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Buchschmuck

Siebentes Kapitel.
Nach dem Sturm die Windstille.

Die ganze Nacht hindurch hatte der linde Regen angedauert, der am Abend dem in der Ferne vorübergezogenen Gewitter gefolgt war; gegen morgen aber zerteilte ein frischer Ostwind das trübe Gewölk, der Himmel brach klar und blau hervor, und strahlend erhob sich die Sonne über die Gebirgskette, welche den Brienzer See umsäumt, um gleichsam lächelnd in das liebliche Bödeli hinabzublicken und es mit ihrem freundlichsten Gruß aus dem Schlummer zu wecken. In den Gärten unserer Freunde aber fielen noch lange blinkende Tropfen von den Blättern, als weinten auch sie leise nach, wie die Menschen in den Häusern, nachdem sie ihre Herzen in langen Tränenströmen erleichtert und mit hoffnungsvollem Blick in das neu tagende Morgenrot geschaut hatten.

Es war sechs Uhr Morgens. Franz, wahrscheinlich infolge der anhaltenden großen Gemütsbewegung am Tage vorher, durch einen festen, ununterbrochenen Schlaf an sein Bett gefesselt, war, als er endlich erwachte, fast geblendet von dem hellen Licht, welches in sein Zimmer fiel. Als er die Augen aufschlug, fuhr er erschrocken empor und glaubte im ersten Moment kaum, ihnen trauen zu dürfen. Denn dicht vor seinem Bett, die klaren blauen Augen fest auf ihn gerichtet und das ernster denn gewöhnlich erscheinende Gesicht von einem eigentümlichen Schimmer innerer Bewegung übergossen, saß sein Vater, und als er sich ganz ermuntert, so daß er seiner Sinne wieder vollkommen mächtig war, sagte dieser mit ruhiger Stimme, die gleichwohl einen seltsam vibrierenden Klang an sich trug:

»Guten Morgen, Franz!«

»Guten Morgen, mein Vater! Aber mein Gott, warum sitzest du hier?«

»Ich sitze hier schon eine Viertelstunde, mein Sohn, und würde noch viel länger hier gesessen haben, ohne deinen Schlaf zu unterbrechen, weil ich der erste sein wollte, der dir den Morgengruß bietet, der dir heute geboten werden muß.«

Franz wollte sich aufrichten und aufstehen, aber Doktor Marssen hielt ihn an der Hand sanft zurück. »Bleibe noch liegen,« sagte er, »wir können so ebensogut besprechen, was zu besprechen ist, als wenn du aufgestanden und angekleidet wärest.«

»Aber, Vater, du machst mich wirklich besorgt – du sprichst so seltsam und feierlich – was ist geschehen? Denn daß etwas geschehen ist, fühle und sehe ich dir an.«

»Ja, es ist allerdings etwas geschehen, und sogar von Bedeutung für uns alle. Wenn du nachher aufgestanden bist, wirst du dich rasch ankleiden müssen, um einen ernsten Gang anzutreten.«

»Einen Gang? Wohin? Ich verstehe dich nicht.«

»So will ich mich dir näher erklären. Die Gemahlin des Barons Rolf Juell Wind ist diese Nacht gestorben. Gehe also zu ihm, sobald die Familie zu sprechen ist, und laß dich melden. Drücke ihm und seiner Tochter dein Beileid aus und dann – führe aus, was dir zunächst zu tun obliegt. Denn ich übertrage dir hiermit die Ausschmückung des Sterbezimmers, während ich selbst alle übrigen Besorgungen des Leichenbegängnisses auf mich nehme. Ich will dem alten Freunde alle mögliche Liebe und Teilnahme beweisen, und auch du, mein Sohn, sollst Hand und Sinn dabei regen, da ich überzeugt bin, daß dein Gefühl dich dazu treiben wird.«

Franz war bald rot, bald bleich geworden, als er diese so ernst und feierlich gesprochenen Worte vernahm; er konnte sich erst gar nicht von seinem Erstaunen erholen. »Vater!« rief er, als dieser ausgesprochen, »du verkündest mir seltsame Dinge und mit einer seltsamen, mir unbegreiflichen Miene. Du weißt also, wer im Nachbarhause, dir und Tante Karoline so nahe, wohnte?«

Doktor Marssen nickte. »Und du?« fragte er. »Wußtest du es nicht?«

»O mein Vater, du erdrückst mich mit deinem unausgesprochenen Vorwurf! Höre mich an. Ja, seit gestern morgen weiß ich wer Eddas Vater ist, und ich habe den ganzen Tag in Schmerz und Trübsal zugebracht, weil ich nicht wußte, wie ich dir und Tante Karolinen das schwere Geheimnis enthüllen sollte. Edda scheint glücklicher in der Enthüllung desselben gewesen zu sein als ich.«

Über Doktor Marssens ernstes Gesicht flog das erste freudige, glückliche Lächeln. Er reichte seinem Sohne die Hand und drückte sie. »Hängt die Sache so zusammen, wie du mir sagst?« fragte er.

»Wie, mein Vater, du zweifelst?«

Doktor Marssen schüttelte sanft den Kopf: »Nein, Franz, ich zweifle jetzt keinen Augenblick mehr. Aber auch Edda ist in ihrer Bemühung nach einer schicklichen Enthüllung des Geheimnisses nicht glücklicher gewesen als du, ihr hat vielmehr ein anderer geholfen, der oft der Menschen Helfer und Rater ist – Gott!«

»Ah! Er hat die arme Mutter zu sich gerufen?«

»Ja. Eine große Gemütsbewegung, wie es scheint, die Mitteilung der Amtsentsetzung ihres Mannes – du wirst das ja alles später genauer erfahren – hat ihr morsches Herz gebrochen, und sie ist plötzlich gestorben. Edda rief mich zu ihrem Beistande herbei, und Karoline folgte ihren Bitten und begleitete uns. So haben wir uns mit ihrem Vater wiedergesehen und – wie du dir denken kannst – hat eine vollständige Versöhnung zwischen uns stattgefunden – eine vollständige, Franz, und hiermit, mein Sohn, nehme ich die Vorwürfe und Anklagen zurück, die ich damals bei der Erzählung meiner Lebensgeschichte – du weißt, es geschah in deinem Atelier eines Abends – auf Rolf Juell Wind geschleudert habe. Ah!« und der Doktor Marssen atmete frei und leicht auf, als diese Worte von seinem Herzen waren.

»Das ist wunderbar, mein Vater!« rief Franz. »Aber weißt du, daß Edda eine von uns unbemerkte Zeugin dieser Erzählung war und daß sie dadurch das Verhältnis, in welchem sie zu uns stand, kennen gelernt hat?«

Doktor Marssen staunte. »Nein, das weiß ich noch nicht, aber nun begreife ich alles. Edda ist ein großartiges, bewunderungswürdiges Wesen, das muß man sagen.«

Franz senkte den Kopf und schwieg.

»Meinst du nicht auch?« fuhr der Vater mit scharfer Betonung und noch schärfer forschendem Auge fort.

Franz nickte und reichte seinem Vater mit niedergeschlagenen Augen die Hand.

»Hast du mir weiter nichts darüber zu sagen?« fragte der Vater.

»O ja, mein Vater, sehr viel, aber für jetzt ist wohl keine Zeit dazu – ihre Mutter ist ja eben erst gestorben. –«

»Ah, du hast recht, ich verstehe. Also später davon. Und nun will ich gehen und eine Stunde ruhen, ich bin müde genug.«

»Wie? Hast du denn nicht geschlafen?«

»Keinen Augenblick, mein Sohn, wir sind die ganze Nacht im Nachbarhause gewesen, und auch da hat der Schlaf diesmal keine Ernte halten können, denn er hat keine Müden gefunden.«

»O, da habt Ihr gewiß eine schwere Nacht gehabt. Aber Tante Karoline – wie steht es mit der?«

Doktor Marssen lächelte freudig. »Ich habe eine stärkere Schwester in ihr kennen gelernt, als ich zu besitzen glaubte,« sagte er. »Sie hat mit mir zugleich in geschwisterlicher Eintracht den bitteren Kelch geleert, der unseren Lippen heute geboten ward, aber sie hat ihn mit entschlossener Seele getrunken und zu ihrer Belohnung auf dem Boden die Süße der Versöhnung mit ihrem Adoptivbruder gefunden.«

»Sie ist also ruhig, befriedigt?«

»Ja, und jetzt hat sie sich auch auf eine Stunde niedergelegt, wozu ich sie fast habe zwingen müssen. Sie wird ihre Kräfte für die nächsten Tage gebrauchen, da manches zu besprechen ist, was sie angreifen wird. Auch muß sie Rolf stützen und tragen helfen, denn der Mann ist stärker betroffen als wir. Er hat nicht allein seine Frau verloren und mit uns einen ergreifenden Auftritt gehabt, sondern man hat ihm auch gestern in Bern seine Entlassung aus – seinem vaterländischen Dienste angekündigt, und zwar in so herber und schonungsloser Weise, daß er darüber beinahe zugrunde gegangen wäre.«

»Aber mein Gott, das ist ja eine wahre Gewitterwolke, die das Verhängnis über den Armen ausgeschüttet hat!«

»So ist es, aber ein großes Unglück läutert die Menschen am schnellsten, wie ein großes Glück sie oft am schnellsten verdirbt. Doch jetzt gehe ich. Auf Wiedersehen!«

Franz drückte dem scheidenden Vater noch einmal die Hand, und dieser verließ sein Zimmer. Der junge Mann aber sprang aus dem Bett wie ein Neugeborener auf, denn alle Sorgen waren wie mit einem Zauberschlage von seiner Brust genommen, und die kurzen Schmerzenstage, die noch vor ihm lagen, überflog sein elastischer Geist mit mächtigen Schwingen, und vor seiner aus dem Schlummer geweckten Phantasie tauchte ein neues Leben mit frischen, grünen Blättern und duftigen Blüten auf, wie er es bisher noch nie, selbst in seinen kühnsten Hoffnungsstunden nicht, vor sich hatte tagen sehen.

*

Doktor Marssen hatte seine Schwester freilich zur Ruhe zwingen wollen, aber die Ruhe läßt sich eben nicht erzwingen, und so war Karoline schon wieder um acht Uhr im Hause tätig zu finden, wohin auch Franz um diese Zeit aus seinem Atelier kam, nachdem ihm der nach dem Nachbarhause abgesandte Jürgen den Bescheid gebracht, daß man ihn um zehn Uhr beim Herrn Baron erwarte.

Franz kam dieser Aufschub nicht ganz ungelegen, denn er fürchtete sich, Edda in ihrem Schmerz und ihren Vater in dessen neuem Verhältnis zu seiner Familie zu sehen. So trat er voll Unruhe, an wen er sich zuerst wenden sollte, in das Wohnhaus ein, um sich bei Resi zu erkundigen, ob Tante Karoline noch nicht wieder sichtbar geworden sei. Aber wie verwundert blickte er auf, als diese ihm selbst schon entgegenkam und, ohne ein Wort zu sprechen, ihn bei der Hand nahm und in ihr Zimmer zog. Kaum aber sah sie sich hier mit ihm allein, so schloß sie ihn innig in die Arme, küßte ihn und sagte:

»Franz! Dein Vater hat mir gesagt, daß du von allem unterrichtet bist, was in dieser Nacht vorgegangen ist. So laß uns keine Worte über Dinge machen, die sich von selbst verstehen. Wir haben den verlorenen Freund und Bruder wiedergefunden – das ist alles, und nun werden wir ein ganz neues Leben beginnen müssen, denn zuerst wird es unser Bestreben sein, den völlig entmutigten und gebeugten Mann wieder aufzurichten und mit frischer Lebenshoffnung zu füllen. Ach, das wird niemand besser und schneller als dein Vater vermögen, er versteht es, mit solchen Leuten umzugehen, und er allein hat die Kraft und den guten Willen dazu. Dir aber, mein Junge, dir muß ich noch meinen besonderen Dank sagen. –«

»Dank, Tante, wofür?« unterbrach sie Franz mit verwunderter Miene.

»Ja, Dank, und dir allein! Denn du hast uns zuerst den Engel ins Haus geführt, der dies alles zustande gebracht hat. – Nun, du schweigst?«

»Mit Recht, Tante, schweige ich, denn was soll ich dir darauf erwidern? In diesem Punkte bist du nicht mit dem Vater einer und derselben Anschauung. Er sagt: Gott ist es gewesen, und du –«

»Ach Gott, ja, Kind – Gott ist alles gewesen und hat alles getan, wie er alles ist und tut, das ist freilich wahr, aber er wählt sich stets seine Werkzeuge aus, und da hat er eben dich gewählt.«

»Ich will gern seine Wünsche erfüllen, liebe Tante!« erwiderte Franz, der nicht wußte, was er hierauf sagen sollte.

»Das glaube ich – und dir ist ein ganz hübsches Los dabei zugefallen, wie mir däucht. Doch jetzt, mein Junge, laß mich meinen Kaffee trinken, ich bin noch nüchtern heute, und mir ist zumute, als ob ich die letzten Tage in einem wüsten Rausch zugebracht hätte, aus dem ich eben erst erwacht bin und aus dem ich noch immer nicht klug werden kann.«

»Ja, komm, Tante, laß uns frühstücken. Du siehst blaß aus und dein Auge blickt matt –«

»Matt?« sagte Karoline mit stolzem Erröten. »Das ist ein Irrtum, mein Lieber. Es hat nie so scharf gesehen wie jetzt, und ich könnte dir fast auf ein Haar sagen, was in deinem Herzen vorgeht, wenn nicht –«

»Tante!« bat Franz, sie wieder umschlingend, »laß das! Du versuchst, dich ruhig zu zeigen und sogar zu scherzen, weil du unruhig wie nie und nicht im geringsten zum Scherz aufgelegt bist – ich kenne dich!«

»Ach warum nicht gar – du kennst mich gar nicht – Leo hat sich auch in mir geirrt – ich bin stärker und ruhiger als Ihr alle, denn ich bin – das fühle ich selber und den Stolz verzeihe ich mir – ein Weib, wie es sein soll, und von einem solchen könnt Ihr Männer noch alle etwas lernen.« –

*

Als Franz bald nach zehn Uhr sein Atelier verließ und durch die kleine Pforte in den Nachbargarten trat, der für ihn in so kurzer Zeit eine so große Bedeutung gewonnen, hatten ihn schon aus der Ferne zwei wachsame Augen erspäht, und so war es kein Wunder, daß Edda, im schwarzseidenen Gewande, ihm unter der kleinen Veranda entgegentrat, ihm die eine Hand reichte und zwei Finger der andern auf die Lippen legte, als wolle sie ihn bitten, nicht der Gewohnheit und Sitte gemäß sein Beileid in nüchternen Worten auszusprechen.

»Kommen Sie,« sagte sie fast flüsternd, »ich muß Sie zuerst zu einer Toten führen, ehe ich Sie dem Lebendigen zuführe, und sprechen Sie nichts, was uns an die Vergangenheit erinnert. Ich weiß alles, was Sie mir sagen möchten und könnten, denn ich kann mir denken, wie Sie heute morgen überrascht gewesen sind, als Sie die Vorgänge dieser Nacht vernahmen, nicht wahr?«

»Ach, Fräulein Edda,« erwiderte Franz ebenso leise, »ich war mehr als überrascht, denn ich schlief noch, als mein Vater mich an meinem Bett aufsuchte und mir das – das Neueste verkündigte.«

»O, das hätte ich gern mit angehört, denn dieser Mann, den ich ebenso bewundere, wie ich ihn liebe, muß groß dabei gewesen sein, nicht wahr?«

»Wenn auch nicht groß, doch edel und väterlich gewiß.«

Gleich nach diesen Worten trat Edda leise an die Tür des Sterbezimmers und öffnete sie. Die Verstorbene lag ruhig, und wie ein Bild aus Marmor gemeißelt, auf ihrem Lager, wie sie Doktor Marssen vor seinem Weggehen hingelegt, und sie schien mehr einer glücklich Schlummernden ähnlich als einer vor Kummer und Herzeleid Verschiedenen, so sanft, mild und freundlich, wie sie nur der Engel des Todes zu glätten versteht, waren die schönen Gesichtszüge geworden.

Lange standen die beiden jungen Menschen neben der Leiche und betrachteten sie mit inniger Hingebung und Rührung, ohne daß einer ihrer Gedanken, von denen ihre Seelen doch so reichlich bestürmt wurden, laut geworden wäre. Endlich aber erhob Edda, die merkwürdig ruhig und gefaßt war, nachdem sich der Sturm dieser Nacht in ihrer Brust ausgetobt, die strahlenden Augen gegen Franz und sagte dann, immer noch mit halb flüsternder Stimme, als wollte sie die Schlummernde nicht erwecken:

»Da liegt sie, die uns so viel Sorge und Kümmernis bereitet und die doch noch weit mehr davon in ihrem Busen getragen hat als wir: O, ich hätte gern noch länger und noch viel mehr Sorge ertragen wollen, wenn sie selbst nur dadurch glücklicher geworden wäre! Aber das war nicht möglich, sie war eine aus ihrem heimatlichen Boden gerissene Pflanze und begann zu verdorren, als der Regen und die Luft ihres Landes sie nicht mehr erquickten und belebten. Wenn ihr Geist aber herabblicken und sehen kann, was jetzt unter uns vorgeht, so muß er eine himmlische Freude darüber empfinden, eine Freude, so groß, daß selbst unsere Betrübnis nur wie ein winziger Schatten linder Wehmut dagegen erscheint. Was den vereinigten Kräften von uns Lebenden allein nicht möglich war, sie allein hat es im Tode vollbracht: die alten Freunde, die Feinde geworden, hat sie versöhnt, und so hat sie ihrem Gatten, meinem Vater, dem sie leider den Morgen und Mittag seines Lebens nicht versüßen konnte, wenigstens den Abend dieses Lebens verschönert, und dafür sei ihr unser kindlicher Dank dargebracht. So möge ihr Geist denn in Frieden schlafen und ihr armes gequältes Herz die Ruhe der Seligen genießen. O, mein Freund, Sie haben mir schon so vieles Wahre gesagt, sagen Sie nur auch das eine: warum erscheint uns ein Toter, wenn wir ihn vor uns sehen, immer bedeutender und bedeutsamer für uns, als er uns im Leben erschienen ist?«

Franz besann sich einen Augenblick, dann sagte er: »Wenn es so ist, wie Sie sagen, dann kann ich verschiedene Gründe dafür auffinden. Einmal sehen wir tote Menschen viel seltener als lebendige, und das Seltene im Leben bewegt stets mehr unsern Geist als das Alltägliche. Sodann veredelt und verklärt der Tod den ganzen Menschen, mag er gewesen sein und getan haben, was er will; auch wissen wir, daß er einen großen Vorsprung vor uns voraus hat, denn er ist früher bei Gott und sieht seine Herrlichkeit und Größe mit klarerem Auge als wir. Endlich aber, weil wir, wenn ein Mensch tot ist, erst begreifen, daß wir mit ihm alles verloren haben, was er für uns war, und das schmerzliche Bewußtsein dieses Verlustes läßt uns mehr, als ihn selbst beklagen, wobei er uns zugleich mit schallender Stimme ins Gewissen ruft, was wir vielleicht auch ihm hätten sein können, wenn wir ihm gegenüber nicht leider oft blind und taub gewesen wären.«

»Sie mögen recht haben,« entgegnete Edda nach einigem Nachsinnen und reichte Franz ihre Hand hin. – »So, nun nehme ich Abschied von ihr, und will sie erst wiedersehen, wenn man ihr den Schmuck angelegt, womit die Menschen ihren Gestorbenen die letzte Liebe erweisen; und nun wollen wir von der Toten zu einem Lebendigen gehen, und uns beizeiten erinnern, daß er noch Bedeutung für uns hat, so lange er am Leben ist, damit wir ihn um so länger und bewußter genießen. Kommen Sie mit mir zu meinem Vater – er erwartet Sie schon.«

Sie legte ihren Arm in den seinen und beide schritten leise, wie sie gekommen, zur Tür hinaus, auf der Schwelle noch einen Blick nach der Leiche zurückwendend, der von einem herzlichen Gruße begleitet war. Als Franz an Eddas Seite nun zum erstenmal in das geräumige Zimmer des Barons Juell Wind trat, saß dieser an seinem Schreibtisch und las einen eben vollendeten Brief. Er war so in seine Arbeit vertieft, daß er die jungen Leute nicht kommen hörte, und Edda mußte erst dicht an ihn herantreten und seinen Arm berühren, ehe er das Haupt erhob.

Franz stand vor ihm und schaute mit großer Spannung den Mann an, von dem er so viel Widersprechendes gehört, und dessen Schicksal mit dem der Seinen so eng verflochten war. Sein Gesicht war blaß, aber ruhig, und die festen Züge, die es früher gezeigt, schimmerten schon wieder durch die Falten der Wehmut hindurch, die sich wie ein sanfter Schleier darüber ausbreitete. Auch sein Auge schien belebter, klarer und heller zu blinken, und der stechende Groll, die eiserne Härte, die früher darin geblitzt, waren völlig geschwunden und einer weicheren Gefühlswärme gewichen, die in diesem charakteristischen Antlitz von viel größerer Wirkung war, als sie es in einem von Natur weichen und milden hätte sein können.

»Vater,« redete Edda ihn mit herzlichen Blicken an, »hier bringe ich dir deinen Maler, wie du ihn immer nanntest, nun sprich mit ihm und überzeuge dich, daß es Leo Marssens Sohn ist, der vor dir steht.«

Nach diesen Worten verließ sie das Zimmer und die beiden Männer waren allein. Baron Juell Wind erhob sich von seinem Stuhl, stellte sich dicht vor Franz hin, und indem er ihm schweigend seine Rechte reichte, sah er ihm lange und tief in das ehrliche blaue Auge.

»Ja,« sagte er endlich, »Sie sind sein Sohn, ich erkenne es jetzt an Ihrem reinen Auge und an dessen festem Blick. O, warum haben Sie mir nicht früher Ihren Namen genannt, junger Mann, dann wäre vielleicht manches anders geworden!«

»Wohl möglich, Herr Baron, ob aber besser, das bezweifle ich. Indessen haben Sie mich ja nie nach meinem Namen gefragt und mir auch hartnäckig den Ihrigen verschwiegen – ist es nicht so?«

»Ja, gewiß ist es so, Sie haben recht. Es sollte einmal so kommen, wie es gekommen ist, und so müssen wir uns darein ergeben. Sie waren eigentlich die Brücke, die mich zu Ihrem Vater geführt hat, und so muß ich Ihnen danken, denn damit haben Sie mir eine große Wohltat erwiesen und allen Freundlichkeiten, die Sie für meine Familie hatten, eine noch viel größere hinzugefügt. Ach, meine arme Maggie ist nun nicht mehr bei uns, und ihr können Sie nicht mehr gefällig sein! So seien Sie es denn uns, und wir wollen uns bemühen, Ihnen auf ähnliche Weise entgegenzukommen. Aber ich habe noch eine Bitte. Sind Sie wohl imstande, die Tote, wie sie jetzt daliegt, rasch zu zeichnen und mir so eine sichtbare Erinnerung an sie zu bewahren? Ach, ich besitze kein einziges Bild von ihr!«

Franz blickte freudig auf. »O ja,« sagte er, »das vermag ich, und wenn Sie es wünschen, will ich mich gleich an die Arbeit begeben, noch ehe ihre Lage verändert wird.«

»Tun Sie das, tun Sie das!« rief der Baron mit Hast, und wenige Augenblicke später war Franz mit eiligen Schritten nach seinem Atelier geeilt und hatte die notwendigen Gerätschaften herbeigeholt. In einer halben Stunde schon saß er fleißig bei der Arbeit, und ehe es Abend wurde, war das Liebeswerk vollendet, wobei die Gedanken an Edda ohne Zweifel seine Hand beflügelt und seinen schaffenden Geist befeuert hatten. –

Schon im Laufe dieses Vormittags hatte sich das Gerücht von dem raschen Hinübergange der Baronin Juell Wind, die alle nur unter dem Namen Bolton kannten, mit einziger Ausnahme des Herrn van der Swinden, der das Geheimnis seinem alten Bekannten treu bewahrte, in Interlaken verbreitet und viele Anwesende nahmen warmen Anteil daran, obwohl niemand der Verstorbenen in irgend einer Beziehung nahe gestanden hatte. Die Familie des Holländers war die erste, die in eiligster Hast noch an diesem Tage ihren Besuch abstattete und ihr herzliches Beileid in warmen Worten ausdrückte. Frau van der Swinden wollte Edda sogleich mit in ihre Wohnung nehmen, bis die Mutter bestattet sei, aber Edda weigerte sich standhaft, indem sie auf das bestimmteste erklärte, daß die Anwesenheit der Toten im Hause ihr keine Furcht errege, und daß sie es für ihre nächste Pflicht halte, jeden Augenblick zum Troste ihres Vaters bereit und zur Hand zu sein.

So schieden denn die guten Holländer wieder bald von dem Sterbehause, aber als sie vernahmen, daß Franz Marssen, den sie bei seiner Arbeit besucht, das Zimmer der Verstorbenen künstlerisch auszustatten beabsichtige, sandten sie schon an diesem Tage, und am folgenden noch mehr, was sie an entsprechender Zier zu senden hatten, und so konnte Franz schon am nächsten Tage zur Vollendung seiner neuen Aufgabe schreiten, nachdem sein Vater mit eigenen Händen die Tote in ihren schönen Sarg gelegt und Karoline sie sorgsam gekleidet und geschmückt hatte.

*

Es war am Mittage nach jener traurigen Nacht im Nachbarhause, als Doktor Marssen kurz vor Tisch von seinem alten Freunde nach Haus zurückkehrte und Karolinen meldete, daß Franz in einer Viertelstunde zu Tisch kommen werde, daß er aber nicht auf das Essen warten dürfe, sondern gleich wieder an seine Arbeit müsse.

»Sorge nicht,« erwiderte Karoline, »ich werde den guten Jungen nicht warten lassen; er soll alles bereit finden, wenn er kommt, und ich werde ihm keine Minute von seiner Arbeit rauben. Trifft er sie denn?«

»Ei gewiß, aber es ist jedenfalls eine schwierige Arbeit, zumal da er sie nach dieser Zeichnung später in Öl malen will. Es wird zwar ein gut Teil von Eddas schönem Gesicht mit hineinkommen, allein das schadet nichts, Mutter und Tochter sollen sich ja überdies ähnlich gewesen sein und Rolf wird später die glückliche Überzeugung haben, daß seine Frau gerade so und nicht anders ausgesehen hat. So geht es ja immer bei dergleichen Bildern, die man im letzten Augenblick anfertigen läßt. Doch wer kommt da? Ah, es ist unser Senator und er sieht außerordentlich vergnügt aus – er weiß also noch nicht, was hier vorgefallen ist. Nun, der kluge Diplomat wird eine kleine Schlappe erleiden. – Guten Morgen, mein lieber Dannecker! Wie geht es, sind Sie glücklich zurückgekehrt?«

Der Senator trat mit seinem gewöhnlichen freundlichen Wesen zu dem Freunde unter die Veranda und schüttelte ihm die Hand. »Ja,« sagte er nach kurzer Begrüßung Karolinens, die, sich mit Hausgeschäften entschuldigend, bald fortging, »ich bin gestern abend mit meiner Frau ganz munter und guter Dinge zurückgekehrt, aber leider habe ich Briefe vorgefunden, die meine Abreise in zwei Tagen notwendig machen. Ich habe schon heute den ganzen Morgen mit Abschiedsbesuchen und dem Ordnen meiner Sachen zugebracht, und der Augenblick steht vor der Tür, wo ich auch Ihnen die Hand zum Scheidegruß reichen muß.«

»Das tut mir leid. Aber Sie kommen doch wieder nach Interlaken?«

»Ganz gewiß, im nächsten Juni bin ich einer der ersten Zugvögel; es hat mir hier zu wohl gefallen, und wenn ich diesmal auch einen kleinen Denkzettel mit fortnehme, die empfangene Lehre, nicht wagehalsig zu sein, wird mir für's ganze Leben zugute kommen. Aber wie, mein Freund, Sie sind so kurz angebunden heute, und sehen so ernst und trübselig aus, als ob Sie nicht recht ausgeschlafen hätten?«

»Nein, er weiß noch nichts!« sagte Doktor Marssen zu sich, und dann sich an den Senator wendend, erwiderte er laut: »Da haben Sie recht, ich habe gar nicht geschlafen und eine unruhige Nacht zu überstehen gehabt, wie wir alle.«

Der Senator machte ein besorgtes Gesicht. »Es ist doch kein Unglück in Ihrer Familie passiert oder jemand krank geworden?«

»In meiner eigenen Familie ist kein Unglück vorgefallen,« entgegnete Doktor Marssen noch ernster als vorher.

»Ah, so sind Sie außerhalb Ihres Hauses bei einem Kranken gewesen?«

»Ja – sogar an einem Sterbebett.«

Jetzt wurde der Senator ebenso ernst wie aufmerksam; die Miene des Arztes sprach deutlich genug, daß dieser Sterbefall ihn tief bewege. »Darf ich wissen, wer gestorben ist?« fragte er teilnehmend.

»Die Gemahlin des Geheimen Konferenz-Rates Barons Juell Wind ist gestorben –«

»Ah!« rief der Senator mit Hast – »Juell Wind, Juell Wind, ja, das ist der Name des Dänen, auf den ich mich so lange vergebens besonnen habe –«

»Ich weiß,« versetzte Doktor Marssen mit eigentümlichem Nachdruck, »es ist dieser Baron Juell Wind derselbe, der hier unter dem Namen seiner Frau aufgetreten ist, wozu wahrscheinlich diplomatische Rücksichten ihn veranlaßt haben – wer weiß es! Aber damit Sie klar sehen,« fügte er sogleich hinzu, als er den Senator auf eine feine Art lächeln sah, »so will ich Ihnen auch sagen, daß dieser Baron Juell Wind eine Art Verwandter, und außerdem ein alter Freund von mir ist, von dessen Anwesenheit in Interlaken ich bisher keine Ahnung hatte. Er ist der Adoptivbruder meiner Schwester, die von Rechtswegen denselben Namen führen kann wie er, obwohl sie im Auslande nie davon Gebrauch gemacht hat.«

Der Senator saß mit weit aufgerissenen Augen dem Doktor gegenüber, nachdem sie beide schon vor einer Weile Platz genommen hatten. Das, was er eben hörte, hatte er nicht im geringsten zu hören vermutet und allerdings gestand er sich im stillen ein, daß seine Diplomatik eine kleine Niederlage erlitten habe dadurch, daß er in seinen Mitteilungen gegen Franz etwas voreilig zu Werke gegangen war. »O,« sagte er nach einigem Nachdenken, »das ist der zweite Denkzettel, den ich aus Interlaken mit fortnehme, das ist hübsch. Die Vorsehung begnadigt mich diesmal reichlich. Ich werde mir das merken. Und Sie, mein Lieber, haben Sie die Entdeckung Ihres – Freundes erst am Sterbebett seiner Frau gemacht?«

»So ist es und es war eine schwere Stunde für uns alle, da Juell Wind und ich seit Jahren durch unsere vaterländischen politischen Verhältnisse ein wenig auseinander gekommen waren.«

»Das kann ich mir denken, o ja!«

»Indessen,« fuhr Doktor Marssen fort, »haben sich unsere Verhältnisse anders gestaltet« – und nun erzählte er dem Freunde, welches Schicksal dem Baron Juell Wind durch seine Auffassung der dänischen Verhältnisse in Schleswig zuteil geworden, indem er bei seiner Regierung in Mißkredit gefallen und dadurch außer Brot gesetzt sei.

Der Senator stand auf. »Das ist allerdings bedeutungsvoll,« sagte er, »und nun bleibt mir weiter nichts übrig, als zu Ihrem Sohn › peccavi amice‹ zu sagen!«

»Das können Sie sogleich tun, denn eben kommt er von dem Baron her, dessen Gemahlin er zu zeichnen im Begriff ist – ich höre ihn schon da hinten sprechen.«

Einige Sekunden später bog Franz um die Ecke des Hauses und näherte sich mit ernster Miene der Veranda. Der Senator ging ihm entgegen, streckte die Hand aus und sagte, während Doktor Marssen in den Garten beiseite trat, um nicht Zeuge der kleinen Demütigung des wackeren Mannes zu sein:

»Mein junger Freund! Ihr Herr Vater hat mich soeben von den Vorfällen dieser Nacht in Kenntnis gesetzt und ich kann nun wohl die Frage an Sie richten, ob Sie mir die Schilderung verzeihen werden, die ich mir in Ihrem eigenen Interesse gegen Sie über den Vater Ihrer Miß Edda erlaubt habe?«

Franz lächelte freundlich und reichte dem Frankfurter noch einmal seine Hand. »Ich habe Ihnen nichts zu verzeihen, lieber Herr Senator,« sagte er, »wohl aber Ihnen zu danken. Ihre Schilderung berührte mich nur für den Augenblick peinlich, als ich aber nachher mit Fräulein Juell Wind sprach, verstand sie es, mich zu beruhigen und jetzt – jetzt ist jeder Zwiespalt geschlichtet, der zwischen uns und ihrer Familie herrschte.«

»Dazu gratuliere ich Ihnen und – und – ein Diplomat ist ja immer, wie Sie wissen, ein kleines, sichtbares Stück Vorsehung und sieht in die Zukunft – möchte es wenigstens – darf ich mir also erlauben, auch bei Ihnen in die Zukunft zu schauen und Ihnen im voraus meine Glückwünsche auszusprechen?«

Franz errötete, aber er schwieg; jedoch nahm er die Hand freundlich an, die ihm der schnell gefaßte und dabei verschmitzt lächelnde Freund bot. Dieser schüttelte sie ihm herzlich und nickte dabei mit einem bedeutungsvollen Mienenspiel. »Nun aber noch eins,« sagte er dann. »Ich reise übermorgen ab. Sie haben, da Sie außer dem Hause so wichtig beschäftigt sind, keine Zeit für mich und noch weniger für meine Bilder übrig. Ich hätte sie zwar gern mit mir genommen, aber Sie haben vielleicht die Güte, sie mir in acht Tagen wohlverpackt unter meiner Adresse nach Frankfurt nachzusenden, nicht wahr?«

»Ja, das soll geschehen.«

»Und nun meine letzte Bitte. Sie gehen nach Italien, wie ich weiß. Dort werden Sie fleißig sein. Darf ich um das erste Bild bitten, welches Sie in Rom vollenden?«

»Das ist gefährlich – es könnte vielleicht nicht Ihren Beifall finden?«

» Die Gefahr nehme ich auf mich. Sind Sie sonst einverstanden?«

»Ja, von Herzen gern.«

»Nun, dann scheiden wir ja in Frieden. Und da – da rieche ich schon den Braten – man will bei Ihnen speisen. Gott befohlen, mein Freund! Sehe ich Sie noch einmal vor meiner Abreise? Denn hier treffe ich Sie nun wohl nur selten?«

»Ich werde mich Ihrer Frau Gemahlin empfehlen, bevor Sie reisen, gewiß.«

»So leben Sie wohl und Gott behüte Sie in Italien, wie er Sie in der Schweiz behütet hat. Damit dies aber um so leichter geschehe, würde ich Ihnen raten, einen Schutzengel mitzunehmen –«

Franz errötete noch stärker als vorher und glaubte den gern neckenden Diplomaten verstanden zu haben. »So weit sind wir noch lange nicht, Herr Senator –«

»Sie werden bald dahin kommen. Sie glauben gar nicht, wie rasch man jetzt fährt, seitdem die Dampfmaschinen erfunden sind. Die Maschine braucht nur erst Feuer gefaßt zu haben, dann braust sie los – und fort geht es ins Weite!«

Die beiden Männer schüttelten sich die Hände; auch Doktor Marssen kam jetzt herbei und verabschiedete sich von dem Freunde, der leise vor sich hin pfeifend seinen Rückweg antrat und im Vorübergehen einen Blick nach dem Nachbarhause warf, wobei sein Herz plötzlich einen kleinen Stich erhielt, als er den grauen Kopf eines traurig und ernst blickenden Mannes am Fenster hervortauchen sah.

*

Als Franz am Abend dieses Tages nach Hause kam, überreichte ihm Resi eine Karte und sagte, daß der Herr, der sie abgegeben, schon zweimal dagewesen sei und es sehr bedauert habe, den jungen Herrn nicht sprechen zu können. Er wolle morgen früh um sieben Uhr wiederkommen und fragen, wann Herr Marssen im Laufe des Tages zu Hause sei.

Franz warf einen Blick auf die Karte und las den Namen: Baron Stephan Tekeli. »Es ist gut,« sagte er, »wenn er morgen früh um sieben Uhr kommt, bringe ihn mir nach dem Atelier. Dort will ich ihn sprechen.«

Am nächsten Morgen aber hatte die Uhr noch nicht ihre sieben Schläge vollendet, da erschien Baron Tekeli schon im Zimmer des Malers und trug auf seinem dunklen Gesicht die unverkennbaren Spuren bitterster Trauer und Verlegenheit. Als Franz diese Miene an dem Ungar wahrnahm, wußte er, was er von ihm wollte, denn er hatte schon im Nachbarhause am vorigen Tage gehört, daß Baron Tekeli seinen Besuch daselbst habe machen wollen, aber nicht angekommen sei, wie man außer den allernächsten Bekannten niemanden empfing.

»Guten Morgen, Herr Baron!« redete Franz ihn an und reichte ihm freundlich die Hand. »Nun, ist die Zeit Ihrer Not endlich gekommen? Sie erinnern sich doch, daß Sie mich nur besuchen wollten, wenn Sie einmal eines guten Rates bedürftig wären.«

Der Ungar sank seufzend auf einen Stuhl und sah ganz verzweifelt dabei aus, sprang aber gleich wieder auf, als er plötzlich das fast vollendete Porträt Eddas sah, welches zufällig in der Nähe seines Stuhles stand. »O mein Gott,« rief er, »was haben Sie dort? Sie ist es, die Göttliche! O, Sie beneidenswerter Mann!«

Franz verbeugte sich und sprach kein Wort. Nach einer Weile aber, als der Ungar nur das Bild anzustarren fortfuhr, sagte er: »Was führt Sie zu mir, Herr Baron? Es muß etwas Wichtiges sein, denn Ihr ganzes Aussehen bezeugt mir, daß Sie mir keinen bloßen Freundschaftsbesuch abstatten wollen.«

»Nein, nein, ganz und gar nicht,« erwiderte der Ungar, dem die richtige Ausdrucksweise in der deutschen Sprache, gerade wenn er in Verlegenheit war, die meisten Schwierigkeiten bereitete. »Aber Sie wissen ja, die Lady Bolton ist tot –«

»Gewiß weiß ich das und nehme den größten Anteil daran.«

»O, ich noch viel mehr, denn nun kann ich ja meinen Antrag nicht anbringen, den ich absichtlich und törichterweise so lange verschoben habe, bis ich mich besser im Deutschen ausdrücken könnte!« rief der Ungar mit wehmutsvollen Blicken.

»Welchen Antrag?« fragte Franz ernst.

Der Ungar sah ihn mit seinen schwarzen Augen groß an und drehte seinen Schnurrbart mit zitternden Fingern. »Welchen Antrag? Und das soll ich Ihnen auch noch erst sagen? Was denn anders als: ich liebe Miß Edda – ich will sie heiraten – und ihr Vater hat mir Hoffnung gemacht, als ich ihm sagte: Herr Baron, ich bin reich und mein ganzes Vermögen steht Ihnen zu Gebote.«

»Das heißt, er hat Sie an seine Tochter gewiesen. Nicht wahr, darin bestand die Hoffnung, die er Ihnen machte?«

Der Ungar schüttelte den Kopf. »O, ich habe eigentlich nie verstanden, was er sagte; er sprach immer so kurz und barsch. Aber ich denke mir, daß es ihm nicht gleichgültig sein konnte, einen reichen Schwiegersohn zu bekommen, da er selbst nur in beschränkten Verhältnissen zu leben schien.«

»Darin irren Sie sich,« erwiderte Franz entschlossen. »Der Baron Bolton, wie Sie ihn nennen, ist nicht mehr arm und wahrscheinlich viel reicher als Sie –«

»Wieso, wieso? Erklären Sie mir das. Woher wissen Sie, was Sie sagen?«

»Nun, ich werde doch die Verhältnisse meiner eigenen Verwandten kennen?«

Der Ungar bot ein Bild grenzenlosen Staunens dar. Er stand mit offenem Munde da und konnte erst gar keine Worte finden. »Wie?« rief er endlich, »Sie sind mit dem Baron verwandt? Aber, mein Gott, das habe ich ja gar nicht gewußt –«

»Ich auch nicht, es hat sich erst bei dem Tode der Lady herausgestellt.«

» Mindenneck vege! Dann ist alles verloren!« rief der Ungar in seiner Muttersprache und stampfte mit dem Fuß auf den Boden, und es war, als gingen ihm mit einem Mal die Augen über irgend einen interessanten Punkt auf.

»Aber mein Gott,« rief nun Franz, »wie seltsam geberden Sie sich! Ich kenne Sie ja kaum wieder, der Sie sonst ein so stiller Mann waren. Ist es denn in Ihren Augen ein Unglück, daß Fräulein Edda meine Verwandte geworden ist?«

»Für Sie gewiß nicht, nein! Aber für mich – denn nun werde ich wenig Aussicht haben, daß sie mich heiratet!«

»O freilich, wenn Sie das meinen, ja, dann haben Sie recht. Die Aussicht ist schwach. Denn so viel ich weiß, kann Fräulein Edda nie die Ihrige werden.«

»Warum denn nicht?« fragte der Ungar mit knirschenden Zähnen.

»Danach fragen Sie sie selbst, sie wird Ihnen die Antwort gewiß nicht schuldig bleiben.«

»Ich werde mich hüten, nachdem Sie mir das gesagt. Bei uns in Ungarn liebt ein Kavalier einen Korb ebenso wenig wie in Paris und anderswo.«

»In diesem Falle will ich Ihnen einen guten Rat geben: versuchen Sie gar nicht, sich einen zu holen.«

»Ich danke, ich danke, das konnte ich mir selber sagen. – O mein Gott! Wer hätte das gedacht!« Bei diesen Worten warf er noch einen feurigen Blick auf das Porträt. »Ha!« rief er, »Sie waren immer mein Freund – beweisen Sie mir das jetzt –«

»Wodurch? Gern, wenn ich kann.«

»Schenken Sie mir oder verkaufen Sie mir, wie Sie wollen und zu welchem Preis Sie wollen, dieses Bild. Ich will es mit auf mein Schloß bei Pest nehmen und wenigstens in Gedanken glücklich sein.«

Franz zuckte lächelnd die Achseln. »Auch diese Bitte kann ich leider nicht erfüllen. Das Bild gehört mir nicht. Fräulein Edda hat es für ihren Bräutigam malen lassen.«

»Wie? Für ihren Bräutigam? Hat sie denn schon einen?«

»Ich glaube wohl, Herr von Tekeli.«

»Ja, es ist alles verloren! O, warum haben Sie mir das nicht früher gesagt?«

»Sie haben mich ja nicht danach gefragt –«

»Das ist wahr!«

Nach dieser Unterhaltung wurde der kleine Mann wieder still, wie er sonst immer gewesen. Er ging noch einmal nach dem Bilde, sah es mit glühenden Augen an und dann zu Franz sich umwendend, sagte er plötzlich: »Herr Marssen, leben Sie wohl! Ich reise noch heute nach Wien ab.«

»Reisen Sie glücklich, Herr von Tekeli.«

»Und wenn Sie einmal Pest besuchen, fragen Sie nach mir, Sie sollen mir hoch willkommen sein.«

»Sie sind sehr gütig –«

»Nein, das bin ich nicht!« schrie der Ungar mit einer seltsamen Grimasse, »ich bin wütend und – und ein Narr, daß ich Sie nicht früher nach diesen Dingen gefragt habe – ich konnte schon so lange ruhig zu Hause sitzen. Warum lächeln Sie?«

»Sie sind doch nicht so ganz ein Narr, Herr Baron, denn Ihre Fragen wären vergeblich gewesen, ich habe früher ja auch nicht gewußt, was ich heute weiß, und es erst vor kurzer Zeit erfahren.«

»Nun, dann muß ich mich trösten, und jetzt leben Sie wohl!«

»Auf Wiedersehen, Herr von Tekeli!«

»Aber nicht auf dem Gletscher. Den habe ich satt und seit einer Viertelstunde kommt es mir vor, als ob die ganze Schweiz für mich ein Gletscher wäre, und so will ich eilen, daß ich sie verlasse.«

»So treten Sie recht sicher auf, bis Sie über die Grenze sind.«

»Bei Gott! Das ist ein guter Rat, und nun guten Morgen!«

*

Franz hatte die ihm von seinem Vater übertragene Aufgabe, das Zimmer und den Sarg der Entschlafenen zu schmücken, mit künstlerischem Geschick und voller Hingebung ausgeführt. Doktor Marssen selbst und ein Gärtner hatten ihm dabei hilfreiche Hand geleistet und auch Karoline und Miß Rosy waren mit tätig gewesen. So war der traurigste Tag nach einem Todesfall, der, an welchem uns der Geliebte für ewig entzogen werden soll, gekommen und schon am frühen Morgen dieses Tages hatten sich die näheren Bekannten, die noch in Interlaken anwesend waren, eingefunden, um der armen, fern von der geliebten Heimat gestorbenen Lady das letzte Ehrengeleit zu geben. O, wie tief waren ihr Gatte und ihre Tochter von dem Anblick ergriffen, der sich ihnen, als sie zum erstenmal nach drei schmerzensreichen Tagen wieder in das Sterbezimmer traten, so unvermutet bot. So viele Blumen und Blüten, wie heute die arme Maggie umgaben, hatte sie nie in ihrem Leben um sich gehabt, und sie teilte darin das Los vieler Menschen auf dieser Welt, die ihre rauhe Bahn auf scharfen Dornenwegen wandeln und erst in der Stunde, wo sie von dem Leben scheiden, zum erstenmal keine Dornen, nur Blumen um sich sehen. In dem Sterbezimmer nun war in diesem Fall außer dem Sarge selbst nichts wahrzunehmen, was an Trauer und Trübsal erinnern konnte, denn Franz hatte alle dunklen Farben vermieden und das geräumige Gemach mit einem lichten, freundlichen Stoff bekleidet, so daß es bei dem Glanz zahlloser Kerzen eher wie ein Tempel der Freude als der Betrübnis aussah. Mit einem langen innigen Blick und einem Kuß auf die Stirn nahm Edda von ihrer Mutter auf dieser Erde Abschied, und Rolf Juell Wind drückte noch einmal die Hand, deren Besitz ihm einst so viel Glück verheißen hatte und doch so wenig zu spenden imstande gewesen war.

Bald nach diesem Abschiede, den Doktor Marssen so viel wie möglich abzukürzen suchte, trugen die dunklen Männer, die den traurigsten Beruf auf Erden zu erfüllen haben, ohne die Qual zu empfinden, die sie anderen bereiten, die edle schottische Frau an ihr letztes irdisches Ziel und bestatteten sie in freier helvetischer Erde, die ihre Toten so leicht und so schwer wie an allen übrigen Orten der Welt deckt. Nur eine kleine Zahl Teilnehmender folgte dem stillen Zuge, denn Fremde nehmen ja nie an solchen Begräbnissen Teil, und der Freunde und Bekannten hatte die Familie nur wenige in Interlaken gefunden.

Als Doktor Marssen und sein Sohn mit dem ruhig zwischen ihnen schreitenden Witwer in das Trauerhaus heimkehrten, fanden sie Edda gefaßt neben Karolinen in dem Zimmer der ersteren sitzen; als Rolf Juell Wind aber seine Tochter in ihrem schwarzen Traueranzuge erblickte, in welchem sie wunderbar schön aussah, stürzte er laut weinend auf sie zu und schloß sie inbrünstig und liebevoll, wie er es nie getan, in seine Arme.

Geraume Zeit ließ Doktor Marssen Vater und Tochter gewähren, als sie sich aber beide wieder beruhigt, trat er zu ihnen hin, ergriff sie bei der Hand und sagte mit seiner vollen und tief in ihr Herz dringenden Stimme:

»Meine lieben Freunde, nun habt Ihr genug geweint und geklagt, und jetzt muß ich Euch bitten, Eurem Trübsinn eine Grenze zu setzen. Die Toten mögen ihr Recht haben, aber die Lebenden haben es auch. Und nun will ich Euch einen Vorschlag machen. Ihr seid beide drei Tage nicht in die frische Luft gekommen, und auf diesem Hause ruht eine Schwüle, die selbst für mich beängstigend ist. So kommt denn heute den ganzen Tag mit in mein stilles und freundliches Haus, die Veränderung des Aufenthalts wird Euch wohltun und zerstreuen, und wenn Ihr am Abend nach Hause zurückkehrt, werdet Ihr müde sein, Ihr werdet ruhig schlafen, und der folgende Tag wird Euch in zufriedener Stimmung finden. Edda, mein Kind, folge du Karolinen, ich werde mit deinem Vater nachkommen, und Miß Rosy und Franz werden sich ebenfalls einfinden, sobald sie hier ihre Obliegenheiten erfüllt haben.«

»Sie haben recht,« sagte Edda mit ihrer alten Festigkeit und Ruhe, »und ich folge Ihnen gern. Komm, Vater, du hast ja Doktor Marssens Haus und Garten noch nicht gesehen, und es wird dir bei ihm wohlgefallen, ich verspreche es dir.«

»Ich glaube es, ich glaube es, Kind, und ich gehorche auch schon. So kommt denn, meine Freunde, und laßt mich sehen, wie Eure Heimat in einem freien Lande beschaffen ist.«

Er nahm seinen Hut, Edda den ihrigen und ein leichtes, schwarzes Tuch, und bald waren sie im Obstgarten und schritten der kleinen Pforte zu, durch die Edda nun schon so oft und jedesmal mit verschiedenen Gefühlen geschritten war. Miß Rosy und Franz aber blieben noch in dem Sterbehause zurück und brachten das Zimmer wieder in seinen vorigen Zustand, das nun mit seiner Zier seine Pflicht rasch genug erfüllt hatte. In wenigen Stunden war alles, was an die Tote und ihre letzte Stunde in dem Hause erinnern konnte, fortgeräumt, und es sah so blank und nett aus, als wäre es eben erst in Stand gesetzt, eine von langer Reise zurückkehrende Familie zu empfangen. So hatte es Doktor Marssen haben wollen, und er erreichte seinen Zweck vollkommen damit, denn er kannte die Menschen und wußte, wie ihre Empfindungen durch unbedeutende Außendinge geweckt und gewandelt werden, und daß es im Leben, um das innere Wesen eines Menschen zu reinigen und zu läutern, oft nur erforderlich ist, seine nächste Umgebung in die seiner Natur entsprechende Form und Gestaltung zu bringen.


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