicher Weihnachtsfreude kam.

Ein Festmahl aber, wie das, welches nun folgte, war noch nie in Doktor Marssens Hause genossen worden. Das reinste Glück und die köstlichste Freude strahlte auf allen Gesichtern, sprach von allen Lippen, klopfte in allen Herzen, und die Tochter des Diplomaten war heute der helleuchtende Punkt des häuslichen Festes, und aller Augen hingen an ihren schönen, lebensvollen Zügen, und oft wurde das Wort von allen Lippen laut:

»Gott segne sie und uns mit ihr!«

 

Ende.

 


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