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Buchschmuck

Erstes Kapitel.
Tante Karoline.

Es war eine milde, sternenklare und wolkenlose Augustnacht, in die unser Freund trat, als er das lärmvolle Gesellschaftshaus auf dem Höhewege verließ und, ohne an den Weg zu denken, den er einschlagen wollte, nach dem Brienzer See hinunterging. Der Mond, der die Nacht vor einigen Stunden fast tageshell erleuchtet hatte, war jetzt hinter die gewaltigen Bergriesen getreten, dafür aber brach schon die Dämmerung des anbrechenden Tages langsam hervor und die Schneepyramide der Jungfrau stand eben im Begriff, ihren nächtlichen Mantel abzulegen, der so fahl und geisterhaft schimmert, und sich dafür in ihr leuchtendes Morgengewand zu hüllen, das rosig und frisch wie die Farbe der lieblichsten Blume der Welt strahlt und doch nur von so wenigen Menschen auf dieser Erde bewundert wird, denn wenn die hehren Gipfel der Schweiz ihre Morgentoilette machen, ruhen die trägen Menschen im tiefsten Schlaf und nur wenige haben die Augen offen, um das herrlichste Schauspiel der Welt mit anzusehen.

In dieser Nacht aber waren mehr Augen als gewöhnlich offen geblieben und unter ihnen die Franz Marssens, der keine Ermüdung und noch weniger Neigung, sich zum Schlaf niederzulegen, fühlte, denn in seinem Herzen hämmerte es mit gewaltigen, unruhigen Schlägen und sein aufgeregter Geist irrte weit auf entlegenen Pfaden umher, ohne so bald den richtigen Weg zu finden, der ihn zu dem Ziele führen konnte, das jetzt nur noch allein vor seiner sehnsüchtigen Seele lag. Aber immer wieder, wenn diese Seele sich in düstere Trauer hüllen wollte, daß ihm abermals durch das Schicksal ein fast unübersteigliches Hindernis in den Weg geworfen war, erhob er die köstliche Rose, die er in der Hand hielt und führte sie an seine Lippen, und immer wieder glaubte er jene süße, berauschende Wärme zu fühlen und einzusaugen, die sie ja von ihrem Herzen haben sollte, von Eddas Herzen, daß ihm durch die Gabe dieser Blume und die Worte, die dabei gesprochen, viel näher gerückt war, als er je in seinen kühnsten Träumen zu hoffen gewagt hatte.

Endlich stand er am Ufer des schönen Brienzer Sees und schaute träumerisch über die leise auf- und abflutenden Gewässer hin, die der leichte Nachtwind sanft berührte, so daß ein liebliches Gemurmel entstand, als ob tausend flüsternde Stimmen sich geheimnisvolle Dinge zuraunten und die Nixen des Sees ihre erste Morgenunterhaltung pflögen. Franz blieb eine Weile am Ufer stehen und schaute über den blauen wie Indigo schillernden Wasserspiegel hin, in dem kein Stern mehr reflektierte, denn eben waren die kleinen Lichter des Himmels hinter den blauen Vorhang zurückgetreten, der sich hoch über der Erde wie eine halb durchsichtige Kuppel ausspannte und bereits im Osten von den ersten matten Strahlen der heraufsteigenden Sonne vergoldet wurde. Lange und gedankenvoll blickte er über den immer blauer und rosiger erglühenden Spiegel hin, als aber mit einem Mal der helle Tag wie eine vom Himmel fallende Gabe hervorbrach und jeden Gegenstand ringsum strahlend beleuchtete, da zog sich Franz Marssen von seinem einsamen Posten zurück und schlug langsam den Weg nach seinem stillen Hause ein.

»Ein neuer Tag mit neuen Sorgen bricht an,« sagte er zu sich, »und ich bin noch nicht einmal mit meinen alten vollständig aufs reine gekommen. Ich will nach Hause gehen, ehe das Leben auf den Straßen erwacht, und noch ein paar Stunden ruhen, wenn der Schlaf mich heute auch nicht besuchen wird. Wenn ich dann aufstehe von meinem Lager werde ich meine Kräfte nötig haben, denn was mir an diesem Tage zu tun obliegt, das sehe ich immer klarer und klarer vor meine Augen treten. Mein romantischer Traum von einem in der Ferne tagenden Glück, das mir gestern, wenn auch schwer, doch immer noch erreichbar schien, ist zerronnen und heute ist es mir schon wieder viel ferner gerückt, denn eine geheimnisvoll drohende Macht hat sich auf die Seite meiner Gegner geworfen und ich habe jetzt also mit doppelten Feinden zu kämpfen. Es ist nicht nur der erste Widersacher im feindlichen Lager anzugreifen, nein, auch bei den Meinigen selbst im friedlichen Hause wird sich Widerspruch und Zwist erheben, und auch sie werden meinen Wünschen nicht allzu rasch ihren Beifall schenken. Doch das kann ich nun nicht mehr vermeiden, ich muß ihnen endlich mein Herz öffnen und ihren Augen offen meine verzweifelte Lage enthüllen. So ist denn also die Zeit gekommen, die Tante Karoline schon längst vorausgesehen und herbeigewünscht oder vielleicht gefürchtet hat; ich muß ihr und meinem Vater ein Bekenntnis ablegen, das ich gern noch länger für mich behalten hätte, wenn es mich nicht selbst nach der Entwicklung meines Verhältnisses drängte und die wohlgemeinte aber bitter schmeckende Freundschaft jenes seltsamen Mannes mir nicht auch darin zuvorzukommen drohte. So will ich denn nichts hoffen und nichts fürchten, in die treue Hand der Meinigen lege ich zunächst getrost die Entscheidung meines Geschicks, und erst wenn ich ihren Widerstand bezwungen, will ich an die ebenso schwere, wenn nicht noch schwerere Arbeit gehen und dem vornehmen Manne, der ja auch, wie ich jetzt weiß, ein Unglücklicher ist, mein Unglück enthüllen. Bei ihm wenigstens werde ich einen schwerwiegenden Beistand haben, denn wenn die Rose, die ich hier in meiner Hand halte und an meine Lippen drückte, nicht gelogen hat, wenn ich ihrer Sprache vertrauen darf, dann kenne ich meinen Beistand bei ihm, und ihrem, Eddas Geschick, ihrer Kunst und ihrer Kraft wird es vielleicht gelingen, mich aus dem Unheil zu befreien, in das ich mich jetzt noch so unlösbar verstrickt sehe.«

Als Franz endlich zu diesem Entschluß gekommen war, schritt er rascher dem väterlichen Hause zu, das still und friedlich wie immer in seinem grünen Blättermeer und im Morgenglanz des anbrechenden Tages lag; eilig zog er den Schlüssel aus der Tasche, öffnete mit leiser Hand das Schloß und bald darauf war er in seinem Zimmer, wo er von sorgsamer, liebender Hand alles zu seiner Bequemlichkeit Nötige geordnet und bereit gelegt fand. –

Einige Stunden später, nachdem Franz viel schneller und fester eingeschlafen, als er noch vor kurzem für möglich gehalten, war im Hause seines Vaters alles wie sonst in gewohnter Ordnung hergegangen, nur daß Doktor Marssen selbst früher aufgestanden war und schon um sechs Uhr seinen Rappen bestiegen hatte, um den Tag auf der Wengern-Alp zuzubringen, wohin er einigen Bekannten, die er zufällig am Abend vorher getroffen, das Geleit geben wollte. Karoline, die auch schon munter war und kaum die Stunde erwarten konnte, wo sie den Nachtschwärmer wiedersehen würde, wie sie im stillen scherzhaft ihren Neffen nannte, hatte den Doktor abreiten sehen, und als sie dann ihr Frühstück verzehrt, war sie leise auf den Zehen an die Tür ihres Lieblings geschlichen und hatte gehorcht, ob in dem Zimmer noch alles still und ruhig sei. Aber gerade um diese Zeit schlief Franz am festesten, und nachdem sie eine Weile vergeblich nach einem Zeichen gelauscht, daß er wach sei, begab sie sich wieder in ihr Zimmer zurück und begann ihr Tagewerk, wie sie es jeden Morgen tat, mit einem stillen Gebet zu Gott, daß er auch diesen Tag segnen möge, worauf sie sich, zu weiterem Wirken gestärkt und ermutigt, ihren gewöhnlichen Hausbeschäftigungen hingab.

Als es aber endlich acht Uhr geworden war und Franz noch nicht sichtbar wurde, schlich sie abermals zu seiner Tür und horchte mit angehaltenem Atem noch schärfer als vorher. Da sie aber immer noch nichts von ihm vernahm, wagte sie leise die Tür zu öffnen und in das Zimmer zu blicken. Da sah sie, daß er im Bette lag und sanft und ruhig schlief. Eine Weile schaute sie auf das edle männliche Gesicht des Neffen hin, dann lächelte sie freudig in sich hinein und, die Tür vorsichtig schließend, sagte sie zu sich, während sie den Gang nach ihrem Zimmer hinunterschritt:

»Er schläft noch, der gute Junge, und das beruhigt mich. Er hat gewiß eifrig getanzt und nun ist er müde. O, was wird er mir alles erzählen, und gewiß manches, was mich erfreut, denn mein Herz ist fröhlicher denn je, und er würde selbst nicht so ruhig schlafen, wenn irgend eine Sorge ihm schwer auf dem Herzen läge.« –

Falls aber Karoline, die heute so fröhlich war, geglaubt hatte, daß ihr Neffe, wenn er diesen Morgen endlich vor ihr Angesicht träte, ebenfalls eine von Freude und Heiterkeit strahlende Miene zeigen würde, so hatte sie sich bitter getäuscht. Sie saß – es ging schon stark gegen neun Uhr – eben auf ihrem gewöhnlichen Platz unter der grünbelaubten Veranda und besserte feine Wäsche aus, da hörte sie seine Stimme auf dem Korridor, und diese Stimme fragte die an ihm vorübergehende Resi, wo Tante Karoline und ob der Vater noch im Hause sei.

»Der Herr Doktor ist auf den ganzen Tag fortgeritten,« erwiderte die Magd, »das Fräulein aber sitzt vor'm Hause und erwartet Sie schon lange.«

Karoline wollte eben aufspringen und ihm entgegeneilen, da trat er aus der Tür und lächelte, als er sie sah. Aber aus diesem Lächeln leuchtete keine wahrhafte Freude, keine ungezwungene Herzlichkeit, im Gegenteil, eine stille Wehmut, die an Traurigkeit grenzte, und eine kaum verhehlte Sorge lag auf diesem bleichen Gesicht, und augenblicklich zog ein Schatten über ihr eben noch so fröhliches Herz, und sie trat dem Liebling mit so großer und erwartungsvoller Spannung entgegen, daß sie kaum ein Wort zu seiner Begrüßung hervorbringen konnte.

»Franz,« sagte sie, »bist du endlich aufgestanden? Ja, mein Junge?« Und da er stumm vor ihr stehen blieb und sie nur mit wehmütigen Blicken anschaute, rief sie, fast bebend vor Angst und Aufregung: »Willst du dich nicht zu mir hier an den Tisch setzen und dein Frühstück verzehren?«

»Nein, Tante,« erwiderte er, leise den Kopf schüttelnd, »das will ich heute nicht. Laß uns in deine Stube gehen und gib mir ein einfaches Glas Milch, und während ich sie trinke, will ich dir erzählen – ja, erzählen, was ich dir mitzuteilen habe.«

Karoline nickte bloß mit dem Kopfe, denn sprechen konnte sie schon nicht mehr. Sie ahnte ein wirkliches und großes Unheil. Rasch lief sie in die Küche, holte selbst ein Glas frischer, warmer Milch und ein Körbchen mit feinem Brot und trug es in ihr Zimmer, in welches ihr Franz schon vorangegangen war.

Als sie leisen Schrittes hinter ihm eintrat, stand er am Fenster, blickte unbeweglich nach den Schneebergen hinauf und war dabei so tief in Gedanken oder in Anschauung versunken, daß er sie nicht kommen hörte. Da aber, nachdem sie das einfache Frühstück auf den Tisch gesetzt, schlich sie an den Liebling heran und legte ihre Hand sanft auf seine Schulter. Franz drehte sich fast erschrocken um, denn er hatte sie wirklich nicht kommen hören; anstatt aber ein Wort zu ihr zu sprechen, wie sie erwartet hatte, umschlang er sie plötzlich mit beiden Armen und drückte sie fest an sein Herz, welches vor wunderbar stürmischen Empfindungen so laut pochte, daß sie es an dem ihren schlagen fühlen konnte.

»Franz!« rief sie, »um Gottes willen, was ist dir? So habe ich dich ja noch nie gesehen!«

Aber es dauerte lange, ehe Franz ihr darauf eine Antwort gab, denn er konnte die rechte nicht finden, weil er zu sehr nach Worten suchte, die sein tiefes, ihn ganz und gar erfüllendes Gefühl mit einem Gusse ausschütteten.

»O, bitte, lieber, lieber Franz,« bat jetzt Karoline, mit liebevoller Herzlichkeit seine bleichen Wangen streichelnd, »sage mir, was dir geschehen ist, sonst ängstige ich mich halb tot!« Dabei zog sie ihn sanft nach dem Sofa hin, und er setzte sich gehorsam und still neben sie, nahm aber ihre beiden Hände gleich wieder in die seinigen, nachdem er sie erst kurz vorher losgelassen hatte.

»Tante,« sagte er endlich mit allmählich steigender Wärme, »vielleicht hat es Gott so gewollt, daß der Vater nicht hier und du allein im Hause bist, und so nehme ich es als eine Gunst von ihm auf und sage dir zuerst, was Ihr beide endlich erfahren müßt. Ja, die Zeit ist gekommen, die du vorausgesehen, und hier, hier in meinem Herzen hat sich eine Welt aufgebaut, die nur in Trümmer gestürzt werden kann, wenn ich selbst einst zertrümmert werde. Mit einem Wort, Tante, in meiner Brust ist das Bild, das bisher nur meine Hand nachgeahmt, lebendig aufgegangen, und nun ist meine Hand nicht mehr stark genug, es wieder aus derselben herauszureißen. Nein, ach nein, es sitzt fest, auf ewig, Tante, und hier – hast du das Geständnis, welches du mir schon lange hast abschmeicheln wollen.«

Karoline wurde durch diese Herzensergießung, die sie schon längst erwartet hatte, viel weniger betroffen, als Franz es vermutet, und sie konnte kaum begreifen, woher die Zaghaftigkeit kam, die sich in den Worten wie im ganzen Wesen ihres Lieblings bei diesem Geständnis aussprach. So war sie denn mit ihrem echt weiblichen Gemüt, das überall und immer einem Leidenden so gern hülfreich beispringt, zum Troste bereit, und indem sie ihre Linke aus der sie umschlingenden Hand des Neffen löste und dafür ihren Arm innig um seinen Leib legte, sprach sie mit sanfter und ihm wohltuend ins Herz dringender Stimme:

»Also das ist es, Franz, was du mir endlich zu sagen hast? Nun, ich danke dir für dein Vertrauen, und du sollst es nicht zu bereuen haben. Doch, ich habe das ja längst vorausgesehen, und du überraschest mich gar nicht mehr. Dennoch bin ich von deiner Mutlosigkeit betroffen, und ich wundere mich, daß ein junger Mensch von deiner äußeren und inneren Begabung sich bei solchem Ereignis nicht ganz anders geberdet. Ist es denn ein so großes Unglück, was dich durch diese Neigung betroffen, daß du so niedergeschlagen dabei bist? Sehe ich, sieht es dein Vater, mit dem ich schon lange über die Möglichkeit deiner Liebe gesprochen, als ein besonderes Unglück an? Nein, ganz gewiß nicht. Es kommt hierbei ihm, mir und dir nur auf den Gegenstand deiner Liebe an, mein guter Franz, und wenn der deiner wert ist – das sind meines Bruders eigene Worte, die ich mir endlich auch angeeignet habe – dann gilt es allein, die Mittel zu erwägen, durch welche du zu deinem Ziele gelangen kannst. Den Gegenstand deiner Neigung aber glaube ich ganz bestimmt erraten zu haben, und ich kenne ihn sehr wohl. Nicht wahr, es ist jenes schwarzäugige Mädchen, das ich dir, ehe ich es genauer kannte, immer als gefährlich für deine Ruhe bezeichnet habe, dein Porträt, deine Schottin, meine reizende Edda, sie allein hat dir den spitzen Pfeil ins Herz gedrückt, nicht wahr?«

Franz, der auf alles dies kein Wort der Erwiderung fand, da er schon längst über den Horizont, den Karolinens Auge jetzt so günstig bestrich, hinaus war, und der etwas ganz Anderes, Verhängnisvolleres in der Ferne auftauchen sah, Franz nickte bloß mit dem Kopfe und drückte fest und lange der Tante Hand.

»Nun, siehst du,« fuhr diese fort, »das ganze Unglück, welches jetzt über dich hereingebrochen ist, habe ich mir reiflich nach allen Seiten durchdacht, und obgleich es mir anfangs – ich gestehe es ehrlich ein – für dich verderblich erschien, so habe ich es allmählich von einer günstigeren Seite aufgefaßt, nachdem ich diese Edda öfter unter meinen Augen gehabt. Auch dein Vater ist darauf vorbereitet, wie ich dir schon gesagt, er hat ja nur dein Wohl im Auge, und wenn du ein braves, edles Weib liebst, mag es sonst sein, welches es will, und wenn dieses Weib dich wieder liebt und für dich erreichbar ist, so wird er gegen deine Wahl ebensowenig Einspruch erheben wie ich.«

Franz war durch diese liebevollen Trostsprüche, die den Gegenstand seiner Sorge kaum berührten, nicht im geringsten beruhigt, im Gegenteil, er seufzte schwer auf, und obgleich er sich bemühte, der Tante dankbar zuzulächeln, so merkte ihm diese doch an, daß sein Geständnis noch lange nicht sein Ende erreicht habe.

»Aber du seufztest noch immer so traurig,« fuhr Karoline fort, »sprich dich aus und lege mir dein ganzes Verhältnis dar, damit ich den Umfang und das Ziel deiner Wünsche erkennen kann.«

»Ja,« sagte Franz, sich mannhaft aufrichtend, »das will ich ja eben jetzt, nur wird es mir schwer, zu der Hauptsache überzugehen. Denn sieh, Tante, es gibt noch manches Hindernis, welches ich zu überwinden haben werde, ehe ich mein Ziel erreiche. Wenn man liebt, so will man auch in den Besitz des geliebten Gegenstandes gelangen, und auch ich weiche darin nicht von anderen Menschen ab.«

»So,« versetzte Karoline mit wahrhaft weiblichem Mute, der bei ihr wuchs, je mehr er dem Neffen zu fehlen schien, »nun kommen also die Hindernisse. Nun denn, zähle sie mir auf, mein Freund, damit wir jedes einzelne im sonnenklaren Lichte des Tages erblicken und erwägen können.«

»Mein erstes Hindernis,« begann Franz mit ruhigerer Miene als vorher zu sprechen, »ist der Unterschied des Standes zwischen Edda und mir. Ihr Vater ist ein stolzer, vornehmer Mann und von seiner bedeutenden Lebensstellung so fest überzeugt, daß er sich wohl höhere Ziele für seine verwöhnte Tochter vorgesteckt haben wird, als einen armen Künstler, der kein Vermögen, keinen Rang und nur das geringe Talent besitzt, welches ihm die Natur verliehen hat.«

Karoline neigte einen Augenblick den Kopf und sann eifrig nach. Dann erhob sie ihn wieder ermutigt und erwiderte mit sichtlichem Stolz: »O, wenn kein anderes Hindernis obwaltet, mein Freund, das ist in meinen Augen, und auch in den Augen deines braven Vaters keins, nein, gar keins.«

»Wie, das wäre in Euren Augen kein Hindernis?« rief Franz, dem dieser Trost schon ein größeres Vertrauen zu den Seinigen und sich selbst einflößte.

»Nicht im geringsten, Franz. Dein Vater und ich, seine Schwester, denken über dergleichen nicht so engherzig und kleinmütig, wie ein großer Teil der in Vorurteilen befangenen Menschen in der heutigen Welt denkt und durch die Verhältnisse zu denken gezwungen wird. Wir« – und das Folgende sprach sie mit erhobener Stimme und blitzenden Augen – »wir sind uns unserer angeborenen Menschenwürde vollkommen bewußt und gestehen einem Manne oder einer Familie, die sich durch Zufall eines etwas höheren Standpunktes in der Welt erfreut, kein tiefgreifendes und uns beherrschendes Vorrecht zu. Nein, Franz, auch du mußt darüber männlich, groß und naturgemäß denken und nicht dem blinden und inhaltlosen Vorurteil der Welt huldigen, wie sie es leider heutzutage in schrecklicher Verblendung zur Schau trägt. Ein gebildeter, befähigter Mann, von gutem Herkommen zumal, ist in der wirklich gebildeten und gesitteten Welt kein Gegenstand, auf den irgend ein sogenannter vornehmer Herr, der sich besonders geadelt denkt, weil durch Gott weiß welchen günstigen Zufall einer seiner Vorfahren den adligen Titel erlangt hat, mit Geringschätzung oder erkünstelter Gleichgültigkeit herabsehen darf. Du, Franz, du bist von gutem Herkommen und Gott selbst hat dich geadelt, indem er dir – verzeihe mir, daß ich dir das ins Gesicht sage – große Fähigkeit, ein herrliches Talent und ein biederes, edelsinniges Herz gab. Mit diesem göttlichen Adel, den nur ein blödsinniger Tor für geringer als den von Menschen verliehenen halten kann, wirst du ein Mann werden, auf den die ganze urteilsvolle Welt mit Achtung und Liebe blickt, und mit einem solchen Mann, denke ich, kann sich auch Seine Exzellenz, der Herr von Bolton, für seine Tochter begnügen, die deinen persönlichen Adel gewiß anerkennen wird, wenn sie ihren eigenen, den ihr die Natur mit ihrer Schönheit aufgedrückt, zur Geltung bringen will.«

Karoline war, während sie dies mit Eifer und Wärme sprach, in Franzens Auge eine ganz andere Erscheinung geworden. Ihr gewöhnlich so bleiches Gesicht strahlte von einer lebensvollen Glut, und ihre sanften Augen funkelten von einem Glanz, den Franz noch nie darin wahrgenommen hatte, und die tief in ihrem Herzen geschlummert haben mußten.

Dennoch schien dieser, der sie mit Erstaunen betrachtete, zu ihrer eigenen Verwunderung nicht durch ihre Worte ermutigt zu werden, wenigstens blickte er immer noch ernst und nachdenklich vor sich hin, und endlich sagte er, abermals ihre Hand ergreifend: »Tante, gute Tante, du willst mich nicht nur trösten, nein, du willst mich auch erheben und stark machen, und ich danke dir herzlich für Deinen guten Willen, in dem sich so viel Liebe für mich verrät. Aber sieh, alle deine Hoffnungen und Wünsche, alle deine vernünftigen Ansichten und Grundsätze beseitigen die mir entgegenstehenden Hindernisse nicht, denn es gibt noch andere, die du, gerade du vielleicht am wenigsten, für gering zu achten geneigt sein wirst.«

Er sprach diese Worte, zu denen er sich endlich entschließen mußte, langsam und mit ganz besonderem Nachdruck, und dieser verfehlte seine Wirkung auf die dafür empfängliche, so reizbare und weiche Tante nicht. Sie sah ihren Neffen groß an, schüttelte leise den Kopf und sagte mit einem Tone, der ihre innere Verwunderung durchklingen ließ:

»Wie sprichst du so sonderbar, Franz? Ein Hindernis soll vorhanden sein, welches gerade ich am wenigsten gering zu achten geneigt sein würde? Sprich rasch, was du sagen willst, und laß mich keinen Augenblick länger, als notwendig ist, in einer so unangenehmen Erwartung schweben.«

»Ich werde reden, ruhig und langsam, wie ich muß, und du mußt etwas geduldig sein, Tante,« fuhr Franz fort, »denn jetzt kommt erst das Wichtigste in meinem Geständnis. Sieh, du hast Miß Edda einst, vielleicht im Scherz, da du weder ihren Namen, noch den Stand ihres Vaters kanntest, und beide ihr Inkognito behaupteten, für eine sehr hochstehende Persönlichkeit, für eine Fürstin gehalten. Wie, wenn sie nun noch höher stände und mir dadurch fast unerreichbar wäre, was würdest du dann sagen?«

Karoline erschrak endlich wirklich. »Nun, mein Gott,« rief sie, »was kann sie denn noch mehr sein?«

»Ich will dir erzählen,« fuhr Franz mit viel größerer Ruhe fort, als er vorher gehabt, »was mir gestern auf dem Balle begegnet ist,« und nun erzählte er ihr, was der Senator ihm bei Tische mitgeteilt, ohne jedoch den düsteren Schatten auf den Vater Eddas fallen zu lassen, den jener bei der Enthüllung der persönlichen Lage desselben auf ihn geworfen hatte; und wenn er geglaubt, daß diese Mitteilung seine Tante tief erschüttern würde, so hatte er sich nicht geirrt, nur war diese Erschütterung von zwei rasch aufeinander folgenden Wirkungen begleitet, und nur die erste war die, welche Franz erwartet hatte, während die zweite ihm anfangs unbegreiflich war, da sie das Gegenteil von dem erzeugte, was sie seiner Meinung nach erzeugen mußte.

Denn kaum hatte er die Worte ausgesprochen: »Edda ist eine in Kopenhagen geborene Dänin,« so wirkten sie wie ein zerschmetternder Blitz auf die gute Karoline. Sie sank mit einem leisen Aufschrei in das Sofa zurück und lag einen Augenblick bleich und wie in halber Ohnmacht da. Aber da war die erste erklärliche Wirkung schon vorüber, und es folgte die zweite, die sich von der ersten, seltsam genug, sehr bedeutend unterschied. Denn plötzlich erhob sich Karoline aus ihrer Lage, richtete sich stolz und kühn auf, und ihr Gesicht und ihre ganze Haltung nahmen einen Ausdruck an, den Franz noch nie an ihr wahrgenommen hatte. Anfangs glaubte er, sie wolle aufspringen, in leidenschaftlichen Zorn ausbrechen und in heftigen Worten sich gegen ihn ergießen, aber von allem dem geschah nichts. Vielmehr wurde sie merkwürdig still, über ihr wieder bleich gewordenes Gesicht flog ein rosiger Schimmer, wie der Abglanz ihrer längst vergangenen schönen Jugend, und ihr Auge blickte gleichsam verklärt und dennoch mit einer gewissen Starrheit zu Franz auf. Dann aber, als wollte sie die in ihr aufflutenden Bewegungen vor diesem verbergen, schlug sie beide Hände vors Gesicht und saß eine Weile unbeweglich wie eine Bildsäule da. Endlich wurde das lange Schweigen unserm Freunde peinlich, eine gewisse Angst bemächtigte sich seiner, und er wollte eben mit sanftem Zuspruch ihre Hände vom Gesicht wegziehen, als sie sie selbst sinken ließ und ihm zu seiner Verwunderung ein ruhig gefaßtes Antlitz zeigte, in dem nur die Augen eine unendliche Wehmut ausdrückten, die sich jetzt mit unbeschreiblicher Innigkeit auf ihren Neffen richteten.

»Franz,« sprach sie mit einer wunderbar kraftvollen Stimme und umfaßte dabei seine rechte Hand fest mit ihren beiden, »wenn du geglaubt hast, daß dieses letzte Hindernis – für mich – ein bedeutenderes sei als das erste, so hast du dich abermals in mir geirrt. Glaube nicht, daß ich mich in diesem Augenblick gegen dich verstelle, oder daß ich mit dem Aufgebot meiner ganzen inneren Kraft mich stärker mache als ich bin; o nein, im Gegenteil, ich zeige dir mein wahres Gesicht und mein Herz ist so – so stark, daß es selbst diesem unerwarteten Schlage ruhig widerstanden hat. Sieh, mein Sohn, ich für meine Person, ich hasse die Dänen nicht, denn ich kann, ich darf sie nicht hassen. Der Mann, der mir und deinem Vater die größten Wohltaten im Leben erwiesen, war ein Däne, und ach! der Mann, den ich am heißesten auf Erden geliebt, war auch einer. Wenn du nun bedenkst, daß es unter allen Nationen, auch unter der deutschen, schlechte Menschen gibt, so wirst du nicht verlangen, daß die dänische Nation allein nur aus lauter Engeln bestehe. Nein, mein Freund, seien wir gerecht, auch gegen unsere Feinde, denn nur dann kann man verlangen, daß man auch gegen uns gerecht sei. Urteilen wir also nicht engherzig und mit vorweg eingenommenen Sinnen über unsere natürlichen Widersacher jenseits jenes schmalen Meeresarmes. Daß also Edda – eine Dänin ist, das, Franz, ist mir und wahrscheinlich auch deinem Vater, so weit ich ihn kenne, kein Hindernis für dich und deine Neigung, im Gegenteil, ich, ich, mein Junge, betrachte gerade diese Neigung für eine seltsame und vielleicht göttliche Fügung des Himmels, denn ich kann mich einmal von dem trostvollen Gedanken nicht losreißen, daß der Himmel da oben, oder das große Wesen, welches wir uns darin wohnend denken, mit seiner göttlichen Hand unsere irdischen Verhältnisse lenkt, und es wäre eine für mich nur zu verständliche Fügung dieser Hand, wenn Edda an dir gut machte, was ein anderer einst an mir verbrochen hat. Also, mein Junge, daß deine Edda keine Schottin, vielmehr eine Dänin ist, darum gräme dich nicht, denn darum würde ich sie auch nicht um eines Haares Breite weniger lieben, und so kann dieser Umstand auch für meine Beistimmung zu deiner Neigung kein Hindernis sein.«

»Tante!« rief Franz, überglücklich emporfahrend, »aber das habe ich mir ja gar nicht gedacht! Gerade dies Hindernis hielt ich für das allergrößte, wichtigste, und wenn du diese beiden von mir genannten Hindernisse als nicht vorhanden betrachtest, dann gibt es ja am Ende gar keins mehr zwischen uns.«

»O ja,« erwiderte Karoline, die allmählich wieder zu ihrer früheren Ruhe zurückgekehrt war, jetzt aber mit noch größerem Ernste als vorher sprach, »o ja, mein Lieber, es gibt vielleicht doch noch ein Hindernis, an welches du am wenigsten gedacht zu haben scheinst, denn du bist ein Mann, und die Männer glauben nur zu oft, schon am Ziele ihrer Wünsche zu sein, wenn sie sich erst allein ihrer eigenen Neigung bewußt sind.«

»Was meinst du damit?« fragte Franz, plötzlich wieder in sichtbare Unruhe geratend.

»Ich will dir eine ganz einfache Frage stellen,« fuhr Karoline fort. »Bist du der Neigung, der Liebe Eddas zu dir sicher – mit einem Wort, liebt sie dich ebenso heiß und wahr, wie du sie liebst?«

Franz hörte diese Frage, die er so unbedingt nicht bejahen konnte, mit einiger Überraschung sprechen. »Ich glaube es wenigstens,« versetzte er nachdenklich; »aber wie weder ich ihr mit klaren Worten gesagt, daß ich sie liebe, so hat sie es mir auch nicht gesagt. Sie hat mir nur eine Rose geschenkt und herzliche Worte dabei gesprochen. Ist das nicht genug, Tante?«

»Nein, Franz, das ist in meinen Augen bei weitem nicht genug. Wenn sie nun doch, und wer will das so bestimmt entscheiden, eine leichtfertige Dame wäre, wenn sie nun schon vielen leichtgläubigen Männern Rosen geschenkt und herzliche Worte dabei gesprochen hätte, wie dann?«

Franz erschrak, zumal die Tante diesen Einwurf mit solchem Bedacht und so ernst vorbrachte. Da aber flog ein lichter Glanz über sein Gesicht, tausend andere Zeichen von Eddas wirklicher Neigung waren vor seine Seele getreten, und er rief: »Nein, ich vertraue ihr, Tante. Das ist nicht möglich, leichtfertig ist Edda nicht – ich kann mich in ihr nicht getäuscht haben.«

»Wenn es nun aber doch wäre? O Franz, ängstige dich nicht, ich will dich ja nicht betrüben, aber sieh, mein Sohn, ob Edda dich liebt, wie du sie liebst, das zu erfahren, muß deine erste Sorge sein, und ehe sie dir diese ihre Liebe nicht ausdrücklich gestanden hat, eher ist auch das Haupthindernis nicht weggeräumt, welches mir – mir als das einzig unübersteigliche in diesem Falle erscheint. Also dieses Geständnis verschaffe dir, und dann wollen wir weiter darüber reden. Aber mit deinem Vater laß mich zuerst sprechen, wenn er heute abend nach Hause kommt, und darum laß mich allein mit ihm; ich, gerade ich will die erste sein, die ihm mitteilt, daß Herr von Bolton ein Däne ist, und wenn ich trotzdem deine Fürsprecherin bei ihm bin, falls er noch in irgend einer Falte seines Herzens seinen alten Dänenhaß bewahren sollte, dann, glaube mir, wird es dir leichter gelingen, ihn deinen Wünschen geneigt zu machen.«

Franz wollte eben der Tante dankend um den Hals fallen, als die Tür leise aufging und Resi ihr blutrotes Gesicht in den Spalt steckte.

Beide fuhren von ihren Sitzen empor, und Karoline rief fast unwillig: »Resi! Was gibt es, daß du mich gerade jetzt störst? Komm herein und sprich!«

Resi gehorchte der Aufforderung und trat lächelnd ihrer guten Herrin näher, worauf sie unter ihrer Schürze, wo sie die eine Hand bisher gehalten, einen Brief hervornahm und ihn dem Fräulein überreichte.

»Es ist ein Mädchen aus der Pension hinter dem Garten hier gewesen,« sagte sie, »und hat diesen Brief gebracht. Wer ihn sende, ginge aus dem Schreiben selbst hervor, meinte sie, und sie würde in einer Viertelstunde wiederkommen und sich die Antwort abholen.«

Als Resi dies gesprochen, verließ sie wieder das Zimmer. Karoline aber stand mit dem Brief in der Hand vor Franz und blickte mit verwunderter Miene auf das zierliche und lieblich duftende Kuvert hin.

»Das ist ja merkwürdig,« sagte sie. »Sieh doch, hast du schon je solche Adresse gelesen?«

Dabei hielt sie Franz den Brief vor die Augen, der heftig errötete, da er, wie auch schon seine Tante, an dem Duft, der an dem Papier haftete, die Absenderin erraten hatte. Die Adresse aber lautete sehr einfach: »An Tante Karoline!« und war mit kleiner deutlicher Schrift geschrieben, die eine feste und sichere Hand verriet.

»Mach' ihn rasch auf,« rief Franz heftig, »und lies ihn. In diesem Brief, mir sagt es mein Herz, steht etwas Wichtiges.«

»Mir schlägt das meine auch,« entgegnete Karoline, und rasch hatte sie mit einer Schere das Papier getrennt, um das einfache E., welches auf das Siegel gedrückt war, nicht zu verletzen. Darauf aber an das Fenster tretend, las sie folgende Zeilen, während Franz mit wachsender Spannung den Zustand ihrer Gesichtszüge studierte.

»Meine liebe Freundin! Verzeihen Sie mir, daß ich das Kuvert dieses Briefes mit einem Namen schmücke, der mir zu lieblich klingt, als daß ich ihn nicht einmal wenigstens aus meiner Feder fließen lassen sollte. – Ich habe eine Bitte, eine herzliche Bitte, um deren Gewährung ich Sie dringend ersuche, wenn es irgend in Ihrer Macht steht. Ich muß Sie sprechen, noch im Laufe des heutigen Tages, und zwar an einem ruhigen Orte, wo wir gänzlich ungestört und ungehört sind. Ich habe den ganzen Tag für Sie übrig, da mein Vater bis morgen abend nach Bern gereist ist, und Sie mögen mir also die Ihnen geeignete Stunde bestimmen. Richten Sie sich aber dann nicht auf einige Minuten, sondern mindestens auf eine Stunde ein, denn ich habe Ihnen viel zu sagen. Sie können zu mir kommen, wenn Sie wollen, denn ich habe hier auch ein stilles Zimmer, am liebsten jedoch käme ich zu Ihnen, vorausgesetzt, daß Sie mich noch einmal – vielleicht das letzte Mal – bei sich sehen wollen und daß niemand – ich sage niemand – uns belauscht. Unsere Magd wird Ihre Antwort in fünfzehn Minuten wieder abholen. Mit herzlichem Gruße

Ihre Edda.«

Karoline hob lächelnd ihren Kopf gegen Franz auf und sagte mit freudigem Tone: »Ei, da haben wir es, du bist am Ende deiner Sache doch gewiß gewesen. Denn wenn mich nicht alles täuscht, so habe ich sehr bald ein zweites Beichtkind zu erwarten.«

»Aber mein Gott, was steht denn in dem Brief?« fragte Franz, der die Zeit nicht erwarten konnte, bis er ihn in Händen hielt, wohin ihn die überlegende Tante noch nicht hatte gelangen lassen. Doch da war sie schon mit ihrer Überlegung fertig, und nun den Brief Franz hinreichend, sagte sie:

»Lies und freue dich, mein Junge; sie will mich selbst besuchen, und ich ahne schon, was ich zu hören bekommen werde.«

Franz las in seiner Hast den Brief erst flüchtig durch, dann noch einmal langsamer, und als er damit fertig war, sah er die Tante mit angstvoller Spannung wie ein plötzlich Erschreckender an und rief: »Wie du darüber lächeln kannst, weiß ich nicht. Hast du denn die Worte überlesen: »Vielleicht zum letzten Mal!«? Sie werden doch nicht abreisen wollen?«

»Abreisen?« fragte Karoline verwundert und blickte noch einmal in den Brief. »O nein, das fürchte ich nicht, und wenn auch – sie geht ja nicht aus der Welt. Aber das ist gewiß nur so eine Redensart gewesen, wie sie junge Mädchen gar zu gern gebrauchen. –«

»Nein, Tante,« rief Franz mit Entschiedenheit, »Edda nicht, die habe ich noch nie eine bloße Redensart gebrauchen hören, und sie drückt immer nur fest und sicher aus, was sie ausdrücken will.«

»Nun, dann hat sie sie mit Absicht gebraucht, um meine Einwilligung zu dieser Zusammenkunft um so schneller zu erhalten.«

»Auch das glaube ich nicht; dahinter steckt etwas Anderes.«

Die Tante lächelte beinahe heiter. »Verliebte sind in der Regel furchtsam, denn sie fürchten immer nur zu verlieren, und gerade sie sollten den meisten Mut haben, der das Geschwisterkind der Hoffnung ist. Doch nun zerbrich dir den Kopf darüber nicht, mein Junge, heute abend werden wir beide wissen, was die gefürchtete Redensart zu bedeuten hat. Nun aber will ich ihr gleich antworten.«

»Wann willst du sie denn empfangen?«

»Heute morgen nicht, ich bin zu aufgeregt von der ersten Beichte, und ich habe noch im Hause zu tun. Aber nachmittag, wenn alle Geschäfte abgetan sind, dann will ich mich wieder in den Beichtstuhl setzen. –«

»Du scherzest, Tante,« unterbrach Franz sie vorwurfsvoll, »das ist nicht recht. Du kannst leicht etwas zu hören bekommen, was von der Beichte, die du mir heute abgenommen, weit abweicht.«

»Auch möglich!« sagte die Tante nachdenklich. »Wer kann es wissen! Doch darum will ich mich jetzt nicht bekümmern. Laß mich nur rasch ein paar Worte schreiben, dann reden wir weiter.«

Sie schloß ihr kleines Schreibpult von Nußbaumholz auf, nahm einen feinen Briefbogen und schrieb mit kräftigen deutschen Zügen, die der Schrift ihres Bruders auf ein Haar glichen:

»Mein liebes Fräulein! Kommen Sie, kommen Sie zu mir, ich empfange Sie herzlich gern in meinem stillen Stübchen, wo niemand uns stören und belauschen soll, ich verspreche es Ihnen feierlich. Mein Bruder ist heute auch bis zum Abend abwesend, und mein Neffe wird in seinem Gartenhäuschen verweilen und nicht eher bei mir erscheinen, als bis ich ihn rufen lasse. So erwarte ich Sie denn um drei Uhr, und Sie werden, wie ich hoffe, so freundlich sein, bei mir den Kaffee zu trinken. Sollte Ihnen die Stunde nicht bequem sein, so ändern Sie sie beliebig ab, ich habe den ganzen Nachmittag für Sie und mich. Von Herzen grüßt ebenfalls Ihre

Karoline.«

»Da,« sagte die Tante, den Brief ihrem Neffen hinreichend, »nun lies und erfahre daraus zugleich dein Schicksal für heute nachmittag. Du wirst redlich in deinem Atelier bleiben und nicht eher dies Haus betreten, als bis ich dich selbst rufe oder durch irgend jemand rufen lasse. So lautet die Parole für heute.«

Franz, mit den Wünschen der Tante einverstanden, nickte mit dem Kopfe. »Aber du wirst dich doch meiner annehmen?« fragte er, ehe Karoline ihn verließ, wozu er schon einige Vorbereitungen an ihr bemerkte.

»Wie du so fragen kannst, mein Lieber! Das versteht sich ja von selbst. So, und nun gehe in dein kleines Haus und unterhalte dich mit deinem schönen Porträt, das wird doch wohl jetzt deine ganze Arbeit sein, zum Malen bist du gewiß nicht aufgelegt.«

»Ja,« sagte Franz, »darin hast du recht, und da ich heute nachmittag lange genug werde malen und allein sein können, will ich einmal einen Morgenritt machen und mein dickes Blut durch die frische Bergluft etwas zu verdünnen suchen. Guten Morgen, liebe Tante, und nimm noch einmal meinen herzlichsten Dank für deine Liebe und Güte. –«

»Still! Bedanke dich nicht, das liebe ich nicht, und dazu ist es auch noch viel zu früh. Man muß sich niemals für ein Geschenk bedanken, was man noch nicht ganz in Händen hat, die Schenkenden sind oft seltsame Leute und vergessen ihr Versprechen. –«

»Du wenigstens das deine nicht, und du wirst mich immer lieb behalten, Tante.«

»Da hast du recht, mein Junge, und nun komm und gib mir einen Kuß: für meine Liebe kannst du dich immer bedanken, denn die hast du schon ganz in Händen, und sie wird dir bis zu meinem letzten Atemzug treu bleiben.«

Bei diesen Worten umarmte sie herzlich den geliebten Sohn ihres Bruders, und beide trennten sich, Karoline, um in die Küche zu gehen, und Franz, um sich seinen Schimmel satteln zu lassen und einen tüchtigen Ritt in die Berge zu unternehmen.


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