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Buchschmuck

Fünftes Kapitel.
»Noch nicht.«

Es war schon zwölf Uhr vorüber, und die Mittagssonne stand mit sengender Glut über Interlaken, als Franz Marssen erst den Rückweg nach seinem väterlichen Hause anzutreten den Mut gewann, und selbst dann noch ging er langsamer denn je, bei jedem Schritt eine neue Besorgnis empfindend oder einen neuen Plan erdenkend, seines Weges dahin. Mit Tante Karoline fertig zu werden, das schien ihm, er wußte selbst nicht warum, keiner Schwierigkeit zu unterliegen, aber vor das klare, feste Angesicht seines Vaters zu treten, mit einem Geheimnis auf der Brust, wie er noch nie eins vor ihm verborgen, davor empfand er eine Art heiliger Scheu, und fast däuchte es ihm unmöglich, dem scharfen Blick des geübten Menschenkenners dieses Geheimnis zu entziehen. Was sollte er ihm antworten, wenn derselbe ihm eine darauf bezügliche Frage vorlegte, wenn das treue Vaterauge vielleicht den ganzen Zwiespalt seines Innern läse, der sich auf seiner beschatteten Stirn, seinen bebenden Lippen, in seinem scheuen Auge notwendig aussprechen mußte? Und durfte er ihm anvertrauen, was sein Herz so mächtig beschwerte? Hatte er Edda nicht versprochen, nur in Gemeinschaft mit ihr das Werk zu vollführen, das ja immer noch scheitern konnte, wenn man nicht gehörig alles vorher bedachte und weise überlegte?

Wie eine göttliche Wohltat überströmte es ihn daher, als er dicht vor Interlaken auf einem schattigen Bergpfade Jürgen mit den Pferden begegnete und dieser ihm erzählte, daß sein Vater um zehn Uhr zu demselben entfernt wohnenden Kranken geritten sei, den er schon vor einigen Tagen besucht hatte, und daß er also erst gegen abend zurückkehren werde. O, nach dieser Mitteilung schlug ihm das Herz wieder leicht, und mit rascheren Schritten setzte er nun den Weg nach Hause fort, wo er von Karolinen herzlich begrüßt wurde, die gar nicht begreifen konnte, wie er an einem so heißen und gewitterdrohenden Tage so lange in den Bergen bleiben und seine Arbeit im Malerhause außer acht lassen könne.

»Hast du denn so eifrig neue Studien gemacht, daß du ganz die Zeit darüber vergessen hast?« fragte sie liebevoll.

»Ja, liebe Tante,« erwiderte Franz, ihr dreist in die blauen Augen sehend. »Ich habe heute sogar bedeutungsvolle Studien gemacht, und das Werk, was ich auf sie zu bauen gedenke, wird hoffentlich das beste und schönste sein, was ich in meinem ganzen Leben hervorbringen kann.«

»Oho!« sagte die Tante, »du bist heute sehr produktiv, wie es scheint. Bist du ganz allein in den Bergen gewesen?« setzte sie, ohne jeden Hintergedanken, fragend hinzu.

Franz, der jedoch in dieser Frage schon einen kleinen Verdacht zu erblicken glaubte, sah sie groß an, und ohne ihr zu antworten, stellte er die Gegenfrage: »Weißt du, mit wem ich in den Bergen gewesen bin? O, bitte, dann sage es mir.«

Karoline machte ein ernsteres Gesicht als vorher. »Nimm es doch nicht so böse auf, lieber Junge,« sagte sie; »ich weiß wahrhaftig nicht, ob du mit jemandem in den Bergen gewesen bist, noch viel weniger mit wem?«

»So,« erwiderte Franz ruhiger. »Nun, dann will ich dir sagen, daß ich allerdings mit jemandem in den Bergen gewesen bin, daß ich dir heute aber noch nicht verraten kann, wer es war.«

»Ach so! Ein Geheimnis also, mein Lieber?«

»Ganz gewiß, Tante, und ein echtes, wirkliches Geheimnis, wie man es nicht alle Tage zu hören bekommt.«

Jetzt machte die Tante große Augen. »Du sprichst das so ernst,« sagte sie, »daß man dir fast glauben möchte.« Und ihn herzlich umfassend und an sich drückend, fuhr sie mit ihrer weichsten Stimme und zärtlichsten Miene fort: »Darf ich es denn nicht wissen. Franz, wenn ich dir verspreche, daß ich es niemandem mitteilen will?«

Franz schüttelte den Kauf. »Nein, Tante, wahrhaftig nicht; du bist aber auf falscher Fährte, wenn du, wie mir scheint, das Geheimnis in meiner Person begründet glaubst. Diesmal gilt es nicht mir, sondern anderen.«

»So!« sagte die Tante seufzend. »Nun, wenn es nur dir nicht gilt, dann bin ich schon zufrieden. Es würde mich schmerzen, wenn irgend ein anderer Mensch auf der Welt eher als ich erführe, daß du um eine Braut geworben und sie dir ihre Zusage gegeben hat.«

»Ich habe heute um keine Braut geworben, auch um keine werben können,« erwiderte Franz ernst, mit dem lebhaften Wunsch, dies Gespräch rasch abbrechen zu dürfen.

»Ah, so, dann bist du also nicht mit Edda spazieren gegangen, wie ich mir dachte?«

Franz antwortete der Neugierigen mit einer so seltsamen Miene, daß sie alle Lust verlor, die Unterhaltung noch weiter fortzusetzen: »Nein, spazieren sind wir nicht gegangen, aber wir haben still beieinander gesessen und ernstlich über verschiedene Dinge geredet.«

Nach diesen Worten ging er fort, um seinen bequemen Malerrock anzuziehen und noch einen Blick in das Atelier zu werfen, ehe er sich zu Tische einfand. –

Gleich nach dem Essen begab sich Franz wieder in sein stilles Häuschen, nicht um darin zu arbeiten, sondern um mit vollem Ernste über die Lösung der ihm zu Teil gewordenen Aufgabe nachzudenken, mit der heute zustande zu kommen er sich nun einmal vorgenommen hatte. Allein alles, was er bedachte, ersann, erfand, sagte ihm nur wenig zu, und da auch vom Nachbarhause her sich niemand zeigte, der ihm mit einer besseren Idee zu Hilfe gekommen wäre, so rückte der große Plan um keinen Schritt seinem Ziele näher.

Alle Pläne aber, die Menschengeister und Menschenherzen in diesem Falle schmieden konnten, auch wenn sie einen scheinbaren Erfolg verheißen hätten, wären umsonst erdacht worden, denn die Vorsehung selber hatte diesmal zu handeln und, wie sie so oft tut, die Pläne der Menschen zu durchkreuzen und diese zur Betretung ihrer eigenen Wege zu zwingen beschlossen.

Während Franz im Atelier Stunde auf Stunde ohne irgend ein Resultat verrinnen sah, bis der Abend endlich herankam, der ihn zur Tante zurückführte, da das Gewitter, welches schon gegen mittag gedroht, setzt ernstlich heranzog, war unserer Heldin nicht die freundliche Stille und Ruhe in ihrem Hause vergönnt gewesen, wie sie Franz Marssen trotz alles seines Sorgens und Grübelns genoß. Ihr allein schien die Vorsehung die schwere Last aufgebürdet zu haben, den Knoten zu lösen, dessen Lösung sie sich als Aufgabe gestellt, und ihr allein wurde dabei jener heilsame Schmerz zu Teil, den die Natur, wie es scheint, absichtlich dem Menschen ins Herz drückt, nicht nur um es zu läutern, sondern auch die Freude desselben nachher um so süßer, reiner und vollkommener werden zu lassen.

Die arme Edda hatte einen schweren Morgen gehabt, aber sie hatte ihn mit Freuden begonnen und standhaft überwunden, und nun war sie mit dem Bewußtsein nach Hause gegangen, daß diese Standhaftigkeit, vielleicht ohne Freude, bald wieder auf eine harte Probe gestellt werden könne. Wie dem aber auch sein mochte, das kühne Herz, welches in ihrer Brust pochte, bebte vor keiner noch so schweren Prüfung zurück, und der kräftige Geist, der ihr zu Gebote stand, half ihr die Bedenklichkeiten und Besorgnisse besiegen, die sich immer wieder von neuem wie dunkle Wolken vor ihr auftürmten. Indessen wuchs ihre Unruhe und Ungeduld mit jeder Minute; in ihrem Herzen wie in ihrem Geiste gärte und drängte es nach Beendigung der Krisis, denn sie bedurfte der Klarheit, nicht in ihrem Verhältnis mit einem Menschen allein, sondern mit aller Welt, vor allen Dingen aber mit jenen treufesten, biederen Bewohnern des Nachbarhauses, auf deren Wohl ihre brennendsten Wünsche mit gleicher Innigkeit gerichtet waren wie auf das der Mitglieder ihrer eigenen Familie.

Als sie gegen elf Uhr in die stille Pension trat, kam ihr Miß Rosy eilfertig entgegen, erkundigte sich, ob ihr Vorhaben nach Wunsch abgelaufen, und als Edda ihr schweigend zugenickt hatte, sagte sie, daß die Mutter sich soeben auf ihr Sofa begeben und schon zweimal nach ihrer Tochter gefragt habe.

»Ich weiß nicht,« fügte die Gesellschafterin hinzu, »die Lady kommt mir heute ganz seltsam vor. Sie klagt nicht wie sonst und sieht wunderbar heiter aus.«

»Das wäre kein schlimmes Zeichen, Miß Rosy,« antwortete Edda schnell.

»Nein, das habe ich mir auch schon gesagt, aber ihr Auge hat einen merkwürdigen Glanz, und ihre Hände zittern ganz ungewöhnlich.«

»Das macht die Sehnsucht nach meinem Vater und die Erwartung dessen, was er bringt, Miß Rosy. Ich werde jetzt zu ihr gehen und bis mittag bei ihr bleiben. Sie können also Ihre Zeit nach Gutdünken benutzen.«

»Dann werde ich spazieren gehen,« sagte das arme geplagte Mädchen, »ich habe ein unwiderstehliches Bedürfnis nach frischer Luft.«

»Gehen Sie nicht zu weit, es schwebt ein Gewitter in den Bergen.«

Miß Rosy nickte und dachte bei sich: »Hier im Hause ist es auch schwül genug zum Gewitter, und ich ziehe das im Freien vor!«

Sobald Edda allein war, begab sie sich zur Kranken und als diese ihrer ansichtig ward, stieß sie einen schwachen Freudenruf aus und streckte ihr beide Hände entgegen, was ebenfalls eine seltene Begrüßungsweise der leidenden Frau war.

»Ach, mein liebes Kind,« begann sie mit matter Stimme zu reden, während sie ihre schwarzen, glänzenden Augen mit mütterlicher Innigkeit über das schöne Gesicht der Tochter laufen ließ, die sich auf einen Stuhl dicht an ihrem Lager niedergelassen hatte, »ach, ich habe eine recht lebhafte Sehnsucht nach dir gehabt.«

»Warum denn das, liebe Mutter?«

»Ich wollte dich noch einmal recht genau und in vollem Lichte des Tages sehen, der schon viel trüber geworden ist, als er heute morgen war.«

Edda erschrak, aber sie verbarg ihre Empfindungen mit aller Macht. »Ich verstehe dich nicht, liebe Mutter. Wie kommst du auf diesen Wunsch?«

Die Mutter schwieg eine Weile, dann die Hand der Tochter matt drückend, sah sie sie mit großer innerer Bewegung an und sagte leise: »Weißt du, daß ich mir den Tod wünsche?«

Das war nicht das erste Mal, daß Edda diesen Wunsch von den Lippen der Leidenden aussprechen hörte, aber niemals vorher hatte er einen so bewältigenden Eindruck auf sie gemacht, denn niemals war er mit einer so schmerzlichen Wehmut ausgesprochen worden. Edda wurde wie durch magische Gewalt zu der Mutter hingerissen, und augenblicklich kniete sie wieder auf dem Kissen, das vor dem Sofa lag, und ihre Hände umklammerten die der Mutter, wobei sie ihr schönes Gesicht tief niederbeugte, um die Tränen nicht sehen zu lassen, die leise aus ihren Augen rieselten.

»Du weinst,« fuhr die Mutter fort, »ich fühle es, wenn du mir auch dein Gesicht verbirgst. Aber weine nicht, Edda, lächle lieber, denn deine Knechtschaft ist bald zu Ende und die glückliche Freiheit beginnt.«

»Liebe, liebe Mutter, höre auf, so zu reden!« bat Edda, ihre kalte Stirn küssend, »wie kommst du auf so seltsame Gedanken und warum wünschest du dir den Tod?«

»Ich will es dir sagen: weil ich weiß, daß Ihr dann alle glücklicher sein werdet als Ihr jetzt seid. Ich stehe Euch überall im Wege, ich hindere Euch an allem und jedem, Ihr könnt zu keinem freien Atemzug kommen, so lange ich schwer und bang atme. Und weißt du, mein Kind, das ist auch das Unglück deines Vaters gewesen; auch ihn habe ich beschränkt und gehemmt in allem, er hat sich niemals frei nach seinem Gefallen und seiner Neigung bewegen können. Erst war meine traurige Gemütsart daran schuld, und dann meine Kränklichkeit. Ein Mann aber, wenn er sich glücklich fühlen soll, muß keine Fesseln tragen, er muß seinen Geist frei sich entwickeln lassen dürfen, und ich habe von jeher wie ein Alp auf seiner Brust gelegen. Das fühle ich jetzt so recht klar und es ist die Wahrheit. Und nun, da ich dir das gesagt, will ich dir auch sagen, daß ich bald sterben werde. Mein Herz hängt nur noch durch einen schwachen Faden mit dem Leben zusammen, und ist dieser Faden zerrissen, dann – dann schlägt es nicht mehr.«

So zusammenhängend, klar und geistig frei hatte Edda ihre Mutter noch nie sprechen hören und sie schauderte vor Angst, die ihr die Brust zusammenschnürte, so daß sie kein Wort hervorbringen konnte und nur leise fort weinte.

»So,« fuhr die Mutter fort, »nun habe ich dir gesagt, was ich dir sagen wollte und wußte – jetzt laß mich in Ruhe und setze dich beiseite, damit du mich nicht in meinen Gedanken störst.«

»Nein, nein,« rief Edda angstvoll, »der Faden hält noch – o laß ihn noch nicht reißen!«

»Still, du hältst ihn mit deinen Bitten und Tränen nicht fest und niemand sonst: ich fühle, wie dünn er ist und ich habe immer richtige Gefühle über mich selbst gehabt. Geh – ich bitte dich – ich will ungestört sein.«

Edda gehorchte und setzte sich still ans Fenster, um in den Garten hinauszuschauen, der, während sie mit der Mutter gesprochen, sein freundliches Ansehen verloren hatte. Die Sonne war vom Himmel verschwunden und der ganze Horizont hatte sich in einen trüben Dunstschleier gehüllt. Wolken waren nicht sichtbar, aber aus der Ferne her grollten dumpfe Donnerschläge, die das weitab tobende Gewitter verkündeten. Dabei war die Luft drückend heiß, es herrschte eine träge Windstille und der Himmel versagte der durstigen Erde seine Tränen, die um so reichlicher ganz im stillen aus Eddas Augen flossen, was nur selten bei ihr geschah, denn ihre Seele war stark und widerstand lange dem Angriff ihrer Empfindungen. Heute waren aber diese Empfindungen schon auf andere Weise wach gerüttelt und nun kam die schreckliche Mitteilung der Mutter hinzu; das brachte ihr volles Herz zum Überlaufen und sie gab sich diesem Ergusse ohne weiteren Widerstand hin.

Plötzlich aber hörte sie auf zu weinen. »Es ist vorbei,« sagte sie zu sich, »ich will, ich muß fest und standhaft sein. Ich darf nicht klagen und mich meinen Schmerzen hingeben, ich muß handeln, und wer weiß, wie nahe mir das Handeln gerückt ist. Wer durch diesen Schleier sehen und das dahinter verborgene Licht wahrnehmen könnte – o! welcher Trost, welcher Beistand wäre mir das!«

Aber sie sollte an diesem Vormittag noch kein Licht vor sich sehen. Es geschah nichts um sie her, nichts regte sich in ihr, was sie zu irgend einem Handeln veranlaßt hätte, denn noch war es nicht in ihr klar, sie wußte noch nicht recht, wie sie ausführen könnte, was sie ausführen wollte, obgleich es von Stunde zu Stunde stärker und gewaltiger in ihrem Innern gärte, wie wenn der Ausbruch des Gewitters, das in der Natur draußen noch immer auf sich warten ließ, wenigstens in ihrem Innern zum Ausbruch gelangen sollte. –

Miß Rosy war mittags zurückgekehrt und hatte Edda in der Wartung ihrer Mutter abgelöst. Edda war nach Tisch in ihr Zimmer gegangen und hatte eine Stunde zu schlafen versucht. Aber der Schlaf kam nicht, so sehr sie ihn herbeiwünschte, nicht um durch ihn frische Kräfte zu gewinnen, nein, deren bedurfte sie nicht, sondern um sich die Zeit verkürzen zu lassen, die ihr immer länger und bänglicher wurde, umsomehr, da das Gewitter vorübergezogen, der Himmel aber trüb und traurig geblieben war, der alles Licht, was er in sich besaß, an diesem Morgen auf die Erde und in Eddas Herz ausgegossen zu haben schien.

Endlich war es vier Uhr geworden und Edda wollte so eben zu ihrer Mutter gehen, als Miß Rosy bei ihr erschien und sie bat, zu Mylady zu kommen, die sie sprechen wolle.

Mit eiligen Schritten verfügte sich Edda an ihr Lager, und kaum hatte sie es erreicht, so erneuerte sich die Szene vom Morgen und die Mutter ergriff die Hände der Tochter und hielt sie mit ungewöhnlicher, fast krampfhafter Spannung fest.

»Edda,« seufzte die Kranke, »mir ist ganz seltsam bang und beklommen zu Mute. Was ist die Uhr?«

»Es ist vier Uhr, liebe Mutter.«

»Wann kommt der Vater?«

»Vor acht Uhr kann er nicht hier sein – so lange mußt du dich in Geduld fügen.«

»O, das ist schrecklich – meine Geduld ist hin – ich will ihn nur noch einmal sehen – und dann –«

»Und dann?« fragte Edda mit bebenden Lippen.

Sie erhielt keine Antwort. Und da die Mutter ihre Hände einen Augenblick los ließ, stand Edda leise auf, ging zu Miß Rosy hin, die am Fenster saß, und flüsterte: »Senden Sie rasch zu unserm Arzt, der Zustand meiner Mutter kommt mir bedenklich vor.«

Miß Rosy schlüpfte aus dem Zimmer und zwei Minuten später lief der Diener des Barons nach Interlaken, um den Arzt herbeizurufen, der bisher die kranke Dame behandelt hatte, obgleich sie keine Arznei nahm und nicht das geringste Vertrauen mehr zu menschlicher Hilfe hegte. Nach einer Viertelstunde aber kam der Diener wieder und meldete, daß der gesuchte Arzt nicht anwesend sei und erst spät am Abend nach Interlaken zurückkehren werde.

Als Edda diese Meldung empfing, war es ihr plötzlich, als ob ein dunkler Vorhang, der bisher vor dem Auge ihrer Seele gehangen hatte, weggezogen würde. Alle Verhältnisse, die sie umgaben, lagen mit einem Male wie entschleiert und verklärt vor ihr, alle Personen hatten eine andere Gestalt, ein ruhigeres, harmonischeres Wesen angenommen, und die Angst, die auf ihrem Herzen gelegen, war verschwunden, als ob eine helfende Hand, mit göttlicher Kraft begabt, aus den Wolken in ihre Hilflosigkeit eingegriffen und ihrer Ratlosigkeit ein Ende gemacht habe. Fast war der Entschluß schon in ihr zur Reife gediehen, zu Doktor Marssen zu laufen und ihn zu bitten, ihre Mutter zu besuchen – sie wußte ja nicht, daß auch er nicht zu Hause war – aber noch war etwas in ihr, was sie davon zurückhielt, es glich einer inneren Stimme, die zu sagen schien: »Noch nicht! Es ist noch nicht die rechte Zeit! Habe Geduld! Er kommt zeitig genug, der dir und ihr und Euch allen helfen kann!« –

Abermals verging eine Stunde und die Kranke lag ruhig auf ihrem Lager, als ob sie schliefe. Bald glitt Edda, bald Miß Rosy leise an sie heran, aber jedesmal kehrten sie nach dem Fenster zurück, ohne daß ihre Hilfe verlangt oder ihre Anwesenheit beachtet worden wäre.

Die beiden Mädchen saßen still am Fenster und blickten in den trüben Tag hinaus, dessen unheimliche Schwüle von Minute zu Minute drückender wurde.

»O, wenn es doch regnen wollte!« seufzte da Edda leise auf. »Mir ist, als ob dieser Regen Kühlung und Wohlsein bringen müßte, es ist so entsetzlich heiß!«

Miß Rosy wandte das bleiche Gesicht nach dem Garten hinaus und lächelte. »Sie haben es gewünscht, Edda, und Gott hat Sie lieb, er hat Ihre Bitte erhört – eben fängt es an zu tröpfeln.«

Edda erhob sich geräuschlos und öffnete behutsam ein Fenster. In der Tat, schon hörte man einzelne kleine Tropfen auf die Weinblätter fallen: bald darauf rauschte es lauter und ein feiner Staubregen rieselte hernieder, der augenblicklich eine erfrischende Kühlung in das Zimmer strömen ließ.

»Gott sei Dank!« sagte Edda. »Das erquickt und die qualvolle Spannung löst sich in Wohlgefallen auf.« Und leise setzte sie hinzu: »Ja, Gott hat mich noch lieb, und so wird er mir heute noch meine zweite Bitte erfüllen!«

Eine geraume Zeit saßen die Mädchen am offenen Fenster und erleichterten ihre volle Brust durch tiefe Atemzüge, indem sie die balsamische Luft einsogen, die jetzt aus den Blättern der Bäume und der angefeuchteten Erde quoll.

»Es regnet!« rief plötzlich die Stimme der Kranken laut. »O, das ist schön! Mach' die Fenster weit auf, Kind, es erquickt auch mich!«

Miß Rosy öffnete beide Fensterflügel und Edda ging froh lächelnd zur Mutter. »Was ist die Uhr?« fragte diese.

»Es ist gleich sieben Uhr, liebe Mutter, und in einer Stunde kann der Vater hier sein.«

Die Kranke nickte befriedigt. »Es ist gut,« sagte sie. »Noch eine Stunde? O ja – dann ist es noch Zeit.«

»Wozu ist es noch Zeit?«

Sie erhielt keine Antwort. Die Kranke wandte sich nach der Wand um und schloß wieder die Augen. Edda blieb dennoch neben ihr sitzen und verfolgte aufmerksam ihre Atemzüge, die ihr regelmäßig zu kommen und zu gehen schienen.

Wieder verging eine halbe Stunde. Von den beiden Mädchen saß abwechselnd eins am Bett, eins am Fenster, und so teilten sie sich in die Bewachung der Kranken, während sie dabei ihren eigenen traurigen Gedanken nachhingen. Da wandte sich die Mutter noch einmal nach dem Fenster und rief:

»Edda! Die Luft ist süß – ich lebe wieder auf. Könnt Ihr mein Bett nicht um einige Schritte näher an das Fenster bringen?«

»Gewiß, liebe Mutter, das soll bald geschehen sein!« erwiderte Edda freudig, und sogleich bewegte sie und Miß Rosy das Sofa, das auf Rollen stand, langsam dem Fenster zu und die linde Abendluft strömte in frischeren Wellen der Kranken entgegen und sie atmete sie hastig mit tiefen Zügen ein.

»So,« sagte sie, »das ist erfrischend. Was ist nun die Uhr?«

»Es geht auf acht, liebe Mutter!«

»Das ist gut – nun kommt er bald!«

»Vielleicht bringt er freudigere Nachricht mit, als wir denken!« warf Edda hin, ohne selbst an ihren Trost zu glauben und nur, um der Mutter auf einige Augenblicke das Herz zu erheben.

»Nein, nein!« sagte diese und bewegte die Hände auf eine Weise, daß man sah, sie wollte damit ihrer Überzeugung einen stärkeren Ausdruck geben. »Ach, es ist auch gleichgültig, was er bringt, wenigstens für mich. Doch will ich es hören. Aber daß er bald kommt, ist gut.«

»Es würde vielleicht besser für dich sein,« begann Edda wieder, »wenn du heute seine Mitteilung nicht mehr hörtest – morgen, nachdem du gut geschlafen, bist du gewiß kräftiger, liebe Mutter.«

Über das bleiche Gesicht der Kranken flog ein matter Schimmer geheimnisvollen Lächelns, das ihre Züge auf kurze Zeit mit einer Verklärung überzog, die ihre ehemalige Schönheit noch einmal wie eine blasse Erinnerung hervortreten ließ. »Nicht?« fragte sie. »Warum nicht? O, mein Kind, ich kann – alles hören – mir schadet es nicht mehr.«

Edda warf einen Blick nach dem Nachbargarten hinüber und wieder stand sie auf dem Sprunge, dahin zu laufen, aber nochmals rief ihr die innere Stimme zu: »Nein! Noch nicht!« und abermals gehorchte sie ihr und blieb gedankenvoll am Fenster sitzen.

Endlich schlug die Uhr im Zimmer laut achtmal an.

»Da schlägt es acht Uhr, mein Kind, die Dämmerung nimmt rasch zu und er ist noch nicht da! Hole Licht, hole Licht – es wird mir so dunkel hier!«

Miß Rosy ging hinaus und kam bald mit einer halbbeschatteten Lampe wieder herein, die sie im Rücken der Kranken auf einen Tisch stellte; Edda aber setzte sich an ihr Lager, nahm ihre Hand und sagte:

»Nun kommt er bald, liebe Mutter, habe nur noch ein wenig Geduld. Es ist ja von Neuhaus, wo der Dampfer anlegt, ein weiter Weg bis hierher und der Vater fährt nicht gern in einem vollen Wagen, wie du weißt.«

Es verging noch eine halbe Stunde, die Uhr schlug halb neun und noch immer kam niemand. Jetzt wurde die Kranke unruhig, richtete sich, von Edda unterstützt, wiederholt halb im Bette auf und horchte aufmerksam nach dem Fenster hin.

Wie der ebenso sehnsüchtig nach dem Vater verlangenden Tochter die Zeit verstrich, wußte sie nicht, aber obgleich sie ihr im ganzen lang wurde, schienen ihr die einzelnen Minuten zu fliegen, denn sie hatte ein großes Gedankenfeld vor sich und ohne Unterlaß schweifte sie mit ihrem immer klarer blickenden Geiste darüber hin, bald auf diesem, bald auf jenem Punkte länger verweilend, als sie es selber dachte.

Da zeigte die Uhr zehn Minuten vor neun, und plötzlich rief die Kranke laut: »Edda! Dein Vater kommt – ich höre ihn!«

Die Mädchen lauschten aber sie vernahmen nichts.

»Du hast dich geirrt, liebe Mutter – ich höre doch sonst sehr gut!«

»Nein, nein, ich irre mich nicht; meine Sinne sind heute wunderbar scharf und ich sehe ihn auch fast – er muß schon am Garten des Hauses sein –«

Sie hatte sich in der Tat nicht geirrt. Eben kam ein schwerer, müder Schritt näher, man hörte ihn schon auf den Kies des Gartenwegs treten. Da erstieg er die Stufen der Veranda. Edda flog ans Fenster; es war wirklich der Baron Juell Wind, der den Weg von Neuhaus her zu Fuß zurückgelegt hatte und seine kleine Reisetasche sich von einem Knaben nachtragen ließ. Er war durchnäßt, denn er hatte keinen Schirm bei sich. Als er näher kam, bemerkte Edda, daß er sein Auge nicht erhob und daß sein Kopf, wie in Gedanken versunken, tief auf der Brust hing. Ihr Herz schlug dumpf und bang, ihr Auge war, gleich dem der Mutter, beinahe hellsehend geworden, und so wußte sie, was kam. Sie wollte dem Vater nach der Tür entgegeneilen, aber ihre Füße trugen sie kaum. Sie stützte sich einen Augenblick auf Miß Rosys Schulter, aber nur einen Augenblick, dann war sie wieder die starke, willenskräftige Edda, ihr Auge belebte sich, ihre Hände zitterten nicht mehr und sie öffnete leise die Tür, durch die soeben ein Mann schritt, der sich auf dem Flur nur so lange aufgehalten hatte, als erforderlich war, um sich von dem herbeieilenden Diener den nassen Oberrock und den Hut abnehmen zu lassen.

Aber wie sah das Gesicht dieses Mannes und dieser Mann selbst aus! Wo war die selbstbewußte stolze Haltung seines hohen Körpers geblieben? Zusammengeknickt, als wäre er kleiner geworden, trat er in das Zimmer, sein graues dichtes Haar und sein Bart, sonst immer so sorgfältig geordnet, hingen verworren um seinen Kopf und seine umflorten Augen blickten irr und scheu in dem Gemache umher, als könnten sie nicht gleich auf der Stelle begreifen, warum das Sofa der Kranken mitten im Zimmer stand. Da aber flog ihm Edda entgegen, und seinen Hals mit ihren Armen umschlingend und ihre glühenden Wangen an sein bleiches Gesicht legend, in dessen matten Zügen der Kummer seine Wohnung aufgeschlagen, rief sie laut:

»Vater, mein Vater! Da bist du – Gott sei Dank! Wir haben dich lange erwartet!«

Baron Juell Wind nahm fast keine Notiz von seiner Tochter, er sah sie gar nicht an, und nur ein Ausruf, welchen sie gesprochen, hatte sein Ohr erfaßt.

»Gott sei Dank?« fragte er. »Warum?«

»O, die Mutter, die Mutter hat sich so sehr nach dir gesehnt!«

»Hat sie das? Hat sie das? O!«

Und er trat dicht an das Sofa, beugte sich ein wenig nieder und streckte seine Rechte den beiden Händen der Kranken hin, die ihm schon lange entgegenzitterten.

»Maggie!« sagte er in englischer Sprache, die ja Lady Juell Wind nur allein verstand, »da bin ich – aber ich bin naß – ich darf dich nicht anfassen. –«

»Faß mich an, faß mich an, ich habe lange genug darauf gewartet!«

Gleich darauf saß er auf einem Stuhl, den ihm Edda herangerückt, und nachdem er einen schmerzvollen Blick auf das bleiche Angesicht vor ihm gerichtet, seufzte er aus voller Brust auf und sagte leise: »Da hast du meine Hand – ich begrüße dich – o!«

Miß Rosy, nachdem sie nur einen Blick auf den Ankommenden geworfen und dann einen zweiten mit Edda ausgetauscht, hatte sich unbemerkt entfernt, vielleicht, weil sie eine Mitteilung voraussah, die nur die Familie betraf, vielleicht auch, weil sie sich scheute, der vorgehenden Szene als Zeugin beizuwohnen und sich sehnte, einige Augenblicke allein zu sein. Edda dagegen stand dem Vater gegenüber, am Kopfende des Sofas; ihr dunkles Auge war mit brennender Schärfe auf sein verwüstetes Gesicht gerichtet, und sie wartete nur den Augenblick ab, wo der Vater die Kranke begrüßt haben würde, um ihrerseits ihre Fragen zu beginnen. Dabei schlug ihr Herz ruhiger denn je; sie wußte bereits, daß sie nichts Gutes zu erwarten habe, und so fand sie sich schnell in das Unvermeidliche und stellte sich auf ihren Posten, um auch jetzt ihre Pflicht zu erfüllen, wie sie sie immer gegen diesen herrischen Vater erfüllt hatte.

Aber die Begrüßung der beiden Gatten dauerte nicht lange. Die Mutter, die sich so darauf gefreut hatte, ihren Mann wiederzusehen, blieb, nachdem sie ihm die Hand gedrückt, stumm, und nur ihre Augen hingen an seinen Lippen, als könne sie die Zeit nicht erwarten, bis er sprechen würde.

Als er aber immer noch zögerte, glaubte Edda, das Wort nehmen zu müssen, und dicht an ihn herantretend und ihre Hand vertraulich auf seine Schultern legend, sagte sie mit fester, energischer Stimme: »Vater, sprich, was bringst du?«

Der Vater warf ihr heimlich einen abweisenden Blick zu und deutete mit der Hand auf die Mutter hin, als fordere er sie dieser wegen zum Schweigen auf. Dann wandte er sich wieder zu der Kranken und sagte leise:

»Du siehst heute gut aus, Maggie, wie geht es dir?«

»Mir geht es auch gut, sehr gut, Rolf, aber du – du siehst schlecht aus – wie geht es dir?«

»Ich will es dir morgen sagen,« stöhnte er, einen verzweifelten Blick auf Edda werfend, »heute ist es zu spät, du schläfst sonst nicht.«

»Nein, nein,« rief die Kranke ungewöhnlich heftig, »jetzt gleich will ich es wissen, vielleicht schlafe ich leicht danach ein. Sonst kann ich vor Unruhe kein Auge schließen. Sprich, sprich, ich weiß ja doch schon, was es ist, Edda weiß es auch.«

Der Baron drückte die rechte Hand gegen die Stirn und bedeckte die Augen eine Weile damit, während seine Linke noch immer in der Hand seiner Frau ruhte. »Kinder,« stöhnte er mehr als er sprach, »wir haben uns nicht umsonst vor dieser Vorladung – denn weiter war es ja nichts – gefürchtet. Alles ist eingetroffen – alles, alles – was ich vorausgesehen.«

Da er eine kurze Pause eintreten ließ, um zu frischem Atem zu kommen, drängte sich Edda näher an ihn heran und sagte: »Weiter, Vater – nun kannst du ihr alles sagen.«

»Hm, ja!« fuhr der Baron fort. »Ja, alles! Ich habe nur wenige Worte zu machen. Der von Kopenhagen in außerordentlicher Mission nach Bern gekommene Herr, der mich, wie unser Gesandter schrieb, zu sprechen verlangte, war kein anderer, als der Geheime Etatsrat ..., mein alter Feind, der schon vor vielen Jahren im Reichsrat und in der Presse mein politischer Antipode war. Als er mich empfing, lächelte er höhnisch, und nachdem ich ihn begrüßt, sagte er: Herr Geheimrat, ich stehe im Auftrag Seiner Majestät vor Ihnen, um Ihnen anzukündigen, daß Sie von dieser Minute an aller Ihrer Missionen und Geschäfte enthoben sind, und daß ich dieselben hier und anderwärts weiter zu führen habe. – Warum das? fragte ich, da er schwieg. – Das werden Sie in diesem Schreiben lesen, sagte er. Und damit lachte er schadenfroh, und unser Gespräch war zu Ende, welches ebensogut ein Droschkenkutscher wie ein Diplomat hätte führen können.«

»Wie, zu Ende?« rief Edda erstaunt.

»Ja, wenn du nicht noch einige boshafte Blicke in Rechnung bringen willst, mit denen mich mein Nachfolger im Amt bis zur Tür begleitete.«

»Aber was stand in dem Schreiben, Vater?« rief Edda entrüstet.

Baron Juell Wind atmete tief auf, warf auf Frau und Tochter einen kläglichen Blick, dann nahm sein Gesicht wieder einen drohenden, herrischen Ausdruck an, und er sprach mit zusammengebissenen Zähnen:

»Darin stand, mit einfachen Worten gesagt, daß ich – daß ich ein ruinierter Mann bin. In herben Ausdrücken, ohne alle Umschreibung und Ausschmückung, was mich mehr demütigte, als der empörende Inhalt, sagte man mir, daß ich meiner Ämter enthoben sei und daß ich es nur noch der Gnade Seiner Majestät zu danken habe, wenn er mich mit der Stelle eines Zuchthausdirektors in Island betraue. –«

»Eines Zuchthausdirektors – in Island!« rief Edda, die Hände zusammenschlagend. »O mein Gott!«

»In Island – ja; wenn ich aber die Übernahme dieses ehrenvollen Postens verweigerte, würde ich jeder anderweitigen Anstellung in Dänemark entsagen müssen, und könnte mich nach Belieben an irgend einen Ort der Welt außerhalb des Reiches, in welchem der Danebrog weht, mit 600 Reichstalern Pension zurückziehen.«

»Mit 600 Reichstalern! Aber das ist ja eine vollkommene Entsetzung und Verbannung?«

Der Baron nickte. »Ja, das soll es auch sein, mein Kind – und man gibt mir für so viele Mühen, Sorgen und Qualen während einer beinahe dreißigjährigen Dienstzeit 600 Reichstaler als ein Almosen – ein Almosen mir, dem Baron Rolf Juell Wind, dessen Vater einst beinahe – eine halbe Million besaß. O mein Gott!«

Edda richtete sich stolz und fast majestätisch auf. »Was für Gründe hat man dir für diese Verbannung angegeben, oder war man vielleicht ›so gnädig‹, dir gar keine anzugeben?« fragte sie mit blitzenden Augen und schneidender Ironie.

»Ja, mein Kind, in dieser Beziehung war man noch gnädig genug. Mit dürren Worten stehen folgende Gründe in der Schrift, die du morgen lesen kannst: Erstens habe ich die gerechte dänische Sache mit der ungerechten deutschen vertauscht und sei in das feindliche Lager übergegangen, was, wie Ihr wißt, eine Lüge ist, denn ich habe nur den Weg der Vermittlung betreten wollen, weil ich von dem, allen Gesetzen widersprechenden Unrecht unserer Regierung in Betreff der Herzogtümer überzeugt bin. Zweitens will man die untrüglichen Beweise in Händen haben, daß ich unseren Interessen seit Jahren im Auslande lau gedient und den Einflüsterungen schleswigscher Sendboten mein Ohr geliehen habe. Das sind die Gründe, meine Liebe, oder sie werden vielmehr nur als solche vorgeschützt – in Wahrheit aber hängt alles anders zusammen.«

»Wie hängt es zusammen, Vater, wie, wie? O bitte, sage es mir!«

»Es hängt also zusammen, mein Kind. Die eigentlichen Feinde Dänemarks – und das sind unsere fanatischen, überradikalen Minister in diesem Augenblick – haben im Schoße der Regierung gesiegt und dem König Schach geboten, wenn er sich nicht fügen wolle, und der König hat sich gefügt. Sie haben den Weg der Versöhnung mit Deutschland auf ewig verlassen und abgebrochen. Dänemark will fortan, wie es bisher ein halb deutsches, halb dänisches Reich war, ein ganz dänisches sein und so sollen die Herzogtümer völlig unterworfen und dem Inselreiche einverleibt werden. Man hat im stillen eine Verfassung ausgearbeitet, die zu geeigneter Zeit dem ganzen deutschen Volk als Fehdehandschuh ins Gesicht geschleudert werden soll. Daß dieses unsinnige Werk nicht gelingen kann, sagt mir mein Gewissen, meine Überzeugung vom Recht, meine staatsmännische Erfahrung. Und daß ich meine Hand nicht dazu bieten würde, das wußten die Herren in Kopenhagen, und damit ich ihnen in keiner Weise hinderlich sei, mußte ich aus dem Amte und aus dem Lande. Aber Dänemark hat sich verrechnet, es kann in diesem Falle nicht siegen. Erst wenn es einmal am Boden liegt, wird die Reue kommen, und wenn die Herzogtümer verloren sind, werden die Herren einsehen, daß nicht ich und meine Gesinnungsgenossen, sondern daß allein sie es waren, die ihr Vaterland an den Rand des Verderbens brachten. So, mein Kind, steht die Sache, und Ihr sehet also in mir einen verbannten, geächteten, gedemütigten – verarmten Mann vor Euch.«

Er schwieg und wagte weder seine Frau anzublicken, die auf ihr Lager zurückgesunken war und nun ruhig mit geschlossenen Augen dalag, noch Edda, die fest an das Sofa gelehnt stand und ihre brennenden Augen mit großer Spannung auf die ihres Vaters gerichtet hielt. Als es ihr aber endlich gelang, das lange gesuchte Auge des Vaters zu erhaschen, nickte sie ihm mit einem feurigen, ermutigenden Blick zu, und dieser Blick mußte ihn wunderbar ergreifen, denn er brach plötzlich in eine bei ihm ganz ungewöhnliche Wehmut aus und sagte mit halb gebrochener Stimme:

»Ja, mein Kind, ich habe also wieder einmal ein hohes Spiel gespielt und es abermals verloren, wie schon früher viele andere. Mir gehen alle meine Spiele verloren, und warum? Weil ich auch zu den starren, eigensinnigen Menschen gehöre, die sich nie zur rechten Zeit besinnen und bezwingen können, bei denen die Reue stets zu spät kommt, wie das Bewußtsein der Schuld. Schon mein guter alter Vater hat mir einst gesagt, daß es so mit mir kommen würde, wie es jetzt gekommen ist. Aber die Jugend – und jung war ich damals – ist niemals weise und stets übermütig, und das war ich auch. Und jetzt, jetzt ergreift mich die Strafe dafür – um so schrecklicher, weil sie Euch zugleich mit mir trifft.«

Edda hatte sich ihrem Vater wieder genähert und einen Arm um seine Schulter gelegt. Dann sah sie ihn liebevoll an und sagte: »Mich trifft sie nicht schrecklich, mein Vater, ich bin schon lange dagegen gewappnet.«

»O ja, ich weiß, du bist ein starkes Mädchen und hast ein großes Herz – stärker und größer als das meinige, obgleich ich ein Mann und wahrhaftig kein Schwächling bin. Aber wie ist es mit dieser da?« fügte er hinzu, einen schwermütigen Blick auf seine Frau werfend, die, leise atmend, noch immer die Augen geschlossen hielt und den Kopf tiefer und tiefer in die Daunenkissen drückte.

Edda zuckte wehmütig die Schultern, als wollte sie sagen: »Auch sie ist dagegen gewappnet, denn sie fühlt es nicht wie wir.«

»Ich glaube, sie schläft,« sagte der Baron leise, legte die Hand, die er noch immer gehalten, behutsam auf die Bettdecke und stand auf. »So,« fuhr er fort, mit Edda in eine Ecke des Zimmers tretend, nachdem er die Fenster geschlossen, »das wäre vollbracht, und nun, mein Kind, will ich mich an den Schreibtisch setzen und meinen Gefühlen, so lange sie noch frisch sind, Luft zu machen suchen. Ich werde an den »frommen und sanften Herrn Bischof« nach Hause schreiben und ihm einmal frei von der Leber weg meine Gedanken mitteilen. Die sollen ihm wie Gespenster erscheinen, wenn er sie liest, falls er einmal in eine ähnliche Grube fällt, wie er sie mir gegraben hat. Morgen kannst du das Blatt lesen und mir deine Meinung sagen. Sende mir nur etwas Wein, denn ich bin schwach wie ein Kind, und dann laß mich allein. Ich habe viel zu denken und zu überlegen, und da ich diese Nacht doch nicht schlafen kann, will ich sie wenigstens mit nützlicher Arbeit verbringen – dann bin ich morgen ein freier Mann – ah! – und du – du wirst dich ja auch wohl ist meine Armut finden können, nicht wahr?«

»Ja!« sagte Edda fest und mit strahlenden Augen, »das kann und werde ich!«

Er schloß sie in seine Arme und sie küßte ihn herzlich und wiederholt.

»Meine Edda,« flüsterte er da und Tränen erstickten fast seine Stimme, »du bist jetzt meine einzige Stütze – du bist mir alles – denn alles, alles, was ich sonst besaß, das habe ich verloren – unwiederbringlich, und ich bin ein ganz – ganz armer Mann!«

Bei diesen Worten ließ er sie los und wankte zur Tür hinaus; dabei aber sah er weder den triumphierenden Blick, der hinter ihm her aus ihren brennenden Augen schoß, noch sah er das göttliche Lächeln, das über ihre schönen Züge zuckte und welches der Ausdruck ihrer Seele war, die damit sagen zu wollen schien: daß doch noch nicht alles verloren sei und daß der Mensch im Irrtum schwebe, wenn er denkt, daß kein Gott im Himmel lebt, der sein Auge über alle Menschen offen hält und diejenigen mit dem Ausfluß seines Geistes stärkt, die er zu Handlangern seines Willens bestimmt hat.


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