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Buchschmuck

Viertes Kapitel.
Auf der Heimweh-Fluh.

Glücklich, wie sie es lange nicht gewesen, war Edda am Abend nach ihrem Besuch bei Tante Karoline in das Haus zurückgekehrt, welches augenblicklich ihre Familie in Interlaken bewohnte, und wohin wir ihr jetzt zum ersten Male folgen wollen. Lange hatte ihr Herz nicht so vor Freude geklopft, und ihr Geist eine solche Befriedigung empfunden, denn alles, was sie in ihrem Innern hatte entströmen lassen wollen, war in den Busen eines vortrefflichen weiblichen Wesens ausgegossen, und alles, was sie von diesem Wesen hatte erfahren wollen, war ihr mit einigem Widerstreben zwar, aber doch ganz so, wie sie es gewünscht und gehofft, mitgeteilt worden. Ach! ein düsterer nächtiger Schatten, der wie eine verhängnisvolle Gewitterwolke schwer auf ihrer Seele gelegen, war davon weggenommen, ihre Brust atmete nicht mehr beklommen und ängstlich, ihre größte Lebenssorge war geschwunden oder wenigstens viel kleiner und weniger drückend geworden, die Zukunft, die sie nur mit trüben Schleiern verhangen gesehen, war aufgelichtet und endlich, endlich tagte ein liebliches Morgenrot an dem Horizont ihres bisher so herzenseinsamen und wenngleich in manchen Dingen glanzvollen, doch im ganzen immer beklagenswerten Lebens. Ja, eine freundliche, wohltätig wirkende Sonne war endlich über ihr, vor ihr aufgegangen, und wer je die göttliche Gabe auf Erden kennen gelernt hat: unter so vielen gleichgültigen, herzenskalten Menschen ein warmes, reines, uneigennütziges Freundesherz gefunden zu haben, der wird die Wonne begreifen, die Edda, die feurige, lebensvolle Edda durchglühte, als sie sich diesen endlichen Triumph, nach dem sie so lange vergeblich geschmachtet, eingestehen konnte.

Mit raschen Schritten eilte sie, als sie das Haus des Doktor Marssen verlassen, der nahegelegenen stillen Pension zu. Nur einen flüchtigen Blick noch warf sie um sich her, als sie die mit Blumentöpfen besetzte Veranda erreichte, schlüpfte dann in ihr kleines Zimmer, wo sie Hut, Mantille und Handschuhe ablegte, vor einem Spiegel ihr Haar in gewöhnlicher Weise ordnete, und nun an eine Tür trat, die mit einer Portiere verhangen war, um jeden Schall, jeden Laut, der von außen her in das nächstgelegene Zimmer dringen konnte, davon abzuhalten. Sie schob den schweren Vorhang etwas beiseite und horchte an der Tür; da sie aber kein Geräusch vernahm, so öffnete sie dieselbe behutsam und trat mit unhörbaren Schritten in das Zimmer ein, dessen Boden mit dichten Teppichen belegt war und welches durch die Stille und die Dunkelheit, die darin herrschten, einen unheimlichen Eindruck auf den Eintretenden hervorbrachte, wie er nur den Zimmern Schwerkranker eigen zu sein pflegt.

Es war ein großes Gemach, mit hellen Tapeten bekleidet, in welches wir jetzt mit Edda treten, und seine Ausstattung war ziemlich elegant, wie man sie in Interlaken in den feineren Pensionen überall findet. Aber man sah sehr wenig von dem Inhalt, und beim ersten Blick sogar, ehe das Auge sich an die Dunkelheit gewöhnt, konnte man kaum die zwei Personen wahrnehmen, die sich gegenwärtig darin aufhielten. Denn die blauen Damastvorhänge schlossen dicht alle Fenster, und zur Vorsicht waren auch noch die Jalousien außerhalb derselben bis auf eins niedergelassen, so daß nur ein mattes Licht auf Miß Rosy Bruce fiel, die an diesem Fenster saß und still für sich in einem Buche las.

An der längsten Wand des Zimmers, von den Fenstern weit entfernt, stand ein weiches Ruhebett, und darauf lag, halb unter warmen Tüchern und Decken verborgen, eine abgezehrte Gestalt, deren aschenbleiches, hageres Gesicht infolge der schwachen Beleuchtung und der bläulichen Lichtreflexe, die durch die Vorhänge hervorgebracht wurden, ein noch viel hinfälligeres und mitleiderregendes Aussehen erhielt. Wenn man die Gesichtszüge der Leidenden aber einer näheren Musterung unterwarf, so wußte man nicht, ob dieselben mehr durch leibliche Krankheit gelitten oder ob sie infolge vollkommener Lebensmüde, des erstorbenen Geistesfunkens und durch die Einförmigkeit eines völlig reiz- und genußlosen Lebens das charakteristische Gepräge erhalten hatten, welches so peinlich wirkte.

Unbeweglich, ihre abgezehrten bleichen Hände auf die seidene Bettdecke ausgestreckt, lag die arme Lady auf dem Sofa und starrte mit ausdruckslosen Augen vor sich in die Leere hin. Bis vor wenigen Minuten hatte Miß Rosy ihr vom Fenster her aus einem englischen Buche vorgelesen, was eine schwierige Aufgabe war, denn sie durfte nicht zu laut lesen, um die empfindlichen Gehörwerkzeuge der Kranken nicht zu belästigen, und nicht zu leise, um ihre Worte verständlich bis nach dem Sofa hin dringen zu lassen. Wie Lady Bolton aber durch alles leicht und schnell ermüdet und gelangweilt wurde, so hatte sie auch soeben Miß Rosy Schweigen auferlegt, und nun gab sie sich allein ihren trostlosen Gedanken hin, die weit, weit in der Welt umherschweiften und doch nirgends einen Ruhepunkt fanden, auf dem sie mit Behagen oder nur mit Befriedigung hätten verweilen mögen.

Lady Bolton war eins jener unglücklichen und von der Natur so stiefmütterlich bedachten Wesen, die an nichts auf der Welt einen regen und lebendigen Anteil nehmen, die an nichts Interesse finden, denen alles gleichgültig ist und für die das Leben wie die ganze Erde selbst sich vergebens mit so zahllosen Reizen geschmückt hat, ja, denen der Tod selbst kein Trübsal, fast nur eine Erlösung ist, da sie das eigentliche irdische Dasein mit seinen Freuden und Wohltaten nicht kennen gelernt haben und nicht zu erkennen verstehen. Sind diese Wesen in sich glücklich oder unglücklich? Für sich allein sind sie vielleicht nicht ganz unglücklich, denn sie kennen keinen anderen Geistes- und Gemütszustand; in den Augen der Welt und der sich gern darin Bewegenden aber, denen sie nie mit dem Herzen nahe getreten sind und deren Freuden sie von Hause aus entsagt zu haben scheinen, sind sie gewiß die unglücklichsten, welchen Gott das Leben gegeben hat. Nur ein negatives Glück ist ihnen zuteil geworden und darum dürfte sie sogar mancher sonst Glückliche beneiden: wie sie durch keine Freude in Wallung gesetzt werden, drückt sie auch keine Sorge nieder; alles, Freude und Leid, verschwimmt vor ihren Augen wie in ihren Herzen zu einem unbedeutenden, wertlosen Nichts, der Geist selbst in ihnen ist tot, und so kann er auch nicht die Schmerzen empfinden, von denen andere, Glücklichere, so häufig niedergebeugt werden.

Zu diesen, gerade in der vornehmeren Welt nicht selten vorkommenden Wesen gehörte Lady Bolton. So war sie gewesen von ihrer Kindheit an, schon lange bevor sie vom Unheil in mannigfachster Gestalt heimgesucht worden, obwohl ihre Apathie und Gleichgültigkeit gegen alles mit den Jahren bedeutend zugenommen hatte. Für sie existierte nichts, was bei anderen Menschen so erhebend und belebend auf das Auge, das Ohr und dadurch auf den Geist und das Gemüt wirkt, und sie hatte von jeher eigentlich nur das Dasein einer lebendigen Maschine geführt, die allein durch die regelmäßige Wiederkehr althergebrachter Gewohnheiten und natürlicher Bedürfnisse in Atem erhalten wurde.

Als Edda in das Zimmer mehr glitt als trat, nickte sie zuerst der sich halb erhebenden Miß Rosy freundlich zu, dann bewegte sie sich nach dem Lager der Mutter und kniete leise auf ein davor liegendes Kissen nieder, auf welches die Kranke, wenn sie sich einmal erhob, zuerst zu treten pflegte, als wäre der mit Teppichen belegte Boden ihr noch zu hart, um sogleich darauf zu fußen.

Eddas schöne warme Finger streckten sich sanft nach der ihr zunächst liegenden Hand der Mutter aus und führten sie an ihre Lippen, von denen sie aber kaum berührt wurde, als die Kranke sie schon wieder zurückzog und mit ihren tiefliegenden großen schwarzen Augen hastig nach dem Gesicht der Tochter blickte.

»Du siehst bleich und angegriffen aus, liebe Mutter,« sagte Edda sanft. »Befindest du dich unwohler als sonst?«

»Nein, aber dein Gesicht ist rot und deine Lippen sind heiß. Du hast gewiß wieder zu lebhaft und zu viel gesprochen,« ließ sich eine eiskalte und tonlose Stimme vernehmen, die nur wie das seelenlose Echo einer warmen Menschenstimme klang. »Bist du bis jetzt bei der guten Frau in der Nachbarschaft gewesen?«

»Ja, liebe Mutter, und sie läßt dich herzlich grüßen. Aber ich habe eine Bitte an dich zu richten. Die Luft draußen ist so himmlisch warm und der Abend so schön. Soll ich vielleicht ein paar Träger mit einer Sänfte bestellen lassen, die dich an den Fuß der Berge tragen, damit du ihre erquickende Luft einatmen kannst?«

Lady Bolton schüttelte widerwillig den Kopf, so daß ihre langen schwarzen Locken über die abgehärmten Wangen fielen, von wo sie Edda gleich darauf sorgsam wieder zurückstrich. »Nein,« erwiderte sie, »das ist eine deiner stehenden Bitten, mein Kind, und ich mag sie nicht mehr hören. Was soll mir die Luft nützen, sie ermüdet mich nur, und die Berge – die schrecklichen Berge mag ich nicht mehr sehen – es sind ja meine Berge nicht.«

»Gut, wie du willst, dann bleiben wir hier. – Soll ich dir etwas vorlesen?«

»Auch nicht, Edda. Das ist alles langweilig und ich bin Eurer Unterhaltungen schon lange überdrüssig.«

Das Wort »langweilig«, welches hundertmal an einem Tage von diesen Lippen ausgesprochen wurde, dämpfte fast die Gefühlswärme der heißblütigen Tochter, für die es auf der schönen Welt nichts Langweiliges gab, aber sie blieb noch eine Weile auf den Knien vor der Mutter liegen und blickte sie fragend und erwartungsvoll an, ob sie ihr vielleicht noch etwas zu sagen habe.

Sie hatte sich auch nicht getäuscht, denn sie kannte die Blicke der Mutter, wie sie auch aus den Bewegungen ihrer Lippen schon fast erriet, was sie sprechen wolle. »Wann wollte der Vater wiederkommen?« fragte die Kranke. »Hat er es dir mitgeteilt?«

»Er kommt erst morgen abend mit dem letzten Boot von Thun zurück – weißt du es nicht mehr?«

»Ach ja! Also morgen erst! Das ist lange hin – die Zeit vergeht so langsam – und ich sehne mich recht nach ihm. Und doch – doch fürchte ich mich vor seiner Rückkehr und vor seinem traurigen Gesicht – er kann nichts Gutes mitbringen, nach dem Briefe zu urteilen, der ihn nach Bern rief.«

Edda seufzte leise. »Man muß sich schon im voraus auf alles gefaßt machen,« sagte sie noch leiser als vorher, »ich hoffe auch nicht viel.«

»Nein, ich gar nichts mehr. Ich bin am Ende mit meinem Hoffen.«

Die Kranke lag wieder eine Weile still, dann kehrte sie das Gesicht der Rücklehne des Sofas zu und sagte matt: »Steh auf und laß mich allein. Deine Augen ängstigen mich. Ich bin müde und werde schlafen, hoffentlich bis morgen abend.«

Edda erhob sich lautlos von dem Kissen, strich sich die Haare zurück und seufzte wieder leise. O, wie stach die Langeweile, das ewige Einerlei in diesem Zimmer, das gemütlose Wesen der darin Lebenden von der Gemütlichkeit, der Herzlichkeit und Lebensfrische ab, die in jenem Hause walteten, welches sie soeben verlassen hatte! Das mochte sie jetzt bedenken, als sie halb eingeschüchtert und still nach dem Fenster ging, wo Miß Rosy saß, die sich ihr schon lange voller Teilnahme zugewandt hatte und nun mit ihren sanften Augen liebevoll auf des jungen Mädchens erregten Zügen weilte. Edda reichte ihr die Hand und nickte ihr freundlich zu. Dann setzte sie sich ihr gegenüber, stützte den Kopf auf die Hand und schaute träumerisch zum Fenster hinaus, dessen Vorhang sie ein wenig beiseite schob.

Miß Rosy hätte jetzt gern mit ihr gesprochen und eine Frage getan, da sie aber sah, daß Edda, ihr Liebling, tief in Nachdenken versunken war, schwieg sie, legte jedoch ihr Buch beiseite und schaute wie jene zum Fenster hinaus.

Plötzlich zuckte Edda zusammen und, freudig auf Miß Rosy blickend, sagte sie leise, so daß nur diese es zu hören vermochte: »Jetzt hab' ich's gefunden, wonach ich so lange gesucht. Gott sei Dank!«

»Was denn?« fragte Miß Rosy ebenso leise.

Edda lächelte. »Sie sollen es nachher hören – erst muß ich einen Brief schreiben.«

Miß Rosy nickte. »Schreiben Sie, Miß,« flüsterte sie, »das wird Sie zerstreuen. An wen werden Sie schreiben?«

»Auch das sollen Sie nachher erfahren. Adieu!«

Von einem raschen Impulse befeuert, wie es bei ihr immer geschah, erhob sie sich und schwebte gleich einer lichten Wolke aus dem Zimmer, der Miß Rosy so lange nachblickte, bis sie ihren Augen entschwunden war. »O mein Gott,« sagte diese jetzt zu sich, »wann wird dieses Elend ein Ende nehmen! Laß doch nur diese eine glücklich werden, guter Gott, denn die anderen können es ja nie wieder sein, sie haben sich zu tief verstrickt. Und daß Edda den Jammer noch immer mit so leichtem Mute erträgt, bewundere ich. Wenn ich als Fremde schon darunter leide, wie und was muß sie als Tochter leiden!«

Während dieses kurze Selbstgespräch gehalten wurde, das sich alle Tage in ähnlicher Form zehnmal wiederholte, hatte sich Edda nach dem etwas entfernt liegenden Zimmer ihres Vaters begeben, die Tür hinter sich zugeriegelt und vor dem Schreibtisch Platz genommen, den sie nun mit einem ihrer Schlüssel rasch öffnete. Wenige Sekunden später lag ein Briefbogen vor ihr und sie hielt eine Feder in der Hand. Noch besann sie sich eine Weile, was sie schreiben oder wie sie beginnen solle, endlich aber flog die Feder, von fester Hand geführt, über das glatte Papier und sie schrieb folgende Zeilen:

»Ich komme soeben von Ihrer Tante, wo ich mein übervolles Herz erleichtert habe. O, wie wohl ist mir für einen Augenblick! Was für ein edles Wesen ist diese Karoline! Welches Glück, mit solchen Leuten zu leben, mit ihnen gemeinschaftlich zu wirken, durch ihren Trost zu gesunden, an ihrem Mitgefühl sich aufzurichten! Ich bin jetzt zu allem Guten geneigt und habe den Mut, das Schwerste zu unternehmen. Wohlan denn, ich habe auch mit Ihnen etwas Schweres zu bestehen. Mit einem Wort: ich muß Sie sprechen, und bald! Die Zeit läuft rasch und in jedem Augenblick können Dinge geschehen, die mein lange bedachtes Vorhaben, dessen Ausführung endlich notwendig geworden, durchkreuzen und zunichte machen. Wundern Sie sich über nichts, was ich Ihnen sage, und wenn Sie mich auch jetzt noch nicht verstehen, so werden Sie mich verstehen, sobald ich mich Ihnen, dem Freunde, ganz enthülle. Daß Sie mein Freund sein wollen und sind, haben Sie mir ja selbst mit so schönen Worten gesagt, und ich glaube es Ihnen um so lieber, da auch ich Ihnen wie einem solchen vertraue. Ich habe daran gedacht, Sie in Ihrem Atelier zu sprechen, aber da könnte jeden Augenblick jemand erscheinen und mich nicht allein stören, sondern sich auch über den Besuch einer Dame wundern, die nach der Ansicht der Welt bei Ihnen nichts zu tun hat. Hier bei mir können wir auch nicht ruhig und laut sprechen, und so muß ich an einen dritten Ort denken, der meinen Erwartungen besser entspricht. Kommen Sie also morgen früh Punkt acht Uhr, mag das Wetter sein, wie es will, nach der Heimweh-Fluh, dort werden Sie mich treffen, und dort werden wir um diese Zeit vollständig ungestört sein. Sollte aber dennoch jemand den kleinen Tempel besuchen wollen, so sehen wir ihn schon von weitem nahen und können unsere Maßnahmen rechtzeitig ergreifen. Mag mich dort mit Ihnen zusammen finden, wer will, ich bin in einer so gehobenen Stimmung, daß ich der ganzen Welt und ihren Albernheiten Trotz bieten könnte. Verraten Sie aber niemanden, auch Ihrer Tante nicht, diese Einladung. Ich habe nur noch einen Tag vor mir, und den muß ich benutzen. Morgen abend kommt mein Vater von Bern zurück, und dann muß das Geheimnis, welches noch zwischen uns liegt, gehoben sein. Bis dahin und später, mag es kommen, wie es will, Ihre Freundin

Edda.«

Als sie diese Zeilen geschrieben, durchlas sie sie noch einmal, dann faltete sie das Blatt und siegelte es mit dem kleinen Siegelring zu, den sie an der Kette ihrer Uhr trug. Eine Adresse schrieb sie nicht darauf, das schien ihr nicht nötig zu sein. Eine Minute später war sie, den Brief im Busen tragend, in das Zimmer ihrer Mutter zurückgekehrt, das jetzt, etwa um acht Uhr, schon ganz dunkel war, und Miß Rosy saß noch immer unbeschäftigt am Fenster, da sie, um den ruhigen Schlaf der Kranken nicht zu stören, noch nicht gewagt hatte, Licht bringen zu lassen.

»Miß Rosy,« flüsterte Edda von der Tür her, »schläft meine Mutter noch?«

»Ja, Miß Edda, sie schläft fest.«

»So kommen Sie einen Augenblick heraus; ich habe Ihnen etwas zu sagen.«

Miß Rosy folgte schnell dem Rufe, und bald standen beide Mädchen in des Barons Zimmer und blickten sich einander fragend an.

»Was soll ich tun?« fragte Miß Rosy lächelnd, die schon ahnte, was ihr heute abend noch aufgebürdet werden würde.

Edda umfaßte sie liebevoll, hauchte einen Kuß auf ihre Wange und sagte schnell: »Liebe Miß Rosy, Sie haben mir schon so oft eine Gefälligkeit erwiesen und die Rolle meiner Botin und meines Spions übernommen – Sie müssen es heute noch einmal tun.«

»Gern. Miß Edda, was soll ich tun und wohin soll ich gehen?«

Edda wandte das Gesicht ab, denn sie fühlte selbst, daß sie errötete. »Sie müssen in einer Viertelstunde, wenn es etwas dunkler ist als jetzt, noch einmal nach des Doktors Hause hinüber. –«

Miß Rosy nickte. »Gut, ja – und was soll ich da?«

»Die guten Leute werden jetzt bei Tische sitzen und glücklich miteinander sein wie immer. Vielleicht sind Sie imstande, einen unter ihnen noch glücklicher zu machen!« setzte sie nach einigem Besinnen hinzu.

»Also wirklich? Haben Sie sich entschieden?«

»Still, fragen Sie nicht, warten Sie es ruhig ab, wie ich. Also gehen Sie nach dem Hause und lassen Sie durch irgend eine Person unsern Maler herausrufen. –«

»Gut, ja, Miß Edda, und was soll ich ihm sagen?«

»Nichts – geben Sie ihm nur diesen Brief und grüßen Sie ihn von mir.« Dabei zog sie den von ihrem Blute warm gewordenen Brief hervor und reichte ihn der Engländerin hin, die ihn rasch an einem kaum weniger warmen Orte verschwinden ließ.

»Jetzt haben Sie ihn,« fuhr Edda fort, und ich vertraue ihn Ihrer Geschicklichkeit und Ihrer Freundschaft für mich an. Aber Sie geben ihn nur dem Maler selber – er muß ihn noch heute lesen.«

Miß Rosy nickte. »Das will ich besorgen,« sagte sie, »treu wie Gold. Verlassen Sie sich auf mich. Aber wenn er nicht zu Hause ist?«

»Er ist zu Hause, ich weiß es. Nun machen Sie sich bereit, ich erwarte sehnlichst Ihre Rückkehr.«

»Ich werde Sie nicht warten lassen, wenn ich den Maler – Franz treffe.« –

Zwei Minuten später trat Edda wieder in das Zimmer ihrer Mutter, und auf ihren Wunsch wurde ihr von dem jetzt wieder seinen Dienst verrichtenden Diener eine grün beschattete Lampe zur Tür hereingereicht. Miß Rosy aber war in ihr Kämmerchen gegangen, hatte sich einen Hut mit Schleier aufgesetzt, eine leichte Mantille umgeworfen und war in den Hausflur getreten, wo sie flugs einen Schlüssel nahm, der dort an einem Nagel hing. So ausgerüstet schlüpfte sie in den Garten, von ganzem Herzen froh, einmal etwas frische Luft schöpfen zu können.

Es war schon ziemlich dunkel draußen, namentlich im Obstgarten, wo die vielen Bäume lange und breite Schatten warfen. Aber Miß Rosy bewegte sich dennoch vorsichtig vorwärts, und als sie an die kleine Pforte gelangt war, die in Doktor Marssens Garten führte, blieb sie stehen und schaute sich rings um, ob sie auch von niemandem beobachtet würde. Aber es dachte niemand daran, sie zu belauschen, und so steckte sie den Schlüssel leise in das Schloß, und bald stand sie innerhalb des weinbelaubten Nachbargartens, in dem sie sich wieder umschaute, aber durch nichts am Vorschreiten gehindert wurde. Langsam nun ging sie durch den langen Weingang, in dem jetzt schon völlige Dunkelheit herrschte, aber je näher sie dem Wohnhause kam, um so vorsichtiger und langsamer, das Auge nach allen Seiten richtend und aufmerksam spähend, bewegte sie sich vorwärts. Allein auch hier trat ihr niemand in den Weg, und endlich hatte sie das Haus erreicht, das sie nun umschritt und kühn in die Fenster spähte, bis sie endlich vor das Speisezimmer gelangte, in dem sie zu ihrer Freude die drei Familienglieder traulich beieinander sitzen sah, nachdem sie sich in der Ferne auf eine Bank gestellt und in das Fenster geblickt hatte.

»Er ist da,« sagte die schlaue Botin zu sich, »und jetzt muß ich mir jemand suchen, der ihn ruft.«

Sie ging noch einmal um das Haus herum, bis sie vor ein kleines Gebäude kam, wo sie Pferde schnauben und mit den Hufen scharren hörte. In dem Stall brannte schon Licht, und als sie näher trat, bemerkte sie einen jungen Menschen, den sie an seiner Haltung und seinem leisen Jodeln zu erkennen glaubte. Sie hatte sich nicht geirrt, es war Jürgen, der ja auch sie kannte, und nun rief sie ihn bei Namen und sagte mit den wenigen, ihr zu Gebote stehenden deutschen Worten:

»Jürgen, ich will Mr. Franz sprechen – rufen Sie ihn heraus, aber sagen Sie nicht laut, daß ich hier bin.«

Jürgen war nicht im geringsten über diesen Auftrag erstaunt; er begrüßte die Dame höflich, und dann führte er ihn aus, wie wir bereits erfahren haben.

Es dauerte keine drei Minuten, nachdem Jürgen die Engländerin verlassen, so kam Franz mit schnellen Schritten in den Hof, wohin Jürgen ihn beschieden hatte.

»Guten Abend, Sir,« sagte da eine wohlbekannte weiche Stimme zu ihm – »haben Sie eine Minute Zeit für mich?«

»O, Miß Rosy – Sie sind es – mein Gott, was wünschen Sie so spät?«

»Kommen Sie, Sir, begleiten Sie mich durch den Weingang zur Pforte, unterwegs will ich es Ihnen sagen.«

Gleich darauf lag ihr Arm in dem des Malers, und im raschen Vorwärtsschreiten entledigte sie sich ihres Auftrages und händigte ihm den Brief ein, den sie schon lange in der Hand hielt.

»Von wem ist der Brief?« fragte Franz, vor Freude bebend, als er mit der Engländerin an der kleinen Pforte stand.

»Das werden Sie sehr bald erfahren, wenn Sie ihn lesen, Sir, ich habe darüber nicht zu sprechen.«

»Wollen Sie denn keine Antwort?«

»Nein, davon ist mir nichts gesagt, es wird also auch nicht nötig sein.«

»O, Miß Rosy, Sie sind so freundlich gegen mich!«

Miß Rosy schüttelte den Kopf. »Nicht gegen Sie, aber gegen Miß Edda um so mehr!«

»Wie soll ich Ihnen danken?«

»Haben Sie mir denn zu danken? Sie wissen ja noch gar nicht, was in dem Briefe steht,« – und schon hatte sie die Tür erfaßt, um hindurchzuschlüpfen. »So,« sagte sie, »bis hierher nur gehen Sie mit, man darf nicht denken, daß ich mit Ihnen ein Rendezvous habe.«

»Ich bleibe ja stehen – gehen Sie und verzeihen Sie, daß ich so schweigsam bin, aber Sie haben mich überrascht.«

»Gute Nacht, Sir, gute Nacht!«

Sie gab ihm rasch die bloße Hand und schlüpfte in den Garten, und ehe es sich Franz versah, war die Tür zwischen ihr und ihm schon verschlossen, und er stand allein in dem Weingang, den kleinen Brief in der Hand haltend, der ihm ein himmlisches Geschenk zu sein dünkte, obwohl er von dem Inhalt desselben noch keine Ahnung hatte.

Plötzlich aber fuhr eine leidenschaftliche Hast in ihn. Er lief eilig nach dem Wohnhause zurück, ging in sein Zimmer, schloß es hinter sich ab und zündete eine Kerze an, die immer auf seinem Nachttisch stand. Da las er denn den Brief, den wir schon kennen, und der Inhalt desselben setzte ihn in so freudige Glut, daß er einige Minuten später den Seinigen, als er wieder unter sie trat, ein gänzlich umgewandelter Mensch erschien. Und in der Tat, dieser Brief hatte ihn völlig umgewandelt. Alle Sorge, alle Not, alle Kümmernis war vergessen, denn daß dieser Besuch auf der Heimweh-Fluh ihn endlich an das Ziel seiner Wünsche führen müsse, unterlag bei ihm keinem Zweifel mehr, das war eine unumstößliche Gewißheit geworden. Ach ja, das Herz, welches liebt und nur an einer einzigen Hoffnung hängt, glaubt diese Hoffnung erfüllt, wenn auch nur ein Schatten davon zu erreichen ist und hier – hier war die Hoffnung ganz und ungeteilt erfüllt – Edda gab ihm ein Stelldichein an einem entfernten, stillen Ort, und was konnte sie anders von ihm hören wollen als das endliche Geständnis seiner Liebe, und das – ja, das sollte ihr werden, das war sein fester Entschluß, und mit diesem Entschluß legte er sich zu Bett, um so göttlich zu träumen, wie er in diesem Leben noch nie geträumt hatte.

*

Wer, der je in Interlaken gewesen, hätte nicht die Heimweh-Fluh besucht und lieb gewonnen! Und gewiß, es gibt wohl sobald keinen zweiten Ort, den man schneller lieb gewinnen und im Gedächtnis behalten kann. Auf einem felsigen Vorsprung des kleinen Rugen, einige hundert Schritt vom Bergwalde entfernt, hat man einen einfachen und nach allen Seiten offenen Tempel von Holz erbaut, von dessen Bänken aus man das ganze herrliche Tal, die umliegenden großen Bergriesen und die blauen Seen beschaut, die das Bödeli von Osten und Westen her begrenzen. Nach Süden hin sieht man in die grüne schmale Schlucht des Lauterbrunnentales hinein, erkennt deutlich den schwindeligen Weg, der über grüne Matten nach der Wengern-Alp hinaufführt und sieht darüber fort die majestätische Jungfrau, den Mönch und den Eiger mit ihren unermeßlichen Schneefeldern und wild herabstürzenden Gletschern ragen. Gegen Norden hin steigt das graugrüne und mannigfaltig ausgezackte Hardergebirge auf und im tiefen Tale zu seinen Füßen hat man das reizende Interlaken mit seinen schönen Villen und Häusern, das winklige Unterseen mit dem alten Turm, die blühenden Gärten, die üppigen Wiesen, durch die sich die wild strömende Aare wie eine mächtige silberne Schlange vom Brienzer bis zum Thuner See ringelt, und weit über diese beiden blinkenden Wasserbecken selbst schweift der bezauberte Blick in weite Ferne, um alles, was er umfaßt, schön und erhaben zu finden.

Dabei liegt der kleine Tempel auf der Heimweh-Fluh so still und heimlich auf seiner vorspringenden Felskuppe, daß man in ihm wie in einem friedlichen Neste zu sitzen glaubt, um das Gott der Herr seine wunderbare Welt mit ihren Schätzen und Reizen ausgebreitet hat, und wer so glücklich ist, hier auf der Höhe einmal eine einsame Stunde ungestört verträumen zu können, der kehrt immer befriedigt und beglückt in seine Klause da unten zurück und vergißt nie, was er da oben geschaut und im innersten Herzen dankbar und freudig empfunden hat. Gegen Abend freilich, wenn die Sonne purpurglühend in den Thuner See versinkt und mit ihren rosigen Reflexen die stolzen Schneehäupter bemalt, dürfte dieser reizende Platz selten unbesucht gefunden werden; anders aber ist es am Morgen, da suchen ihn nur wenige auf, denn alle wollen den Untergang der Sonne von hier oben genießen, und die übrigen Stunden des Tages bieten dem gewöhnlichen Wanderer keine Reize dar.

An dem Morgen nun, wo wir die Heimweh-Fluh ersteigen, war die Sonne langsam und schwer unter leichtem Nebelgewölk aufgegangen, das sich am Abend vorher allmählich um die östlichen Bergspitzen gelagert hatte. Aber um sieben Uhr schon strahlte sie hell und siegreich über ihrem alten Feinde, der seine wankelmütigen Scharen in einzelnen Gruppen nur noch um die Gipfel der höchsten Berge gesammelt hielt, wo er hinterlistig lauerte, um sie in geeigneter Stunde wieder über das friedliche Tal heruntersausen zu lassen. Auch die Seen waren schon lange blau und klar hervorgetreten, und die Strahlen der Sonne glitzerten und funkelten auf ihren glänzenden Spiegeln. Von den Wiesen des Bödeli aber stieg ein milder würziger Duft nach den Höhen herauf, und auch die Kräuter des nahen Waldes, der grünen Matten um das Lauterbrunnental her schickten ihre heilsamen Ausdünstungen herüber, die in langsam wallenden Spiralen gegen den mattblauen Himmel aufstiegen und sich endlich wie lichte Wölkchen im unabsehbaren Ätherraume verloren.

Es war noch eine volle Viertelstunde vor acht Uhr, und doch hatte sich schon ein Besuch in dem kleinen Tempel eingefunden. Edda war früh von Hause aufgebrochen, um zeitig auf der Höhe zu sein und ihre übervolle Brust mit frischem Atem zu füllen, bevor der junge Mann erschien, den sie an diesem Morgen nach der Heimweh-Fluh beschieden hatte. Ihr Vorhaben war ihr geglückt, sie war wirklich die erste, und als sie nach hastigem Ersteigen des Berges auf die kahle Felsplatte außerhalb des Waldes trat und den Tempel leer sah, flog ein freudiger Schimmer über ihr Gesicht, das heute ernster denn je und wie von einer trüben Wolke beschattet war.

Als sie den Tempel erreicht hatte, blieb sie mit hochaufatmender Brust stehen und warf einen hastigen Blick über das im Morgenglanz vor ihr liegende Tal, über die von dünnen Nebelstreifen umlagerten Bergspitzen und die in der Ferne blinkenden Wasserspiegel; da es aber auf der Höhe, wo sie stand, immer luftig ist und auch heute ein kühler Morgenwind von den Schneefeldern herüberblies, hüllte sie sich fester in das mitgenommene Tuch ein, das sie beim Gehen über dem Arm getragen hatte, und nun erst setzte sie sich auf eine der Bänke im Tempel nieder, das Gesicht nach Osten gekehrt, um Franz Marssen, wenn er kam, aus dem Walde treten zu sehen, durch welchen der nächste Weg nach dem bezeichneten Orte führt.

Als Edda so, in Anschauen und noch mehr in Nachdenken verloren, still dasaß, ergriff sie ein eigentümliches Wehmutsgefühl, das sie bisher nur vom Hörensagen gekannt hatte. Sie fühlte sich seltsam allein in dieser schönen Welt, und die freudigen Empfindungen, die noch gestern ihre Brust geschwellt, waren wieder in weitere Ferne gerückt, und sie gestand sich selbst, daß sie noch einen steilen und beschwerlichen Berg zu übersteigen habe, bevor sie zu den Freuden und Genüssen zurückkehren könne, die sich ihr vor so wenigen Stunden noch im ahnenden Geiste offenbart hatten.

Aber sie sollte nicht lange ihren düsteren Gedanken überlassen bleiben. Sehr bald vernahm ihr scharfes Ohr den Tritt eines Menschenfußes auf der Felsentreppe im nahen Walde, und ihr dunkles Auge wandte sich nach dem Ausgang des Weges hin, in welchem ihr dieser Mensch zuerst sichtbar werden mußte. Ach, wie klopfte ihr das Herz bei dieser kurzen Erwartung! Eine eigene Bangigkeit kam über sie und, einen bittenden Blick zum blauen Himmel erhebend, flüsterte sie in sich hinein: »Vater da oben, laß die Stunde rasch kommen und vorübergehen und mache es mir nicht zu schwer, was ich in dieser Stunde zu leisten habe!«

Kaum hatte sie dies kurze Gebet gesprochen, so trat eine hohe Gestalt aus dem Walde hervor und kam mit schnellen elastischen Schritten die Höhe hinauf. Es war Franz, dessen vom eiligen Gehen glühendes Gesicht den Ausdruck einer unaussprechlichen Freude annahm, als er in dem Tempel eine Gestalt erblickte und ihr entgegenwinkendes Tuch ihm sagte, daß es Edda, seine innig geliebte Edda sei. Als er den letzten kleinen Gipfel erstieg, der zu ihrem Standort führte, ging sie ihm einige Schritte entgegen, aber da fühlte sie selbst, daß plötzlich in des jungen Mannes Gemüt wie auf seinem Antlitz eine Änderung verging, denn er hatte den Ausdruck ihres Gesichtes schon von weitem geprüft und zu seinem Staunen nicht die Freude darauf gelesen, die er zu finden erwartet haben mochte.

Da standen sie beide dicht voreinander, und Franz ergriff die ihm dargebotene Hand, die ihn sanft nach der Bank leitete, auf der Edda vorher gesessen hatte.

»Guten Morgen,« sagte sie, »Sie sind pünktlich, eben schlägt es im Dorfe acht Uhr – aber reden Sie noch nicht, Sie sind rasch gegangen und Ihr Atem ist kurz.«

Franz lächelte, als er diese Anrede vernahm, aus der eine warme Teilnahme klang, und setzte sich neben sie, nachdem er sie mit kurzen Worten begrüßt hatte. Aber sein Auge haftete noch immer verwundert auf dem seltsamen Ausdruck des schönen Gesichts, das er nun wieder so nahe vor sich hatte, und er stellte vergebliche Versuche an, sich die Empfindungen zu erklären, die das Herz dieses wunderbaren Wesens erfüllten und sich jederzeit so erkennbar auf seinen Zügen aussprachen.

Auch Edda forschte in der kurzen Pause nach ihrem Zusammentreffen in dem Gesicht des jungen Mannes, und als sie die vom Bergsteigen geröteten Wangen sah, über welche Schweißtropfen rannen, und dann die Augen befragte, die ihr so ehrlich und vertrauensvoll entgegenblickten und in jedem Blick eine freudenreiche Hoffnung verrieten, da wurde sie in Wahrheit verlegen, was ihr noch niemals in seiner Gegenwart begegnet war. Es war offenbar, er erwartete etwas ganz anderes, Freudigeres zu vernehmen, als sie ihm zu sagen imstande war, und diese Wahrnehmung schmerzte sie selber am meisten. Dennoch aber faßte sie sich schnell und ihre ganze geistige Kraft zusammenraffend, um so ruhig wie möglich zu erscheinen, sagte sie endlich:

»So, nun sind Sie wieder Herr Ihres Atems. Sie hätten etwas früher aufbrechen und langsamer gehen sollen, dann kamen Sie nicht erhitzt hier oben an, wo es immer kühl ist.«

»Ich mußte mich wohl beeilen,« nahm nun Franz das Wort, »denn mein Vater hielt mich länger auf, als ich wünschte, und er wollte mich durchaus begleiten, als er hörte, daß ich in die Berge zu gehen beabsichtigte. Endlich, da er nicht von meiner Seite wich, mußte ich ihm ehrlich sagen, daß ich einen besonderen Zweck auf diesem einsamen Gange verfolgte, und da ließ er erst von mir ab und schlug den Weg nach dem Brienzer See hin ein.«

»Sie haben einen treuen und bewährten Vater,« sagte Edda seufzend, »er hat Sie gewiß sehr lieb.«

»Sehr, ach ja, wie auch ich ihn sehr liebe.«

»Das kann ich mir denken, und es gibt wohl so bald kein schöneres Gefühl für ein Kind, als seine Eltern mit dem vollen Bewußtsein, daß sie edel und gerecht sind und stets edel und gerecht gehandelt haben, zu lieben. Aber sehen Sie da – dort unten liegt Ihres Vaters Haus, ich kann sein breites Dach von hier aus von den anderen unterscheiden. Sie wohnen wirklich in einer schönen Welt und sind deshalb gar sehr zu beneiden. Und diese Stelle, auf der wir hier sitzen, führt mit dem größten Recht ihren Namen Heimweh-Fluh. Denn wer einmal hier oben gewesen und seine Seele gelabt hat, der behält eine ewige Sehnsucht danach, und er gibt sich nicht eher zufrieden, als bis er seinen Fuß wieder hierhersetzen kann. Das Gefühl dieser Sehnsucht, das Heimweh, ist ein mächtiges und zerstörendes Gefühl, ich kenne es aus Erfahrung an meiner armen Mutter, die darüber noch zugrunde gehen wird, weil sie es nicht befriedigen kann. Doch still davon, wir wollen nichts Trübes mehr sprechen, es gibt ohnedies Trübsinniges genug. – Sie sind glücklich, daß Sie hier Ihre Wohnung aufgeschlagen haben, nicht wahr?«

»Ja, ich darf es wohl sagen,« erwiderte Franz, der gar nicht begreifen konnte, warum die kühne Edda so zaghaft blickte, und warum sich in ihrer ganzen Art und Weise zu sprechen ein so bitteres Wehegefühl kund gab, wie er es früher noch nie an ihr wahrgenommen hatte. »Aber,« fuhr er fort, »ich werde nicht lange mehr Interlaken und was es Schönes hat, genießen, denn meine Tage sind hier gezählt, und bald, in wenigen Wochen, werde ich meine jetzige Heimat verlassen, um vielleicht lange von ihr entfernt zu bleiben.«

Edda nahm eine erstaunte Miene an. »Wohin wollen Sie denn so bald gehen?« fragte sie.

»Nach Italien, um allein meiner Kunst zu leben und mir eine sichere Zukunft zu gründen, nach der ja jeder Mensch im Leben strebt, der es mit sich und anderen ehrlich meint.«

Edda schwieg, als denke sie über die eben gehörten Worte nach, und doch dachte sie an etwas ganz anderes.

»Sie haben gestern meine Tante besucht?« fing er wieder an, um auf die angenehmen Gedanken zurückzukommen, in deren Begleitung er so hastig den Berg erstiegen hatte.

»Ja, ich habe sie besucht. Hat sie Ihnen unsere Unterhaltung mitgeteilt?« fragte Edda mit einem scharfen Seitenblick.

»Nein, nur sehr wenig und viel weniger, als ich erwartete. Aber diese Unterhaltung muß sie sehr angegriffen haben, denn als ich sie am Abend sah, hatte sie geweint und verhielt sich sehr still.«

»Das tut mir leid. Nur wahre Teilnahme hatte mich zu ihr geführt, und so habe ich ihr mein Herz geöffnet. Gerade heraus gesagt: ich liebe Ihre Tante wie eine zweite Mutter –«

Franz fuhr in die Höhe. »Sie lieben Sie – wie eine zweite Mutter? O, wenn Sie wüßten, wie glücklich mich das macht, da wir uns hier in einem und demselben Gefühl begegnen! Sie ist so gut und verdient die Liebe aller Guten.«

»Ja,« sagte Edda nach kurzem Nachdenken und mit einer Festigkeit, die nur der Ausfluß ihres starken Willens sein konnte, »ja, und um so mehr ist derjenige zu beklagen, der sie nicht zur Gefährtin seines Lebens erhalten hat.«

Franz sah sie betroffen an. »Wie meinen Sie das?« fragte er.

»Sie dürfen sich nicht wundern, daß ich über dieses Geheimnis rede. Die Geschichte Ihrer Tante ist mir bekannt, sie hat sie mir selbst erzählt.«

»Sie selbst? Also wirklich – so groß ist ihr Vertrauen zu Ihnen?«

»Ja, so groß ist es – aber ich kannte diese Geschichte schon von früher her, wie überhaupt die Ihrer Familie,« sagte Edda etwas leiser und neigte dabei ihr Gesicht etwas zur Seite, da sie selbst fühlte, wie es von einem heißen Blutstrom, der mächtig aus ihrem Herzen emporwallte, dunkelrot gefärbt wurde.

»Sie kannten die Geschichte meiner Familie?« fragte Franz erstaunt. »Wie ist das möglich?«

»Es hängt dies ganz einfach zusammen,« fuhr Edda mutig fort, »und nun, Herr Marssen, beginnt die Mitteilung, um derentwillen ich Sie hierher beschied. Ich war wider meinen Willen und ganz gegen meine Absicht, durch einen Zufall, eine ungesehene Zuhörerin der Geschichte, die Ihnen Ihr Vater, kurz nach Ihrer Rückkehr von Meiringen, wo wir uns eben verlassen, eines Abends am offenen Fenster Ihres Ateliers erzählte.«

Franz sprang von der Bank auf; ein heftiger Schreck machte seine Glieder erbeben, und sein Gesicht war bleich geworden, wie das Tuch, womit er sich von Zeit zu Zeit noch immer den Schweiß davon abtrocknete.

»Bleiben Sie sitzen,« sagte Edda mit wunderbarer Ruhe und zog ihn sanft an der Hand wieder dicht neben sich nieder. Und als er saß und hochatmend in ihr Gesicht schaute, fuhr sie fort: »Es wird Zeit, daß ich die Maske ablege, die Ihnen so lange mein wahres Wesen verbarg, und nur dadurch, daß ich ganz aufrichtig gegen Sie bin, kann ich vollbringen, was ich endlich vollbringen muß. Gestern bei Ihrer Tante war ich noch zum Teil die Tochter des Diplomaten, um Karolinens Gefühle für einen Mann zu erforschen, der mir nahe steht, und um zu wissen, ob ich, für den Fall einer Versöhnung, auf ihr mildes Herz, ihre Verzeihung rechnen kann – heute aber lege ich den mir schon so lange verhaßten diplomatischen Mantel völlig und für immer ab und zeige mich Ihnen als das reine Kind der Natur, was ich wirklich und in Wahrheit von ganzem Herzen bin. Wohlan denn, hören Sie, wie ich dazu kam, die Mitwisserin eines Familiengeheimnisses zu werden, welches nur die Mitglieder Ihrer Familie und sonst nur wenig andere kennen. Ich habe von Jugend auf eine leidenschaftliche Vorliebe gehabt, im grünen Garten auf kühlem Rasen zu sitzen, und namentlich unter Obstbäumen halte ich mich gern auf. An jenem Abend nun, wo ich noch nicht wußte, daß Sie, mein Reisegefährte, der sich mir so gefällig erwiesen, in jenem kleinen Häuschen Ihr Wesen trieben, hatte ich mich zeitig ins Freie begeben, um so recht nach Herzenslust meiner Neigung nachzuhängen, und so saß ich auf einem Stuhl dicht an der grünen Hecke und in der Nähe jenes Hauses, als ich plötzlich Männerstimmen vernahm, von denen ich die eine als die Ihre erkannte. Das Gespräch, welches Ihr Vater so ernst und männlich einleitete, hörte ich erst aus mädchenhafter Neugierde mit an, bald aber wurde mir der Inhalt seiner Worte so interessant, daß ich, je dunkler es wurde, um so näher rückte, und so hielt ich, glücklicherweise ungestört, bis zum Ende der Erzählung aus, welche Ihnen so manchen unvermuteten Aufschluß über Ihre nächsten Verwandten gab. So weiß ich denn also seit jenem Abend, wer Ihr Vater ist, woher er stammt, was er erlebt, erduldet, und ich weiß auch, warum Ihre Tante nicht so glücklich ist, wie sie von Gottes und Rechts wegen sein sollte. Ach, Sie glauben nicht, wie aufmerksam gerade ich jener Erzählung zuhörte, und ich kann Ihnen kaum die Wirkung derselben auf mein Herz beschreiben. Ich sah mit einem Male ganz neue Verhältnisse vor mir liegen, vieles mir bisher Dunkle ward mir wie durch einen Blitzstrahl erhellt, ja, mein eigenes Leben trat in eine neue Phase, so daß ich mir wie ein neugeborenes Kind vorkam, das die ganze Welt um sich her mit eben erst geöffneten Augen zu betrachten lernen mußte.«

»Aber mein Gott, wie ist das möglich?« unterbrach sie Franz, der immer mehr von ihren ernsten Worten und ihrem bedeutsamen Wesen betroffen wurde.

»Still, unterbrechen Sie mich nicht. Ich bin noch lange nicht zu Ende. Ich lernte also nicht nur aus der Erzählung Ihres Vaters die Verhältnisse Ihrer Familie, sondern auch die einer anderen genauer kennen, und diese neue Kenntnis interessierte mich fast noch mehr als die Geschichte der Ihrigen. Ich rede hier von der Familie des Baron Juell Wind,« fuhr sie mit abgewandtem Gesicht und leiserer Stimme fort, »in deren Schoß Ihre Tante aufgewachsen ist und deren Namen sie sogar mit vollem Rechte führt, obwohl sie bisher keinen Gebrauch davon gemacht hat. Die Familie Juell Wind hat zwei Männer aufzuweisen, die ganz verschieden auf das Schicksal Ihrer Familie eingewirkt haben. Juell Wind, der Vater, hat mit seiner unwandelbaren Herzensgüte und Menschenfreundlichkeit seinen Segen darüben ausgestreut, und sein Sohn Rolf – ja Rolf, hat diesen Segen in einen Fluch verwandelt, indem er den bitteren Samen des Hasses und der Zwietracht in die Herzen Ihrer Verwandten pflanzte. Hassen Sie nun diesen Rolf Juell Wind auch so sehr, wie er es nach allem, was Sie von ihm wissen, zu verdienen scheint?«

»Ich,« sagte Franz mit bebenden Lippen – »ihn hassen? O nein, aber ich habe freilich auch keinen Grund, ihn zu lieben.«

»Dann würden Sie auch wohl wenig geneigt sein, seiner Familie näher zu treten und den so hart und in mancher Beziehung mit Recht verklagten Mann besser kennen zu lernen?«

Franz wußte nicht, was er antworten sollte. Er starrte das junge Mädchen, dessen Brust laut und schwer atmete und dessen Wangen in fast fieberischer Hitze glühten, mit weit aufgerissenen Augen an.

»Ich will eine Antwort von Ihnen haben!« sprach sie mit einem Ton, der Franz an ihr früheres Wesen erinnerte, und dem er so oft siegreich widerstanden hatte.

»Nein,« sagte er leise, »freiwillig werde ich mich dieser Familie allerdings nicht nähern –«

»So. Das tut mir leid, denn ich kenne den Baron Rolf Juell Wind, und sogar von einer weniger düsteren Seite als Sie.«

»Sie kennen ihn?«

»Ja, und Sie kennen ihn auch, denn er lebt jetzt in Interlaken und ist sogar Ihr nächster Nachbar.«

Franz Marssens Augen waren noch starrer geworden; er saß da wie ein Bild von Stein und war außer stande, der Überraschung, die ihm hier Schlag auf Schlag zuteil wurde, Herr zu werden. »Weiß das meine Tante, mein Vater?« fragte er endlich mit einer Stimme, die aus lauter einzelnen Seufzern zusammengesetzt schien.

»Nein, Sie allein wissen es jetzt. Erkennen Sie daraus, wie groß mein Vertrauen zu Ihnen ist.«

»Aber mein Gott, woher wissen Sie das alles, und woher kennen Sie den Baron Juell Wind so genau?«

Edda lächelte schmerzlich. »Warum sollte ich das nicht wissen, und warum ihn nicht kennen – Sie haben überhört, daß ich Ihnen sagte, Baron Juell Wind sei Ihr nächster Nachbar – und ich, seine Tochter, werde doch wohl meinen Vater kennen?«

»Wie? Sie sind Baron Juell Winds Tochter?« rief Franz mit einem wahren Angstschrei aus.

»Ja, mein Herr, ich bin diese Tochter, und es tut mir schmerzlich weh, zu sehen, daß Sie in diesem Augenblick wie aus einem Himmel auf die kalte Erde zu stürzen scheinen.«

»Ach! Und der Mann, mit dem ich jene Reise gemacht, ist Ihr Vater, der Jugendfreund und dann der bitterste Feind meines Vaters und meiner armen Tante?«

Edda lächelte schwermütig, und doch brach ein stolzer Freudenstrahl aus ihren dunklen Augen hervor. »Sagen Sie lieber,« fuhr sie wieder sanfter redend fort, »jener Mann ist der Sohn des braven und edlen Dänen Olaf Juell Wind, der der Pflegevater Ihres Vaters und der Adoptivvater Ihrer Tante war. So, nun wissen Sie alles, und jetzt erwarte ich von Ihnen, daß Sie mich sogleich verlassen, mich vermeiden, sich mir nie wieder nähern, um mich schließlich vielleicht auch so zu hassen, wie Sie bisher meinen Vater gehaßt haben.«

Sie war wunderbar schön, indem sie dies sagte. Ihre Augen glühten, ihre Wangen flammten, und selbst über die weiße, makellose Stirn ergoß sich ein rosiger Schimmer bis nach den von den dunklen Haaren bedeckten Schläfen hin. Während sie sich aber bemühte, in ihre Stimme den Ton eines schmerzlichen Vorwurfs zu legen, den ihr Herz keinen Augenblick teilte, widersprach diesem Ton der Ausdruck ihrer Mienen, und wider ihr Wissen prägte sich die sichere Erwartung darauf aus, daß Franz Marssen sie nicht verlassen und noch weniger mit dem Haß verfolgen würde, den sie in ihm vorauszusetzen sich das Ansehen gegeben hatte.

Sie sollte sich in dieser Erwartung auch nicht getäuscht haben, denn kaum hatte sie ausgesprochen, so schüttelte Franz sanft den Kopf, und mit wehmütig fragendem Blick ihr strahlendes Antlitz überfliegend, als wolle er es zu Rate ziehen, ob ein solcher Haß ihm gegenüber möglich sei, sagte er ruhig und mild:

»Nein, nun hasse ich Sie erst recht nicht, denn Sie können mir unmöglich dieses Vertrauen erwiesen haben in der Voraussetzung, daß ich die Feindschaft, die bisher zwischen unsern Familien bestand, auch auf die jüngeren Mitglieder derselben in Ewigkeit fortzupflanzen gesonnen sei. In meinen Augen würde es vielmehr das bitterste Unrecht sein, Sie entgelten zu lassen, was ein anderer getan hat. Was können Sie für ein Unheil, welches Ihr Vater, lange ehe Sie geboren waren, in unser Haus gebracht? Ich sage Unheil, denn ich traue Ihnen den Edelmut und die Hochherzigkeit zu, daß Sie selbst des eigenen Vaters Handlungsweise gegen die Meinigen nicht billigen werden.«

»Sie haben mich ebenso richtig erkannt, wie ich auch Sie schon lange erkannt zu haben glaube,« erwiderte Edda, wobei ihre Brust freier und leichter aufatmete, als habe sie schon jetzt den steilen Berg überstiegen, wozu sie vorher im stillen Gebete Gottes Beistand erfleht hatte. »Nein, Herr Marssen, ich billige sie gewiß nicht, ja, ich verurteile sie sogar und bin schmerzlich davon ergriffen, daß gerade mein Vater es war, der so viel Unheil über Ihr Haus gebracht hat. Allein seien auch Sie nicht zu streng in Ihrem Urteil über meinen armen Vater, der schon lange und schwer das getane Unrecht gebüßt und dessen Gewissen sich oft das Urteil über seine von schrankenlosem Ehrgeiz verzehrte Jugend gesprochen hat. Er hat mir zwar nicht ausdrücklich enthüllt, was dieses Gewissen ihm gesagt, aber ich habe vielfach Gelegenheit gehabt, es aus seinen mit mir geführten Gesprächen zu entnehmen, und was mir nur schwach angedeutet, das habe ich klar in seinem gemarterten Herzen gelesen, welches oft wie ein offenes Buch vor mir aufgeschlagen lag. Und gerade jetzt, in diesem Augenblick vielleicht, trägt er die furchtbare Strafe dafür, daß er die weise Lehre, sich in seinen Leidenschaften zu mäßigen, die ihm sein Vater in frühester Jugend vergebens gepredigt, so lange und starr von sich gewiesen hat, eine Lehre, die sich erst bei ihm Bahn brach, als es zu spät, sie zu verwenden war und ihm nur die Reue blieb, um mit nagendem Seelenschmerz auf seine jugendlichen Irrtümer zurückzublicken. Ach, was dieser Mann in seinem ganzen Leben gelitten hat, ist bei seinem ehrgeizigen Herzen und seinem vorwärtsjagenden Geiste nichts gegen das, was er wahrscheinlich heute wieder leiden muß. Denn er ist von einem starrköpfigen, ihm persönlich feindlich gesinnten dänischen Abgesandten heute nach Bern berufen worden, um von ihm das Urteil zu vernehmen, welches unsere heimische Regierung, die nur scharfe und schneidende Werkzeuge ihres fanatischen Willens verlangt und die alle diejenigen grausam von sich stößt, die in ihren Augen stumpf geworden sind und das Geforderte nicht mehr zu leisten vermögen, über ihn verhängt hat. Man hält meinen Vater, der gewiß mit ganzem Herzen ein Däne ist, schon lange nicht mehr für so dänisch gesinnt, wie man jetzt alle Dänen gesinnt haben will. Mein Vater hat seine Gesinnung nie geändert, und er ist noch heute der, der er vor Jahren war; das aber, was man jetzt von ihm verlangt, kann und mag er nicht leisten, denn nach seiner Ansicht stürzt das dänische Ministerium den König, das ganze Land und sich selber ins Verderben, und so hat man ihm übel gedeutet, daß er wiederholt seine warnende Stimme erhob, daß er von jeher eine vermittelnde Stimmung zwischen Kopenhagen und Schleswig einnahm, wobei man sich zu seinem Nachteil erinnerte, daß sein Vater ebenfalls ein vermittelnder Mann und als solcher ein Freund gerechter und billiger Maßregeln war. Das aber reicht jetzt in Kopenhagen schon hin, einen Mann zu den Toten zu werfen, oder noch mehr, ihn zu den Vaterlandsverrätern zu zählen, die man nicht allein verbannen, nein, die man auch bestrafen und züchtigen muß, wie unmündige Knaben, die nicht unbedingt den Willen ihres tyrannischen Vaters erfüllen. So, mein Freund, stehen die Sachen, und heute abend werde ich einen Vater zu trösten haben, der kein Amt und kein Einkommen mehr hat, dem in der Gegenwart alle Stützen fehlen und der nichts auf der Welt zu seinem Troste besitzt, als ein Kind, eine Tochter, die mit ihm zu fühlen und zu leiden versteht und die jetzt – ja, Herr Marssen, und nun komme ich zu meiner Aufgabe bei Ihnen – im Begriff steht, ihm das einzige Labsal auf Erden zu verschaffen, was ihm noch Freude und Frieden im Leben bieten kann: die Versöhnung mit Menschen, die er einst liebte und achtete, und deren Liebe und Achtung er unwiederbringlich verloren hat, wenn wir sie ihm nicht wieder erringen helfen. Und nun, mein Freund – ich nenne gerade Sie mit freudigem Stolz meinen Freund, weil Sie ein natürliches Recht haben, mein Feind zu sein – und nun, sage ich, bitte ich Sie, mir beizustehen, diese Versöhnung zwischen unsern Vätern ins Werk zu setzen, und daß der meinige dazu geneigt sein wird, glaube ich Ihnen versichern zu können. Daß es der Ihrige ist, weiß ich durch Ihre Tante, und daß diese meinem Vater Verzeihung angedeihen läßt, hat sie mir selbst gesagt. Diese Versöhnung der ehemaligen Freunde wäre für meinen Vater der einzige Lichtstrahl, der sein finsteres Leben noch erhellen könnte. Was ich bisher zu diesem Zweck tun konnte, habe ich getan; von dem Augenblick an, wo ich, wie durch das Schicksal zur Zeugin berufen, die Zuhörerin jener Geschichte Ihres Vaters war, war das meine Aufgabe, und einen Teil derselben habe ich gestern gelöst, indem ich mir die Überzeugung verschaffte, daß Ihre Tante wirklich meine Freundin ist. Jetzt, in diesem Augenblicke versuche ich den zweiten Teil dieser Lösung bei Ihnen – Gott weiß, wie schwer er mir geworden ist! – und nun ist meine Darstellung zu Ende, und ich erwarte von Ihnen eine entscheidende Antwort.«

Sie schwieg und sah Franz ruhig und erwartungsvoll an. Dieser schwieg auch, indem er in seinem Geiste viele Worte wiederholte, die er soeben aus dem Munde eines so edlen und mit Recht so heißgeliebten Wesens vernommen hatte. Dabei ging in seinem Innern kein Kampf mehr vor, und er brauchte keine Zeit, um einen Entschluß zu fassen, er hatte sich schon längst entschieden, auf wessen Seite er treten wollte, und diese Entscheidung sprach sich immer deutlicher auf seinem ehrlichen Gesicht aus, das voller Bewunderung auf den gespannten Zügen der schweigenden Tochter des Dänen ruhte, bis er nicht anders konnte, als mit raschem Impulse ihre Hand zu ergreifen, die neben der seinen auf der Bank lag, und, indem er sie in beide Hände nahm, zu sagen:

»O, meine teure Freundin – ja, ich darf Sie so nennen, da Sie zuerst mich Ihren Freund nannten – dieses für meine und Ihre Familie so verhängnisvolle Geheimnis haben Sie so lange in Ihrer Brust getragen und haben niemanden gehabt, den Sie in diese Brust blicken ließen?«

»Niemand, niemand war da, ich ganz allein habe es getragen, und ach! es ist mir oft schwer genug geworden! Tausend Mühen und Listen habe ich anwenden müssen, um eine voreilige Entdeckung der Verhältnisse und eine vorzeitige Begegnung der beiden Männer, sowie meines Vaters und Karolinens, zu verhüten. Ich mußte meinen Vater jeden Tag auf allen Wegen bewachen und seine Schritte regeln, und ich mußte wie ein unsichtbarer Geist auch um Ihr Haus schweben, um manches zu erspähen, was zu wissen mir durchaus notwendig war. Darum, darum allein habe ich auch nicht zu jeder Zeit in den Garten kommen können, wo Sie – ich weiß es durch Rosy – mich oft vergebens erwarteten und mich im stillen vielleicht für herzlos und wandelbar hielten, was ich doch gewiß nicht war, denn gerade mein Herz arbeitete rastlos den Plan aus, den ich Ihnen eben enthüllte, und es war keine leichte Aufgabe für mich, eine Maske vor mein Gesicht zu legen, die die Augen eines so scharfsinnigen Mannes, als welchen ich Sie kennen gelernt, täuschen konnte. Nun aber reden Sie: Wollen Sie mir beistehen, meinen Plan auszuführen und die Versöhnung der beiden Familien zu bewerkstelligen?«

Franz hielt noch immer die schöne Hand fest, und er hätte seinen Gefühlen gern einen wärmeren Ausdruck gegeben, aber in diesem Augenblick, der ihm so ernst, so gewichtig, fast so heilig erschien, vermochte er nichts anderes zu sagen als:

»Fräulein Edda, ich bewundere Sie! Ihr Plan mag groß und schwer auszuführen sein, aber edel und schön ist er gewiß, und ich bereue offen und ehrlich jeden Gedanken, der mich bisweilen heimsuchte und mir einreden wollte, Sie seien nicht das, als was ich Sie jetzt wirklich und in Wahrheit kennen gelernt habe – ein edles, braves, herrliches Weib. –«

»Still, still, mein Freund, loben Sie mich nicht zu sehr, ich habe auch Fehler, große Fehler, aber auch die werde ich mit Gottes Hilfe einst abzulegen mich bemühen – doch halt – Sie haben mir noch keine Antwort auf meine Frage gegeben: wollen Sie meinen Plan fördern und mit mir gemeinsam unsere Väter einander zu nähern suchen?«

»Ja,« sagte er kräftig und fest, »das will ich, so wahr mir Gott helfe! Aber wie wollen Sie es beginnen, und was soll mir dabei zu tun obliegen?«

Kaum hatte er diese Worte gesprochen, so faßte sie seine rechte Hand mit ihren beiden und drückte sie innig und lange. Dann sie aber rasch loslassend, als fürchte sie aus irgend einem Grunde eine zu lange Berührung, sagte sie:

»Gut, nun bin ich zufrieden, weiter wollte ich in diesem Augenblick nichts. Lassen Sie uns aufbrechen; die Stunde kommt heran, wo meine Mutter ihr Bett verläßt, um sich auf das Sofa zu legen, und zu dieser Zeit hat sie mich gern um sich. Was wir aber zunächst tun müssen, das wollen wir jetzt gemeinschaftlich überlegen, und gelangen wir zu keinem bestimmten Entschluß, so fahren wir emsig zu Hause jeder für sich allein in demselben Bestreben fort. Lange jedoch darf das Resultat nicht ausbleiben, welches ich im Auge habe, denn ich selbst ertrage die Qual kaum noch, in der ich nun schon so lange lebe. Halten Sie sich heute und morgen möglichst in Ihrem Atelier auf, damit ich Sie jeden Augenblick finden kann, wenn ich mit Ihnen zu sprechen habe.«

Franz versprach, ihren Wunsch zu erfüllen, und beide erhoben sich, um den Rückweg anzutreten, jedes für sich in tiefe Gedanken versunken und nichts mehr von der Außenwelt gewahrend, die bis jetzt vergeblich ihre lieblichsten Reize vor ihnen entrollt hatte. Als sie aber den Wald erreichten und eben die ersten Stufen des Berges hinabschritten, strauchelte Edda, und in demselben Augenblick wandte sie sich hold errötend zu dem still neben ihr Gehenden und sagte: »Da Sie mir Ihren Arm nicht von selbst bieten, so bin ich so dreist, ihn zu fordern; oder hat Franz Marssen keinen stützenden Arm mehr für Rolf Juell Winds Tochter?«

Franz blieb einen Moment stehen, und sein Blick flog leuchtend über sie hin. Er sprach nichts, aber gleich darauf lag ihr Arm in dem seinen, und so setzten beide ihren Weg bis an den Fuß des Berges fort, ohne einen Plan gefunden zu haben, der ihnen die Lösung ihrer Aufgabe sicher zu versprechen schien. Als sie aber die Wagnerenschlucht erreichten, wo ihnen schon einige Menschen begegneten, die nach der Heimweh-Fluh wollten, hielt es Edda für geraten, sich zu trennen, und nach einem herzlichen Händedruck schieden sie voneinander, mit der Verabredung, sich am nächsten Morgen, wenn bis dahin nichts Besonderes vorfalle, in dem Obstgarten zu sprechen, der vor dem Fenster des Ateliers lag.

Franz blieb am Wege stehen und sah der rasch enteilenden Gestalt nach, bis er sie mit seinen verlangenden Augen nicht mehr erreichen konnte. Dann aber setzte er sich auf einen Moossitz im Tannengehölz und überließ sich lange Zeit einem tiefen Nachdenken, denn alles, was er eben vernommen, wich so weit von dem ab, was er zu vernehmen erwartet, daß er sich nur mit Mühe in die neue Lage zu finden vermochte, in die ihn Edda Juell Wind – ja nun wußte er endlich ihren wirklichen Namen – mit der Enthüllung ihres Geheimnisses und der Aufforderung zur Lösung des obwaltenden Familienzwistes geworfen hatte.


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