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Buchschmuck

Neuntes Kapitel.
Die Erben.

Die so plötzlich in einen wahren Glücksrausch versetzte Familie war erst am Nachmittag des nächsten Tages mit dem Dampfboot nach Interlaken zurückgekehrt, denn die beiden Liebenden, deren Herzen sich am Gießbach endlich geöffnet, konnten sich von dem zauberischen Ort nicht so rasch trennen und wollten ihn ordentlich genießen, womit die Väter denn auch einverstanden waren. Karoline, obwohl sie vor Ungeduld brannte, nach Hause zu kommen, wagte doch nicht, gegen den Wunsch Eddas und ihres Neffen Einspruch zu tun, und so harrte auch sie mit den übrigen aus, indem sie ihre eigenen Wünsche, wie schon so oft, denen anderer zum Opfer brachte. Endlich aber war die Stunde der Abfahrt gekommen und man langte viel heiterer und glücklicher zu Hause an, als man davon weggegangen war. Aber wie sah da in den Augen sämtlicher Familienglieder alles anders in Interlaken aus! War das dieselbe kleine, stille Heimat, die noch vor kurzem so viel Leid, Unruhe und bange Erwartung in sich eingeschlossen? O, hatte denn der Himmel immer so blau und klar über ihr gelächelt, waren die Bäume immer mit so goldenen Früchten behangen gewesen? Hatte sich denn das einfache Landhaus Doktor Marssens nicht unterdes zu einem stattlichen großen Palast umgewandelt und war der ganze Besitz, den er sein nannte, nicht in aller Augen ein viel größerer und kostbarerer geworden? Ach, es hatte sich freilich nichts während ihrer Abwesenheit daran verändert, kein Zauberer hatte gewaltet, aber sie selbst brachten die Zufriedenheit, die Hoffnung, also das Glück in ihrer Brust mit heim, und in ihnen allein liegt die zauberische Kraft und Gewalt, die alles um uns her auf Erden, selbst das Kleinste und Unbedeutendste, groß, schön und erhaben erscheinen läßt.

Karoline teilte nun den einzelnen Personen noch einmal ihren Wunsch mit, sich am Abend nach dem Essen, welches gemeinschaftlich im Hause verzehrt werden sollte, in ihrem Zimmer einzufinden; nur Miß Rosy, die ein Familiengeheimnis ahnte, wie sie aus einzelnen Andeutungen Karolinens entnommen, bat, für diesmal nach Hause gehen zu dürfen, da sie den späteren Abend benutzen wolle, um notwendige für die Heimat bestimmte Briefe zu schreiben. So hielt sie sich auch jetzt nicht lange auf und begleitete den Baron nach der Pension, der ebenfalls noch bis zum Abend etwas zu tun zu haben vorgab, in Wahrheit aber allein sein wollte, um sich durch stilles Nachdenken mit der abermaligen neuen Lage vertraut zu machen, die alle Verhältnisse, in denen er sich bisher bewegt, völlig umzugestalten geeignet war.

Edda aber bat Franz, sobald sie zu Hause angekommen, sie in sein Atelier zu führen, nach welchem sie vor allem übrigen eine große Sehnsucht habe. Franz willfahrte ihr gern und so eilte sie an seinem Arm durch den Weingang und konnte kaum die Zeit erwarten, bis er die Tür aufgeschlossen, mit ihr eingetreten war und die vor den Fenstern herabgelassenen Vorhänge aufgezogen hatte, wo nun das reine Licht des schönen Nachmittags voll in das Zimmer strömte und den behaglichen Raum freundlich beleuchtete.

Während Franz das Zimmer lüftete, legte Edda Hut, Tuch und Handschuhe auf das Sofa, und nachdem sie sich die Haare vor dem kleinen Spiegel geglättet, sah sie sich mit blitzenden Augen nach allen Seiten um. »Franz, Franz!« rief sie da, ihn zärtlich mit den Armen umschlingend, »ist es denn wirklich wahr? Kann ich mich hier wie in meinem eigenen Besitztum umblicken und alles, alles als das meine begrüßen?«

»Ja,« erwiderte Franz, glückselig lächelnd, »das kannst du, meine Edda. Was hier geschaffen ist und noch geschaffen wird, das alles ist dein, wie ich selbst es bin!«

»O mein Gott, Franz, wie glücklich machst du mich damit, und es ist ein wunderbares Gefühl, das mich mit einem Male durchströmt! Ein ganz neuer Stolz ist in meiner Brust erwacht und er schaut allein auf dich, auf dich, dessen schönes Talent ja nun auch mein Eigentum geworden ist.«

»Wenn dich mein kleines Talent stolz macht, Edda,« sagte Franz bescheiden und still, wie er seiner Natur nach nicht anders sein konnte, »so sei es immerhin –«

»Das bin ich, das bin ich, und dankbar zugleich, denn dein Talent bringt dir ein schönes Stück Geld ein und wir können nun anständig und ganz nach Wunsch davon leben, nicht wahr?«

Franz lächelte herzlich. »Das will ich hoffen,« sagte er, »denn mein Talent ist ja mein ganzes Vermögen und weiter habe ich nichts.«

»Nichts? Ist denn das nicht genug? Ich dächte, wir beide könnten damit zufrieden sein.«

»Ich bin es gewiß, wenn du so anspruchslos bist, wie ich –«

»O, du wirst mich noch kennen lernen, denn ich habe mich oft mehr behelfen müssen, als die Welt es gedacht hat. Mein Vater besitzt kein eigenes Vermögen, und meine Mutter – ach, du weißt ja, wie die Verhältnisse lagen. O – und da steht sie und sieht uns an – sie scheint sich zu freuen über uns und zu lächeln, nicht wahr, Franz?«

»Das kommt daher, weil in dir alles lächelt; nun lächelt dich alles in der Welt an.« –

Aber Edda war zu unruhig in sich, zu aufgeregt, um lange auf einem Punkte haften zu können. »Sieh,« sagte sie, einen Blick in den Obstgarten werfend und mit Franz aus dem Fenster lehnend – »da ist mein Apfelbaum, und o, wie voll von Früchten hängen seine Zweige! Ach, Franz, sieh, da habe ich gesessen und deines Vaters Erzählung belauscht – das war eigentlich die Quelle unseres ganzen Glücks – und dort habe ich hinter der Ecke des Hauses gestanden, wenn ich aus der Ferne mit meinem Glase sehen wollte, ob du bei der Arbeit wärst –«

»Und ich,« fuhr Franz fort, »habe dich von diesem Fenster aus oft vergebens gesucht, stunden- und tagelang erwartet, und erst, wenn ich dein Kleid über den Rasen rauschen hörte und deine glockenreine Stimme vernahm, war ich bei mir zu Hause, denn dann erst fehlte mir nichts und ich war ein vollkommener Mensch.«

»O, jetzt wirst du noch viel vollkommener werden. Ich werde immer bei dir sitzen, wenn du malst, und werde mit dir plaudern, dir vorlesen und – und – wenn du es erlaubst, auch einmal den Pinsel zu führen versuchen, denn darauf habe ich mich schon lange gefreut.«

»Das wird ein unendliches Glück für mich sein, wie alles, was ich in deiner Gegenwart und mit dir vollbringe!« rief Franz und schloß sie noch einmal in die Arme und küßte die schönen Lippen, die er so lange studiert und mit seinen köstlichsten Farben nachzubilden versucht hatte.

So hätten die Liebenden bis zum späten Abend fortgeplaudert, wäre nicht endlich Miß Rosy durch den Garten geschritten und hätte sich unter dem Fenster des Ateliers aufgestellt.

»Darf ich denn nun auch zu Ihnen hineinkommen, wenn Edda bei Ihnen ist?« fragte das bescheidene Mädchen.

»Immer herein, liebe Miß Rosy, Sie sind jetzt bei mir zu Hause wie alle übrigen, und es gibt keine geheimen Aufträge und Beobachter mehr; diese traurigen Zeiten sind für immer vorüber!«

Miß Rosy ließ sich nicht lange bitten, sie kam rasch durch die Pforte, deren Schlüssel Franz jetzt stets in der Tasche trug, und nun plauderten sie alle drei heiter fort, bis die Stunde des Abendessens herankam und sie sich ins Vorderhaus begeben mußten, nachdem auch der Baron einen Besuch im Atelier abgestattet hatte, wo er nun zum erstenmal das Porträt seiner armen Maggie sah.

Lange stand er davor und betrachtete es mit ernster Wehmut: da aber Edda keinen Gram mehr in ihm aufkommen lassen wollte, zog sie ihn sanft davon fort. »Es ist noch nicht fertig, lieber Vater,« sagte sie liebevoll zu ihm, »du weißt ja, »die letzte Hand« fehlt noch daran.«

Rolf Juell Wind lächelte. »Nun,« sagte er, »du bist glücklich jetzt, und ich verdenke dir das nicht. Wenn deine Mutter aus dem Himmel herabsehen und das unter uns Vorgehende gewahren kann, so wird sie auch glücklich sein. – So kommt denn, Kinder, wir dürfen Karolinen nicht auf uns warten lassen.«

Er ging mit Miß Rosy voraus, und Edda blieb bei Franz zurück und half ihm die Fenster schließen und die Vorhänge herablassen. Unterwegs aber sagte sie zu ihm: »Was mag denn nur Karoline zum Abend vorhaben? Sie hat ein ganz feierliches Aussehen angenommen, seitdem von ihrem Glückwunsch die Rede war. Weißt du es nicht?«

Franz, der ebensogut wie sein Vater ahnte, was Tante Karoline vorhabe, und der sich wunderte, daß Edda nicht ebenfalls auf den richtigen Gedanken kam, sagte: »Nein, ich weiß es nicht, vielleicht hat sie irgend eine kleine Überraschung im Sinn. –«

»Aber die muß sich auf uns beziehen, Franz, denn sie sagte ja, erst heute abend könne sie uns ihren Glückwunsch aussprechen.«

»So wollen wir es geduldig abwarten, Liebe, die Zeit geht rasch vorüber, und in einer Stunde werden wir es vielleicht schon wissen. – Sieh, auch heute schmückt sich die weiße Jungfrau in Purpur und Gold, das tut sie vielleicht uns zu Ehren!«

Und beide standen still und staunten mit einem wonnevollen Freudenschauer das herrliche Schauspiel an, das man nicht oft genug sehen kann und, wenn es erscheint, immer wieder mit neuem Entzücken begrüßt. –

*

Das Abendessen war vorüber; Miß Rosy hatte Doktor Marssen, seiner Schwester und Franz gute Nacht gesagt und war in die Pension zurückgekehrt, um sich mit ihren Briefen zu beschäftigen. Bei Tische war man heiter gewesen, jedoch bei weitem nicht so, wie am Tage vorher am Gießbach, denn Karolinens Miene hatte noch mehr Feierliches angenommen, sie war schweigsam geworden, und ihr sanftes Auge ruhte bald auf ihrem Bruder, bald auf Rolf, als wollte sie sich im stillen vergewissern, ob beide mit ihrem Vorhaben einverstanden sein würden. Als ihr nun endlich kein Hindernis mehr im Wege stand, das geheimnisvolle Werk zu beginnen, bat sie alle Anwesenden, ihr in ihr Zimmer zu folgen, und als man daselbst angekommen war, mußten sich Leo und Rolf auf das Sofa setzen, während sie für Edda und Franz an der einen Seite des Tisches zwei Stühle dicht nebeneinander rückte, so daß die übrigen zwei Seiten desselben leer blieben. Auf diesen Tisch nun stellte Karoline eine große Lampe und zündete noch zwei Kerzen an, so daß das Zimmer hell erleuchtet war, und nun begab sie sich mit ruhigen Schritten – denn jetzt war ihre Ungeduld überwunden und einer sanften Rührung gewichen – an ihr Schreibpult und nahm ein großes Paket Papiere daraus hervor, die sie zur Verwunderung der Anwesenden alle einzeln auf dem Tische unter der Lampe ausbreitete.

Als dies geschehen war, nahm sie für sich einen Stuhl und setzte ihn so hin, daß sie von ihm aus alle vier auf sie gerichteten Gesichter genau beobachten konnte.

»Habt Ihr jetzt Ruhe genug und auch den guten Willen, mich ruhig und ohne Widerspruch bis an das Ende anzuhören?« fragte sie, die vier Gesichter der Reihe nach studierend.

Alle nickten schweigend und immer mehr verwundert, nur ihr Bruder sagte lächelnd: »Ja, ja, wir haben Ruhe genug dazu und sogar mehr, als du vorauszusetzen scheinst. Auch an gutem Willen, dir nicht zu widersprechen, fehlt es uns nickt, nun mach' es kurz und laß uns nicht zu lange in der Schwebe.«

Karoline räusperte sich, nahm mit zitternden Händen ein versiegeltes Paket auf und sagte: »Mein lieber Rolf, ich muß zuerst an dich meine Worte richten und dich bitten, mir nicht zu zürnen, wenn ich deine Erinnerung in längst vergangene Zeiten zurückführe und Ereignisse erwähne, die nicht zu den angenehmsten in deinem Leben gehört haben. Doch ich muß es tun, wenn ich das mir vorgesteckte Ziel erreichen will, wozu mir gegen alle Erwartung der allgütige Gott die Gelegenheit geboten hat. Indessen werde ich kurz sein und alle unnötigen Erörterungen beiseite lassen. Rolf, sieh mich an und besorge nicht, etwas zu hören, was dich kränken kann, denn ich meine es gut mit dir und deinem Kinde. – Du weißt, daß dein Vater ein Testament gemacht hat, nicht wahr?«

Rolf nickte mit dem Kopfe und sagte mit bebender Stimme, denn nun wußte er mit einem Mal, was kam: »Ja, ich weiß es und habe zur Zeit eine Abschrift davon erhalten.«

»Gut. Dies Testament war hart für dich, nicht wahr?«

»Ja, es war hart für mich, aber von dem Standpunkt meines edlen Vaters aus – gerecht. Das habe ich damals freilich nicht eingesehen und noch weniger gesagt, aber heute sehe ich es ein und sage es.«

»Nun denn, aus diesem Testament weißt du, daß dein Vater mich als seine Tochter adoptiert und mir die vollen Rechte einer solchen einräumte – Rechte, die eigentlich dir, dem einzigen Sohne, gebührten.«

»Mit einem Wort,« sprach Rolf mit fester Stimme, »er enterbte mich und setzte dich zur Universalerbin seines Vermögens ein, während er auf mich nur den Pflichtteil übergehen ließ.«

»Ja, so tat er. Wenn das nun nicht geschehen wäre, Rolf, und wenn dein Vater dir sein ganzes Vermögen hinterlassen hätte, was wäre dann geschehen?«

»Ach, wer kann das wissen, Karoline? Es wäre vieles anders geworden, aber vielleicht auch nicht besser, und möglicherweise wäre von dem ganzen Vermögen meines Vaters wenig mehr vorhanden, denn ich habe in früheren Jahren des Leichtsinns viel Geld verbraucht.«

Karoline lächelte zum ersten Mal. »Wenn du das sagst,« fuhr sie fort, »dann bin ich zufrieden, denn dann wäre dir ja jetzt dein Vermögen gerettet und erhalten.«

»Mein Vermögen? Wie sprichst du so seltsam, Karoline?«

»Ich spreche mit Bedacht so, Rolf, denn meinst du etwa, daß ich, Karoline Marssen und Leo Marssens Schwester, imstande wäre, ein Vermögen anzunehmen und zu meinen Gunsten zu verwenden, welches von Gottes und Rechts wegen – nach meiner Ansicht vom Recht – einem anderen gebührt, selbst wenn ein wohlüberlegter Wille eines Menschen es mir nach dem geschriebenen Gesetz von Rechts wegen überlieferte? Nein, Rolf, dessen ist Karoline Marssen nicht fähig gewesen, und mein Bruder Leo ist Zeuge, daß ich dein Vermögen zwar, dem Gebote des Erblassers mich fügend, an mich genommen, aber keinen Schilling davon angetastet habe bis auf diesen Tag.«

»Wie?« rief Rolf und wollte aufspringen, während Doktor Marssen ihn auf seinem Sitze zurückhielt, »du hast keinen Schilling davon angetastet?«

»Nein, Rolf, so ist es. Und hiermit übergebe ich dir das Testament deines Vaters und erkläre es feierlich in Gegenwart der Deinigen und der Meinigen nur bis zu diesem Augenblick für gültig, von jetzt an aber für null und nichtig, und gebe dir somit dein mir von deinem Vater überkommenes Besitztum, welches ich treulich für dich und deine Erben verwaltet, bis auf den letzten Heller zurück.«

Alle sprangen jetzt von ihren Sitzen auf und umringten Karolinen. Diese aber wehrte sie von sich ab und ruhte nicht eher, als bis sie wieder ihre Plätze eingenommen hatten. Als nun aber Rolf heftig sprechen und Einspruch gegen ihr Tun erheben wollte, sagte Doktor Marssen:

»Still, Rolf, du hast jetzt noch nichts zu sprechen, sondern nur zu hören. Karoline kann handeln, wie sie will, sie hat das Recht, den Mut und – das Herz dazu.«

»Ja, ja, das Herz hat sie vor allem,« rief Rolf, die Hände vor das Gesicht schlagend, »geahnt habe ich es schon lange, und jetzt weiß ich es. O Karoline, ich sollte es eigentlich nicht sagen, aber ich sage es sogar in Gegenwart unserer Kinder, ohne mich zu schämen: Du bist mir als Geliebte einst teuer und wert gewesen, aber ich wußte dich nicht zu schätzen und vertrieb mein eigenes Glück, als ich mich von dir wandte: jetzt, da du meine Schwester bist, erkenne ich erst deinen wahren Wert und deine Seelengröße, und so will ich am Abend meines Lebens durch treue brüderliche Gesinnung wieder gut zu machen suchen, was ich am Morgen gesündigt habe, wofür mich Gott mit einem heißen und gewitterschweren Mittag schon lange gestraft hat.«

Karoline stand unbeweglich, mit niedergeschlagenen Augen, an dem Tisch vor den Ihrigen, und nur ihre wogende Brust gab Kunde davon, was in ihrem Innern vorging. Da hob sie noch einmal die versiegelten Papiere in die Höhe und legte sie vor Rolf hin. »Hier hast du das jetzt unbrauchbar gewordene Testament – aber hier,« und sie nahm einen großen beschriebenen Bogen auf – »hier sind die Summen angegeben, wie groß das Vermögen deines Vaters war, als es in meine Hände gelegt ward, und darunter stehen von Jahr zu Jahr die Summen verzeichnet, um die es gewachsen ist bis auf diesen Tag.«

»Nein,« rief Rolf und wehrte die Papiere mit beiden Händen zurück, »ich nehme nichts aus deiner Hand, denn jetzt fühle ich die Pflicht, den Willen meines Vaters zu ehren und zu achten, da ich zu der Einsicht gekommen bin, wie weise er gehandelt und wie richtig er dich beurteilt, indem er dich und nicht mich zu seinem Erben einsetzte.«

Karoline erhob ihre sanften Augen zu dem also redenden Mann, und ihr edles Gesicht strahlte von dem schönen verjüngenden Schimmer einer wohlverdienten, ihr ganzes Innere tief bewegenden Freude. »So,« sagte sie mit möglichster Ruhe, »du nimmst es nicht aus meiner Hand? Nun, dann muß ich mich an dich wenden, Edda, dann gebe ich die Papiere dir und bitte dich, sie deinem Vater einzuhändigen – und das, das, meine Kinder, ist der Glückwunsch, den ich Euch heute zu Eurer Verlobung darbringe.«

Bei diesen Worten war ihre Fassung zu Ende, und sie begann laut zu schluchzen und sank auf ihren Stuhl. Als sie sich aber schnell wieder gesammelt hatte, erhob sich Doktor Marssen und gebot mit seiner gewaltigen Stimme Ruhe, da alle mehr oder minder laut durcheinander sprachen.

»Haltet ein,« sagte er, »und laßt mich einmal reden. Hier gilt es nur, Karolinens Wunsch und Willen zu erfüllen, und den müßt Ihr erfüllen, es bleibt Euch nichts anderes übrig, denn ihr Wille ist gut und auch der meinige, und ich billige es, daß Edda das Vermächtnis aus Karolinens Hand erhält und es ihrem Vater zurückgibt. Nimm also jenes Blatt, Edda, und lies, wie groß die Summe war, die dein Großvater meiner Schwester hinterließ.«

Edda gehorchte bebend und nahm das Blatt auf. Als sie es aber an das Licht gehalten und mit Franzens Hilfe die Summe gefunden, erschrak sie und rief: »Das ist nicht möglich – so reich kann mein Großvater nicht gewesen sein!«

»Was weißt du davon, Kind?« rief jetzt Karoline, mit einem Tuch ihre Tränen abtrocknend. »Allerdings war er so reich, und dein Vater muß es wissen.«

»Ganz bestimmt weiß ich es nicht, aber ungefähr,« versetzte der Baron. »Gib das Blatt her, Edda, und laß mich einen Blick darauf werfen.«

Edda reichte das Blatt hin, und er las es. »Ja,« sagte er dann, »es wird ziemlich richtig sein, obgleich die Summe allerdings auch mir etwas groß erscheint, aber mein Vater war – ach ja! ein sparsamer Mann.«

Karoline lächelte überglücklich. »Nun,« rief sie, »dann nimm dieses Blatt hier und sieh, wie es sich in fast sieben Jahren vermehrt hat, denn so lange ist dein guter Vater tot.«

Rolf Juell Wind überflog das neue Blatt und legte es dann schweigend und seufzend auf den Tisch zurück. »Das ist ein großes Vermögen,« sagte er, »aber hier – hier habt Ihr mein Wort – ich nehme es nicht an – ich weise es an Karolinen zurück, der es gebührt, als dem edelsten Weibe, welches es auf Erden gibt.«

Alle sahen sich bei diesen Worten fragend an, und keiner wußte, was er darauf erwidern sollte. Da erhob sich Edda rasch, und mit feurigem Auge einen nach den andern anschauend, rief sie: »Erlaubt, Karoline hat mir dieses Vermögen überwiesen, auf daß ich es meinem Vater geben soll. Mein Vater weist es zurück, und nun, da das Vermögen doch nicht in die Erde gescharrt werden kann, wie ein toter Mensch, sondern womöglich ewig leben und Gutes wirken soll, so habe ich einen Vorschlag, den Ihr Euch überlegen mögt. Das Vermögen ist groß und reicht hin, fünf Menschen wohlhabend zu machen. Wir sind unserer Fünf – teilt es also in fünf gleiche Teile und gebt jedem einen davon, dann hat jeder das Seine, und keiner kann den anderen beneiden.«

Da sprang Doktor Marssen auf. » Der Vorschlag ist gut und gerecht,« rief er, »und er paßt für Euch alle, nur für mich nicht. Ich brauche keine Erbschaft, von niemanden, und ich nehme sie von niemanden an. Was ich besitze, genügt mir. Aber ich will Eddas Vorschlag nicht ganz von der Hand weisen und ihn nur einer geringen Änderung unterwerfen. Teilt das Ganze in zwei gleiche Teile. Den einen nimmt Rolf, der Bruder, und den anderen Karoline, die Schwester, und jedes von ihnen kann mit seinem Teile tun, was ihm beliebt, so kommt jedes von Euch auch zu dem Seinen.«

Alle sahen sich wieder fragend an, und da erhob sich Franz, zum ersten Mal das Wort nehmend: »Wenn ich hier eine Meinung äußern darf,« sagte er, »so stimme ich vollkommen meines Vaters Vorschlag bei. Er ist noch gerechter als Eddas und noch leichter ins Werk zu setzen.«

Aller Blicke wurzelten nun auf dem Baron, der den Kopf geneigt hielt und sein Gesicht mit der Hand beschattete. »Rolf, was sagst du, sprich!« rief der Doktor, seine große Hand gewichtig auf des Barons Arm legend.

Da erhob dieser sein Gesicht und sagte: »Ja, der Streit muß zu Ende kommen, denn er ist seltsam genug. Ich gehe auf Leos Vorschlag ein und nehme die eine Hälfte des Ganzen, aber ich teile sie gleich wieder und gebe Edda die Hälfte davon.«

Karoline klatschte vor Freuden und von ihrem Gefühl übermannt in die Hände. »Dann nehme ich die zweite Hälfte und mache es ebenso,« rief sie. »Ich teile meinen Anteil auch und gebe die eine Hälfte sogleich an Franz. Die jungen Leute leben am längsten und brauchen folglich am meisten, und mit meinem Rest kann ich machen, was ich will. Da habt Ihr mein Wort, und das ist das letzte gewesen!«

Jetzt erhoben sich alle von ihren Sitzen und umringten Karolinen, die wieder in Tränen ausgebrochen war. Aus einem Arm fiel sie in den andern, und alle tauschten nun ihre Glückwünsche aus, die von einer ganz anderen Art waren, als Edda und Franz sie vorher erwartet hatten. Als die beiden älteren Männer aber abseits noch über das Verhandelte sprachen, zog Karoline die jungen Leute in eine Ecke und sagte leise zu ihnen: »O Edda, o Franz, wie glücklich bin ich, daß ich nur Rolfs Braut und nicht sein Weib geworden bin!«

»Aber warum denn das?« fragte Edda erstaunt.

»Du fragst, Mädchen, du, und siehst das nicht von selbst ein? O, wärest denn du geboren worden, und wäre Franz so glücklich geworden, dein Mann zu werden, wenn ich deines Vaters Frau geworden wäre?«

Edda sah Franz und Karolinen groß an. Da fiel sie dieser an die Brust und rief: »Ja, ja, du hast recht, und das war ein schönes, aber auch ein großes Wort, und mein Vater hat dich mit Recht das edelste Weib genannt.«

»Preise nicht mich, du reizende Schmeichlerin, denn jedes Wort hat die Vorsehung gesprochen, nicht ich. O wie schwer ist die Absicht derselben oft im Anfang zu begreifen, und erst am Ende sieht man ein, wie erhaben sie ist, wie sie über alles wacht und wie seltsame Mittel und Wege sie einschlägt, um zu Zielen zu gelangen, die kein Mensch vorher berechnen, vorher bestimmen kann. Und da, da habt Ihr noch einmal meinen Glückwunsch, Ihr Kinder: Seid glücklich, so lange Ihr es zu sein verdient; so habt Ihr das Glück in Eurer eigenen Hand, und der Mensch ist wahrhaft glücklich zu preisen, dem solches geboten wird!« –

*

Schon in aller Frühe am nächsten Morgen teilte Edda Miß Rosy die günstige Umwandlung mit, die ihre und ihres Vaters Verhältnisse durch die Großmut und die edle Gesinnung Karolinens erfahren hatten. »Sie können denken, liebe Miß Rosy,« fügte Edda hinzu, »daß unsere ganze Zukunft dadurch umgestaltet ist, und daß wir nun imstande sind, unsere Verbindlichkeiten gegen alle uns treu gesinnten und durch die Zeit bewährten Personen auf eine ganz andere Weise nachzukommen, als es uns noch vor kurzer Zeit möglich schien. Zu diesen Personen nun gehören namentlich Sie, und da frage ich Sie denn ganz einfach, ob Sie mir ferner Ihre Freundschaft bewahren und bei mir und den Meinigen bleiben, oder ob Sie Ihrer schon oft geäußerten Neigung folgen und in Ihre Heimat zurückkehren wollen, in welchem letzteren Falle ich, obgleich ich denselben nicht wünsche, Sie auf entsprechende Weise für die vielen Mühen zu entschädigen versuchen werde, die Sie während der leidensvollen Jahre bei meiner armen Mutter so geduldig ertragen haben.«

Bei diesen Worten brach Miß Rosy in ein leises Weinen aus und umschlang Edda mit ihren Armen. »Nein, nein, meine liebe Edda,« rief sie, »wohl habe ich die Neigung, einmal in meine Heimat zurückzukehren und die wenigen Mitglieder meiner Familie, die noch am Leben sind, wiederzusehen, aber ich möchte am liebsten mit Ihnen selbst eine Reise nach Schottland unternehmen, das Sie doch gewiß auch kennen zu lernen wünschen. Wenn ich aber einen Wunsch äußern darf, so ist es der, bei Ihnen zu bleiben und ebenso die Freuden zu teilen, die Ihnen jetzt bevorstehen, wie ich früher die Leiden Ihrer Familie geteilt habe. Unter bessere Menschen, als Sie und ich hier gefunden haben, kann ich nie geraten, und in ihrer Mitte zu weilen, würde ich für das höchste Glück meines Lebens halten.«

Edda lachte fröhlich auf und schloß nun ihrerseits das gute Wesen in ihre Arme. »Rosy,« rief sie, »das habe ich von Ihnen erwartet und im stillen gehofft. Nein, unter bessere Menschen, als wir sie hier gefunden, können wir alle nicht geraten, da haben Sie wohl recht, und nun ist es ausgemacht, Sie gehören von heute an zu unserer Familie, ich werde Sie wie eine ältere Schwester lieben und alles Gute reichlich zu vergelten suchen, was Sie mir durch Ihre Liebe und Ihre Ergebenheit so oft und so lange erwiesen haben. Damit stimmt sowohl mein Vater, wie Franz und seine Familie überein, und so reiche ich Ihnen die Hand zum neuen Bunde und biete Ihnen meine Lippen zum Schwesterkuß.«

Dabei küßte sie sie herzlich, und Miß Rosy, die schon lange um ihr ferneres Schicksal besorgt gewesen war, da sie keine Mittel besaß, sich das Leben auf die gewohnte Weise allein zu fristen, vermochte nicht, ihren freudigen Gefühlen anders als durch eine innige Umarmung Ausdruck zu geben.

»Aber ich muß doch noch zwei Bedingungen an unsere Freundschaft knüpfen,« fuhr Edda lächelnd fort.

»O, sprechen Sie, sprechen Sie, liebe Edda, ich will auf jede Bedingung eingehen, die Sie mir stellen können.«

»Erstens, Rosy, bin ich von jetzt an deine Schwester, und du wirst mich fortan mit dem schwesterlichen du anreden müssen, welches in der deutschen Sprache so traulich lautet, und zweitens mußt du dich befleißigen, diese deutsche Sprache zu erlernen, da du ja jetzt unter Deutschen leben wirst. –«

»O, weiter nichts? Das ist alles? Die erste Bedingung erfülle ich jetzt gleich und von Herzen gern, teure Edda, indem ich dir das trauliche Du zurückgebe; die zweite wird freilich erst in längerer Zeit erfüllt werden können, denn die deutsche Sprache ist schwer für eine Engländerin, jedoch werde ich mich bemühen, sie rasch und gut zu erlernen.«

»Dann bin ich zufrieden, und nun komm, wir wollen zu meinem Vater gehen, und er wird dir bestätigen, was ich dir eben vorgetragen.«

*

Wenn die um so viel günstiger gestalteten äußeren Verhältnisse auf Eddas Frohsinn schon so bedeutend eingewirkt und ihr ein viel größeres Feld liebevoller Tätigkeit geschaffen hatten, so war ihr Vater noch viel mehr davon berührt worden, denn seine Zukunft, auf die er bisher nur mit trüben Blicken geschaut, war plötzlich durch einen hellen Lichtstrahl aufgeklärt, und die größte Lebenssorge war von seinem Herzen genommen. Daß er dieses neue Glück zumeist Karolinen verdankte, an der er in leichtsinniger und kurzsichtiger Jugend so treulos gehandelt, ließ freilich einen lange an seiner Seele nagenden Dorn zurück, allein ihre edle Hingebung und schwesterliche Liebe halfen ihm denselben ertragen, und mit der Zeit vergaß er ganz, daß es Jahre, lange Jahre gegeben, in denen er von der Familie Marssen getrennt gewesen war, ja, ihr feindlich gegenübergestanden hatte. So reifte denn in ihm von Tag zu Tage mehr der Entschluß, sein ferneres Leben unzerreißbar an das ihre zu binden und sich in der Nähe Leo Marssens und seiner Schwester anzusiedeln, wozu ihm ja jetzt die Mittel reichlich zu Gebote standen, denn sehr bald waren die Antworten auf Karolinens Briefe aus Hamburg eingetroffen, und große Summen Geldes langten nach und nach an, die nach dem Übereinkommen der Familie von Karolinen in Empfang genommen und redlich zwischen ihr und Rolf Juell Wind geteilt wurden. So blühte denn ein ganz neues Leben in den beiden Familien auf, der Baum allseitiger Liebe und Freundschaft trug reife Früchte, und es verging kein Tag, an dem sich das Verhältnis der alten Freunde nicht zu einem innigeren und festeren gestaltet hätte.

Im übrigen aber setzte man das gewohnte Leben wie bisher fort, nur begann der Baron schon bisweilen, nachdem er keine Briefe mehr zu schreiben hatte, sich in seiner stillen Pension etwas einsam zu fühlen, denn Edda pflegte mit Miß Rosy schon früh nach dem Atelier zu eilen und Franz, wie sie es ihm vorhergesagt, Gesellschaft zu leisten, da dieser nach wie vor den Vormittag bei seiner Arbeit verbrachte und nur die Nachmittage und Abende seiner Braut, seiner Familie und deren gemeinsamen Unterhaltung widmete. So kam denn Rolf schon öfter des Morgens nach Doktor Marssens Haus herüber und beklagte sich gegen Karoline im Scherz, daß die Langeweile ihn aus seinen vier Pfählen treibe und daß sie ihm nicht böse sein möge, wenn er sie in ihrer Arbeit unterbreche. »So lange die Edda nicht verheiratet ist,« sagte er eines Tages, »kann ich auch Miß Rosy nicht an mein Haus fesseln, und so mußt du denn schon den alten Isegrimm in deiner Gegenwart dulden und darfst nicht murren, wenn er dir auf allen deinen Wegen nachläuft und um einen freundlichen Blick bittet.«

Karoline lächelte herzlich und reichte ihm die Hand. »Komm du nur, alter Freund, so oft du willst,« erwiderte sie, »und laß die jungen Leute nach Belieben wirtschaften. Wir wollen ihnen keine Minute ihrer Freude rauben, denn das Leben ist kurz, und die Jugend geht rasch genug vorüber. Leo ist morgens gern allein, und darin dürfen wir ihm nicht entgegentreten, und wenn du also eine Stunde bei mir sitzen und plaudern willst, so wirst du mir immer willkommen sein.« –

Edda und Franz führten allerdings ein Leben voller Wonne in dieser ihrer ersten Liebeszeit, und erstere band sich sehr wenig an die strengen Regeln, die früher in ihrem väterlichen Hause geherrscht hatten, als ihre Mutter noch lebte. Man gewährte ihnen gern jede mögliche Freiheit, und sie benutzten dieselbe, um ihrer Liebhaberei an Kunst und Natur vollständig zu folgen und das Leben auf ihre Weise zu genießen, was ihnen durch die herrlichen Umgebungen Interlakens so leicht gemacht wurde. So ritten sie in der Regel nach Tische, bisweilen von Rosy begleitet, in die Berge, und oft kamen sie erst spät Abends nach Hause zurück, wenn die Sterne schon am Himmel funkelten oder der Mond sein geisterhaftes Licht über die hehren Schneegipfel goß.

»Ihr werdet Euch noch einmal verirren oder in eine Felsspalte fallen,« sagte Doktor Marssen eines Abends lächelnd, als sie kurz vor'm Einbruch der Nacht heimgekehrt waren. »Du bist viel zu dreist, Edda, und Franz viel zu gut, um dir den Zügel schon jetzt etwas straff zu halten.«

Edda legte ihren schönen Arm um seinen Nacken, küßte ihn und sagte: »In letzterem hast du vielleicht Recht, Vater Leo, dein Franz ist viel zu gut gegen mich; aber in ersterem nicht. Ich bin gerade so dreist, wie ein beherztes Weib sein muß, um nicht weibisch zu erscheinen. Aber morgen oder übermorgen, strenger Papa, wirst du uns noch mehr zu schelten haben, denn wir beabsichtigen eine recht weite und halsbrechende Tour zu unternehmen, jedoch bitte ich mir ein freundliches Gesicht aus, wenn wir wiederkommen.«

»Wo wollt Ihr denn hin?«

»Es ist ein Geheimnis, Vater Leo!«

»Nun, dann kann ich mir schon denken, wohin Ihr geht. Ihr wollt Euch die am romantischsten gelegene Kirche aussuchen, in der Ihr Euch trauen lassen wollt, nicht wahr?« fragte der Doktor mit neckischer Laune.

Eddas weiche Hand drückte sich fest auf seinen Mund, so daß er nicht weitersprechen konnte, denn dies Thema berührte der gute Doktor alle Tage, und noch niemals war das verschwiegene Brautpaar darauf eingegangen.

An dem folgenden Tage nun, als Edda und Franz wirklich schon um elf Uhr morgens, nur von Jürgen begleitet, ihren weiten Ritt angetreten hatten, sagte Doktor Marssen zu seiner Schwester: »Karoline, haben denn die Kinder wirklich auch noch nicht mit dir über ihre Hochzeit gesprochen?«

»Nein, Leo, noch kein Wort.«

»Nun, so müssen wir davon reden, denn lange kann das Geschnäbel nicht mehr dauern, das entnervt den Geist; auch muß der Junge nach Italien; es wird Zeit, daß er »die letzte Hand« – da haben wir sie schon wieder – an seine Ausbildung legt, sonst bleibt er am Ende ganz zu Hause und vergißt die Welt und seinen Beruf.«

»Das befürchte ich gar nicht,« entgegnete Karoline, die nicht leiden konnte, daß etwas gesagt wurde, wenn es auch im Scherz geschah, was den kleinsten Schatten auf ihren Liebling warf; »du vergissest ganz, daß Franz kein gewöhnlicher Mensch und Edda kein gewöhnliches Mädchen ist. Sie gehen beide ihren richtigen Gang, und keins von ihnen wird seinen Beruf verfehlen.«

»Oho! Das glaube ich auch. Wie denkt denn Rolf über ihre Heirat?«

»Er ist mit uns in allem vollkommen einverstanden, und sobald sie ihm ihren Wunsch vortragen, ehelich verbunden zu werden, wird er ihnen denselben erfüllen.«

»Nun gut,« versetzte Doktor Marssen lächelnd, »dann sollen sie noch heute diesen Wunsch aussprechen, ich werde dafür sorgen.«

»Wie? Was willst du tun, Leo? Du wirst sie doch nicht drängen und stacheln?«

»Auf meine Weise gewiß, ja, das werde ich tun, doch warte die Zeit ab und ängstige dich nicht im voraus. Wir haben jetzt Mitte Oktober, und Anfang November muß er nach Italien. Ich bestehe darauf!« –

Als Edda und Franz am späten Abend dieses Tages von ihrem Ritt heimkehrten und Edda das dunkle Reitkleid mit ihrem gewöhnlichen vertauscht hatte, fanden sie die Familie im Speisezimmer versammelt, und aller Augen richteten sich neugierig und forschend auf die blühenden Gesichter des glücklichen Brautpaares, da Karoline auch Rolf und Miß Rosy ihr Morgengespräch mit Leo mitgeteilt hatte.

»Also endlich!« sagte der Doktor, nachdem die jungen Leute die älteren herzlich begrüßt hatten. »Ihr habt uns lange auf Eure munteren Gesichter warten lassen.«

»Ja,« nahm Edda das Wort, »wir haben einen herrlichen Ritt durch die schöne braune Herbstlandschaft gemacht und köstliche Unterhaltung dabei gehabt, obgleich ich etwas müde geworden bin.«

»Wo seid Ihr denn gewesen?«

»Ratet einmal!« rief Edda mit blitzenden Augen, indem sie Franz, der schon eben das Ziel ihrer Wanderung verraten wollte, einen raschen Wink gab.

»O, wie kann man das! Ich habe kein Organ zum Raten,« erwiderte der Doktor.

Edda trat an ihn heran und legte ihm ihren Arm um die Schulter, wobei sie ihm liebevoll in die ehrlichen Augen sah. »Dann will ich es Euch sagen,« rief sie freudig. »Wir sind zuerst nach der Eisgrotte im Grindelwaldgletscher geritten und haben sie uns noch einmal angesehen und – und – das war sehr schön.«

»Das glaube ich, aber auch sehr kalt, nicht wahr?«

»Wir haben davon nichts gespürt, nicht wahr, Franz?«

Franz schüttelte lächelnd den Kopf und liebäugelte dabei mit einem Glase Wein, welches der Baron ihm bereits eingegossen hatte.

»Nachdem wir aber die Eisgrotte ganz nach Wunsch genossen,« fuhr Edda fort, »sind wir nach Grindelwald geritten und haben unsern Freund Michel, den Gemsjäger, besucht, und bei dem sind wir lange geblieben und haben mit ihm die ganze Reise über das Eismeer nach dem Zäsenberg noch einmal durchgesprochen.«

»Aha! Nun weiß ich es schon. Michel hat mir schon lange erzählt –«

Hier schloß ihm wieder die schöne Hand den Mund, und um ihn in Bezug auf diesen Punkt für den heutigen Abend stumm zu machen, drückten sich, gleichsam das Siegel bildend, fest zwei Lippen darauf.

»So,« nahm Doktor Marssen das Wort auf, als er wieder sprechen konnte, »nun wissen wir es. Daß Ihr bei Michel gewesen seid, freut mich, der Mann hat Euch beide wahrhaft liebgewonnen.«

»Davon hat er uns heute Beweise geliefert,« sagte Franz.

»Aber,« fuhr der Doktor, dem Karoline schon lange flehende Blicke zugeworfen hatte, die Kinder nicht durch Neckereien zu ängstigen, unerbittlich fort, »daß Ihr so viel edle Zeit auf weite und lange Ritte verwendet, ist nicht ganz nach meinem Geschmack.«

Sowohl Edda wie Franz, die unterdes beide am Tisch Platz genommen, erhoben die Gesichter gegen den jetzt ernst sprechenden Vater.

»Ja, ja,« fuhr dieser fort, »seht mich nur so groß an, ich meine es ernstlich. Ich wollte schon lange mit dir ein Wort über ein gewisses, sehr wichtiges Unternehmen reden, Franz, und nun soll es heute geschehen. Wie steht es denn mit deiner Reise nach Italien, mein Junge? Ich denke, es wird Zeit, daß du dein Bündel schnürst, wenn du überhaupt noch Studien machen willst.«

Jetzt hob Franz betroffen den Kopf in die Höhe, und seine Augen richteten sich hastig auf Edda, während seine Wangen eine scharlachrote Farbe überströmte.

»Ja, ja,« nahm der Doktor wieder das Wort, »ich rate ernstlich, daß du bald gehst; der Winter ist die beste Zeit für Italien, du kommst ja wieder, und Edda läßt dich gern fort, wenn es zu deinem Besten ist.«

Jetzt legte Edda ihr Messer nieder, sah Doktor Marssen flehend an und sagte: »Vater Leo, wie, das wolltet Ihr mir wirklich zu Leide tun? Soll das etwa eine Strafe für unser glückseliges Herumstreifen sein?«

»Eine Strafe? Ei, du närrisches Kind, was du dir einbildest. Aber fort muß er, das ist eine – eine Naturnotwendigkeit.«

»Nun,« sagte da Edda mit leuchtenden Augen und einer heroischen Entschiedenheit, »dann mag er gehen, aber aus der Reise nach Italien wird nur etwas, wenn ich sie mitmachen darf.«

»So, so,« versetzte Doktor Marssen, indem er seiner Schwester und Rolf einen heimlichen Blick zuwarf, »also so stehen die Sachen! Ja, dann müssen wir freilich alle mit und uns von unserer schönen Ruhe und Behaglichkeit losreißen. –«

Edda machte ein seltsames Gesicht, indem sie der Reihe nach die um sie herum Sitzenden verwundert ansah, und es lag so deutlich, als ob sie ihn ausgesprochen hätte, der Gedanke darauf: »Das sehe ich noch gar nicht ein, daß Ihr Euch dadurch aus Eurer Ruhe stören lassen sollt. Franz und ich, wir sind alt genug, um allein reisen zu können!«

»Ah!« rief Doktor Marssen, »ich verstehe dich, mein liebes Kind,« und er übersetzte sogleich die Miene Eddas mit denselben Worten, wie wir es eben getan. »Nun, freilich, du hast recht, aber dann mußt du vorher seine Frau geworden sein.«

Edda stand auf, und ihre Augen blitzten. »Und wer sagt Euch denn, daß ich es nicht werden will? Bestimmt darüber, wie Ihr wollt, ich bin in diesem Punkt gewiß – ein sehr gehorsames Kind.«

Alle lachten laut auf, und nun erst merkten Edda und Franz, daß Vater Leo den Scherz absichtlich herbeigeführt, um zu ihren eigenen Gunsten einen so schönen Ernst daraus werden zu lassen.

Nachdem das Wort »Hochzeit« nun aber erst einmal gefallen war, dauerte es nicht lange, daß die nötigen Anstalten getroffen wurden, und schon drei Wochen später fand in aller Stille die Trauung der Liebenden in der kleinen benachbarten Dorfkirche statt, aber leider fuhr auch drei Stunden später schon der Reisewagen vor, denn die auf ewig Verbundenen wollten auf der Stelle ihre Reise nach Italien antreten, um »die letzte Hand« an Franz Marssens künstlerische Ausbildung zu legen.

Als der Wagen mit dem schönen Paare über die Aarbrücke, die nach dem Brünung führt, gerollt war, um es zuerst nach dem Vierwaldstädter See zu bringen, den Edda noch nicht gesehen, von wo sie über den Sankt-Gotthard nach Italien hinabsteigen wollten, war Tante Karoline fast außer sich vor Schmerz.

»O mein Gott, Rosy,« rief sie dieser zu, da die Männer dem Wagen eine Stunde weit zu Pferde das Geleit gaben, »nun sind sie fort, und wir sind ganz allein! Gott sei Dank, daß wenigstens Sie bei uns geblieben sind, denn ich hielte es in meiner Einsamkeit nicht aus, nachdem ich mich mit meinem ganzen Herzen an Edda und Franz angeschlossen habe.«

»Meine liebe Karoline,« erwiderte Miß Rosy in ihrem nur schwer über die Zunge gleitenden Deutsch, – »trösten Sie sich. Was wollen Sie denn? Die beiden Menschen sind ja glücklich, übermäßig glücklich, und das war ja Ihr und unser aller Wunsch. Auch kommen Sie wieder, und dann verlassen sie uns nicht mehr, wenigstens nicht auf so lange Zeit.«

»Ja, ja,« erwiderte Karoline, sich die leise weinenden Augen trocknend, »da haben Sie wohl recht, sie sind glücklich und kommen wieder! Das soll auch mein Trost sein und nun – nun wollen wir es uns angelegen sein lassen, die beiden Männer zu erheitern, denn die leiden ebensoviel durch diese Reise wie wir, nur sind sie zu verstockt, um es einzugestehen. Aber ich sehe es doch!«

»Die bösen Männer,« sagte Miß Rosy lächelnd.

»Die bösen Männer, sagen Sie, Kind? O nein, das sagen Sie nicht, sie sind sehr gut, ich versichere es Ihnen, und sie tun nur so, als ob sie böse wären. Ich kenne sie besser. Ach, es ist ein seltsames Geschlecht! Gott weiß, wer es in ihre Seele gelegt, aber sie wissen, daß es den Schlimmsten immer am besten geht, und daß sie am meisten geliebt werden, und darum nehmen sie die Masken vor und spielen die Tyrannen, um uns zu Sklaven zu machen, und wir, wir, Rosy, sind so töricht und finden uns darein.«

»Tun Sie es doch nicht, Karoline.«

»O nein, o nein, ich tue es doch, denn es gibt kein besseres Los auf der Welt, als die Sklavin eines innig geliebten Mannes zu sein, wenn dieser Mann – selbst unser Sklave ist.«

»Aha! Das ist die Hauptsache, und nun weiß ich, woher Ihre ganze Sklavenleidenschaft stammt!« Und sie näherte sich ihr, reichte ihr die Hand und nickte ihr liebevoll mit den träumerischen blauen Augen zu.

Karoline aber umfaßte sie, drückte sie an ihr Herz und rief: »O liebe Rosy! Gut, daß Sie hier sind, denn wenn ich nicht immer jemanden habe, drücken und herzen kann, bin ich nicht gesund, und nun müssen Sie sich drücken und herzen lassen, damit ich immer gesund bleibe, bis die Kinder wiederkommen, dann habe ich keine Krankheit mehr zu befürchten.«


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