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Buchschmuck

Sechstes Kapitel.
»Jetzt ist es Zeit!«

Als Baron Juell Wind das Zimmer seiner Frau verlassen hatte, trat Miß Rosy geräuschlos in dasselbe ein und, von tiefem Mitgefühl bewegt, eilte sie auf die ihr entgegenkommende Edda zu und beide schlossen sich, ohne ein Wort zu sagen, in die Arme. Miß Rosy, die ältere, aber schwächere von beiden, weinte an der Brust des jungen starken Mädchens, dieses aber schien mit jeder Träne, die heiß an seiner Wange niederrieselte, mutiger, vertrauensvoller zu werden, bis es sich endlich aus Miß Rosys Armen loswand und ihr leise zuflüsterte:

»Mut, Rosy, Mut, es ist alles sehr schlimm, aber es würde noch viel schlimmer werden, wenn wir alle den Kopf und das Vertrauen verlören. Mein Entschluß ist gefaßt und er wird wahrscheinlich bald ausgeführt. Gehen Sie jetzt leise hinaus und lassen Sie meinem Vater ein leichtes Abendbrot und eine Flasche guten Weines auf sein Zimmer bringen, er bedarf der Stärkung. Ich werde so lange bei der Mutter bleiben, die ruhig schläft, und dann – und dann wollen wir geduldig abwarten, was weiter geschieht und neue Schritte nötig macht. Mein Herz ist nie so voll Hoffnung und Vertrauen gewesen, wie gerade jetzt, und ich erkenne die Wahrheit, die Franz Marssen, ahnungslos, daß ich sie einst auf mich anwenden könnte, mir damals mit den Worten gesagt: der Mensch muß nie verzweifeln und die tiefste Stufe des Elends ist oft die erste zum neuen Glück. So etwas ähnliches war es wenigstens und jetzt fällt es mir zur rechten Zeit ein. Nun gehen Sie und kommen Sie wieder herein, wenn Sie fertig sind.«

Miß Rosy verließ das Zimmer, um den ihr gegebenen Auftrag auszuführen, und Edda trat an das Lager ihrer Mutter und warf einen Blick über sie hin, als wollte sie sagen: »Sie weiß wirklich nicht, was in ihres Mannes Herzen vorgeht, denn sie fühlt es nicht!«

Die Kranke hatte die Hände gefaltet und auf die Brust gelegt. Die Augen waren geschlossen, die langen schwarzen Wimpern ruhten wie tiefe Schatten auf den bleichen Wangen, und langsam und regelmäßig hob sich die Brust, als schlafe sie sanft und süß.

Wie lange Edda so in das Anschauen ihrer Mutter verloren stand und was sie dabei dachte – sie wußte es nicht. Sie wachte erst aus ihrem halben Traume auf, als Miß Rosy wieder hereinkam und sich, von dem Sofa der Kranken einige Schritte entfernt, auf ein zweites, kleineres setzte und Edda einen Wink gab, zu ihr zu kommen.

Diese gehorchte ihr mechanisch, denn soeben hatte sie sich wieder mit ihrer seltsamen inneren Stimme unterhalten und es war ihr gewesen, als ob ein Finger sich in ihrer Brust erhoben und die Stimme dabei gerufen hätte: »Edda, merk' auf!«

So saßen die beiden Mädchen jetzt nebeneinander und flüsterten einige Minuten leise. »Es regnet noch immer sanft,« sagte Miß Rosy unter anderm, »und Ihr Vater schreibt. Das wird ihm Linderung verschaffen – er spricht sich aus.«

»Sie haben alles gehört, nicht wahr, Liebe?«

»Ja, Edda, alles!«

»Das ist auch gut, hier kann nichts mehr verschwiegen werden. – Doch was ist das?«

Sie bebte an Miß Rosys Brust, an der sie lehnte, zusammen, und auch diese erschrak so, daß sie zitterte. Vom Bette der Kranken her hatte sich ein seltsamer Ton vernehmen lassen, der wie ein stiller Seufzer klang und mit den schwach aber deutlich gesprochenen Worten endigte:

»Gute Nacht!«

Edda wie Miß Rosy sprangen auf und beide eilten an das Lager. Die Kranke lag noch ebenso wie vorher, aber ihre Brust schien viel leichter und schwächer zu atmen. Edda sah Miß Rosy fragend an und diese war auffallend bleich geworden.

»Was denken Sie, Rosy?« fragte Edda rasch. »Sprechen Sie alles aus!«

Miß Rosy umklammerte Edda und flüsterte: »O mein Gott, wenn Ihre Mutter einmal so entschlummerte – da hinüber, wo jetzt das Dunkel herrscht, aber doch das Licht wohnt?«

»Still!« rief Edda und faßte sich nach der Stirn, und der Finger in ihrem Innern hob sich wieder empor und die Stimme sagte lauter als vorher: »Edda, merk' auf!«

»Bleiben Sie hier,« fuhr sie rasch fort, »ich will zu meinem Vater gehen und ihn holen.«

Während Miß Rosy am Lager niederkniete und das ruhige Gesicht der Kranken beobachtete, glitt Edda wie ein flüchtiger Schatten nach ihres Vaters Zimmer.

Sie öffnete leise die Tür und blieb auf der Schwelle stehen, denn sie hörte den Vater, der sich vor dem Schreibtisch in den Sessel zurückgelehnt hatte und die Feder in der Hand hielt, halblaut mit sich selber reden, wie er es öfter zu tun pflegte, wenn er etwas Wichtiges zu bedenken hatte.

So stand sie also und lauschte.

»O mein Gott, mein Gott, ist es möglich!« sagte ihr Vater seufzend. »Das muß ich in meinem Alter erleben und meine Jugend war so strahlend, so viel verheißend, so hoffnungsvoll, und ich war so stolz auf mein Glück und so sicher in meinem Gang! O Jugend, welche Täuschung! O Alter, welche Demütigung! Und nun habe ich niemanden an meiner Seite, der mir liebevoll zulächelte, als meine Edda; keinen Freund, der mir die Last der Schmach tragen hilfe, der mir Trost spräche in meinem Leid, keinen Freund auf der ganzen weiten Welt! Ach, die die besten von allen waren, hat auch meine jugendliche Torheit, mein Starrsinn, mein – mein Hochmut von sich gewiesen – ach!«

Edda hatte genug gehört. Ihr Busen hob sich mächtig, ihre Augen blitzten, ihre Seele war aus dem Schlummer geweckt, in den sie vorher gesunken, und die Stimme in ihr sprach laut, viel lauter als sonst: »Edda, jetzt ist es Zeit! Auf, tummle dich!«

Das sagte sie ihr und mehr brauchte sie ihr nicht zu sagen. Ohne einem Menschen ihr Tun mitzuteilen, war sie zum Handeln entschlossen. Leise lehnte sie die geöffnete Tür wieder an, leise schlich sie den Korridor entlang, nahm den Pfortenschlüssel vom Nachbargarten und, nachdem sie aus ihrem Zimmer ihr Plaid geholt und es sich rasch über den Kopf geschlagen, eilte sie vor die Haustür, die sie offen ließ. Wie ein flüchtiger Wolkenschatten huschte sie nun durch den stillen Garten: sie hörte nicht den Regen auf die Blätter fallen, sie fühlte nicht, daß der Rasen naß war – sie hatte nur ein, ein Ziel vor sich und diesem strebte sie ohne weiteren Gedanken zu. Da stand sie schon vor der kleinen Pforte; ihr Atem ging ruhiger, als sie glaubte, daß er gehen könne, und sie schloß mit Bedacht die Pforte auf und ließ den Schlüssel stecken. So gelangte sie bald vor das Malerhäuschen und auch dieses lag bald hinter ihr. Und durch den langen breiten Weingang flog die geflügelte Botin, welche die innere Stimme nach dem Hause des Doktor Marssen gesandt, und nur eine Hoffnung hegte sie noch im Herzen, die: daß noch nicht alles im Hause der Freunde zur Ruhe gegangen sei.

Ihre Hoffnung sollte nicht getäuscht werden. Doktor Marssen, durch das starke Gewitter in den Bergen länger als gewöhnlich bei seinem Patienten aufgehalten, war erst vor einer Stunde nach Hause gekommen, hatte mit Karoline und Franz ruhig sein Abendbrot verzehrt, und da er weder jene noch diesen zu längerem Gespräch aufgelegt fand, Franz sich sogar möglichst fern von ihm hielt, so hatte er sich an den Tisch gesetzt und einige Briefe zu lesen begonnen, die während seiner Abwesenheit an diesem Tage eingelaufen waren.

Gegen zehn Uhr zündete Franz sein Licht an und wünschte den Seinigen eine gute Nacht.

»Willst du schon schlafen gehen?« fragte der Vater, ohne die Augen vom Briefe zu erheben.

»Ja, Vater, ich bin müde.«

»Ah, dir liegt das Gewitter noch in den Gliedern – mir auch, aber schlafen kann ich noch nicht. Gute Nacht, Franz.«

Franz war gegangen, Doktor Marssen las weiter und rauchte seine Zigarre dabei, wie jeden Abend; Karoline aber saß ihm gegenüber am Tisch und strickte, während sie zugleich, ohne jedoch rechte Lust zum Lesen zu haben, in ein Buch blickte, das offen vor ihr lag.

Da schlug die Uhr zehn.

»Es schlägt zehn, Leo, bist du noch nicht müde?«

»Nein, Karoline, noch lange nicht. Aber geh nur zu Bett, laß dich nicht durch mich abhalten. – Warum gehst du nicht?« fragte er nach einer Weile und hob das freundlich ernste Gesicht gegen seine Schwester auf, die ihr Buch zugeschlagen hatte, aber ruhig weiter strickte.

»Ich mag auch noch nicht zu Bette gehen. Mir ist immer, als ob ich dir noch etwas sagen müßte, und ich weiß nicht was.«

»So besinne dich,« erwiderte der Doktor und las einen der Briefe zum zweiten Mal, wobei er sich einige Notizen auf ein daneben gelegtes Blatt mit Bleistift schrieb.

Da hob er plötzlich den Kopf in die Höhe und sagte: »Ich glaube, es regnet stärker als vorher. Wenigstens ist das Geräusch stärker geworden.«

»Hast du es auch gehört?« fragte Karoline, sich nach dem Fenster umdrehend. »Mir kam es aber nicht wie Regen vor –«

»Wie denn?«

»Als ob ein Mensch um das Haus herumginge.«

»Es wird Jürgen sein, der nach dem Wetter sieht.«

Karoline stand auf und trat an das Fenster, dessen Rouleau sie in die Höhe zog. Aber in demselben Augenblicke schrie sie laut auf: »O mein Gott!«

Doktor Marssen sprang von seinem Stuhl auf und trat rasch an das Fenster. »Was gibts?« fragte er.

Karoline war so erschrocken, daß sie nicht antworten konnte. Doktor Marssen aber sah sogleich, was sie erschreckt, denn draußen vor dem Fenster stand auf einem Stuhl oder einer Bank eine dunkle Gestalt, die eben an die Scheibe gepocht, als der Vorhang sich hob.

Doktor Marssen riß das Fenster auf.

»Liebe, gute Karoline!« sagte da eine liebliche weibliche Stimme. »Erschrecken Sie nicht – ich bin es, Edda – darf ich einen Augenblick bei Ihnen eintreten?«

»O mein Gott, es ist Edda!« rief Karoline, und schon war sie nach der Haustür gelaufen, hatte den Riegel zurückgeschoben, und zwei Minuten später trat sie mit Edda ins Zimmer, die schon draußen ihr Plaid halb zurückgeschlagen hatte und so zum erstenmal vor das Auge Doktor Marssens trat.

»Ich bitte um Entschuldigung, Herr Doktor,« sagte sie mit einiger Beklommenheit, »aber die Not drängt. Meine Mutter ist sehr krank – unser Arzt ist verreist – und so wollte ich Sie bitten –«

»Gewiß, gewiß!« unterbrach sie Karoline, die ihrem Bruder schon einen herzlichen Blick zuwarf.

Aber Doktor Marssen regte sich nicht. Er sah nur mit starren Augen das junge Mädchen, dessen Schönheit er schon oft im Bilde bewundert die er aber jetzt, da sie lebendig vor ihm stand, hinreißend und fast unbegreiflich fand.

»O, Sie kennen mich noch nicht,« fuhr Edda mit ängstlichem Flehen und unsicherer Stimme fort – »und Sie kommen vielleicht nicht gern?«

»Doch, doch, mein Kind, ich komme sogleich mit!« Und schon griff er nach seinem Hut, der noch auf einem Stuhl in Karolinens Zimmer stand.

Da aber blieb er wieder stehen, denn Edda war seiner Schwester um den Hals gefallen und weinte laut. Ihre Kraft hatte zwar bis hierher ausgehalten; als sie aber das ernste feste Gesicht des Bruders ihrer Freundin sah, entfloh sie ihr. »Karoline, liebe Freundin,« schluchzte sie, »ich habe noch eine Bitte!«

»Sprechen Sie, sprechen Sie!« ermutigte sie Doktor Marssen, »und vor allen Dingen ängstigen Sie sich nicht zu sehr – alle Kranken sterben nicht gleich.«

»Kommen auch Sie mit uns,« fuhr Edda gegen Karoline gewendet mit herzinniger Bitte fort. »In unserm Hause – in unserm Hause –« und die Worte versagten ihr wieder.

Karolinen fiel es wie ein Stein aufs Herz. Sie war schon an vielen Sterbebetten gewesen, aber an dieses zu treten und den Jammer Befreundeter und Fremder zu sehen, erfüllte sie mit einer seltsamen Angst und Bangigkeit. »Ist Ihr Vater zu Hause?« fragte sie mit bebender Stimme.

Da ließ Edda sie los, und mit dem lauten Ausruf: »Ja, ja, er ist zu Haus!« schmiegte sie sich wie ein schüchternes Reh an Doktor Marssen, der gar nicht wußte, wie er sich die seltsame Erregung des jungen Mädchens deuten sollte.

Da hob Edda ihren schönen Kopf nach dem Gesicht des ihr noch fremden und jetzt schon so geliebten und verehrten Mannes empor und sah ihm voll in die klaren und doch so verwundert blickenden Augen. Des starken Mannes Herz aber wurde unter diesem in seine Seele dringenden Blick weich, er drückte fast herzlich ihre Hände und sagte:

»Beruhigen Sie sich, mein Kind. Gott wird Ihnen beistehen. Ich aber, ich will nur rasch einige Mittel nehmen und Ihnen dann folgen – sind Sie durch den Garten gekommen?«

»Ja, ja, die Pforte steht auf.«

»So gehen Sie mit meiner Schwester voran – ich folge sogleich.«

Karoline, die durch diese Worte über sich entschieden sah, schlug rasch ein Tuch um, wie es Edda getragen, und beide gingen durch die Haustür nach dem Garten hinaus. Draußen aber in den nach dem Atelier führenden Weingang gekommen, blieb Edda plötzlich stehen und, Karolinen von neuem in ihre Arme schließend, schluchzte sie mehr als sie sprach: »Karoline – Karoline, ich darf Sie nicht täuschen – Sie gehen einer schweren Stunde entgegen. Nicht nur meine Mutter ist sterbenskrank – auch mein Vater – mein Vater – ach!«

»Er auch? Edda, verstehe ich Sie recht?«

Da hatte sich diese gefaßt und richtete sich auf. »Nein,« sagte sie, »krank ist er nicht, wie Sie es auffassen, das heißt, nicht am Körper, aber sein Gemüt, sein Herz, seine Seele ist krank – ergriffen – und Sie und Ihr Bruder – Sie beide allein können ihn – vielleicht – heilen.«

Bei diesen Worten war es, als ob Karolinen ein eiskalter Schauer überliefe und eine Ahnung der Wirklichkeit ihr Herz durchzuckte. Aber gleich darauf zweifelte sie wieder, denn es schien ihr unmöglich zu sein, was ein unbegreifliches, dunkles Gefühl ihr verraten wollte. Sie war eben im Begriff, wieder eine Frage zu tun, da kam Doktor Marssen aus dem Hause, schloß die Tür zu und sagte, als er die Frauen erreichte:

»Kommen Sie, ich bin bereit.«

Aber die beiden Frauen blieben noch immer stehen, als wären sie an den Boden gefesselt gewesen.

»Wird Ihnen vielleicht das Gehen schwer, da Sie so erschüttert sind?« fragte Doktor Marssen mit sanfter Stimme.

»Ja,« rief Edda fest, »leihen auch Sie mir Ihren Arm – er ist stark, denn er stammt aus Schleswig und Schleswig ist das Land der starken Arme und – der starken Herzen, und darum eben bin ich zu Ihnen gekommen.«

Jetzt dämmerte auch in Doktor Marssen eine Art von Erkenntnis auf, aber sie war noch ganz trübe und dunkel. Die Erregung des jungen schönen Mädchens schien ihm nicht allein von der Furcht, eine Mutter zu verlieren, herzurühren, sondern noch einen andern Grund zu haben, allein er schwieg. Rasch nahm er nun beide Frauen unter die Arme und schritt mit ihnen den Weingang entlang, bis sie an die Pforte kamen, durch die sie wieder einzeln treten mußten, da sie nur schmal war. Als sie aber hinter ihnen lag, ergriff Edda aus freien Stücken seinen Arm wieder und ihn fast leidenschaftlich mit sich fortziehend und sich dabei fest an ihn drängend, eilte sie über den nassen Rasen dem Hause zu, aus dessen jetzt verhangenen Fenstern man schon von weitem den milden grünen Schein der Lampe im Krankenzimmer schimmern sehen konnte.

»Kommen Sie!« sagte Edda leise, als alle drei unter der Veranda angelangt waren, und ihre Stimme zitterte nicht mehr, wie auch ihr Herz wieder ruhiger schlug, denn jetzt war der Würfel gefallen und das Schicksal mußte seinen Lauf nehmen. Nach wenigen Augenblicken aber hatte man den Flur erreicht und bewegte sich dem Krankenzimmer zu, in dem sich nichts verändert hatte, nur daß Miß Rosy Bruce vor dem Sofa kniete und – leise betete, denn sie glaubte unterdes den wahren Zustand ihrer Lady erkannt zu haben.

*

Als Miß Rosy Edda mit ihren beiden Begleitern in das Zimmer treten hörte, erhob sie sich still weinend von dem Kissen, auf dem sie bisher gekniet, verbeugte sich schweigend vor Doktor Marssen und seiner Schwester und trat mit gefalteten Händen beiseite, nachdem sie Edda einen von dieser nicht ganz verstandenen Wink gegeben hatte, der so viel bedeuten sollte, als daß sie glaube, daß hier alle menschliche Hilfe vergeblich sei.

Doktor Marssen, der nur einen raschen Blick im Zimmer umher und auf die bescheidene Engländerin geworfen hatte, die ihm noch unbekannt war, ging, Eddas deutendem Blicke folgend, ohne Umstände auf das Krankenlager zu und beugte sich zu der bleichen Frau nieder, während Karoline, Eddas Hand festhaltend, an das Kopfende des Sofas getreten war und die Miene ihres Bruders mit gespanntem Auge beobachtete.

Dieser hatte zuerst eine Hand der Kranken ergriffen, dann die andere, und da er an beiden keinen Pulsschlag mehr fühlte, griff er nach der Herzgegend und forschte lange mit Hand und Ohr nach irgend einer Lebensregung. Nach einer Weile erhob er sich wieder, strich sanft über die Stirn der Kranken, öffnete behutsam ihre Augenlider und ließ sie dann langsam wieder über das Auge herab, wobei er unwillkürlich einen schwachen Seufzer ausstieß. Dann aber erhob er sich in seiner ganzen Größe, und sein treues, redliches Auge mit festem Blick auf Edda richtend, die jeder seiner Bewegungen mit krampfhafter Spannung folgte, sagte er mit leiser und doch bis ins Herz aller Anwesenden dringender Stimme:

»Mein liebes Fräulein, Sie haben sich in der Hoffnung, die Sie auf mich oder überhaupt auf einen Arzt setzten, getäuscht – diese Kranke konnte kein Mensch mehr retten, denn – sie ist leider keine Kranke mehr, sie ist eine Tote und meiner Ansicht nach schon wenigstens vor einer halben Stunde entschlafen.«

Edda sah ihn mit wunderbar großen Augen an, als verstände sie nicht, was eben zu ihr gesprochen. Aber dann sich zu Karolinen umwendend, die sie umschlang und liebevoll an sich preßte, als wolle sie sie gegen den herandrängenden Schmerz in Schutz nehmen, brach sie in die rasch hervorgestoßenen Worte aus:

»Tot? Tot? Und vor einer halben Stunde schon?«

»Mein liebes, armes Kind,« sagte nun Karoline, » er sagt es, und ihm können Sie schon glauben.«

»Ich glaube es, ich glaube es!« schluchzte Edda an der Brust Karolinens. »Aber so rasch hätte ich es doch nicht, und keines von uns, erwartet!« –

Unterdessen aber war Miß Rosy, sobald sie die ersten entscheidenden Worte des Arztes vernommen, aus dem Zimmer gestürzt, um den Baron von dem traurigen Ereignis zu unterrichten, welches so unerwartet eingetreten war. Es dauerte auch nicht lange, so hörte man seinen schweren Schritt auf dem Korridor, und gleich darauf trat er mit irrem Blick und zitternder Hast herein, ohne im ersten Augenblick auf die beiden Fremden zu achten, die an dem Sterbebett seiner Frau und zur Seite Eddas standen.

»Also sie ist tot?« rief er, vor das Sterbelager niederkniend, wo auch sogleich Edda ihren Platz neben ihm einnahm, »und in meinem schrecklichsten Augenblick ist sie gestorben? Ist es denn wahr, wirklich wahr? Tot? tot? und sie hat keine Freude mehr gehabt und hat nur die bitteren Tropfen des Lebenskelches genossen? O Gott sei Dank, Gott sei Dank, sie hat es überstanden, und nun kommt an uns andere die Reihe. O Edda, mein Kind, weine nicht – deine Mutter ist glücklicher als ich – sie leidet nicht mehr wie ich, und ihr braucht keine Hoffnung mehr versagt zu werden, wie sie mir alle, auf ewig versagt sind!«

Bei diesen Worten beugte der unglückliche Mann sein graues Haupt auf die schon halb erkalteten Hände seiner Frau nieder und blieb geraume Zeit in dieser Stellung, während Edda ihren Kopf schon wieder erhoben hatte und mit brennendem Blick die Mienen des Arztes und seiner Schwester durchforschte, deren Augen in einer Art bohrender Starrheit auf ihrem Vater hafteten, den sie zu verschlingen schienen, und die sie dann zueinander selbst erhoben, als wollten sie sich staunend fragen, ob sie sich nicht täuschten, und ob Eddas Vater, der Baron Bolton, nicht ein ganz anderer wäre, dessen Name mit feurigen Lettern in ihr Herz geschrieben war.

Aber da war es Doktor Marssen, der zumeist in grenzenloses Staunen verfiel, denn seine Schwester erschien ihm in diesem furchtbaren Augenblick wie eine Heldin, die allem Groll und Haß entsagt und ihr eigenes Leid in Vergessenheit senkt, um das eines anderen, der jetzt noch mehr litt als sie, nicht zu vermehren. Wohl hatte sie auf den ersten Blick in dem auffällig gealterten, halb gebrochenen und jetzt so tief erschütterten Mann den Geliebten ihrer Jugend erkannt, der neben ihrem Bruder, obgleich er mit ihm in einem Alter stand, wie ein Greis aussah: wohl rauschte alles, was sie von Edda gehört, wie eine pfeilschnelle Vision, ein neckendes Traumgesicht an ihrer Seele vorüber, und sie schmeichelte sich, daß alles vor ihren Augen Vorgehende ebenso ein Blendwerk, ein Traumgesicht sei; aber ihr Herz, mit ihrem Verstande und ihrer Willenskraft im Einklang, rang sich sogleich aus dem Wirrwarr ihrer Phantasie empor, sie fand die Wahrheit aus dem Nebeldunst der Täuschung heraus, und auf der Stelle war sie entschlossen, die schwere Rolle mit Ehren zu Ende zu spielen, die ihr von der edlen Edda, die ohne Zweifel längst ihr Verhältnis zu ihrem Vater kannte und diesen mit der Auffindung der ehemaligen Freunde beglücken wollte, zugedacht war. Ein Blick auf Edda hin, die ihr nur mit einer flehenden Geberde die Arme entgegenstreckte, während ihre weinenden Augen ihr ein »Bitte, bitte!« zuwinkten, klärte sie ganz auf, und machte sie noch fester entschlossen, und als Doktor Marssen nun einen Blick auf sie warf, der zu fragen schien, wie man sich hier verhalten solle – da strahlte ihm ein Lächeln entgegen, in dem ihr ganzes, echt weibliches Herz und Gefühl lag, womit sie Verzeihung aussprach und Versöhnung predigte – und auf der Stelle war er entschlossen, ihr in diesem schweren Augenblick männlich zur Seite zu stehen und ebenso wacker wie mild mit ihr dem gleichen Ziele zuzustreben.

In demselben Augenblicke aber war Edda, die wohl Karolinens, aber nicht des Bruders sicher zu sein glaubte, von der Seite ihres Vaters aufgestanden und auf jenen zugeeilt, und mit dem lauten Ausruf: »O bitte, bitte, lieber Doktor! Wenn Sie meiner Mutter nicht mehr helfen können, helfen Sie wenigstens meinem armen Vater!« fiel sie in seine Arme, die sie liebevoll auffingen, denn nun erkannte auch er sonnenklar die Triebfeder des vorgehenden Dramas, und er sah ein, daß hier eine Tochter ihre Gefühle für eine gestorbene Mutter beiseite drängte, um sie für den lebenden Vater zu sparen, und diesem wenigstens ein Glück zu bereiten, das ihm den süßesten Trost für den eben erlittenen Verlust gewähren konnte.

Aber jener Ausruf Eddas war es, der auch ihres Vaters Aufmerksamkeit erregte und ihn von dem Lager der Gestorbenen fortrief. Noch kniete er zwar davor, aber er hob schon das Gesicht nach Edda empor, und als er sie in den Armen Doktor Marssens, und die ruhig und gefaßt danebenstehende Karoline sah, und beide ebenfalls auf der Stelle erkannte, da nahm dies düstere Gesicht einen unbeschreiblichen Ausdruck von Staunen, Schmerz und Rührung an, und er drehte dabei den Kopf nach allen Seiten, als wollte er fragen:

»Was hat das zu bedeuten? Seid Ihr es oder seid Ihr es nicht, und wer, wer hat Euch in mein Haus – an das Sterbebett meines armen unglücklichen Weibes geführt?«

Als aber diese stille, und doch von allen verstandene Frage auf seinem bleichen, zerrütteten Gesicht zu lesen war, in dem nur die dunkel blitzenden Augen Leben zu haben schienen, hielt Doktor Marssen es an der Zeit, das Wort zu nehmen, und sich in voller Höhe aufrichtend und seinen ganzen männlichen Stolz, aber auch sein menschenfreundliches Herz in den edlen Zügen zeigend, sagte er:

»Rolf, Baron Juell Wind, wundere dich nicht, mich und meine Schwester in deinem Hause zu sehen. Deine Tochter hat mich gerufen, in der Hoffnung, daß es mir möglich sein werde, deine Gattin am Leben zu erhalten, aber vielleicht auch in der Hoffnung, – so fasse ich es wenigstens auf – in einem so traurigen Moment unsere Herzen weicher und empfänglicher für ihre Wünsche zu finden, als sie sonst im Leben gewesen sein mögen. Nun, Rolf Juell Wind, deine Gattin konnte ich nicht vom Tode retten, denn ich fand sie schon tot, aber wenn du eine Beruhigung darin finden kannst, daß wir teilnehmen an deinem Schmerz, deiner Sorge, und wenn alte Freunde imstande sein können, dich über diesen Schmerz und diese Sorge hinwegzuheben – und ohne Zweifel hat das deine Tochter gewollt – so sage ich, dein ehemaliger Freund, Leo Marssen, in meinem und meiner Schwester Namen, daß – daß wir diese Teilnahme für dich empfinden und dir unser Beileid verkünden. Rolf Juell Wind – über das Grab hinaus gibt es keine Feindschaft und keine Feinde mehr – hier über diese Tote hinweg reiche ich dir meine Hand, und wenn du sie ergreifen willst, so wisse es: sie hat schon längst im stillen die Schuld gelöscht, die jugendliche Torheit und ein verzeihlicher Irrtum deinerseits in unser Lebensbuch eingetragen haben!«

Dabei streckte Doktor Marssen seine männliche Rechte über die Tote hin, und sein blaues Auge schoß einen warmen Friedensstrahl nach dem nun erst recht vernichteten Manne hinüber, denn solche Empfindungen und Gesinnungen, wie sie sich in den eben gehörten Worten kundgetan, hatte er nun und nimmermehr in den Herzen seiner alten Freunde vermutet. Aller Augen wandten sich jetzt auf ihn hin, und Eddas bebende Lippen und ihre hochatmende Brust verrieten die ungeheure Spannung, von der ihr Herz in diesem Augenblick zusammengepreßt war.

Da hob sich langsam die rechte Hand ihres Vaters empor, und mit der Linken seine Stirn bedeckend und seine Augen beschattend, als könnten sie das in sie fallende Licht nicht ertragen, rief er, die Hand des alten Freundes ergreifend: »Leo Marssen – meine Hand nimm hin – da hast du sie – aber gönne mir einen Augenblick Frist, damit ich mich sammle, denn an diesem Unglückstage – o du siehst hier nur einen Teil meines Unglücks – sind der Qualen zu viele durch meine Seele gezogen, als daß ich in diesem feierlichen Moment Herr über mich selber sein könnte!«

Und nach einem festen Druck zog er die Hand von Doktor Marssens Hand fort, und laut aufschreiend: »O mein Gott!« und in einen unaufhaltsamen Tränenerguß ausbrechend, den er niemanden sehen lassen wollte, stürzte er aus dem Zimmer, und keines der Anwesenden folgte ihm, denn man verstand ihn, daß er seinen Schmerz – und vielleicht auch seine langsam in ihm aufdämmernde Freude allein auskämpfen wolle.

Kaum aber hatte er das Zimmer verlassen, so flog Edda auf Doktor Marssen zu, und ihn mit beiden Armen umschlingend, und heiße Küsse auf seine Stirn, seine Wangen, seine Lippen drückend, rief sie: »Doktor Marssen, Doktor Marssen, hier liegt meine Mutter tot, und mein Schmerz darüber ist groß, aber dennoch muß ich einer Freude Eingang in mein Herz gestatten, denn Sie haben mir an ihrer Leiche einen Vater wiedergegeben, den ich auch schon halb verloren gab, und so sind Sie doch noch der Retter eines Teiles meiner Familie, und also auch meines Glückes geworden. O, ich danke Ihnen, ich danke Ihnen, und nun ist an mir die Reihe, die Schuld abzutragen, die Ihre Großmut und Hochherzigkeit zu einer großen Summe in meinem Lebensbuch haben anwachsen lassen.«

»Mein Kind, mein Kind,« sagte Doktor Marssen weich – erklären Sie mir das, ich verstehe es nicht – wie war es möglich – oder ist Franz, mein Sohn, mit Ihnen im Bunde gewesen?«

»Still, still, jetzt nicht, jetzt nicht – Ihr Sohn ist nicht mit mir im Bunde gewesen – aber morgen, morgen sollen Sie alles hören!«

Und Karoline? Was tat sie während dieser Zeit? Grollte sie, bangte sie, hatte sie keine Worte der Liebe, wie sie die anderen hatten?

Nein, sie hatte keine Worte, wohl aber hatte sie Liebe, die rechte und echte Liebe in der Brust. Auch grollte und bangte sie nicht, wohl aber stand sie mit gefalteten Händen an der Seite der eben Verblichenen, schaute wehmutsvoll in ihr bleiches Gesicht, und dabei rannen große, heiße Zähren über ihre Wangen, und ihr Herz sprach viel mehr, mehr Worte in sich hinein, als der anderen Lippen eben gesprochen hatten.

Wie sie aber so dastand und das bleiche, kalte Gesicht der einst so schönen Frau bewunderte, die alles für sich genommen, was einst das Ihre gewesen, ohne dadurch nur auf einen Augenblick glücklich zu werden – da umschlangen sie zwei schöne Arme, und ein warmer Busen preßte sich an den ihren, und Eddas Lippen küßten die Tränen weg, die langsam und schwer aus ihren sanften Augen tropften. Dann aber, sich von ihr losreißend, eilte Edda auf Doktor Marssen zu, und abermals sagte sie zu ihm:

»O, lieber Doktor Marssen, nun bringen Sie Ihr Werk ganz zu Ende, wie Sie es so schön begannen: Gehen Sie nicht eher von uns fort, als bis Sie meinen Vater beruhigt, bis er zur vollen Erkenntnis des Vorgehenden gekommen, und bis er auch Karolinen seine Hand gereicht und mit ihr das Wort der Versöhnung gewechselt hat.« –

*

Während dies noch im Sterbezimmer vorging, das von Gott selbst zur Weihestätte eines so erhebenden Auftritts ausgewählt zu sein schien, hatte Miß Rosy Bruce sich hinausbegeben und den treuen Diener herbeigerufen, der noch nicht wußte, daß seine Herrin entschlafen sei. Als sie mit dem Mann wieder eintrat, gab Edda den übrigen einen Wink und, mit Karoline vorangehend, und Doktor Marssen zum Nachfolgen einladend, schritt sie nach ihres Vaters Zimmer, wo dieser regungslos auf dem Sofa saß, mit seinen Händen noch immer das gleichsam geblendete Gesicht bedeckt hielt und im stillen mit sich und seinem Gott zu Rate ging. Als er aber die drei Menschen bei sich eintreten hörte, die Hände vom Gesicht nahm und sie sah und erkannte, erhob er sich, wie zum schnellen Handeln entschlossen, und ihnen einen Schritt entgegengehend, sagte er mit einer von tiefer Rührung halb erstickten Stimme:

»Wie? Kommt Ihr auch hier her zu mir und bringt mir Eure Freundschaft und Eure Verzeihung mit? O, sehet mich nicht so streng und prüfend an, denn Ihr wißt nicht, wie gräßlich ich leide. Wohl habt Ihr ein Recht dazu, Eure anklagenden Augen bitter und vorwurfsvoll auf mich zu richten und einen Stein nach dem andern auf meine Brust zu werfen, und ich, ich muß es mir schweigend gefallen lassen, weil ich ja selbst meine Schuld fühle und weiß, wie unendlich wehe ich Euch getan habe. Aber wenn Ihr edle Menschen seid, wie ich es glaube, und wenn Ihr die Gabe habt, in die Brust anderer Menschen zu schauen, o, so schaut in die meine hinein, und da werdet Ihr finden, daß schon lange, lange tausend Folterqualen darin gehaust und das schmerzlich brennende Feuer der Reue geschürt haben. Nein, was Ihr auch wissen und denken mögt, Ihr habt keine Ahnung davon, wie traurig und elend ich beinahe dreißig Jahre lang gewesen bin, wie viel im stillen geseufzt und wie viel unsichtbare Tränen ich geweint habe, so daß in meinem Herzen ein ganzes Meer von Schmerz angehäuft ist. Doch, nun kann ich Euch nichts mehr sagen, denn mir fehlen die Worte, wie mir fast auch die Gedanken fehlen, und damit ich weiß, was ich von Euch zu erwarten habe, so sprecht lieber Ihr Euer Urteil, und du, Karoline, du edle, tief gekränkte Seele, sprich auch du einmal zu mir – verurteilst du mich noch immer und wirfst du den schwersten Stein auf mich, oder hast du Mitleid mit meinem grauen Haar und meinem zermarterten Herzen und sagst mit deiner herzigen Stimme und deinem noch immer sanften Auge: »Rolf Juell Wind – ich verzeihe dir?«

Da trat Karoline leise an ihn heran und, ihm ihre beiden Hände entgegenstreckend, sprach sie mit lauter und fester Stimme, die bezeugte, daß ihr die Worte aus dem Herzen kommen:

»Rolf, ich brauche dir nicht mehr zu verzeihen, denn – ich habe dir längst verziehen. Da steht deine edle Tochter, der ich es selbst gesagt, noch ehe ich eine Ahnung davon hatte, daß sie deine Tochter sei und du selbst in meiner Nähe weiltest.«

»O mein Gott, o mein Gott!« schluchzte der gebrochene Mann und sank fast zusammen, als er die rasch ergriffenen Hände an seine Brust riß – »ist es denn möglich! An einem und demselben Tage kommt dies alles über mich? Erst die bitterste Demütigung und Erniedrigung, dann der Gattin Tod und nun – nun noch die Versöhnung mit Euch? O, das ist zu viel für einen Tag, und darüber kann selbst ein starkes Männerherz brechen!«

»Laß es nicht brechen, Rolf!« sagte da Doktor Marssen mit seiner ermutigenden Stimme, trat an den alten Jugendgefährten heran und legte ihm seine gewichtige Hand auf die Schulter. »Auf, ermanne dich und sei ganz ein Mann! Du hast vieles ertragen, Bitteres, Schweres, aber auch Süßes hat dir die Natur verliehen, denn sie hat dir eine Tochter gegeben, die imstande ist, dir alle Leiden und Schmerzen, die jetzt noch zentnerschwer auf deiner Seele lasten, mit Liebe aufzuwägen. Bald, bald wird diese Seele erleichtert sein. Edda, wackeres Kind und Schutzengel deines Vaters, komm heran und sage ihm, daß du ihn liebst – du, du allein kannst ihn trösten und erheben – so tröste und erhebe ihn denn und sage ihm, daß wir alle mit dir auf seiner Seite stehen!«

»Leo!« rief der durch diese Worte wunderbar ergriffene, aber zugleich auch ermutigte Mann, »du, du stehst auf meiner Seite und willst wieder mein Freund sein, du den ich einst so tief gekränkt, mein Freund, der ich jetzt von aller Welt und meinen besten Freunden verlassen bin?«

»Ja,« sagte Doktor Marssen mit erhobener Stirn und blitzendem Auge, »denn gerade wenn du von aller Welt und allen Freunden verlassen bist, dann ist Leo Marssen der Mann, der allein dein Freund sein will. Das liegt einmal in seiner Natur, und wer kann anders handeln, als er muß. Doch nun, Edda, komm heran und versichere deinem Vater, daß es ist, wie ich sage, denn du glaubst mir, ich sehe es deinem funkelnden Auge an.«

»Edda!« schluchzte der Vater, »ist es wahr, was er sagt?«

»Ja, Vater, es ist wahr!« rief diese und umschlang ihn fest, wie der Efeu die wankende Eiche umschlingt, und selbst im Sturze nicht von ihr läßt – und die beiden Geschwister, die es sahen, vergossen darüber Tränen der Freude, wie sie noch nie im Leben so süßschmerzliche vergossen. – – – –

Lassen wir einen Schleier über die späteren Stunden dieser Nacht fallen. Sie war reich an Weh und Schmerz aller Art, aber alle Geburtsstunden, wie diese, sind reich an Weh und Schmerz, und doch gehen aus ihnen neue Freuden hervor, denn eine frische Lebensquelle entspringt daraus – und so schlingt sich Freude und Leid wie eine ungeheure endlose Kette von Generation zu Generation fort, und wir Menschen dürfen uns nicht beklagen, daß es so ist, denn das menschliche Leben besteht nun einmal aus Freude und Leid, und wer das eine nicht kennen gelernt, hat auch die andere nicht vollständig genossen, und so müssen wir schon damit zufrieden sein.


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