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Buchschmuck

Achtes Kapitel.
Am Gießbach.

Es war ein prächtiger Morgen, an welchem Doktor Marssen seine Gäste mit aufgeheitertem Gesicht in seinen Garten führte. Die Sonne begrüßte sie vom reinblauen, wolkenlosen Himmel, die Luft war lieblich warm, auf den Bäumen und in den Weingängen spielten und zwitscherten die Vögel, und mit ruhiger und majestätischer Stirn schauten in ihrem strahlendsten Glanz die erhabenen Schneeberge herunter, als wunderten sie sich über das Gewimmel der kleinen Wesen, die da tief unter ihnen seufzen und sorgen, lachen und weinen, und die sich mit all' ihrem Gejammer und Gestöhn größer und erhabener dünken als die Felsen von Stein und Eis, die niemals bewegt werden, weder durch Kummer und Schmerz, noch durch Freude und Lust, und die doch ein so reichströmender Quell der Freude und Lust für so viele Millionen Menschen sind, die Hunderte von Meilen aus allen Weltgegenden herkommen, um sie einige Stunden lang anzustaunen und dann mit Emphase zu erzählen: »Ja, wir haben sie gesehen!«

Rolf Juell Wind trat mit neugierigen Augen in den Garten seines alten Freundes und sah dabei mit stiller Freude, wie Edda am Arm Karolinens vor ihm herschritt, und wie diese beiden Wesen, die ihm in so verschiedener Weise teuer waren, in herzinnigster Eintracht miteinander verkehrten, als hätten sie sich schon jahrelang gekannt. Langsam wandelten die Männer hinter ihnen her, und Doktor Marssen, jeden Augenblick darauf bedacht, den Geist des Freundes zu zerstreuen, zeigte Rolf, was er bereits an dem Garten getan und was noch alles daran getan werden könne, wenn nur die Mittel vorhanden wären.

Rolf Juell Wind blieb stehen und sah seinen Freund groß an, als er dies ganz absichtslos sprach. »Mittel?« fragte er mit sichtbarer Verwunderung. »Fehlen dir denn die?«

»Ich entbehre sie gerade nicht, aber bisweilen möchte ich doch etwas mehr ausgeben können, als mir gestattet ist. Ich bin ja nie ein reicher Mann gewesen, und was ich mir durch saure Arbeit einst in Apenrade erworben, ist mir zum Teil bei dem raschen Verkauf meines Besitzes verloren gegangen, und ich bin nur mit einem mäßigen Rest hierhergekommen, der gerade ausreichte, dies Grundstück zu kaufen und mir nach meinen bescheidenen alten Gewohnheiten das Leben zu fristen.«

»Was du da sagst, ist mir neu,« erwiderte Rolf. »Wenn du aber kein wohlhabender Mann bist, dann ist doch wenigstens deine Schwester reich – sie müßte es wenigstens sein.«

»Ah, ich verstehe dich wohl, aber da hast du dich in Karolinen verrechnet.«

»Wieso? Das verstehe ich nicht.«

»Laß das jetzt ruhen, Rolf,« bat Doktor Marssen mit ernstblickendem Auge, »und frage meine Schwester bei Gelegenheit selbst danach; sie wird dir die Antwort gewiß nicht schuldig bleiben.«

»Ja, ja, das will ich, aber so viel kannst du mir wohl jetzt schon sagen: Hat irgend jemand sie beraubt oder ihr Vermögen ihr vorenthalten?«

Doktor Marssen lächelte wieder. »O ja, das hat jemand getan,« sagte er, »aber dieser Jemand ist sie selbst gewesen. Doch still, da kommen sie uns entgegen.«

Rolf Juell Wind griff nach seiner Stirn. Halb und halb begriff er, was der Doktor ihm verschwieg, aber ein Edelmut, wie er ihm hier in der Ferne gleich einer Vision aufzutauchen schien, war ihm noch nicht vorgekommen, und er konnte ihn eigentlich nicht fassen. Da hatten sie aber die beiden Frauen erreicht, und Karoline fragte mit ihrer sanften Stimme:

»Wie gefällt dir unser Garten, Rolf?«

»Groß genug ist er, aber er könnte schöner sein, wenn er nur halb so groß wäre.«

»Dann kaufe meinem Bruder die Hälfte ab,« sagte sie freundlich, »und baue dir ein Schweizerhaus wie unseres dort – du kannst nirgends glücklicher und unabhängiger leben als hier.«

Rolf sah sie verwundert an, aber er erkannte sehr bald, daß sie wirklich im Ernst gesprochen habe. »Ja, ja,« sagte er träumerisch, »das will ich mir überlegen.«

»Überlege es dir,« fuhr Karoline fort, »aber glaube nicht, daß ich auf diesen Gedanken gekommen bin. Er verdankt Edda seinen Ursprung, und die versteht sich auf gute Gedanken.«

»So, so, bist du so reich, mein Kind, daß du dir ein solches Grundstück kaufen kannst?« fragte der Vater mit wehmütiger Stimme und einem stillen Seufzer.

»Ja, Vater, ich bin reich,« erwiderte Edda rasch. »Ich bin jung und gesund, ich habe Kopf und Herz auf der rechten Stelle, und da ich außer dir auch noch Freunde habe, wirkliche gute, herrliche Freunde, was sollte ich mehr verlangen, um mich reich zu fühlen?«

»Ah, du fühlst dich reich, das ist etwas Anderes. Aber du bist es nicht.«

»Noch viel weniger bin ich arm,« erwiderte die immer schlagfertige Edda. »Denn nach meiner Ansicht ist nur der arm, der sich selbst dafür hält, und ich bin sehr weit davon entfernt.«

»Aber wo ist denn das Atelier?« fragte Rolf, sich nach allen Seiten umblickend. »Du hast mir so viel davon gesagt, daß ich neugierig darauf geworden bin.«

»O, daran sind wir schon lange vorübergekommen. Jenes Häuschen dort ist es. Aber jetzt darfst du es nicht betreten. Der gestrenge Herr, der darin haust, ist nicht da, und er läßt niemanden ohne Aufsicht hinein. Das ist der reichste Mann unter uns, und in seinem Kopf und in jenem Hause liegen alle seine Schätze begraben, die er von Zeit zu Zeit aus dem Boden wühlt.«

Karoline sah ihren Bruder an, und beide lächelten sich zu.

»Warum lächelt Ihr so bedeutungsvoll?« fragte Edda, die es bemerkt hatte.

»Weil du diesmal ein sehr wahres Wort gesprochen hast, ohne es vielleicht selbst zu wissen, mein Kind,« erwiderte Doktor Marssen. »Doch nun still davon, jetzt kommt in mein Haus, wo wir ein kleines Frühstück einnehmen wollen.«

Edda schritt gedankenvoll neben Karolinen her und wollte wissen, was sie gesagt, oder wie man sie verstanden habe. Diese aber schwieg hartnäckig und sagte nur, sie wäre klug genug, das selbst zu finden.

Als man nun aber unter die Veranda getreten war, ergriff Doktor Marssen seines alten Freundes Hand und sagte:

»Hier, Rolf, hast du mein Haus, und ich heiße dich darin willkommen. Betrachte es von jetzt an als das deine. Was darin und darum ist, magst du benutzen nach Wohlgefallen. Es ist groß genug, uns alle zu beherbergen, wenn jeder mit einem Zimmer sich begnügen will, und wir behalten dann noch ein gemeinschaftliches Versammlungs- und Speisezimmer. Ich sage dir das gleich zuerst, da es möglich ist, daß du mit deiner jetzigen Wohnung auf die Dauer nicht zufrieden bist – sie ist etwas feucht.«

Rolf nickte mit dankbarem Blick. »Laß mich erst das deine betrachten,« sagte er, »und dann wollen wir einmal alle unsere Verhältnisse überlegen und miteinander zu Rate gehen. Doch das hat ja noch Zeit. Fürs erste will ich noch meine Wohnung behalten, ich habe sie dem Besitzer bis zum Oktober abgemietet, und ich mag ihm nicht mein Wort brechen.«

»Nein, wenn das ist, so mußt du wohnen bleiben, aber das wußte ich nicht.« –

Nach einer halben Stunde unterbrach Karoline die das Haus besichtigenden Männer und lud sie zum Frühstück in das schönste und größte Zimmer des Hauses ein, einen luftigen dreifenstrigen Saal, dessen Wände gar anmutig mit Gebirgslandschaften bemalt waren, und der in der Mitte des Hauses lag und die Aussicht nach dem Malerhäuschen bot. Ehe sich aber alle um den längst vorbereiteten Tisch niederließen, trat Edda an eines der Fenster und sah scharf nach dem Garten hinaus.

»Wohin blickst du?« fragte Karoline, leise an ihre Seite tretend.

Edda errötete und lächelte sie herzlich an. »Ich sehe nur nach, ob dein Herr Neffe noch nicht kommt und Miß Rosy mitbringt.«

»Ach so! O, laß die nur gewähren, sie werden nicht länger ausbleiben, als sie ausbleiben müssen. Und nun gesegnete Mahlzeit, Kinder, möge es Euch bei uns zum ersten Mal wohlschmecken.«

*

Die Zeit vergeht schnell, mag man sie nun in Trübsal oder in Heiterkeit verbringen, und so waren unseren Freunden acht Tage nach dem Begräbnis der Lady Juell Wind vergangen, ohne daß sie sich Rechenschaft davon ablegen konnten, wo sie eigentlich geblieben waren. Allerdings hatte diese Zeit noch trübe und wehmütige Stunden genug gebracht, ernste und dunkle Erinnerungen hatten die verschiedenen Personen heimgesucht, aber im ganzen waren die Herzen leichter und frischer geworden, und mit klareren Augen blickten sie alle in die heller tagende Zukunft hinein.

Das Wetter hatte die jetzt in größter Ruhe und Zurückgezogenheit lebenden Familien außerordentlich begünstigt und den einzelnen Mitgliedern vom Morgen bis zum Abend den Aufenthalt im Freien gestattet, da wenigstens die Frauen in dieser Zeit noch nicht über die Grenzen der Gärten hinausgekommen waren. Die Männer freilich hatten sich nicht so streng und fest an das Haus gebunden; in den späteren Nachmittags- und Abendstunden, wenn die immer noch andauernde Hitze etwas nachgelassen, bestiegen sie die Pferde und durchstreiften nach verschiedenen Richtungen die schöne Umgegend von Interlaken, während sie die erste Hälfte des Tages mit verschiedenen Beschäftigungen hinbrachten, den Abend aber stets im Familienkreise verlebten.

Doktor Marssen ging auch in dieser Zeit seinen gewöhnlichen Gang fort. Morgens arbeitete und las er, bestieg auch dann und wann einen Berg, vom Mittag an aber widmete er dem alten Freunde seine ganze Aufmerksamkeit. Dieser, der alle früheren Bekannten, die ihn an seine ehemalige Stellung in der Welt und deren Verlust hätten erinnern können, ohne großes Bedauern allmählich von Interlaken hatte abreisen sehen, fühlte sich unter den neuen und unbekannten Gesichtern, die an jedem Tage auftauchten, nicht einsam und verlassen mehr, er hatte sich einer geregelten Tätigkeit ergeben und lebte nun, wie in einem ganz neuen Dasein, ungefährdet und durch die Außenwelt unbelästigt fort. Des Morgens saß er im stillen Zimmer und war mit seinen Papieren beschäftigt, die er ordnete und vervollständigte; auch schrieb er viele Briefe, löste alte unangenehme Verbindungen auf, verfügte über sein Mobiliar und andere kleine Besitztümer in Kopenhagen, die er durch einen Freund verkaufen ließ, und ging immer mehr auf den von Edda in ihm angeregten Gedanken ein, sich in Interlaken in der Nähe seiner alten Freunde niederzulassen und, wie diese es getan, sich in der Fremde einen dauernden Ruhesitz zu gründen, in welchem Unternehmen ihm Doktor Marssen redlich und nach bester Überzeugung freundlich zur Hand ging. Unmittelbar nach Tisch, wenn er nicht bei Leo speiste, begab er sich zu diesem, und nun beschäftigten sich die beiden Männer gemeinsam, indem sie bald frühere Verhältnisse in aller Gemütsruhe besprachen und dann ihre Gedanken über das Kommende austauschten. So hatten sie sich bald wieder aneinander gewöhnt, alte Jugenderinnerungen und Erlebnisse waren in ihnen lebendig geworden, und nichts auf der Welt verknüpft ja die menschlichen Gemüter so leicht und schnell, als die Auffrischung gemeinsam verlebter Zeiten und die liebevolle Erinnerung an Personen, die früher in ihr Leben eingegriffen haben und auf die Entwicklung desselben von großem Einfluß gewesen sind.

Hatten sie sich müde gesprochen, wobei sie gewöhnlich in den schattigen Weingängen des Gartens, eine Zigarre rauchend, auf- und abgingen, so mußte Jürgen den Rappen und den Schimmel herbeiführen, und beide bestiegen die raschen Tiere und setzten im Freien ihre kaum unterbrochene Unterhaltung weiter fort. Wenn dann Doktor Marssen seinen anfangs so trüben und verschlossenen Freund Abends zurückbrachte, fanden ihn alle heiterer und zufriedener gestimmt; die Wolken, die sein Gemüt umlagert und verdüstert hatten, schwanden allmählich, und in seinem ganzen Wesen, in seiner Miene, wie in seinen Reden, sprach sich nach und nach eine kräftigere Teilnahme an der Gegenwart aus, die nicht allein auf ihn selbst erfrischend zurückwirkte, sondern auch die übrigen, vor allen Karolinen und seine Tochter beglückte.

Einen ganz anderen Einfluß hatte der neue und so vertraulich gewordene Verkehr mit dem alten Freunde und Edda auf Karolinen ausgeübt. Die innere Spannung und Aufregung, die sie in den ersten Tagen weniger blicken als erraten ließ, hatte sich allmählich gelegt, und die anfangs mit Aufbietung aller ihrer geistigen Kräfte zur Schau getragene heroische Ruhe und Gelassenheit war nach und nach eine vollkommen natürliche und zwanglose geworden, die nun aber sehr bald wieder von verschiedenen Sorgen bedrängt wurde, je mehr das weibliche und zaghafte Gemüt bei ihr zum Durchbruch kam. Diese Sorgen aber wichen von ihren früheren um ein Bedeutendes ab, und ihre Aufmerksamkeit und ihr Bestreben war auf ein ganz neues Feld der Tätigkeit gerichtet. Was sie eigentlich so emsig betrieb und was ihre ganze Seele füllte, wußte außer ihrem Bruder niemand, der es allerdings auch nur erraten hatte und dem Verlauf schweigend zusah; aber wie sie sonst immer gleich morgens in der Wirtschaft tätig war, in jeden Winkel schaute und auf jede Kleinigkeit im Haushalt ihr Augenmerk richtete, so saß sie jetzt von sechs bis acht Uhr morgens bei verschlossener Tür vor ihrem Schreibtisch, kramte in alten Papieren, las und studierte darin und rechnete dabei große Zahlen aus, deren Richtigkeit sie alle Tage von neuem prüfte, bis sie endlich überzeugt war, daß sie sich nun nicht mehr irren könne. Als sie in ihrer neuen geheimnisvollen Tätigkeit so weit vorgedrungen, kam eine wunderbare Heiterkeit über sie, und nun setzte sie sich wieder hin und schrieb Briefe auf Briefe nach Hamburg, die sie selbst zur Post trug, damit niemand sähe, an wen sie gerichtet waren.

Wenn dies nun die eine ihrer Sorgen war, die freilich, nachdem erst das Resultat derselben feststand, kaum eine Sorge zu nennen war, so hatte sie noch eine zweite, die ihr anfangs nur gering erschien, die aber, als Tag auf Tag verging, ohne daß sie einen merklichen Fortschritt in ihren Erwartungen erkannte, allmählich heranwuchs und zuletzt sogar so groß wurde, daß sie ihr sanftes Herz mit einer neuen Art von Trübsal erfüllte. Die Gegenstände dieser zweiten Sorge waren niemand als Edda und Franz, deren seltsames Verhalten sie nicht begreifen konnte, obgleich dasselbe allen übrigen ganz natürlich und unter den obwaltenden Verhältnissen völlig in der Ordnung erschien.

Karoline, die bestimmt wußte, daß Franz eine herzliche Liebe für Edda fühlte, hatte in ihrer ersten sanguinischen Aufwallung geglaubt, daß diese Liebe sich jetzt, nachdem das Verhältnis Rolfs zu ihnen sich so günstig geklärt, augenblicklich enthüllen und aller Augen erkennbar an den Tag treten müsse, und darin hatte sie sich in der Tat geirrt, indem ihr gutes Herz und ihre brennenden Wünsche die Einflüsterungen des Verstandes und die augenblickliche Lage der dabei zumeist beteiligten Personen zu wenig in Betracht gezogen hatte. Wunderbarerweise schien ihr gerade jetzt diese Herzensneigung ihres Lieblings, wenn nicht erkaltet, doch in ein völlig leidenschaftsloses und ruhiges Geleise geraten zu sein. Seine frühere Rastlosigkeit und Unruhe waren geschwunden, sein Auge blickte klar und heiter wie an dem Tage seiner Ankunft in Interlaken, seine in den letzten Wochen so bleiche Gesichtsfarbe war einer munteren Frische gewichen, und nie war er so gleichmäßig in seinem Betragen, gegen alle, namentlich gegen sie selber, und so unbefangen in seinen Gesprächen und Mitteilungen gewesen, wie jetzt, mochte nun Edda in seiner Nähe weilen oder nicht. Wollte sie einmal in einer stillen Minute mit ihm über Edda sprechen, so wich er ihr stets auf eine geschickte Weise aus, begann ein anderes Gespräch oder schützte ein wichtiges Geschäft vor, das ihn gerade augenblicklich in Anspruch nähme.

Auch aus Edda konnte sie nicht so recht klug werden, denn diese wollte durchaus nicht in ihrem Vertrauen gegen sie über einen gewissen Punkt fortschreiten, dessen Erledigung sie sehr bald erwartet hatte, nachdem die Versöhnung zwischen ihrem Vater und der Familie Marssen so wohl und rasch gelungen war. Auch Edda legte, in Karolinens Augen wenigstens, eine seltsame Unbefangenheit gegen Franz an den Tag. Karolinen schien es gar nicht möglich zu sein, daß dieses schöne, herrliche Mädchen, nach seinem jetzigen Verhalten zu urteilen, eine wärmere Neigung zu ihrem Liebling im Herzen tragen könne, denn nichts in ihrem Wesen, in ihren Geberden, in ihren Worten verriet dieselbe, und zwei Geschwister hätten nicht unbefangener, ruhiger und traulicher miteinander verkehren können, als diese beiden jungen Leute es taten.

Franz verlebte die Morgenstunden dieser acht Tage meist in seinem Atelier vor der Staffelei, zu der er plötzlich mit neu erwachter Produktionskraft zurückgekehrt war. Zunächst hatte er sich, um den noch frisch in ihm vorhandenen Eindruck nicht schwinden zu lassen, mit dem Porträt von Eddas Mutter beschäftigt, und in der Vollendung desselben schritt er rasch vor, was freilich nur Edda und Miß Rosy beurteilen konnten, denen allein er es zeigte, wenn sie ihn bei seiner Arbeit besuchten, was alle Tage geschah. Mit einer leichten Stickerei beschäftigt oder ein Buch in der Hand haltend, wiewohl mehr plaudernd als lesend, saßen die beiden Mädchen stundenlang in seiner Nähe, aber niemals traf es sich, daß Edda einen Augenblick mit ihm allein blieb. Denn als einst Miß Rosy einen notwendigen Gang nach Interlaken unternehmen mußte, begleitete Karoline ihre junge Freundin, und an diesem Tage hielt Edda sich, als die Tante plötzlich im Hause etwas zu tun zu haben vorgab, kürzere Zeit als sonst bei dem ruhig fortarbeitenden Maler auf. Nachmittags nun, wenn Franz früher als gewöhnlich seine Arbeit einstellte und in den Garten herabkam, war wiederum Miß Rosy oder Karoline in der Gesellschaft, und abends, wenn man sich unter der Veranda zum Abendbrot versammelte, oder später beim Lampenschein im Zimmer saß, hatte Edda freilich dicht neben Franz ihren Platz, allein das war sehr natürlich, da sie unter seiner Aufsicht in ihrem Skizzenbuch zeichnete und er ihr notwendig mit seinem Bleistift helfen und seine Regeln zur Anschauung bringen mußte.

Bei weitem die heiterste und dem Anschein nach Glücklichste unter allen war offenbar Miß Rosy, und das dürfte sehr leicht zu erklären sein. Das arme Wesen, das nur wenige und bedürftige Verwandte in Schottland verlassen hatte, um dem Wunsch Lord Boltons zu entsprechen – so hieß nämlich der Onkel, nicht der Vater Lady Maggies – war als ganz junges Mädchen zu Baron Juell Wind gekommen und hatte mit seiner Frau zuerst in Kopenhagen gelebt und sie dann auf allen Reisen im Auslande begleitet, zu denen der Baron im Laufe der Jahre durch diplomatische Sendungen genötigt worden war. Sehr bald hatte sich die Kränklichkeit und Gemütsverstimmung bei Lady Juell Wind gezeigt, und Miß Rosy, vollkommen von ihrer Gebieterin abhängig, war fast deren Sklavin geworden, die sich ohne Murren allen ihren Launen und Wünschen unterordnen mußte. Als das Heimweh und die Kränklichkeit der Lady aber allmählich in eine allgemeine Nerven- und Gemütskrankheit überging, war das Los des armen schottischen Mädchens, das eine so gute Erziehung genossen, ein gar trauriges geworden, und selten nur gab es eine Stunde, die sie für sich allein hätte verwenden können, bis endlich der Tod der Kranken sie von ihren Fesseln erlöste. Jetzt mit einem Mal brach der Morgen einer unbekannten, köstlichen Freiheit voll hellen Sonnenscheins für sie an. Sie konnte gehen, arbeiten, lesen, sitzen, laut reden, wie und wo sie wollte, niemand mehr legte ihr einen Zwang auf, und da sie zu gleicher Zeit sowohl von Edda wie von deren Vater mit der größten Herzlichkeit und Achtung behandelt wurde, so fühlte sie sich beglückter denn je in ihrem Leben, und die traurigen Tage trostloser Einsamkeit lagen ihr bald nur noch wie ein düsterer Traum in der Erinnerung, den sie um so rascher vergaß, als sie nicht nur alle Tage mehr für das heitere Leben erwachte, sondern auch die sie Umgebenden dafür erwachen sah.

Wenn nun gerade Karoline es war, die das Verhalten Eddas und Franz' gegeneinander am wenigsten natürlich fand, so war es Miß Rosy, die dasselbe sich vollkommen richtig erklärte und nichts Verwundersames darin wahrnehmen konnte. Ihr war schon früher als Karolinen die Neigung klar geworden, welche die beiden jungen Leute ergriffen hatte, vielleicht noch früher, als diese es selber wußten; sie hatte sie sowohl bei Edda wie bei Franz wachsen gesehen, aber ebenso sagte sie auch, daß diese Neigung jetzt, so kurz nach dem Tode der Mutter, sich füglich nicht lauter offenbaren könne, und daß die Erklärung derselben gewiß nicht ausbleiben würde, sobald nur ein geeigneter Moment sie herbeizuführen mächtig genug wäre. So betrachtete sie denn mit stillem und sicherem Auge die jungen Leute, und jeden Abend, wenn sie allein zur Ruhe ging, sagte sie sich, daß ihr Wunsch, die beiden glühenden Herzen sich einander erschließen zu sehen, einer baldigen Erfüllung sich nähere, denn ein Tag ist für Liebende unter Umständen oft eine Ewigkeit, die Pflanze der Neigung wächst fast sichtbar von Stunde zu Stunde, wie jenes wunderbare tropische Gewächs, aber die Knospe erschließt sich erst zur Blüte, wenn der heiße Sonnenstrahl der Gelegenheit darauf fällt, und die süße Frucht ist schon lange vorhanden, noch bevor das blinde Auge des unerfahrenen Beobachters eine Ahnung davon hat.

Von seiten der Männer wurde in dieser Zeit kein Wort über die Neigung der beiden jungen Leute laut, obwohl Doktor Marssen es für seine Pflicht gehalten hatte, den Baron durch vorsichtige Andeutungen auf die Möglichkeit einer solchen vorzubereiten, worauf dieser durch sein Schweigen und seine Miene dabei hinlänglich kund getan hatte, daß seinerseits dieser Neigung kein Hindernis entgegenstehe. Eines Tages sogar, als beide Männer einen weiten Abendritt unternahmen und gerade von den Familienverbindungen und der Sorge sprachen, die daraus für Eltern in Bezug auf ihre Kinder erwachsen könnte, hatte Rolf seinem Freunde aus freien Stücken die Mitteilung gemacht, daß er einer wirklichen Herzensneigung seiner Edda niemals hemmend in den Weg treten würde; ihm sei es von jetzt an nur eine Aufgabe, sein Kind glücklich zu machen, und wenn dieses sich ein Los nach seinem Geschmack erwähle, so werde er völlig zufrieden sein, da Edda selbst nicht nur außer Stande wäre, einer unwürdigen Leidenschaft nachzuhängen, sondern auch das Leben ihn gelehrt habe, daß man in diesem kritischsten aller Punkte nichts von der Jugend fordern oder gar erzwingen müsse, was man selbst in jüngeren Tagen am wenigsten zu leisten die Neigung gehabt.

*

So standen die Sachen in den beiden Nachbarhäusern, als an einem schönen Sonntagabend – es war der erste im Monat September – beide Familien traulich im Garten des Doktors beisammensaßen. Die Sonne ging herrlich unter, die Schneeberge glühten in wunderbarer Pracht, und der nächste Tag versprach nach allen Anzeichen ein vollkommen ebenso schöner zu werden. Da sagte Doktor Marssen plötzlich, indem er Karolinen einen leisen Wink gab, seinem Vorschlage beizustimmen:

»Nun, meine Lieben, das Wetter wird morgen gut, und mich dünkt, wir haben lange genug im Hause gesessen und unsere Tage in Frieden und ernster Beschaulichkeit zugebracht. Der Sommer vergeht rasch, und wer weiß, wie bald der Herbst mit seinen Winden und Regengüssen eintritt. Ich dächte, wir regten einmal die Schwingen, damit sie nicht ganz eintrocknen und die gelenke Kraft verlieren. Machen wir also einen kleinen Ausflug ins Gebirge, und da habe ich einen annehmbaren Vorschlag im Sinne. Bist du schon am Gießbach gewesen, Edda?«

»Am Gießbach? Nein, lieber Doktor, doch habe ich viel davon gehört und mich schon oft dahin gesehnt.«

»O, ich auch,« sagte Karoline, augenblicklich auf des Bruders Idee eingehend, »und der Gießbach ist der lieblichste Ort, der sich in unserer ganzen Umgebung finden läßt. Ja, Rolf, stimme uns bei und nimm Leos Vorschlag an.«

»Warum denn nicht?« versetzte der Baron. »Bestimmt nur das Nötige, ich habe ja erst so wenig von Eurer schönen Schweiz gesehen.«

»So laß es uns gleich festsetzen,« nahm Doktor Marssen wieder das Wort. »Wir wollen mit dem ersten Dampfboot nach dem Gießbach hinüberfahren, den ganzen Tag dort zubringen und womöglich auch noch die Nacht, um die Beleuchtung der Wasserfälle am Abend zu sehen. Das ist ein großartiges Schauspiel und keine Kinderei, für die es manche ausgeben möchten. Haltet Euch also alle um sieben Uhr fertig, und da wir früh genug hinkommen, dürfen wir außer Sorge sein, die nötigen Zimmer für unsere Unterkunft zu finden.«

»Nun, Franz, und du schweigst?« fragte Karoline fast vorwurfsvoll ihren aufmerksam lauschenden Liebling. »Hattest du vielleicht eine andere Idee?«

»Ich habe viele Ideen im Kopfe, liebe Tante, aber keine, die Euren allgemeinen Wünschen widerstrebt. Zwar wollte ich morgen die letzte Hand an mein Bild legen –«

Weiter kam er nicht in seiner Rede. Ein fragender Blick Eddas, die eben ihr feuriges Auge auf ihn richtete, versiegelte seine Lippen, und Doktor Marssen, der diesen Blick und seine schnelle Wirkung beobachtet hatte, sagte ruhig:

»Dann bleibe zurück, Franz, und lege die letzte Hand an dein Bild. Wir wollen die erste an unser neues Werk legen, das heißt mit anderen Worten: wir wollen durch die Pforte des Lebens schreiten, die uns hier Gott selbst weit und breit geöffnet hat, nachdem wir lange genug in Einsamkeit und Zurückgezogenheit uns geprüft und gefunden haben, daß des Herrn Wille gut und göttlich ist, und daß wir Menschen nichts zu tun vermögen, als uns ihm ergebungsvoll zu unterwerfen.«

»Jawohl, du hast Recht,« sagte Rolf leise aufseufzend, »und nun ist es beschlossen, wir fahren nach dem Gießbach, und keiner soll sich aus unserer Mitte verbannen.«

»Nein,« nahm Franz das Wort mit leichtem Erröten aus, »das war auch meine Absicht nicht, und ich gehe sogar gern mit!« Und im stillen setzte er für sich hinzu: »Vielleicht finde ich Gelegenheit, dort die letzte Hand an mein Schicksal zu legen, und das geht in der Tat mir selbst allen Bildern der Welt vor!« – – –

Ohne Zweifel ist der Gießbach mit seinen nächsten Umgebungen am Brienzer See einer der anmutigsten Orte der Schweiz. In aller Stille und im tiefsten Frieden hat die Natur daselbst zwischen wilden, mit Tannen bewachsenen Felsklüften ein großartiges Werk geschaffen, und die Kunst hat mit großem Geschick und staunenswert darauf eingehendem Sinn das Schöne und Reizende dazu gesellt. Unserer Ansicht nach gibt es keine Stelle in der ganzen Schweiz, die, wenn etwas weniger besucht, geeigneter wäre, ein krankes Herz mit frischen Lebenspulsen zu füllen und einen ermüdeten Geist mit neuer Kraft zu neuer Tätigkeit anzuregen, denn am Gießbach, inmitten dieser wunderbar schönen Natur- und Kunstromantik, werden Gefühle und Gedanken in uns wach, die lange unbewußt in uns geschlummert haben, und das Gemüt wird in eine so stille, friedliche, fast heilige Freude versetzt, daß wir zu jedem Guten geneigt sind und unserm bittersten Feinde vergeben würden, wenn er uns hier in den Weg träte und mit freundlichem Auge ohne jedes Wort die Hand zur Versöhnung böte.

Alle Mitglieder der beiden Familien waren schon vor sieben Uhr bereit, den kurzen Weg nach der Landungsbrücke des Brienzer Dampfbootes anzutreten, welches an diesem Morgen nur schwach von Reisenden besetzt war, die über Brienz nach Meiringen und weiter gehen wollten, während die eigentlichen Besucher des Gießbaches erst das Mittagsboot zu benutzen pflegen. Es war ein warmer Morgen, der Himmel mit leicht gefiedertem Gewölk bedeckt, so daß die Sonne wie durch einen zarten Schleier auf die Erde herabschaute, der ihre Hitze brach und gerade die Wärme zuließ, die der Mensch liebt, wenn er eine Vergnügungsfahrt antritt. Auf den höchsten Felsspitzen, die den Brienzer See umgeben, flatterte ein dünner Nebel, der sich aber verzog, je weiter der Tag vorschritt, bis endlich gegen Mittag die Aussicht in die Ferne unbeschränkt wurde und Höhen und Tiefen im goldensten Lichte funkelten. Der See warf nur kleine, leicht gekräuselte Wellen auf, die vor dem spielenden, aus dem Aartale herüberwehenden Ostwinde hertanzten, und so war die Fahrt angenehm, und unsere Gesellschaft stand auf dem Deck, voller Spannung ihrem Ende entgegensehend, um die Ersteigung des Bergweges zu beginnen, der nach dem Gießbach führt.

Franz stand zwischen Edda und Miß Rosy auf der Spitze des Bootes und nannte beiden die Orte und Stellen, an denen sie vorüberkamen; nach dreiviertelstündiger Fahrt näherte sich das Boot dem südlichen Ufer des Sees, und man sah eine schneeweiße, schäumende Wassermasse mit brodelndem Geräusch sich in die blauen Fluten desselben ergießen.

»Was ist das?« fragte Miß Rosy.

»Das ist der unterste Fall des Gießbaches, und von ihm steigen wir bis nach dem Plateau hinauf, auf welchem das schöne Gasthaus steht, in dem wir die nächste Nacht zubringen werden.«

Die Fahrt war beendigt, und man stieg aus. Doktor Marssen bot Miß Rosy den Arm und ging mit ihr voran. Rolf folgte mit Karolinen, und so blieben Edda und Franz die letzten, die den Berg zu ersteigen begannen.

»Geht es weit und steil hinauf?« fragte Edda, als sie den ihr freundlich dargebotenen Arm annahm.

»Fürchten Sie sich heute vor dem Klettern?« lautete die Frage zurück.

»Ich fürchte nichts, das wissen Sie, aber ich habe so lange gesessen, daß ich glaube, das Steigen wird mir schwer werden.«

»Dann vergessen Sie die alte Regel nicht, zu schweigen, wenn man einen Berg ersteigt. Übrigens brauchen wir im bequemsten Schritt und auf guten Wegen nur zwanzig Minuten zu gehen, und wenn Sie keine Lust haben, den steilen Weg nach den oberen Wasserfällen zu erklettern, so finden Sie auch die schönste Gelegenheit, sie von unten zu bewundern.«

»Sie vergessen Ihre eigene Regel, schweigen Sie und sparen Sie Ihren Atem.«

»Sie haben recht. Wer weiß, wozu man ihn noch gebrauchen kann.«

So setzten denn die drei Paare ruhig ihren Gang fort, besichtigten unterwegs die niedlichen Brücken, unter welchen der über elfhundert Fuß herabstürzende Bach fortrauscht und schäumende Wellen aufwirft, und langten endlich auf dem Plateau an, wo diejenigen, die noch nicht hier gewesen, erstaunt waren, einen reizenden Park mit prachtvollen Bäumen und vielen kunstsinnigen Anlagen zu finden, wie man sie nur an wenigen Orten in der Ebene so schön und anmutig sieht.

»Ja, das ist wahr,« sagte Edda zu Franz, als sie nun dem in sieben Absätzen von seinem Felsenkopf herabstürzenden Wasserfall gegenüberstanden, »gerade diesem wilden Schaumsturz in einem so lieblichen Park zu begegnen und doch die ursprüngliche Natur zu gewahren, die ihn hervorgebracht, das ist die Überraschung, die einem hier geboten wird. O, und welche reizenden Sitze und Ruheplätze unter den schattigen Bäumen, von Blumen umduftet und von Rasenstücken eingefaßt! Das ist köstlich hier, und Ihr guter Vater hat uns einen trefflichen Vorschlag gemacht. Sie würden sich zu Hause, selbst »mit Ihrer letzten Hand« bei Ihrem Bilde gelangweilt haben – gestehen Sie es nur dreist ein, daß Sie sich jetzt freuen, bei uns zu sein.«

Franz lächelte sie freudig an, da sie in ihrer alten herausfordernder Weise die Worte an ihn richtete. »Dies Geständnis wird mir allerdings nicht schwer,« versetzte er, »indessen habe ich mich jetzt so an die Freude gewöhnt, daß ich mich kaum noch wundere, wenn eine neue vor mir auftaucht.«

»So darf man also nicht darauf rechnen, Ihnen noch eine freudige Überraschung zu bieten?« fragte Edda schelmisch.

»Versuchen Sie es dreist – ich bin für alles Gute und Liebe dankbar – schon im voraus.«

»Nun,« unterbrach die sich im leisen Gespräch Unterhaltenden Doktor Marssen, indem er mit der entzückten Miß Rosy zu ihnen trat, »gefällt es dir, Edda?«

»Ganz außerordentlich, Herr Doktor, und ich danke Ihnen tausendmal für dies Vergnügen.«

»Kommt nur weiter, es wird noch besser!« –

Auf den schönen, in geschlängeltem Lauf angelegten, über kleine zierliche Brücken, und zwischen Rasenstücken und Blumenbeeten hindurchführenden Wegen gelangte man nach dem prachtvollen, wie ein Feenpalast mitten in den Felsen auftauchenden Gasthause, aus dem eben die Gäste abzogen, welche die letzte Nacht hier oben zugebracht hatten. Doktor Marssen war so glücklich, zwei gute und große Zimmer nach dem Park hinaus für seine Gesellschaft zu erhalten, und der Diener des Barons, der sie begleitete, ward jetzt seiner Tücher entledigt, die er wahrscheinlich umsonst mitgeschleppt hatte.

Nachdem man nun ein Frühstück eingenommen, führte Doktor Marssen seine Freunde zuerst nach dem Rauft, jener schönen waldigen Felsgruppe, die vierhundert Fuß über dem Park dem Wasserfall gegenüber liegt und von wo aus man den ganzen Brienzer See, die umliegenden Gebirge, Interlaken und darüber hinaus den Thuner See übersieht, an dessen Rande die spitze Pyramide des Riesen stolz über allen übrigen Bergen hervorragt. Als man sich an dieser herrlichen Aussicht gehörig erquickt, stieg man wieder hinab und begann die Höhe der Wasserfälle selbst zu ersteigen, was bei der zunehmenden Hitze freilich ein mühseliges Stück Arbeit war und Karolinen nur unter Beihilfe ihres Bruders und Rolfs gelang. Dafür aber war auch der Genuß um so reicher und lohnender. Eine Viertelstunde lang kletterte man einen schmalen Fußpfad auf der linken Seite des Wassersturzes hinan, der von mehreren Brücken überspannt ist, von denen herab man in die schäumenden Wasserstrudel sieht. Am zweiten Fall angekommen, bis wohin Karoline und Rolf nur die andern begleiteten und sich niedersetzten, um, von den Wassertropfen benetzt, auszuruhen, bewunderte man die unter einem Felsvorsprung angelegte Grotte, vor welcher der Wasserfall wie ein dünner Vorhang von Glas herabfällt, durch den man wie durch einen Schleier auf die davor ausgebreitete und gleichsam verklärte Gegend hinabblickt. Die jungen Leute stiegen mit Doktor Marssen bis ganz hinauf, wo zuletzt das Wasser vierhundert Fuß hoch aus einer dunklen Felsenspalte in einen tiefen Kessel stürzt und so laut braust und tobt, daß man sich nicht mehr mit vernehmbaren Worten unterhalten kann.

Gegen Mittag endlich hatte man alle Einzelheiten in Augenschein genommen, die am Gießbach zu sehen waren, und nun gab man sich dem ruhigen Genuß der Betrachtung der schönsten Punkte hin. Edda war ganz still und in sich gekehrt von den Wasserfällen heruntergekommen und ihr schönes Gesicht glühte wie eine Rose, denn die Hitze des Tages hatte bedeutend zugenommen und das Steigen beschwerlich gemacht. Als Franz Edda so schweigsam und nachdenklich sah, während die übrigen sie für müde und erschöpft hielten, wurde er es auch; nur Miß Rosy war außerordentlich heiter gestimmt und neckte sich mit Doktor Marssen in gebrochener deutscher Sprache, der von Zeit zu Zeit Karolinen einen Blick zuwarf, den diese zu verstehen schien und dann ihrerseits wieder einen auf Edda warf, die ihr in ihrem stillen Verhalten und in ihrem fast feierlichen Wesen immer mehr ein Rätsel wurde.

Endlich läutete die Speiseglocke und man ließ sich an einem abgesonderten Tisch in dem schönen Eßsaal nieder, der nach dem Park hinaussieht, und nun war wenigstens für die Männer eine nicht weniger frohe Stunde gekommen, als die früheren gewesen waren. Bei einigen Flaschen guten Burgunders wurden sie überaus heiter und selbst Rolf zeigte sich ungewöhnlich gesprächig. Als man das Dessert erreicht und die Damen einige Gläser Champagner getrunken hatten, stand Edda plötzlich auf und, Miß Rosy einen Wink gebend, daß sie ihr folgen solle, sagte sie zu Karolinen:

»Beste Karoline, es ist hier beängstigend heiß. Mir liegt es wie ein Alp auf der Brust; ich werde mir einen kühleren Ort aufsuchen und mich zum Kaffee wieder bei Euch einfinden. Adieu, meine Herren, viel Vergnügen bei der Flasche!«

Sie ging mit Miß Rosy hinaus und sprach unterwegs einige freundliche Worte mit einer der schönen Töchter des Wirtes, welche mit so vieler Anmut bei Tische aufgewartet und Eddas Aufmerksamkeit dadurch erregt hatte, daß sie ihr blondes Haar ebenso kurz geschnitten und ähnlich frisiert wie sie trug. Franz dagegen blieb noch eine Weile sitzen, da er glaubte, wenn die Damen ihn bei sich zu haben gewünscht, würden sie ihn zur Begleitung eingeladen haben.

»Franz,« redete ihn da der Vater an, »du kommst mir heute seltsam vor. Du sprichst nicht und trinkst nicht und machst doch ein Gesicht, als wolltest du die Welt verschlingen. Was soll das heißen? Bist du immer noch bei deinem Bilde oder was ist dir sonst in den Kopf gestiegen?«

»Ja, Vater,« erwiderte Franz mit glühend roter Stirn, »ich bin immer noch bei meinem Bilde und auf daß mir »die letzte Hand« gelinge, bitte ich dich, mir hierauf Bescheid zu tun. Bitte, Herr Baron, füllen Sie mir noch einmal das Glas mit dem perlenden Wein – so: also auf meines Bildes Wohl und Gedeihen!«

Alle nickten ihm freundlich zu und tranken ihre Gläser leer; Doktor Marssen aber, der jetzt erst zu bemerken schien, daß Edda am Tische fehlte, fragte: »Wo ist Edda? O, das ist nicht recht, daß sie mich so früh verläßt.«

»Ich will sie dir zurückholen!« rief Franz, der die gute Gelegenheit benutzen wollte, um von dem Tische fortzukommen, wonach er schon lange getrachtet hatte.

»Geh, geh,« sagte Karoline hastig, »wir bleiben noch ein Weilchen hier sitzen und jetzt will ich auf dein Wohlsein und Gedeihen ein Glas trinken, mein Junge.« Und als Franz gleich darauf den Tisch und den Saal verließ, sahen sie ihm mit strahlenden Augen so lange nach, bis er verschwunden war.

»Karoline,« redete Rolf sie an, »der Franz ist dein Augapfel, nicht wahr?«

»Ja, Rolf, ich liebe ihn wie meinen eigenen Sohn, und er verdient es.«

»Ich weiß es. Nun, sorge um nichts – es ist alles in Richtigkeit – ich weiß, was du denkst –«

»Rolf – ich bitte dich, sage mir, was du meinst, ich bin ja schon lange in der größten Betrübnis darüber –«

»Das brauchst du nicht zu sein, ich weiß besser Bescheid. Ich habe heute morgen schon eine Beichte anhören müssen –«

»Ah!« rief Karoline mit großen Augen und griff, ohne es zu wissen, nach dem Champagnerglase. »Und hast du Absolution erteilt oder dein Interdikt gesprochen?«

Er reichte ihr lächelnd die Hand, und sie drückte die seine warm. Dann trank sie ihr Glas aus, grüßte die Männer, die noch sitzen blieben, und trat an ein Fenster, um nach dem Park hinunterzuschauen, wo sie eben am Fuße des Gießbachs Franz und Miß Rosy miteinander sprechen sah.

*

Franz war mit flüchtigem Fuße die breiten Treppen hinabgeeilt und hatte die beiden Mädchen im ganzen Park vergeblich gesucht, bis die Tochter vom Hause ihm zufällig begegnete und ihm sagte, daß die wunderschöne Dame mit dem kurzen Haar nach dem Gießbach hinaufgestiegen sei. Franz dankte für die gute Nachricht und richtete eben seine Schritte nach demselben Ziele, als er Miß Rosy über die unterste Brücke ihm entgegenschreiten sah.

»Miß Rosy,« rief er ihr schon von weitem mit leuchtenden Blicken zu, »wo ist Edda?«

Rosy lächelte verstohlen. »Die sitzt oben in der kühlen Grotte hinter dem Wasserschleier und kämmt sich das naß gewordene Haar, Herr Marssen. So sieht sie aus wie eine Loreley in Trauer oder eine düstere Wassernixe, und ich rate Ihnen, nicht in ihren Bereich zu kommen. Nixen sind gefährlich, wenn sie bei der Toilette gestört werden.«

»O, wenn es weiter nichts ist, darauf will ich es ankommen lassen. Also in der Grotte? Adieu, Miß Rosy, adieu, und ich danke Ihnen für die gute Botschaft!« –

Franz sprang in seinem Eifer, zu der gefährlichen Nixe zu kommen, rasch die ersten Absätze des steilen Weges hinauf, aber bald ging er langsamer, denn er wollte nicht außer Atem an seinem Ziel anlangen, da er ihn gerade jetzt vielleicht gebrauchen konnte, wie er heute morgen gesagt. Neben ihm rauschte und brauste der schäumende Wasserfall, aber in seinem Herzen brauste und schäumte keine geringere Woge auf, ja es schlug ihm so laut, wie eine eherne Glocke, daß er die Schläge derselben in seinen Ohren zu hören glaubte. Als er aber nach längerem Steigen in die Nähe der bewußten Grotte kam, blieb er eine Weile stehen, er schien es gar nicht mehr so eilig zu haben, oder sein Atem bedurfte vielleicht wirklich der Ruhe.

Endlich aber erreichte er ganz langsam gehend die Grotte, und ja, Miß Rosy hatte die Botschaft richtig bestellt: Edda saß darin, und sie kämmte auch ihr Haar, das von den herniederspritzenden Tropfen vor der Grotte stark benetzt worden war. Ach, und wie herrlich erschien sie ihm in diesem Augenblick, wo sie ihn nicht kommen hören konnte, da das unten brausende Wasser das Geräusch seiner Tritte verschlang, und ihn auch nicht sah, so lange er noch hinter einem gespaltenen Felsen stand, von wo aus er sie zu seiner innigsten Freude ganz in der Stille betrachten konnte.

Sie saß in der Mitte der kleinen Bank, und ihr weites schwarzes Gewand hatte sich breit um sie herum gebauscht, obgleich sie nicht der traurigen Mode frönte, einen künstlich ausgespannten Stahlrock zu tragen, den nur die Dürftigkeit körperlicher Begabung erfunden und so lange in Gebrauch erhalten zu haben scheint. Das Kleid, welches sie trug, ging ihr zwar bis an den Hals hinauf, wo es mit einer Krause endigte, aber die weißen üppigen Schultern schimmerten durch den dünnen Stoff, da das leichte Tuch, welches sie zuerst in der Grotte um sie geschlagen, längst zurückgefallen war. Mit den schneeigen Händen strich sie ihre glänzenden Haare glatt, aber wenn sie sie geglättet, schüttelte sie sie wieder durcheinander, um sie rascher zu trocknen, und sie dann von neuem mit einer Bürste und den Händen zu glätten. Plötzlich aber ließ sie von diesem Tun ab, blieb unbeweglich sitzen und starrte lange durch den klaren Wasserschleier nach der gebirgigen Ferne hinüber, als ob sie etwas suche, was sie gern gefunden hätte und doch nicht finden konnte.

Da schrak sie leise zusammen. Denn eben schlug ein fremder, und doch wieder bekannter Ton an ihr Ohr. Es war ihr, als hätte jemand ihren Namen gerufen, und sie schaute scharf in die Richtung, woher er gekommen war. Sie brauchte nicht lange mehr auf die vermutete Erscheinung zu warten – ein liebes Freundesgesicht und eine männliche Gestalt ward ihren Augen sichtbar, und wenige Sekunden später fragte eine freundliche, etwas beklommene Stimme:

»Darf ich Ihre Einsamkeit stören, Edda?«

Sie sprach nicht, aber sie winkte einladend mit der Hand und dem Auge und nahm ihre Kleider beiseite, und gleich darauf saß Franz dicht neben ihr und hatte ihre Hand erfasst, die sie ruhig in der seinen ließ.

»Haben Sie hier wie einst Egeria geträumt?« fragte er sanft.

»Nicht wie Egeria, aber gewiß wie Edda, und ich habe wohl Grund genug dazu an diesem Ort. Ach, er ist ein wahres Eden, mein Freund; er hat mich förmlich hingerissen, vom ersten Augenblick an, wo ich ihn betrat; meine Seele ist weich geworden, wie die eines Kindes, und ich fange an, ein ganz neues Leben in mir zu fühlen. Ich glaube fast, daß die Romantik dieses Ortes mich mit zauberähnlichen Banden umschlungen hat, und nun will ich diesen Zauber erst überwinden, ehe ich mich wieder unter Menschen mit gewöhnlichen Gesichtern begebe.«

»Wenn es so ist,« sagte Franz noch sanfter als vorher, »dann muß ich am Ende doch bedauern, Sie mit meinem gewöhnlichen Gesicht gestört zu haben. Einen Zauber, wie Sie ihn schildern, genießt man gern allein, und Sie haben sich gewiß nicht nach Gesellschaft gesehnt?«

Er sah sie dabei fragend an, aber sie lächelte nur sanft und schüttelte fast unmerklich den Kopf. »O nein, o nein, diesmal irren Sie doch; ich habe Sie sogar erwartet, und wenn Sie nicht selbst gekommen wären, würde ich Sie haben rufen lassen, da ich mit Ihnen reden muß. Muß, sage ich, weil ich den Zauber, der mich hier ergriffen, nicht allein überwinden kann, und mich nach einem Menschen sehne, der meine Empfindungen mit mir teilt, wenn sie mir nicht die Brust zersprengen sollen.«

Franz schwieg auf diese Worte, die ihn freudig erbeben ließen; erst, als sie ihn abermals fragend ansah, sagte er: »Sind denn diese Empfindungen so mächtig in Ihnen?«

»Ja, ich habe früher nie geglaubt, daß es so mächtige Empfindungen in des Menschen Brust geben könne.«

Franz senkte den Kopf und dachte an die Mächtigkeit seiner eigenen Empfindungen.

»Woran denken Sie?« fragte da eine Stimme an seinem Ohr.

Er blickte wie aus einem Traume auf; auch er kam sich wie in einer neuen Welt lebend vor, und auch seine Seele ward plötzlich weich, wie die eines Kindes.

»Ach, Edda,« sagte er, »ich könnte Ihnen sagen, daß ich an das Glück denke, welches jetzt in unsere Familien eingekehrt ist, denn alle Zwietracht ist ja nun auf ewig verbannt, und alle Herzen sind vereint, die noch vor kurzer Zeit so weit voneinander entfernt schlugen. Aber ich sage das nicht, weil ich leider zu egoistisch bin, und mehr an mein eigenes Geschick, als an das anderer Menschen denken muß. Vor allen Dingen aber schwelge ich in Erinnerungen, die weder Tag noch Nacht von meiner Seele weichen und meinen Geist in die Vergangenheit führen, weil sie zu schön, zu herrlich für mich war.«

»In die Vergangenheit? Das ist seltsam. Hat die Gegenwart denn gar keine Reize für Sie?«

»Die Gegenwart? O, die gehört mir ja noch nicht, aber die Vergangenheit, die ich meine, ist mein, ganz mein, und die kann mir niemand rauben, selbst die nicht, die sie mir gegeben und verherrlicht hat.«

»Wer hat denn Ihre Vergangenheit so sehr verherrlicht?«

»Sie selbst, Edda, ohne es vielleicht zu wissen.«

»Da bin ich doch neugierig. Was habe ich denn getan?«

»Vielleicht unwillkürlich, und ohne zu ahnen, daß es von großen Folgen für einen andern Menschen, für mich werden könnte. O, da denke ich denn zuerst an die Eisgrotte im Grindelwaldgletscher und an den wunderbaren Blick, den Sie in mein Auge, in meine Seele taten, und den ich immer noch nicht ganz begreifen und ergründen kann.«

»Meinen Blick? O, das ist seltsam. Sie haben mir aber damals auch einen wunderbaren Blick in die Seele geworfen – ich weiß das noch sehr gut – und ich habe jenen Blick auch verstanden –«

»Sie haben ihn verstanden?«

»Nun, er war deutlich genug und der meine, denke ich, nicht minder –«

»Und was besagte er?«

»Sagen kann man das nicht gut, aber ich will ihn noch einmal in Ihre Seele zu werfen versuchen, vielleicht verstehen Sie ihn dann.«

Bei diesen Worten rückte sie ihren Kopf näher an den seinen, und ein dunkler, heißer Strahl, wie damals in der Eisgrotte, fiel in sein Auge, das fast dadurch geblendet wurde. Aber nicht wie damals erschrak er darüber, nein, sein Herz klopfte vielmehr vor Seligkeit und er stand eben im Begriff, dieser Seligkeit einen fühlbaren Ausdruck zu geben, als Edda ihre Augen senkte und leise fragte: »Verstehen Sie ihn nun?«

»Ich glaube es beinahe!« flüsterte eine beklommene Stimme an ihrer Seite.

»So. Beinahe! Ah, ich merke es, Sie sind ein Mann der Sicherheit. Nun, dann nennen Sie mir Ihre zweite schöne Erinnerung, die Sie mir zu verdanken haben wollen.«

Franz fuhr freudig in die Höhe. »Wohl!« sagte er, »es war eine tiefdunkle, schauerliche Nacht. Das Gewitter tobte, die Lawinen donnerten über unsern Häuptern und der Eisregen schlug wie mit Steinen gegen ein kleines Fenster. Wir aber, wir saßen trocken und warm in einer erbärmlichen Hütte, und die Hütte hieß Stiereck –«

»Nun, und was weiter?« fragte eine liebliche Stimme dicht an seinem Ohr.

»Und da lag ein schöner Mädchenkopf auf meiner Schulter, und das Mädchen schlief sanft und ich wachte und berauschte mich an seiner Schönheit – denn so ein schönes hatte ich nie vorher gesehen und in meiner Nähe gehabt – das Mädchen aber weiß davon vielleicht nichts, denn es schlief fest –«

Er konnte nicht weiter sprechen, vor Wonne und Entzücken nicht, denn die Szene in Stiereck erneuerte sich und derselbe schöne Kopf ruhte wieder sanft und leicht auf seiner Schulter.

»Weiß das Mädchen es auch jetzt nicht?« fragte eine wie Windeshauch flüsternde Stimme neben ihm.

»Edda!« schrie er laut auf, daß sie fast erschrak, und in demselben Momente ruhten zwei Menschen Brust an Brust aneinander – »Edda, du weißt es, und du willst es von mir noch hören? Ist es denn möglich, daß du – du mich lieben kannst?«

»Ich brauche nichts mehr zu sagen,« tönte es nach einer Weile von ihren Lippen, »meine Empfindungen haben mich schon lange verraten – ist es denn aber wunderbar, daß ein Weib mit heißen Gefühlen und unzerreißbaren Banden an einem Mann hängt, den es für einen edlen, braven Mann hält?«

»Wie? Du sagst es? Du? Und ist es denn nicht demütigend für dich, einen Mann zu lieben, seinem Willen gefügig zu sein, für dich, die du so stolz und die Tochter einer schottischen Lady und eines dänischen –«

»Halt, mein Freund, und spotte nicht. Sprich nicht von dieser schottischen Mutter, die im Grabe liegt, und von diesem dänischen Vater, dessen Stolz, wie der meine, lange gebrochen ist. Ja, dies stolze, starre, schottisch-dänische Herz ist gebrochen, durch dich, mein Freund, ein Schleswiger, und du hast mir das sanfte süße Licht der Liebe angezündet und ich bin weich geworden wie Wachs, das du in jede Form gestalten kannst. Und nun will ich es dir gestehen; wenn damals jener Blick in der Eisgrotte noch eine Minute länger gedauert hätte und nicht durch Herrn van der Hoofts Stimme zurückgescheucht worden wäre, dann wäre ich dir schon damals – so – so an die Brust gesunken, hätte dich – so – mit meinen Armen umschlungen und – meine Lippen so – so – so – auf deine Lippen gedrückt!« – – –

*

Eine gute halbe Stunde später saßen Eddas Vater, Doktor Marssen, Karoline und Miß Rosy im Park auf einer Bank im Schatten einer wunderschönen Tränenweide und vor ihnen stand ein Tisch, der das Kaffeegeschirr trug. Die beiden Männer waren, ihre Zigarren rauchend, in ein halblautes Gespräch vertieft, Karoline aber tauschte mit Miß Rosy seltsame Blicke aus, die eine ungewöhnliche Spannung auf beiden Seiten verrieten. Beider Augen waren schon lange nach der Brücke gerichtet, die nach den Wasserfällen führte, aber sie mußten Geduld haben, denn die Brücke wollte sich noch immer nicht mit Menschen beleben, wenigstens mit den Menschen nicht, welche sie zu erwarten schienen, da der Park sich unterdessen mit neuen Besuchern gefüllt hatte, die soeben mit dem Nachmittagsboot von Interlaken gekommen waren und sogleich nach den Wasserfällen hinaufzusteigen begannen.

»Nun,« sagte da Doktor Marssen lächelnd zu Rolf, »nun wird es Zeit, daß unsere Ausreißer kommen. Sonst werden sie am Ende von unberufenen Lauschern ertappt, die – ah!« unterbrach er sich – »da sind sie – ha! Die sind einig, ich sehe es!«

Und in der Tat, die Art und Weise, wie Edda und Franz Arm in Arm daherkamen, wie sie sich auf ihn stützte und wie beide von Zeit zu Zeit, ohne es selbst zu wissen, sich in die Augen sahen, verriet nur zu deutlich, daß die Wassernixe erbarmungslos den Fischer ergriffen hatte, aber nicht mit ihm in die Tiefe gesunken, sondern freudig, beglückend und beglückt, wie ein irdisches Weib es nur sein kann, mit ihm an die Oberfläche des sonnigen Tages zurückgekehrt war.

»Nun,« fuhr Doktor Marssen lächelnd fort, »das ist gut und jetzt hat Karolinens Angst ein Ende. Das hat der Gießbach zustande gebracht, ich dachte es mir wohl, und Franz hat also auch hier die letzte Hand an sein Bild legen können.«

»Oder auch die erste,« sprach Rolf leise, »und das will hier beinahe ebensoviel besagen.«

Karoline aber war von ihrem Sitze aufgesprungen und, unbekümmert um die fremden Menschen, die sie freilich nur wenig beachteten, den beiden Ankommenden entgegengelaufen und hatte Edda mit dem Ausruf in die Arme geschlossen: »Edda, Edda, ist es denn wahr, was Leo sagt?«

»Was sagt er denn?« fragte Edda naiv zurück, ohne imstande zu sein, das glückliche Funkeln ihrer schwarzen Augen nur einigermaßen in Schranken zu halten.

»Daß Ihr ein Brautpaar seid!« strömte es mit Gewalt über Karolinens Lippen.

»Ja,« sagte Edda laut und fest, indem sie an die beiden Väter herantrat, die nun auch aufgestanden und ihr entgegengekommen waren, »ja, dann hat dein guter Leo recht gesagt, denn wir sind ein Brautpaar, vor Gott dazu geweiht, und nun, meine Lieben, gratuliert uns, wenn nicht mit lauten Worten, so doch mit herzlichen Blicken, denn wir sind hier leider nicht allein!«

Alle umringten sie nun, einer nach dem andern sprach ein herzliches Wort und man drückte sich die Hände und küßte sich. »Nein, nein,« rief aber Karoline dem jungen glücklichen Paare zu, »ich nicht, ich nicht – hier gratuliere ich nicht, erst wenn wir zu Hause sind, morgen abend, wenn es nicht heute schon sein kann, dann lade ich Euch alle in mein freundliches Stübchen ein und da will ich meine Glückwünsche aussprechen, und die werden hoffentlich bei Euch allen Beifall finden.«

»Aha!« dachte Doktor Marssen, »ich wußte es wohl! Ihre Ungeduld kam daher, weil sie nicht rasch genug zu ihrer eigenen Handlung kommen konnte – und nun hat die große Stunde geschlagen, auf die sie so viele Jahre vergebens gehofft. O Weiber, Weiber, was seid Ihr für seltsame Geschöpfe! Und wenn alle auf der Welt so wären, wie meine Karoline, dann wäre die Welt voller Engel, aber leider sind sie nicht alle so. Bah!« –


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