Friedrich von Gagern
Im Büchsenlicht
Friedrich von Gagern

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Intermezzo

Ende Juli.

Drüben im Westen rollt ein Gewitter herauf. Grell stehen die lichtgrünen Buchenkronen gegen die blauschwarzen Wolken.

Die Luft matt, träg, reglos. Kein Vogelruf, kein Hummelgebrumm. Sie haben heute früher Feierabend gemacht. Nur die Schnaken tanzen über den Wegpfützen.

Am Rand der Waldwiese sichert der junge Bock. Oberflächlich nur, weil er's von älteren tun sah. Ihm mangelt's an Erfahrung und Mißtrauen. Zwei Jahre ist's her, daß er im finstern, kühlen Tannenforst gesetzt wurde. Doch trägt er schon sein zierliches, spitzes Sechserkrönlein mit Stolz.

Die Luft ist rein. Er zieht tiefer in die Wiese und beginnt zu äsen. Ganz vertraut, ganz bei der Sache – mit dem sorglosen Appetit der wachsenden Jugend.

Dann und wann schlägt er mit dem Hinterlauf nach einer lästigen Bremse, oder er leckt sich seine knallrote Decke glatt. Und dann wohl auch einen übermütigen Satz. Es juckt ihn in allen Adern. Ende Juli . . .

Die Ricken wandern unstet und sehnsüchtig im Holz umher – den ganzen Tag über hörte er ihr schmeichlerisch Locken. Und oft trieb es ihn mächtig hin nach der verschwiegenen Waldmulde, wo die Geiß nach dem Bock schmachtete. Aber nein . . . Lieber zog er seinen Wechsel weiter. Denn eine Erfahrung hatte man ihm 170 doch schon auf die Decke geschrieben. Im Vorjahr, als er noch ein schüchternes Spießhörnchen trug. Da war er blindlings dem erstbesten Liebesruf gefolgt. Aber schön kam er an damit. Die Dame hatte ihren Kavalier, und der kam einhergefegt mit gesenkter Endenwehr. Und unser Spießer nahm Reißaus, verfolgt von seines Feindes furchtbarem Dreizink. Die Schöne aber lachte, lachte höhnisch und grausam – mit dem Lachen der galanten Frauen, die sich am Jammer eines im Duell geschlagenen Anbeters weiden . . .

O dieses Lachen – es gellte heute noch nach in seinem Herzen. Und heiße Bitterkeit quoll damit empor . . . Rache! Rache!

Aber es ist ja wieder Brunftzeit. Und die Geißen locken unablässig. Die ganzen schwülen Hochsommernächte hindurch eitel Buhlen auf den Waldwiesen. Und tagüber wildes Hetzen im Hochholz. Alles Liebe, Liebe, derber, urmächtiger Trieb. Auch er fühlt's, auch in ihm siedet's, vielleicht mehr als in all den anderen, den Alten, Starken, die in angestammter Bravheit ihren Gattenpflichten nachkommen. Er hatte ja das jauchzende Glück noch nie auskosten dürfen. Eine alte, verblühte Geiß war ihm im Vorjahr zu Willen gewesen – Gott sei Dank, der letzte, harte Winter hat sie im Schnee begraben. Er lechzte nach Jugend, nach herber, trotziger Jugend!

Doch wozu trägt er den ersten Sechser? Er kann sein Glück einem anderen abjagen . . . Er dehnt und reckt sich in strotzendem Stärkegefühl. Jetzt mag er kommen, der rohe Kerl mit seinem Dreizack!

Hinten im Buchenmais lockt eine Ricke, sanft und schwärmerisch . . . Soll er? Er äugt zurück, er windet und verhofft. Nein, nicht die erste beste. Die bildschöne 171 Schmalgeiß, die gestern noch allein da war – die soll die seine werden. Weiß Gott, welch häßliche, alte Kokette dort nach Liebe ächzt. Auch Menschentücke kann dahinter stecken.

Und er äst weiter. Aber nicht mehr ruhig und mit Appetit. Sie kann jeden Augenblick kommen. Gestern war sie schon da um die Stunde . . .

Jetzt . . .

Ein dürrer Ast am Holzrand knackt. Der Bock wirft auf.

Ein zierliches Köpfchen schiebt sich zaghaft vor. Ein reizender, schwarzer Windfang, das berückendste Lichterpaar. Sie trippelt ungeduldig mit den graziösen Läufchen, kokett und trotzig zugleich! . . .

Nun stand sie ganz draußen und äugte in das dämmrige Holz zurück.

Glühend pulst's auf in ihm. Zehn Fluchten und er wär' bei ihr. Und wenn sie ihm die Gunst versagt, er wird sie jagen, durch Schluchten und Wälder, bis sie sich ihm gibt.

Daß sie ihn nicht merkt? Er schlägt das Moos mit den Schalen, er zerfetzt mit seinem schmucken Gehörn die Rasennarbe . . .

Da. Hinter ihr leuchtet's rot durch die Stangen. Der helle Grind eines starken Bockes. Kampffroh blitzt sein polierter Endenprunk. Mißtrauisch späht er den Holzrand ab. Auch der Knabe entgeht seinem Blick nicht. Dann senkt er das bewehrte Haupt und äst.

Der drüben wird ihm kaum etwas anhaben. Ihm, dem Alten, dem Herrn des Reviers, vor dessen mächtigem Gehörn starke Helden zittern . . .

Der Junge könnte einen Baum umfegen vor Bitterkeit. Also auch sie! Und immer der bejahrte, rüde Kerl, 172 der Rechthaber, der Roué, der schon hundert Schmalgeißen besessen . . . Auch sie, das süße Kind, hatte er betört!

Wie sie getollt haben müssen! Ganz erschöpft tut sie sich nieder, und er folgt ihrem Beispiel. Es ist gar nicht auszudenken, die schönste Ricke im ganzen Grund, und dem drüben zu Willen. Wenn sie erst wüßte, was der schon alles –

Übrigens: es ist ja gleich. Sie scheint eben auch eine Dirne zu sein. Die sehen ja immer so verführerisch unschuldig aus. Die möcht' er nicht einmal und wenn sie ihn stundenlang anschmachtete. Man muß das Verachten lernen. Weib bleibt Weib. Und die Weiber überhaupt. Man braucht sie eigentlich nicht. Klee ist besser . . .

Und beginnt resigniert zu äsen.

Schon kriecht die Dämmerung über die Wiese. Die schweren Wolken haben die Sonne verschlungen, und ein schwüler Wind brummt im Geäst. Eine entsetzliche Spannung, die letzte halbe Stunde vor dem Gewitter. Dann und wann grellt's auf über dem Wald, und nach banger Pause murrt der Horizont unwillig. Da hetzen die Pulse, der glühende Leib zittert nach Auflösung, gleichviel wie . . .

Eine alte Ricke tritt aus. Ohne alle Umstände, frech und anspruchsvoll. Sehnsüchtig äugt sie den strotzenden Jüngling an. Wo sind die Sommernächte, da ihrethalben die Gehörne aneinanderprallten? Sie war auch einmal wie die drüben, schlank und fest. Aber Kitze Jahr für Jahr, Wintersnot und Erziehungssorgen, das zehrt. Und doch, einmal möchte sie noch getrieben und gestoßen werden, einmal noch. Der Junge da grämt sich wohl. Armer Kerl! Sie kannte das. Wieviel 173 minnedurstigen Bürschchen hatte sie nicht Geliebte sein müssen! Aber es reute sie nicht.

Sie lockt.

Er wirft doch noch auf.

Komm! . . . Komm! . . .

Der blasierte Tropf! Er mag nicht. Und sie zieht bis an ihn heran.

Was soll er mit der Verblühten? Ihre Lauscher sind lang, ihre Läufe plump – eine Ungestalt . . .

Wenn die Schwüle nur nicht so in den Nerven tobte! Über den Himmel laufen düstere Schatten; der Sturm greift schon gierig in die Buchenkronen. Das Pärchen liegt noch ruhig im Gras, unbekümmert um das Drohen der Höhen.

Jetzt steht sie dicht bei ihm, die Alte . . . Weib ist Weib . . .

Halt!

Beide werfen auf. Eine graue Gestalt geistert um die Waldecke. Und der Wind peitscht hinter ihr her.

Schon schmält seine Verführerin. Und er stimmt ein. Die drüben werden im Nu hoch. Polternde Fluchten über den Grasboden, schwimmende Spiegel im finsteren Stangenholz . . . Dann rauscht der Regen los, jauchzend, erlösend. Blaue Strahlen flammen herab; die Lüfte heulen und knattern . . . Hochsommer. – –

Im Ost verschwinden die Sterne. Wie ein Ahnungsschimmer liegt die Dämmerung überm Waldsaum. Dann ein staubiges, dumpfes Rot. Das Holz schauert von Nässe; vom glatten Laub klopft es unablässig auf die Streu.

Schon stehen die Rehe auf der Wiese. Die beiden Böcke und die Junge.

Der starke Bock zieht gönnerhaft an den geringen 174 heran. »Das hast du gut gemacht, gestern. Ich habe ihn nicht gemerkt . . .«

Im anderen kocht's. »Natürlich, wenn man –«

»Du, Bürschchen, nimm dich in acht . . .«

»Mein Alter kümmert dich nicht. Wahr' selbst deine Decke ein andermal . . .«

»Frech auch noch? . . .«

»Ich habe dieselben Rechte wie du . . .«

»Das wollen wir sehen . . .« Und mit gesenktem Gehörn aufs Gegenüber los. Gefährlich blinken die langen, elfenbeinweißen Zacken. Da lockt die Geiß. Er hört sie nicht. In zwei Fluchten ist sie bei den Gegnern und fiept von neuem. Dabei stößt sie sanft an den Jungen. Der Kapitale läßt ab und hetzt sie waldwärts. Aber sie weicht aus. In wildem Wirbel geht's über die Wiese, immerzu lockt sie, nimmer hält sie dem Stürmischen still . . . Endlich, in einem verschwiegenen Winkel des Kleeschlages löst sich die Raserei der Jagd in süßem Rausch . . .

Blutrot steht der Morgen in der Ferne. Dann zerrinnt auch die Glut in stilles Licht, und groß rollt die kupfrige Frühsonne empor. Tauflitter prahlt an jedem Ast, an jedem Spinngewebe, und die rosigen Berghöhen lächeln verklärt in den kühlen Himmel hinauf.

Der starke Bock döst matt vor sich hin und läßt die Strahlen sich auf die nasse Decke scheinen. Da stiehlt die Schöne sich weg von seiner Seite und zum Jungen hin. Der äst, als ob ihn die ganze Brunft nichts anginge.

Sachte stößt sie ihr Samtnäschen gegen seinen Hals. Er wirft erstaunt auf; er tut erst gleichgültig und übersättigt, dann spielt er den resignierten Weiberkenner; schließlich fährt er ihr aber doch mit dem Lecker über 175 die blonde Stirn. Sie müssen sich allerhand Geheimes in die Lauscher zu sagen haben, die zwei.

Eine Bremse quält den alten Bock. Er wehrt sie mit unwilliger Bewegung ab und sieht seine Geliebte beim andern. Wie er aufschnellt! . . .

Und los gegen den Buben . . .

Wieder das listige Spiel des Schmalrehs. Sie lockt ihn weg; er läßt sich narren und treibt sie, bis sie sich ihm gibt . . .

Dann sinkt er schwer ins nasse Gras, süß erschlafft und gleichgültig gegen alles um ihn her.

Höher und höher klimmt der Tag.

Da stiehlt sich wieder ein graues Gespenst den Waldsaum entlang. Katzenstill, die Augen in glühender Erwartung auf die Wiese gerichtet. Hinter ihm ein Hund, tief geduckt in den Wegfurchen. Durch eine Staude gedeckt, hält die Gestalt an.

Aber schon hat der Jüngere den Spuk weg. Er wirft auf; zitternd saugt er den Wind ein . . .

Und auch das Schmalreh hat den Jäger gesehen. Sie macht allerhand unschlüssige Pirouetten, stellt die Lauscher hoch und scharrt in der Wiesenplagge . . .

Aber keines weicht vom Platz, keines schmält. Wie auf Verabredung.

Der Kapitale hat keine Ahnung von der Gefahr. Schläfrig sitzt er im Gras und schüttelt das Haupt, wenn's die Plaggeister zu arg treiben.

Der am Waldrand mißt seinen Hauptschmuck mit gierigen Blicken. Endlich! . . . Wie viele Morgenstunden, wie viele Schweißtropfen hat es gekostet! Aber hoch muß er erst werden, sonst kann man den Alten zu Holze schießen in zwölfter Stunde.

Wenn nur der grüne Kerl da stillhalten wird! Ein 176 niedlicher Bengel, der Zweijährige mit seinem putzigen Sechserkrönlein. In drei, vier Jahren ist auch er reif.

Und der steht steif wie eine Scheibe. Als ob er wüßte, daß ihm nichts drohe.

Die kleine Ricke lockt. Zum letzten Male – zum Tod.

Mit eins ist der Hauptbock hoch und beut dem Rohr das Blatt . . .

Bevor er der Verführerin folgen kann, fährt's ihm heiß durch die Adern. Durch den Wald rollt ein jubelndes Echo; ein weißes Wölkchen zerrinnt in der Morgenluft.

Er taumelt; er weiß nicht, wohin ihn die Läufe tragen. Nur fort, fort – in den Schatten, in wahnsinniger Hast über Knorren und Bruchholz. Das Reisig prasselt unter den auseinandergekrampften Schalen, dunkelrot perlt's über die Flanken auf das Dürrlaub. Aber bald erlahmt die Kraft der Todesangst. Langsamer, immer träger zieht der Kranke durch den Hag, da und dort anstrauchelnd.

Und dann tut er sich nieder, mitten im Abfuhrweg, wo der Gewitterregen zwischen den Geleisen eine Lache bildet.

Bleiern schleppt die Zeit dahin. Glühhitze glastet vom blendenden Himmel herab; die grünen Schmeißfliegen schwärmen um die Stelle, wo der Tod in der Weiche brennt. Er kann ihnen nimmer wehren. Lang streckt er das schöne Haupt vor, sein Atem geht keuchend, der Äser klafft.

Verraten . . .

Da knackt's im Jungmais. Zwei Rehe treten auf den Fuhrweg. Sie zuerst, knapp hinter ihr der junge Buhle. Unverwandt starren sie nach dem Betrogenen, der da 177 an der Wegpfütze nach Erlösung lechzt. Dann versetzt der Bock seiner Schönen einen unsanften Gehörnstoß, und weiter geht die gierige Flucht, in das Walddämmern, wo kaum ein Sonnenfleck durchs Gezweig rieselt.

Er stößt sie . . . sie, das zarte Reh, die er selbst immer so rücksichtsvoll behandelt! Die er beleckt und betreut . . . Und sie fiept lüstern vor ihm her, vor dem jungen Tyrannen. Verdankt er dem seine Qual, war er zu weich, zu sanft?

Es braust in seinem Blut. Wenn er noch so leidet, zum letztenmal will er seine Wehr den Jungen fühlen lassen. Und sie jagen, bis er selbst zusammenbricht.

Schon ist er hoch. Ein paar verzweifelte Fluchten in die Dickung, die das Liebespaar birgt. Aber der Schmerz zwingt den Stöhnenden wieder zu Boden. Nimmermehr . . .

Und dann die Erlösung.

Ein zottiger Kopf beugt sich über ihn; ein fester Griff umklammert seine geperlten Stangen. Kalt und glatt fährt es in seinen Nacken, tief ins Lebensmark. Krampfiges Biegen und Strecken der Läufe – ein süßer Schauer, fast so süß wie die Liebe – dann purpurnes Dunkel, tiefer als das matte Dämmern nach dem Brunftrausche.

Die Sonne stand hoch. Hinterm Hag summte die Mittagsglocke; die Sicheln schwiegen, und der Wald hielt den Atem an. Denn der Tod ging durch seine Hallen. 178


 << zurück weiter >>