Friedrich von Gagern
Im Büchsenlicht
Friedrich von Gagern

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Gemsfahrten und Automobiljagden

Faulenze ich da eines schönen Vormittags in rührender Ahnungslosigkeit auf meinem Kanapee. Der Zigarettenstummel qualmt ersterbend auf dem Fußboden, daneben liegt die Zeitung, die meiner Hand entfallen war. Büchsflinte und Rucksack schlummern an der Wand; rings in der Stube auf Stühlen und Dielen prangen die verschiedenen Bestandteile der harben Wichs . . .

Um es kurz zu sagen: ich war von der Morgenbirsch heimgestolpert gekommen – von Gehen ist nach Uskokenbirschen keine Rede – und schlief nun meinen Grant aus. 58

Ja, der Grant! Das war ein ausgiebiger.

Gestern abends mit einem des Weidwerkes unkundigen Vetter droben in den Bergen. Er pflückte Blumen, das heißt das bißchen kümmerliche Zeug, das im September noch sein Leben fristet – ich birschte, so gut es eben ging.

Da drunten in der tiefen Schlagmulde zwei Rehe. Geiß und Bock.

Es düstert schon, also rasch!

Der kommt mir gerade recht. Den ganzen Sommer hat er mich genarrt; jetzt wenden wir den Spieß. Im September herrscht schon Ruhe im Reviere, stille, klare Ruhe; denn dann knallt's drunten in den Maisfeldern. Aber manch ein Staatskerl hat auf modrigem Goldlaub verbluten müssen. Und ihre Reize hat auch die Septemberbirsch. Wer kennt die schönen, stolzen Frauen nicht, um deren sanfte Züge manch ein Silberfaden weht, und deren Liebe nichts ist als ein Verzeihen? Wer liebt die nassen, stillen Herbstrosen nicht – wer nicht die tiefen Schatten, die in früher Abendstunde vom fahlen Hag weg in die Stoppeln schleichen? Und so allerhand Intimes weiß mir auch die Herbstbirsch vorzuplaudern. Da dämmert's früh, die Tage gehen still und verklärt dahin, die Wälder leuchten in Purpur und Gold. Schöner ist's freilich in weltferner Hochalmhütte, wenn das Herdfeuer heimlich knistert und das Messer Grandln schabt . . .

Aber jedem blühen solch beschauliche Stunden nicht. Desto tiefer dann die Sehnsucht nach dem Sturm, der über den Grat heult, nach den bitterkalten Nebelmorgen und dem Brunftschrei . . .

Also, ich hatte mich herangedrückt, so gut es in der Eile ging. Den Vetter hatte ich natürlich oben gelassen 59 – zu etwaigem Orientierungsdienste. Das war gar nicht nötig. Der Bock stand kaum 50 Gänge vor mir; der Schuß krachte, das Waldgras zuckte krampfhaft. Aber da wird er auch schon wieder hoch . . .

»Dort hüpft er, dort hüpft er!« schrie der gute Vetter aus Leibeskräften.

Ja, dort hüpft er. Waldein und ganz gesund dazu.

Wir studierten den Anschuß. Natürlich – nein! Immer dieses verfluchte Kopfbeuteln Dianas und das suffisante – Pardon! – Gesicht, das sie mir dazu schneidet.

Ich ziehe im taunassen Grase der Fährte nach.

Da fährt ein Reh heraus. Aus dem Wundbett!

Es arbeitet sich hastig durch die Halme und das Brombeerdschungel – dann ins Buchenholz, unsicher, strauchelnd. Der kranke Bock, keine Frage.

Und das, was vorhin weghüpfte, war die Geiß gewesen. Natürlich!

Das Gerumpel im trockenen Reisig verstummt. Zur Nachsuche ist's zu spät. Auf einem steilen, schenkelschwächenden Steige geht's talab. Kein Nachtschwalbengegaukel, kein munteres Bilchgeschmatz. Unten im Grunde lauern Nebelschwaden, über den westlichen Höhenrücken stehen finstere Wolkenwände, von einem späten Wetterleuchten durchzuckt.

Herbst . . . Abschied . . . Vergessen . . .

Das Wägelchen karrt uns trübselig heim.

In der Nacht weckt mich dumpfes Rauschen. Der Regen fällt auf die welkenden Blätter hernieder, dann und wann rollt ein leiser, verlöschender Donner über den schwarzen Himmel. Vorbei – alles vorbei! Die stolzen, flammenden Hochsommergewitter, die tolle Brunftzeit und die heiße Ernte, Stoppeln, Fallaub und 60 glitzernde Silberfäden im Dorn – das sind die kargen Reize später Tage. Und doch hab' ich sie so lieb! . . .

Anderen Tages war ich früh draußen. Ein milder Regen rieselte herab, die Wälder dampften, und die ohnehin argen Lehmwege waren grundlos. Unten in der Mulde stand die alte Geiß. Von Schweiß oder sonstigen Birschzeichen war nichts zu finden. Alle Arbeit blieb vergebens. Matt, durchnäßt, ingrimmig trollte ich heim, schwere Erdklumpen an den Genagelten.

Und nun schlief ich. Nicht den berühmten Schlaf des Gerechten, sondern den eines Kummervollen.

* * *

Es war so gegen Mittag, als eine Drahtnachricht mich aufscheuchte.

»Erwarte Dich. Morgen erstes Riegeln . . .«

Abends saß ich im Coupé. Aufs erste Riegeln verzichtete ich gern. Es wäre auch eine Überschinderei gewesen. Der Schnellzug kommt um 7 Uhr an, um 8 Uhr sollte ich zwei Meilen tief im Hochgebirge, um 9 Uhr schon am Stand sein. Nein!

Zudem gab es da drunten in Halbasien ausgiebige Verspätungen, und der Schnellzug raste mir an der Nase vorbei, als wir in der Kreuzungsstation einfuhren.

Ich setzte ein Telegramm auf und verbrachte den Rest der Nacht bei schwarzem Kaffee und unqualifizierbaren Zigarren.

Die Fahrt im Personenzuge verkürzte die mir zugedachte Lebensfrist um etliche Jahre.

Als ich mir den verdrießlichen Halbschlummer aus den Augen rieb, stand das Hochgebirge in weinenden Schleiern, und die Kiefernstangenhölzer links vom Geleise schienen zu schauern. Eintönig rollten wir von 61 Station zu Station. Auf den Heideflecken zwischen den Föhrenwäldern stand Rehwild, geringes Krüppelzeug und fast verfärbt.

Da!

In den grauen Schwaden zeigt sich ein heller Fleck, die Hülle reißt und das breite Tal glänzt im nassen Morgenstrahl, funkelnd vor Nässe. Freilich, die hohen Kämme umbraut noch immer unholdes Gewölk und manchmal schließt sich das helle Fensterlein da droben gar bänglich.

Aber die Hoffnung ist erstanden.

Ein friedlicher Schlummer nimmt mich gefangen und – eitel Sonnenschein begrüßt mein Erwachen. Ein blauer See glitzert unter dem Bahndamme, von munteren, weißen Segeln belebt; dazwischen plätschert buntes Volk, lachend, zwitschernd, sich durch schimmernde Flut hetzend in tollem Spiel. Und drüben ragen die stolzen Zacken des Hochgebirges jungfräulich rein in die klaren Himmelshöhen.

Gams! . . .

Auch auf den Perrons jubelt und neckt sich die elegante Welt. Sonnenschirme, wehende Taschentüchlein – ein Lüftchen verriet mir violet de Parme – keusche, weiße Tennisplätze: alles wirbelt lustig vorüber.

Und nun sind wir am Ziele.

Einigermaßen unbehilflich entwinde ich mich dem Waggon. Ein Träger war gar nicht aufzubringen in diesem Karneval. Ein Koffer, noch ein Koffer, noch einer, ein schäbiger Rucksack, zwei Mordgewehre . . . auch das ward überwunden.

Eine Dame tritt auf mich zu, gefolgt von einem Backfischlein kleinster Größe. Sollte das . . .

Hm, ich war etwas verwildert in meinen 62 Heimatwäldern und nicht ganzau fait, was Damenmoden angeht. Vielleicht trägt man in England solche Hüte –

Richtig, verehrter Leser, was ich verraten muß: Es waren Engländer, richtige Engländer, bei denen ich auf Gams weidwerken sollte. Sie hatten ein immenses Revier samt Zubehör, wie Schloß und Jägerschaft, gepachtet, und ich war eben der einmal nicht abzuleugnende Neffe, beziehungsweise Vetter . . .

»Aoh - welcome. Du bist es doch?«

»Freilich – wenn du es bist.«

Ich hatte die gute Tante seit undenklichen Zeiten nicht gesehen. Damals vergnügte ich mich noch mit Schlittenfahrten auf dem Parkett.

»Und das ist Kitty – deine Cousine.«

Ein entzückendes Gesichtchen schob sich hinter dem gewaltigen Mantel der Tante hervor. Langes, braunes Seidenhaar, ein süßer, kleiner Mund, ein schalkhaftes Näschen und Augen! . . . Halb Schelm, halb verträumte Knospe – so stand sie vor mir.

Und ihr stand die abenteuerliche Kappe – denn auch sie trug sich so – gar nicht schlecht. Weidmannsheil! . . .

Für den Grad meiner Linkischheit hab' ich heute das Maß verloren. Damals kam ich mir ungeheuer unpoliert vor.

»Und nun komm – der Motor wartet.«

Der Motor! Die Hüte! . . . Eine Illumination ging mir auf.

Ja, der Motor wartete. Ein schweigsamer Kerl saß am Steuer; sonst sah er aber ganz vertrauenerweckend aus.

Eben wollten wir uns verstauen. als Zuzug kam. Eine ungeheuer abenteuerlich aussehende Dame, die ich als Gemahlin des Hon. Capt. Road kennenlernte, und 63 dann eine junge Vertreterin des schönen und schwachen Geschlechtes. Ob sie letzterem Prädikat Ehre machte, wußte ich nicht, aber ich hoffte es; denn schön, zumindest hübsch war sie unbedingt. Sie war außerdem die glückliche Besitzerin eines deutschen Namens. Weidmannsheil! . . .

»First to the bath, Hopkins . . .«

Der Daimler – 22 HP – begann zu stampfen und zu schnurren, und gleich darauf ging's mit behaglicher Geschwindigkeit durch den Sonnenglast dahin.

Das Bad im See war herrlich. So um 16° R, gerade erfrischend. Drüben lachten die schneeweißen Segel; ein kleiner Dampfer quälte sich durch die Flut, und oben schmunzelte ein sorgloses, zufriedenes Blau. Jenseits der dunklen Fichtenwälder aber, die den See säumen, leuchteten die eigensinnigen Grate und Zacken des Gamsrevieres. Außerdem badeten Männlein und Weiblein ungetrennt. Es war also sehr schön.

Dann flogen wir mit etwa 30 km pro Stunde dem Schlosse zu; der Luftzug nach dem Bade wirkte fast überkühl. Die Straße war gut, nur etwas bucklig. Aber der Daimler überwand alles spielend. Rechts und links Kiefernhölzer, dazwischen trauliche Wiesen –, so recht birschlockend; besonders für einen, der hartes Weidwerk gewohnt ist.

Hinz saß am Grabenbord und überlegte, ob man noch eine Straßenüberquerung riskieren könne. Gewiß! Aber der alte Schlaumeier hatte sich verrechnet. Ein leises Miauen zwischen den Speichen – und als ich zurücksah, war es um Hinzen geschehen.

»Damn . . .«, fluchte Hopkins.

Nachdem wir noch ein vorwitziges Huhn zur Strecke gebracht hatten, bogen wir in eine uralte, imposante 64 Lindenallee ein. Die gewaltigen Stämme huschten nur so vorbei – und endlich lag das Herrenhaus im klaren Sonnenlicht vor uns.

Alles war ausgeflogen – Onkel, Vettern, Capt'n Road und Mr. Dunbar, den ich nur so nebenbei nennen hörte. Droben auf 1.‑Alm wurde heute geriegelt.

Gerne würde ich mich in die Erinnerungen an ein köstliches Lunch verlieren; doch spare ich mir solches – schon um meiner Leser willen – für meine kulinarische Autobiographie auf. Es genügt, wenn ich bemerke, daß mein Onkel erlesene Zigarren zu rauchen schien, daß das Klavier ganz gut war und die ungeheueren Fenster des Salons eine prächtige Fernsicht auf das Gebirge, einen etwas verwilderten Park und eine unheimliche Ruine gewährten. Für den übrigen Komfort sorgten James und Francis aufs beste.

Hier laßt uns Hütten bauen!

Zur Zeit des five-o'clock-tea kamen die Nimrode heim. Pech gehabt . . .! Zwei Böcke und eine Geiß. Capt'n Road und Mr. Dunbar nicht 'mal was gesehen. Trieb verkehrt angepackt . . .

So oder so ähnlich begrüßte mich mein Onkel, die Vettern, deren einen ich schon kannte, mit tausend Fragen. Ich schriebe ja in Jagdzeitungen? Ob ich auch »darüber« schreiben würde? Und das müßten sie dann unbedingt zu lesen kriegen . . . Ja, und heuer hätten sie einige ganz kapitale Gamsböcke erlegt. So einen müßte ich auch schießen.

Nachdem ich mit Capt'n Road und Mr. Dunbar einige steife Verbeugungen gewechselt hatte, schleiften mich Oliver und Jim an den Gehörntisch, der herausgeputzt war wie eine Christbescherung. Es war aber 65 auch eine Bescherung. Die Rehkronen räumten meine Vettern zwar still beiseite – sie kannten meinen Geschmack und meine eigenen Böcke –, aber vor den Gamskrucken verrichtete ich ein stilles Gebet. Solche Ware habe ich in meinem ganzen Leben nicht gesehen! Der Umfang des Sockels kam jenem einer ganz kapitalen Sechserstange gleich, und an Höhe oder Hackelung fehlte es auch nicht. Preisstücke allerersten Ranges! Ein Wonnegruseln überlief mich, und im stillen –

Na, Schwamm drüber!

Trotzdem ich – begreiflicherweise – mit meinen Gedanken allein sein wollte, eskortierten mich die unbarmherzigen Vettern nach ihren Bauen, wo wir uns alsbald in Rauchwolken von Navy Cut und Projekte einhüllten.

Um 7 Uhr Diner. Englisches Haus – alles full dress, natürlich. Sah sehr feierlich aus. Die Damen hatten sich in eitel Brokat und Seide gehüllt. Außerdem feierte der Hausherr morgen seinen Geburtstag. Sekt ist in England allabendlich obligat; des Pfropfenknallens war kein Ende, und endlich hielt Capt'n Road, der Senior unserer Runde, eine feierliche Ansprache. Kaum war das Gläserklingen im hohen Speisesaale verhallt, als auch schon männiglich nach alter Sitte zu singen anhob: »He is a jolly good fellow . . .«

Ich saß zwischen meiner Cousine und der Dame mit dem deutschen Namen. Sie sah einer, und zwar der dauerhaftesten meiner Jugendlieben verblüffend ähnlich. Den Einstand hatte ich gut gewählt, wie man sieht; nur kam ich nicht recht zum Schöpfen vor lauter Flirt. Sie waren aber auch zu süß, die beiden – süßer als der unvergeßliche Moët et Chandon (leider nicht vom ganz unersetzbaren 1884er Jahrgang, Marke Bruit Imperial!) 66 Dafür waren aber auch die Damen von jungen und ungemein milden Jahrgängen.

Mrs. Road tanzte schließlich ein Cake-WalkSolo und zum Schlusse ebenso Solo einen amerikanischen two-steps. Allgemeines Hallo. Dazu wurde draußen auf der weiten Parkwiese ein kleines Feuerwerk abgebrannt.

Mit etwas wirrem Kopfe fuhr ich in meine Röhre. Nächtlings träumte ich von sinnbetörend starken Gamsböcken, die auf einem schmalen Felsgrate two-steps tanzten. Kaum hatte ich Korn und Kimme auf das Blatt der fidelen Kruckenträger zusammenvisiert, als unter mir lieblicher Sang erscholl . . . In tiefstem Grunde träumte ein grüner See und aus der Flut lugten zwei Mädchenköpfe hervor – –

»Sir!«

– – die gerade nach mir emporschielten. Da war mir's auch, als ob – –

»Sir!«

– – eine weiße Hand warnend sich emporreckte und – –

»Sir!«

»Good . . ., let me alone. I want to sleep . . .«

»Breakfast's ready, Sir.«

Englische Diener weckten zart, aber nachhaltig. Ich brummte noch, was mir gerade an britischen Kraftworten einfiel; aber in zwanzig Minuten war ich doch beim Breakfast. Es war auch der Mühe wert. Tee. Butter. Schinken. Eier. Gebratene Rainlhanken aus dem kleinen Gebirgssee (o Träume!), Reindlkuchen. Dazu allseits frische Gesichter und draußen der klarste Herbsttag. Wem da nicht das Herz aufgegangen wäre . . .?

Ein paar Tage wurden mit Hasensuchen, Musik und allabendlichem Bridge totgeschlagen. Ich verlor 67 Unsummen, bis ich die Methode der Engländer innehatte. Dann gewann ich wieder mit Zinsen.

Das Hasenrevier stand auf keinerlei Höhe; es gab mehr wildernde Katzen. Ahnungslos schoß ich im Verlaufe der ersten Hasensuche einen dicken, roten Kater von einer Kiefer herunter. Mein guter Jim war tiefbestürzt.

»Um Gottes willen . . .«

»Warum –«

»Das ist ja hier streng verboten!«

»Ach so. Nun, und –«

»Man kann die Jagdkarte verlieren.«

Ich gedachte meiner zukünftigen Überböcke und beförderte Hinzen in eine Höhlung unter einem Wurzelknorren.

»Aber wildernde Hunde darf man schießen?«

»Seit 1. September nicht mehr.«

»Weil?«

»Weil da brackiert wird.«

Solch primitiven Verhältnissen fühlte ich mich nicht gewachsen. Ich erkundigte mich nach dem Stande des Federwildes.

»Rebhühner – so, so, la, la. Aber Haselhühner!« Jim dehnte jede Silbe und spitzte den Mund.

»Da gehen wir einmal locken, Mensch!«

»Locken? Was ist das?«

»Na, heranpfeifen. So etwa wie 's Blatten.«

»Das kann man?«

»Gewiß!«

»Da gehen wir! Da gehen wir! Morgen, ja, gleich morgen. Oder noch heute!«

»Halt, halt. Dazu gehören erstens Locken, zweitens Lokalkenntnis, drittens gutes Wetter.« 68

Jim war niedergeschlagen.

»Also was kann man heute?«

»Hm. Sind Rehböcke da?«

»Ein paar. Da ein Gabler, dort drüben ein guter Sechser.«

»Den könnte man mit dem Angstgeschreiblatter vielleicht –«

»Blatten – jetzt?«

»Mit dem Angstgeschrei – immer.«

»Wa–a–as?«

Ich lachte.

»Hast du keinen solchen Blatter?«

Er hatte keinen. Aber in fünf Tagen hatte er einen pneumatischen von Buttolo. Und damit musizierte er, daß mein Trommelfell hysterisch wurde. Endlich riß der Gummiballon, und obwohl Hopkins, der Chauffeur, als bewanderter Pneumatikarzt, auch diesem Patienten seine Hilfe nicht versagte, der Regensburger blieb chronisch heiser. Inzwischen war aber auch die Zeit zur zweiten der angesetzten Riegeljagden herangekommen.

* * *

Am Vorabende gab es schier feierliche Lauf- und Munitionsrevisionen. Die verschiedensten Mauser- und Mannlicher-Systeme wurden mir zur Begutachtung vorgelegt; meine steinalte und ziemlich derbkalibrige Büchse aber verbarg ich verschämt in einer Ecke.

»Also morgen, Punkt 6 Abfahrt!« hieß es nach dem Diner. »Um 5 Uhr Breakfast.«

»Jim, du reitest wohl auf dem Pony,« meinte Tante so nebenbei, »damit von R. auf Kitty hinaufreiten kann.« 69

»Was, ihr geht auch mit?« Mein Erstaunen überstieg alle Begriffe.

»Natürlich,« lachte die Cousine schalkhaft, »glaubst du, wir wollen uns hier langweilen? Ich komme zu dir auf den Stand . . .«

»Ich auch,« meinte das Ebenbild meiner Jugendliebe, »ich möchte Sie schießen sehen . . .«

Ich verbrachte eine sehr schwere Nacht.

Die Frühstunde, die uns um ein besonders starkes Breakfast vereinte, sah meist sehr verschlafene Gesichter. Zur Ehre der Damen sei es gesagt –, die Herren sahen verschlafener aus. Wir hatten aber auch länger bei Scotch-Whisky und Zigarren geplaudert. Und ich besonders – o tragischer Konflikt!

Dann fuhren die Wagen vor.

Kaum ein zages Dämmern in den Lindenalleen. Dazu fröstelte es unbehaglich. Und das ganze weite Talbecken in griesgrämigen Nebeln. Ich knöpfte mich bänglich in meine Joppe.

Endlich waren wir vollzählig und wohlverpackt in dicken Schichten von Plaids und Shawls. Natürlich mußten wir mit Pferden und in ganz uninteressanten Wagen karren. Die Straßen waren zwar nicht übel, aber fürs Auto? . . .

»All aboard?« zeterte Onkel mit ungeheurem Stimmenaufwand. »Ich fahr' jetzt; adieu!«

Aber er fuhr doch nicht, der Gute. Die Damen waren nicht all right. Endlich . . .

Vorne im ersten Karriol Onkel, Tante, Oliver und Mr. Dunbar; im zweiten meine Ladies und ich. Der Tag fing gut an. Die Damen lachten über meine Gänsehaut, über meine alte Büchse. in deren Schaft ich zu müßiger Stunde allerhand geheimnisvolle Runen 70 geritzt, über meinen verwitterten und mit Ventilationsstollen gezierten Hut. Aber sie hatten auch ein Einsehen und behandelten mich pfleglich.

Hinterdrein ritt Jim auf dem Pony. Verwegen ausstaffiert war das kleine Männchen, das muß die Blasiertheit gestehen. Ein grüner Shawl flatterte um den Hals, den schmalen Leib umstarrte ein dräuender Patronengürtel, das blasse, zarte Gesichtchen leuchtete vor Lust und List. Im übrigen, alle Hochachtung! Jim ist ein sehr tüchtiger Kugelschütze, trotzdem er links anbacken muß – sein rechtes Auge ist fast blind. Wie der leibhaftige Terror of the Mountains sah er aus, der dürre Racker.

So also ging's hinaus.

Das Talbecken ragt wie ein Meerbusen in das Hochgebirge hinein. Da und dort verschlafene Dörflein, Nadelwälder auf welligen Vorbergen, unten der Fluß. Immer noch lastete zäher Nebel auf der Welt; nur Fichtenwipfel grüßten von den Kuppen drüber hinweg, und dahinter brannten die Felsmauern in goldigem Frührot. Der Himmel kühl, leicht, blaßblau – ein richtiger Jagdtag.

Die Straße schlängelte sich bergan. Unser Ziel ist das Dorf R.

Damals war die Ortschaft ein wichtiger Brennpunkt wirtschaftlicher Kultur. Ein großer Tunnel wurde durch das Gebirge gebrochen und zwei Bahnstraßen gebaut. Und unweit davon sollten wir Gams jagen?!

Links von der Straße stand eine unheimliche, verdächtige Hütte. »Pferdefleischrestauration« nannte sie eine große Tafel. Mein »Breakfast« begann wieder roglig zu werden. Die Damen wollten sich ausschütten 71 vor Lachen, aber dann bekam ich doch Scotch-Whisky zur Labung.

Im Dorfe wimmelte es von abenteuerlichen Gestalten. Italiener, Kroaten, Serben, Ungarn, Ruthenen. Lauter Arbeiter – scheußliche, zweideutige Bursche. Und Baracken! Links eine »mechanische Schießstätte«, dort eine Bierhalle, drüben ein Zehn-Kreuzer-Ansichtskartenphotograph. Strumpfwirkereien. Gulasch um 8 Kreuzer. Schlafstellen à 5 Kreuzer die Nacht. Und das verwilderte, zerhaderte Weiberpack, das da überall herumlungerte! Braune Züge, lodernde Augen, abgenützte Formen. Auf der Bahnstraße rollten emsig Loris hin und her; Gendarmen lauerten in jedem Winkel, in einem Wirtshausgarten johlte eine verkommene Bande in einer noch verkommeneren Sprache.

Meine Vorstellungskraft wucherte gleich mit diesen Eindrücken. Wir waren in einem kalifornischen Minennest und wollten Dickhornschafe jagen in den Rocky Mountains.

Vor der Försterei harrte das Weidgesind. Sieben, acht Treiber, alle mit Steigeisen ausgerüstet, verwilderte Kerle, finster, kühn. Dann der Oberförster, ein gemütlicher Geselle; aber schwarz wie Mephisto. Nikola, der sehnige, kraftstrotzende Hüne mit den dunkelbraunen, freundlichen Zügen und den sonnigen, blitzblauen Augen. Und dann Teusch und Kulnigg, die Unvergleichlichen, die kühnsten Bergjäger des Gaues! Teusch lang, ausgedörrt, adlernasig, schweigsam, mit stechendem Blick und wildem Bocksbart; Kulnigg groß, reckenhaft gebaut, mürrisch und trotzig. Das waren die Richtigen!

Forstmeister war'n auch da – Böhm unverfälschtes, feistes, falsches.

Bergstöcke wurden verteilt; einige alte 72 Stammjagdgäste wurden begrüßt – dann hob ein gutes Schwitzen an. Meine Cousine hatte es famos; sie ritt, wir pflückten ihr Zyklamen, wir boten ihrem kleinen, süßen Schnäbelchen Atzung, wenn es not tat . . . Ich hätte dem Schnäbelchen gerne noch anderes geboten . . .

Aber es war ja noch die Jugendliebe da. Und während das Bäschen bald vor, bald hinter uns ihr Pony tummelte, wurde ich ganz sachte und unbeobachtet zum Begleiter der schlanken, anmutigen Miß mit dem deutschen Namen. Sie hatte so versonnene Augen! Und die Waldwege erlaubten nur paarweises Gehen. Außerdem löste sich einmal ihr Schuhbandknoten – –

Dann blieben wir die letzten.

Teusch sah nicht nur aus wie Samiel – er war's auch. Plötzlich tauchte seine hagere Gestalt neben uns auf. Mit wem die Damen heute auf den Stand gingen? Die kleine Miß wolle mit dem Herrn da gehen . . . Sein Daumen wies unzweideutig auf mich.

»Ich auch – nicht wahr? Ja, ich auch mit dieses Herr gehen . . .«

Teusch warf mir einen Blick voll Mitleid zu – er schien mir etwas zu gönnen – dann spuckte er aus, sog an seiner Pfeife und meinte: »Alsdann kommen Sie auf den intersten Stand!«

Sprach's und verschwand.

Nachdem noch einiges Geröll und einige kleine Kniebeißer überwunden waren, schlug die Trennungsstunde. Der Trieb, ein schroffer, kahler Kogel, lag vor uns – die »rauhe Lahn«.

Einen der erbgesessenen Stammgäste und unser Kleeblatt sollte Teusch anstellen – die übrigen besorgten der Oberförster und Kulnigg.

Auf einem Geröllfeld – einer sogenannten Schütt – 73 das zum Teile von tückischem Knieholz überwuchert war, wurden wir – zurückgelassen. Denn Teusch sagte: »Da is halt der Stand. Oben is freili' besser. Mehr Ausschuß. Aba wissen ka' ma' nix. Alsdann gua'n Anblick . . .«

Wir richteten es uns häuslich ein in den Felsen. Mein Rucksack diente der einen, mein Wettermantel der anderen Lady als Kissen. Patronen und Knicker lagen handlich neben mir. Ein Kügerl, das ich vorher mit stillem Spruch gesegnet, stak schon im Lauf.

Und nun ging's an ein fröhlich Gabeln. Famose Konserven – Gänseleberpastete, kaltes Huhn, hartgesottene Eier, eine gute Pulle Rotspohn.

Inzwischen hatte der Himmel seine Stirn bedenklich gerunzelt. Über die Grate kam's schwarz daher und ein kalter Wind ächzte in den Schründen. Es begann uns zu frieren. Die Wolkenfetzen flatterten immer niedriger, das Blau schrumpfte ängstlich zusammen.

Der Hebschuß! Sein Echo kam majestätisch um eine Felsnase gerollt . . .

Die Peripetie des Dramas zog herauf.

Es wurde denn auch immer düsterer um uns her. Schwere Tropfen klatschten auf die derben Felsbrocken.

Mein Bäschen hatte sich in den ausgelaugten, alten Wettermantel gehüllt und war ganz klein geworden. Nur der kecke Gamsbart wackelte noch hervor aus ihrem Schlupf.

Kein Wild, kein Wild – lange, lange. So schien's mir wenigstens. Hinter einer jähen Kante hervor ein dünner Knall, noch einer . . . und wieder kirchenstill. Nur der Sturm pfiff um die starren Wände.

Da oben, wenn er käme, in der Lücke . . .! Das sieht nach Wechsel aus. Dreihundert Gänge ober mir steht 74 der Stammgast. Wenn ich mich aufrichte, sehe ich ihn unter einem Latschenbusche kauern.

Steingeriesel von der Mauer hinter uns. Jetzt – die Hand will den Kolbenhals zermalmen. Nur die Treiber, Teusch mitten drunter – ich erkenne ihn mit dem Glase. Wie ein Schatten gleitet er auf unmöglichen Bandeln weiter. Und auch die anderen kleben gleich Salanganenjägern an den Klippen. Klein, ganz klein sind sie. Gerade unter der Wand liegt das bleiche Gerippe eines abgestürzten Stück Rindviehes. Hol's der Teufel!

Die Base schläft. Der Regen schnürlt sanft, aber kalt herunter. Es wird ungemütlich – physisch heißt das.

Noch eine Unendlichkeit – für den Gamsjäger nämlich. Abgesehen davon, hätte ich noch tagelang pflocken können da oben. Die Natur war ja von großartiger, trotziger Schönheit in diesem einsamen Winkel. Und wenn jemand mitgenießt, und dieser jemand – –

Steineln in nächster Nachbarschaft . . .

Mein Blick fällt auf die Lücke in den Latschen.

Gerade hinaufreißen kann ich noch die Büchs. Dann ein hämischer Pfiff und weg ist er. Zum Zusammenschauen hat es nimmer gelangt.

Dafür knallt's beim Stammgast – hell und siegesbewußt. Ein dunkles Ding poltert über die Schütt herab und bleibt hinter einem Felsblocke liegen.

Unter mir fahren zwei Geißen aus den Latschen.

»Schießen Sie!«

»Es sind Ladies . . .«

»Wie galant . . .«

Das Bäschen ist erwacht und reibt sich verdrossen die Augen. Der schöne Gamsbart hängt auch schon schlapp und naß auseinander.

»Was ist denn?« 75

»Einen starken Bock hab' ich verpaßt.«

»Warum?«

Ich wurde rot. »Die Lücke ist zu schmal. Ich hab' ihn auch nicht gleich ansprechen können . . .«

»Teusch muß dich nächstens extra gut anstellen. Ich werde es ihm befehlen!«

»Dann kannst du nicht mit, Kitty dear.«

»Ach! Wir werden sehen!« Ihre Augen blitzten. Inzwischen hatte oben in einer steilen Leit'n ein lebhaftes Geknatter begonnen. Zehn, zwölf Schüsse. Dann eine lange, müde Pause.

Teusch kam.

»Nix?«

»Nix.«

»Was g'seg'n?«

»Was g'seg'n.«

»Bock?«

»Bock.«

»Starken?«

»Starken.«

»Na – und?«

»Da unten liegt er . . .«

»Ah – Weidmannsheil! Na – ich hab's ja g'sagt; wissen ka' ma' nix.«

»Aber der Herr da oben hat ihn g'schossen.«

»Der?« Teuschs verwittertes Gesicht finsterte sich. »Dem gibt's der Herrgott a' im Schlaf.«

»Teus,« erklärte da meine Base mit blitzenden Augen, »Teus, nächstemal Sie geben zu meinem Cousin das besten Stand . . .«

»Woll, woll . . .« Teusch lächelte verschmitzt. »Mir wer'n schon no' an' kriegen, i und der Herr.«

Ja, ja – wissen kann man nix! 76

»Und jatzt geng'n mer. Mir san ferti' mit dem Trieb. Geb'ns acht, Misserl, de Schütt'n is gach. Vorigs Monat hat si' wieder a Kalbin da derschlag'n. Lieg'n muß was. Ham's mi' g'seg'n dro'm?« Er schaute stolz drein und schier angestrengt ob des langen Redeflusses.

»Freilich, Teusch – –«

Am Rendezvousplatze lagen sieben Stück. Der Bock, den ein Treiber herabschleifte, war das achte. Fünf Böcke und drei Geißen, alle gelt. Den stärksten Bock, einen reichlich sechsjährigen Burschen, hatte der Jagdherr gestreckt. Jim hatte drei Stück geschossen, Oliver nichts, Mr. Dunbar nichts; der Rest fiel auf den Forstmeister und andere Gäste.

Der Jagdherr war bester Stimmung. Er pflanzte einen Riesenbruch aufs Hütl und marschierte stolz an unserer Spitze talab. Klein Kitty ritt jetzt nicht, sie lief neben uns her, und das Pony führte ein Treiber, der einzige, von dessen Rücken keine Gamskrucke baumelte. Ein Frühherbstgams ist nichts Schönes, wenn er einmal gestreckt ist; die fuchsige Decke harmoniert nicht recht mit den smaragdgrünen Lichtern unter den Krucken. Da ist mir ein knallroter Bock mit ordentlichem Sechseraufputz lieber.

Es regnete immer trostloser, die Wege waren heimtückisch glitschig geworden, und als wir unser Minennest wieder erreichten, kroch schon ein müdes Dämmern durch den Talgrund. Trotzdem wurde die Strecke noch gehörig begossen – nicht nur vom trübseligen Wolkennaß.

In gleicher Fahrordnung rollten wir heim. Von einer Anhöhe sahen wir schon frohbewegt das Herrenhaus und die alten, ernsten Linden, deren goldbelaubtes Geäst sich schlaftrunken dem Regen hingab. Und rings um das Schloß »weite Wiesen im Dämmergrau . . .« 77

Das Diner hielt uns schadlos und – wir blieben wieder munter bis zum ersten Hahnenschrei. Die Sitzung muß demnach angeregt gewesen sein. Breakfast nächsten Tages = Lunch.

* * *

Inzwischen hatte ich die Haselhuhnpfeiferln bekommen; an kühlen, klaren, windstillen Tagen mangelte es nicht.

Aber diese Tage glitten mir nur allzu rasch vorbei, und als ich eines Tages James unter einem gewaltigen Koffer keuchend auf der Treppe antraf, stieg ein weher Verdacht in mir auf.

»What the deuce is the matter, James?«

»Miss A. leaves after to morrow, Sir.«

Da hatten wir's!

Die Tage waren wie ein buntes Ballett vorübergeflattert. Kleine Automobilpartien, kleine Jagderln, kleine Musikabende . . . von allem ein wenig, genug zum Kosten, zu wenig zur Übersättigung. Leichte, freie, würzige Tage. Des Morgens wandelte ich lesend in den würdigen, feudalen Lindenalleen auf und nieder, und wenn ich einmal auf einer der zerfallenen Bänke saß, kam ich mir schrecklich klein und unstilgerecht vor zwischen diesem alten Prunk. Das Laub fiel immer dichter, wenn die schweren Herbststürme in den Kronen wühlten – das war allerdings sehr stilgerecht. Denn auch das Herrenhaus hatte etwas Herbstliches, mühsam Aufgeschminktes. Verblichener Schimmer, ungeheure venetianische Spiegel, halberblindet und staubig. Angebröckelter Stuck reichster Arbeit. Bemooste Steinfliesen. Aber das alles ging mich nichts an, und darum genoß ich's ungeheuer: kein schöneres Bild als die weitläufige 78 Front mit den grünen Jalousien und der verwitterten Treppe und dem toten Springbrunnen im Ziergarten. Und nichts stimmungsvoller als die klare Herbstmorgensonne in den Lindenalleen.

Ja, da hatten wir's. Also übermorgen.

Morgen sollte es eine Jagd geben – eine Brackierjagd auf alles, was kommt: Hase, Fuchs, Bock. Der landläufige Geschmack dieser Jagden hatte mich nie zu erobern vermocht – und morgen blieb ich gewiß daheim. Außerdem sollte ich übermorgen in aller Herrgottsfrühe hinaus, hinauf – Gams birschen. Mit Teusch vermutlich. Da mußte ich mich morgen unbedingt schonen.

Meine Entschuldigung fand Gnade und Verständnis.

»Außerdem kannst du ja Miß A. ein bißchen Gesellschaft leisten,« meinte die harmlose Tante, die natürlich morgen auch mitjagen wollte.

»Ich bleibe auch zu Hause,« erklärte die liebe, kleine Base.

»Nein, du gehst mit,« entschied Onkel, »sonst habe ich kein Weidmannsheil.«

Es gab Tränen und Bitten. Umsonst.

»So hilf mir doch, du garstiger Mensch,« fuhr sie mich in hellem Zorn an.

Das war »über unsere Kraft«. Ich verschwand in einem günstigen Augenblick, denn Bäschen lieb tat mir sehr leid. Und ich konnte für das gute Kind nichts tun. Aber ich werde sie schon irgendwie besänftigen– sie steht ja noch im Praliné-Alter.

Nächsten Tages trafen wir uns erst beim Lunch. Morgens hatte ich gelesen und geschrieben; dann ein bißchen Klavier gemartert.

Wir waren schweigsam und die Speisen gut. 79

»Haben Sie heute etwas Besonderes vor, Miß A.?« Ich war ganz heiser.

»Warum –?«

»Sie wollten mich einmal schießen sehen. Versuchen wir es heute einmal mit Haselhühnern. Es ist der letzte Tag,« drängte ich.

»All right.« Sie sagte zu mit der Selbstverständlichkeit aller britisch- und amerikanisch-rassigen Damen, die Harmlosigkeiten auch harmlos finden. Entzückend!

Löffel aus dem Mund und wir gingen. Ans Haselhühnerlocken dachte ich nicht mehr.

Wir verloren uns in einen großen Fichtenwald, in dessen Dunkel heimliche Anger träumen. Dort setzten wir uns am Rand des Holzes ins Moos, und wovon wir plauderten, weiß ich nicht mehr. Sie erzählte mir von ihrer Heimat, glaube ich, von den Grousejagden in den Hochmooren Schottlands und lustigen Fuchshetzen und den friedlichen Wiesen Irlands. Hinter uns im Bestand pfiffen die Haselhähne, daß es eine Art hatte. Mochten sie!

Die blauen Abendschatten schlichen tiefer und tiefer in den Anger hinein, und auch das Gebirge drüben drapierte sich mit dunklem Faltenwurf.

»Sie sprechen, daß man es gleich drucken könnte,« meinte sie, als ich ihr einige kleine Auseinandersetzungen über die Qualität der Abschiedssinnesempfindungen gehalten hatte; »warum schreiben Sie nicht?«

»Vielleicht schreibe ich einmal. Und dann auch von Ihnen – if you allow it.«

»Of course - but will you let me read it?«

»I don't think so. They'll be too many confessions in my tale . .«

Sie lachte. »Aber ich habe Sie noch immer nicht 80 schießen gesehen. Schießen Sie auf jene schlanke Fichte dort – ob Sie sie treffen!« Ich hatte die Büchsflinte mit.

Es waren etwa 120 Gänge – und das Bäumchen kaum oberarmstark. Aber sie befahl's – ich nahm mich zusammen und das grausame, heiße Blei fuhr mitten durch das arme Stämmchen, daß die weißen Späne splitterten.

»Ach, yes – Sie zielen sehr gut,« sagte sie leise, als ich ihr den Treffer zeigte; »ist der Baum jetzt krank?«

»Todkrank . . .«

»Ach, yes – das kommt oft vom guten Treffen.« Dann lachte sie. »Aber jetzt, wir müssen gehen.«

Sie sprach mit einem Male deutsch.

Wir kamen auf eine kleine Blöße, die hoch über dem Talbecken liegt. Der Sonnenuntergang zerfloß eben auf fernen Bergeshöhen in seligem Glast und die Kronen der Rotföhren rings schienen zu lohen. Sie trat bis an die Kante des Abhanges heran: eine lichtumglühte Silhouette.

»Es ist sehr schön . . .« Und sie starrte in den feurigen Westen, wo der blitzende Fluß in eine Flammensee zu münden schien. Dann wandte sie sich rasch zu mir. Auf ihrem Profil brannte das fast metallene Rot der letzten Strahlen.

»Wie die Deutschen sagen – Ueidmannseil.« Sie reichte mir beide Hände;»und good bye . . .«

»Aber wohin wollen Sie – ich gehe doch mit . . .«

»Nein. Ich gehe allein voraus. Good bye – und Ueidmannseil.« Sie zog ihre Hände aus meinen Fingern und verschwand in den Schatten des Forstes, lautlos, traumhaft.

Das Glühen in den Kieferkronen war verloschen und 81 das natürliche Rot der Borke schien kalt, tot, seelenlos. Ein frostiger Abend stieg aus dem Tal herauf. Nur die eigensinnigen Schroffen des Hochgebirges standen noch in feurigem Schein, verklärt, versonnen. Und der Falk da droben, der freie fahrende Geselle, der scheint sich auch noch hinaufspiralen zu wollen in Sphären, für die es keinen Sonnenuntergang gibt?

Ich schieße ihn herab. Aus purem Neid.

* * *

Teusch empfing mich mit fast mitleidigem Lächeln, als ich andern Tags vor der Oberförsterei eintraf. Sehr zeitig war's – ich hatte wenig geschlafen und den Start mehr als pünktlich eingehalten. Oben in einem der Fenster brannte schon Licht. Der Zug ging früh um 6 Uhr. Ein Schatten bewegte sich da auch hin und her und als meine Genagelten auf der Steintreppe klapperten, erschien eine lichte Gestalt im Fensterrahmen.

»Ueidmannseil . . .«

Teusch musterte mich also sehr mitleidig.

»Heut schaun S' aba schlecht aus.«

Mir war alles gleich. Ich nahm rasch den Bergstock und stumm ging's in die Schlucht hinein, die hinter der Försterei klaffte. Die Sonne war noch nicht aufgegangen und ein bitterkalter Luftzug wehte uns entgegen.

Teusch war redselig heute. Da droben auf dem hohen Felskogel grad ober dem Tunneleingang stünden auch Gams. Sie äugten sogar mitunter sehr neugierig auf die Arbeiter herunter. Und dort habe er auch einmal einen Gams mit einem starken Rehbock kämpfen gesehen, wobei der Gams den kürzeren ziehen mußte. – Ich war mehr zum Schweigen aufgelegt. Der Teufel hol' Teusch 82 und den Träger. Am liebsten wär' ich ganz allein gewesen im freien, wilden Gamsrevier.

An einem Wildbach ging es schluchtaufwärts. Wir mußten das tosende Wasser oft überspringen, was nicht immer leicht war. Der Morgentau hatte die Felsplatten, auf welchen man Fuß fassen sollte, schlüpfrig gemacht. Ich konnte auch gar nicht recht sachte birschen heute. Am liebsten wär' ich umgekehrt. Ich hatte nur Sehnsucht nach einem tiefen Schlaf und Nestor-Gianaclis-Zigaretten, deren Opiumgehalt den Berufsraucher in so liebliche Erdenfernen hebt. Die Kurze tat's nicht. Fürchterliches Unbehagen.

Teusch drehte sich nach mir um. »Ham S' g'laden?«

»Nein.«

»So laden S'. Da drunten in oan von die klan' Mäuerln sieht immer a kapitaler Bock. Und den Bergstock kehren S' um, daß er net das Geklimper hört.«

Ach so, darauf hatte ich ganz vergessen.

Noch ein Weilchen aufwärts im Wildbachbett. Ich gab mein Bestes her, das heißt, das Beste, was ich heute aufbringen konnte.

Plötzlich krampften sich Teuschs magere Hände um meinen Arm. »Seg'n S' eahm?«

»Wo, um Gottes willen?«

»No, do, im Mäuerl – da, bei der Lärch'n«

Ich sah Mäuerl und Lärch'n, aber keinen Bock.

»Au, hiazt is g'fai't. Hiazt geht er . . .«

Ich hörte Steineln und sah einen großen, braunen Schatten hinter einem Felstürmerl verschwinden.

»Aus is mit dem.«

»Umschlagen?«

»Das können S' mit Ihnere Rehböck'. Mit an Gams net. Und mit dem Alten schon gar net.« 83

»Also, was jetzt?«

»Weiter genga mer. Mir wer'n scho' no' Gams seg'n. Aba freili, wann Se's net seg'n können auf hundert Schritt . . .«

Rehe sehe ich famos, auch Hochwild. Aber den braunen Gams in den braunen Preiselbeeren –. Muß übrigens ein sehr starker Laubbock sein.

Das Balancieren über den Tobel wurde immer beschwerlicher, zumal man doch dabei »birschen« sollte. Ich wußte nicht, wohin es ging. Ganz nahe vor uns zog sich eine blendend weiße Schütt in die roten Wände hinauf. Da droben sah's verzweifelt öd und kahl aus. Kein einziger Latschenbusch mehr, nur Stein und Gemäuer. Und heiß wurde es auch allmählich. Farbenfroh sah das Bild wohl aus: die helle Schütt, die rotgrauen Wände, der schartige Grat, der in den stahlblauen Himmel hinauftrotzt – lauter warme Töne. Da lernt man aber das Grün entbehren, das man oft langweilig findet.

»Dort droben riegl'n mir auf die Wochen. Da steht damisch viel Gamswild. Aba net viel G'scheit's.«

»Und jetzt?«

»Jetzt gehn mir da 'nauf.«

Er bog nach rechts ab in eine schmale, finstere Schlucht.

»Seg'n S'es, da droben, aufm Kogerl? Drei, vier, fünf Stück'. Glei' dort bei die Latschenbüsch'. Mit'm Spektivi müssen S'es derschaun.«

Richtig, dort ästen sie ganz behaglich in der Morgensonne. Ob ein Bock darunter war, ließ sich noch nicht feststellen – sieben – achthundert Schritte!

Auf einem ganz guten Birschsteige machten wir uns heran. Aus dem Walde wieder hinaus auf die 84 Preiselbeeren – ein ganz schmales Band, unter uns der Bach. Das Kogerl lag jetzt grad gegenüber, aber die Gams waren weg. Weg? Dort, ein fahler Klumpen, der sich nur schlecht abzeichnet vom Hintergrund. Und weiter rechts noch einer.

»Dort stehen zwei, Teusch.«

»Der links is a Bock.«

»Gewiß? Und ein guter – für hier?«

»Ja – garantieren kann i's net.«

Zweihundert Schritte waren es noch hinüber – es wäre gerade mit Not gegangen. Aber Teusch »garantierte net«. Und endlich verschwanden die Gams.

»Ja, warum ham S' denn jetzt net g'schoss'n?«

»Weil ich keine Geiß mag. Und einen schwachen Bock auch nicht.«

»Aber es war g'wiß a Bock. Und a guter dazu. Fünfjährig –«

»Das hätten S' mir früher sagen sollen.«

Ich vertrug mich gar nicht mit dem alten, dürren Kauz. Das Ansprechen war hier verdammt schwer – das Gamswild stand ja mehr im Walde. Und für diese Gams hatte ich auch gar keinen Maßstab. Die Vettern folgten blind – auch wenn der Jäger nicht garantierte – und schossen manche Geiß. Das wollte ich mir und dem Jagdherrn ersparen.

Wieder nach links hinauf.

»Wir wer'n uns jetzt ein Loch druck'n lassen. Der Blasi macht das sehr gut.« Blasi war der Träger, ein berühmter Gamstreiber.

Das Loch lag bald vor uns. Aber himmelhoch hinauf mußten wir noch. Ein schmaler, verdächtiger Pfad, unterwaschen und hängend, die Erde von peinlicher Lockerheit – dann begann eine arge Turnerei. 85

Das Loch war ein großer Kessel, aus dessen Mitte ein mit Lärchen und Latschen bestandenes Köpferl ragte. Ein famoser Stand – alle Wände des Kessels konnte man von da aus beschießen. Aber hinauf?! Ich biß die Zähne aufeinander, hängte die Büchse über Schulter und Hals und tauchte an.

In den Preiselbeeren ging's noch an und über ein paar Bauchaufschwünge kam ich gut hinweg. Aber dann – das elende Latschenzeug, für das ich den nacktesten Fels gern hinnehme! Es war eine höllische Kriecherei. Dazu legte sich die Sonne schon gehörig in den Kessel und die Wände strahlten Gluten aus. Gott sei Dank – auch Teusch fluchte lästerlich über das Knieholz. Wie in zerlassenes Schmalz getunkt kam ich oben an und dem Alten tropfte es auch über die Adlernase.

»So, zu der Lärchen druck'n wir uns zuwi . . .«

Der Stand war ein Meisterwerk Gottes – wie die Kaiserloge in einem Theater. Unter uns und bis auf unsere Höhe Latschenzeug, mit Lärchen und zerrupften Fichten untermischt, hie und da von einem kleinen Felsenerker unterbrochen; drüber jäh sich aufsteilendes Gewände, von Schründen zerkerbt, in deren Grund sich schmale Schütten hinaufziehen. Ganz oben die zackige Kante, von mageren Lärchen gekrönt.

»Da sonnen sich die Gams gern,« meinte Teusch und suchte mit meinem Glas die kleinen Mäuerln unter uns ab; »aber heut is nix zum seg'n. Der Blasi wird's schon roglig machen.«

Wir warteten lang, ich an die Lärche gelehnt auf einem Steinbrocken thronend, die Büchs knieüber. Teusch handweit unter mir. Solche Stille hatte ich noch nie belauscht. Ein bißchen Sturzbachgeplauder tief, tief unten, das war alles. Kein Spechtgekicher, kein 86 Immengesumse da droben, keiner von all den lieben, alten Naturlauten, die meine heimische Mittagsruhe beleben. Großartige Erstarrtheit . . .

Das hypnotisiert starke Nerven. Die Schütten blenden, daß ich die Augen zukneifen muß. Und dabei bleibt's. So nimmt man auch die große Stille, den tiefen Frieden der Versteinerung besser auf in sein Herz. Aber lebendiges, buntes Zeug will mir die Eindrücke verkümmern – allerhand toller Spuk geistert mir im Gehirn, so recht drunter und drüber, ohne Beziehung zur Gegenwart. Ich schlief, und die Weißglut der sonst doch so milden Herbstsonne brütete in meinem armen Denkfach, das eben nicht zur wunschlosen Ruhe kommen durfte, allerhand ungereimten Schwank aus.

Teusch packte plötzlich mein nacktes Knie.

»Was ist denn los?« Ich glaube, ich rief es so laut in meiner Schlaftrunkenheit, daß der ganze Kessel widerhallte.

»Stad, stad . . . seg'n Se's?«

Merkwürdigerweise sah ich was. Vier Stück, die ganz gemächlich durch die Latschen hinaufkletterten.

»Das letzt' is a Bock; a guter a' no.«

Auch das sah ich. Aber mein Kopf war noch ganz dumm. Ich wußte gar nicht was tun.

»Lassen S' es nur bis in die Wänd' hinauf.«

Jetzt wich mein somnambuler Zustand allmählich. Mit dem Glase erkannte ich deutlich die braven, stämmigen Krucken des Bockes. Jetzt ging's langsam über die Schütt, mit offenem Äser, wie die Gams es immer tun, wenn sie bei Hitze flüchten müssen. Und das war eigentlich keine Flucht.

Da, was war das da drüben? 87

Ein kapitales Stück stand weit abseits von den andern auf einem schmalen Felsenerker. Das oder keines!

Der Schuß brach; die Gams stoben über das Geröll und krochen eilig ins Gewänd hinauf. Ja, wie ein Kriechen sah's aus von hier. Höher, immer höher – jetzt weg.

»G'fahlt, g'fahlt – net amal aufspritzen hab' i' die Kugel g'seg'n auf die Staner . . . Und kaum hundert dreiß'g Schritt . . .«

Teusch kratzte sich verzweifelt das dünne, glanzlose Haupthaar. »Und das war a guter Bock.«

»Ja der war gut. Aber der andere ist besser.«

»Der von int'n?«

»Nein, der drüben. Dort auf dem Bandl in der Mauer.«

»Ja, wo . . .«

»Drüben. Gehn wir ihn anschauen.«

Teusch glaubte wohl, ich sei ein bißchen übergeschnappt in der Hitz'. Aber ich kletterte so fidel, als es heute überhaupt möglich war, voraus, und er mußte nach. Einigemal war ich von der Unabwendbarkeit eines augenblicklichen Herabkollerns überzeugt und gedachte eilig und pflichtgemäß aller, so mir gut zu essen, trinken und rauchen gegeben, sowie aller erdenklichen Taillen, Lippen und Strumpfbänder, endlich stand ich aber doch heil unter unserem Kogel. Die Beine schlotterten mir zwar wie Trommelschlegel durcheinander; aber sie waren unzerknickt.

Jetzt aber dort hinauf.

»Wie kommt man zu dem Bandl, Teusch?«

»Zu dem Bandl . . .? Ja, was ist denn dort?«

»Dort liegt er«

»Gehen S'.« 88

»Also – kommen Sie.«

»Na. Da kommen Sie nia hin. I' wir's probieren. Aba . . .^

Er vervollständigte den Satz durch ein unzweideutiges Kopfbeuteln. Dann verschwand er bedächtig in einer der schmalen Klüfte.

Ich beschäftigte mich inzwischen mit heldenhafter Bezwingung meiner Ungeduld und verzweifeltem Augenausrenken. Das Hinaufstarren ins blendende Gefels machte mich auch nachgerade seekrank, und eben stand ich im Begriffe, die Brandung meiner Gefühle durch ein Tröpflein Geistiges zu beschwichtigen, als Teusch sichtbar wurde. Er kam um eine Felsnase geklettert und schien mit harter Arbeit zu ringen. Wenn Teusch einmal in Verlegenheit sitzt, dann –

Ich folgte ihm mit dem Glase – dem Fernglase natürlich –, trotzdem der Bazillus der Genickstarre bereits fröhlich an meinen Halswirbeln fraß.

Plötzlich flog Teuschs schäbiges Hütl in die Luft.

»Da liegt er,« hallte es schwach herab und der Bergstock deutete auf eine Stelle im Gewänd, die schräg unter ihm lag.

Und er klomm weiter, langsam, langsam wie eine Ameise.

Endlich war er nahe beim Bocke.

»A kapitaler.« Die Stimme verlor sich fast in den Felsen.

Aber da . . . ein starker Gams flüchtet ab, weg von uns, bergab in die Latschen.

»Schiaß'n, schiaß'n,« brüllt oben jemand verzweifelt.

Ein Hasardschuß auf reichlich 200 Schritt . . . Die Kugel zerspritzte an einem Steinbrocken; der Gams ging 89 unaufhaltsam talab. Jetzt verschwindet er zwischen Lärchen und Krummholz . . .

Abschneiden – aber wo? Ich stolpere verzweifelt im Bachbett hin und her, ich komme nicht weiter. Alles verloren. Himmelkreuz . . .

Hinauf ins Holz, gleichgültig wie. Ja, hinauf! . . . Hat sich was. Ich trete auf einen Knieholzstamm und rolle wieder in den Bach. Alle Angriffe vergebens. Der Atem ist zu Ende, das Herz dröhnt hinter den Rippen. Teusch kommt.

»Vaflucht– so a Bock . . .«

»Ja – hat er denn den ersten Schuß nicht gehabt?«

»Freili' – er is auf dem Platzl g'legen als wiar a Klotz. Aba wiar i auf zwanzig Schritt komm', is er auf d' Läuf' und weg.«

»Kein Schweiß auf dem Anschuß?«

»Woll – und da – Schnitthaar. A Hohlschuß muß 's sein.«

»Kriegen wir ihn noch?«

»In die Latschen wenn er hinein is, nachher is aus. Der is valur'n.«

Er blieb verloren, mein Kapitaler. Wozu mehr reden von diesen Wehstunden? Blasi kam, hörte und staunte. Dann spuckte er in großem Bogen aus – galt das mir?

In einem Fichtenwalde auf nassem Moos hielten wir traurige Tafel. Eine Trüffelpastete, einen Korb Pommery für diesen Gamsbock! Ich aß ganz verständnislos, wenn ich auch hungrig war. Abgeschmalzene Hufnägel oder ein poulet à la diable – das war mir jetzt schon gleich.

Teusch, der zähe, trieb bald zum Aufbruch. »Mir kommen noch zum Schuß heut.«

An der Kante einer wilden Schlucht ging's schier 90 endlos aufwärts; der Steig war gut, überhaupt die ganze Gamsbirsch, das bißchen Kraxlerei im Krummholz abgerechnet; eine Lustbarkeit gegen meine heimatlichen Rehschindereien. Die lockere Erde dort in den jähen Hängen, die elenden Wege durch Feld und Holz, die Steilheit der Hügel und diese unzählbaren Runzeln und Buckeln – das ist etwas ganz anderes. Zudem urwilde Vegetation, verwildert obendrein. Hier war alles großzügiger und gutmütiger.

Nach drei Stunden waren wir oben, im Sattel zwischen zwei felsigen Kogeln. Die Aussicht lohnte manche Qual. Gerade vor uns klaffte ein tiefes Waldtal, das unten in das breite Becken mündet. Auf einer Halt weit drunten im Forst vergnügte sich eine Schafherde; wie weiße Schwammerln sahen die Lämmer aus auf ihrem stillgrünen Hintergrunde. Dort war die Nachmittagsschattenseite, und der frühe Herbstabend düsterte schon in den tieferen Halden, während die Ebene draußen in mildem Lichte träumte. Die Hitze des Vormittags schien heute noch gerächt werden zu sollen. Der kühne, freie Felsturm drüben, wo angeblich die stärksten Böcke hausten, stand grell gegen eine dunkle Wolkenwand. Jetzt verschlang das aufziehende Wetter auch die Sonne und in den Fichtenwipfeln begann ein drohend Gebrause.

Weiter! weiter!

Plötzlich bogen wir vom Steige, der uns bis dahin durch einen sturmzerzausten Wald geführt hatte, ab und standen draußen auf einer kahlen Wand, fünf Kirchturme hoch über den Fichtenforsten der Vorberge. Der Fernblick war ungeheuer: dort ein Gewirr von Gipfeln und Graten, drüben sanftes Mittelgebirge, unter uns das Talbecken. Die Schatten des nahenden Wetters 91 flogen über das Land, und hinter uns murrte es. Noch zwei Stunden war's bis R. zurück, und inzwischen sollten wir womöglich noch einen Gams schießen . . .

»Auf einer Schütt steht er hoch oben,« erklärte Teusch; »wir müssen unterhalb drüber.«

Wir hingen zwar peinlich hoch über dem wirtlicheren Unterlande; aber es ging immerhin ganz gut. Einige Kreuze schlug ich für alle Fälle und vermachte meine Memoiren sowie meine Studien über Lamettrie – den einzig praktischen Philosophen; denn er starb an einer Rebhuhnpastete – der »Hugoschen Jagdzeitung«. Dann balancierte ich frisch von Klippe zu Klippe. Nach halbstündiger Turnerei kamen wir an die kritische Schütt. Da hörte das bescheidene Banderl, auf dem wir bisher gebirscht hatten, auf und überließ uns unserem Gottvertrauen und unserem Sehnen. Gleich unter der Schütt ging's grausig tief und plötzlich hinunter. Also Ausgleiten gleichbedeutend mit Marterl.

Teusch sprang in das feinkörnige Geröll hinein, fuhr ein bißchen gegen den fatalen Knick hinab und erreichte endlich heil das jenseitige Ufer. Von dort aus gab er mir zu verstehen, daß gerade ober uns der Bock in der Schütt stehe. Ich trat tollkühn meine Todesfahrt an, und gerade, als ich, trotz Bergstock und Schrankennägeln, mit dem Geröll hinabrutschte, flogen mir Steine um den Kopf – ein zischender Pfiff – ein Schatten – und mit Aufbietung aller Kraft zog ich mich am Felsbord drüben aus der bänglichen Situation. Dazu grollte es schon sehr erzürnt hinter dem nächsten Kogel, und ein weißer Blitz pfeilte herab.

Jetzt aber hinab. Der Bock war ohnehin auch zum Teufel. In solcher Situation schießen?

Als wir die Grenze der geschlossenen Wälder erreicht 92 hatten, begann es zu regnen. Gott selbst spielte oben mit fürchterlichen Kegelkugeln und zündete seine Pfeife alle paar Augenblicke frisch an. In R. war ich schon bis in die Nieren hinein naß, und daheim hatte ich bereits einen im Vollgenusse seiner Üppigkeit schwelgenden Schnupfen. Das Diner schmeckte mir trotzdem ausnehmend, und nie fühlte ich mich in Smoking und Lackschuhen gemütlicher. Onkelchen hatte nicht nur einen frischen Posten Upman, sondern auch einen neuen Sekt angebrochen. Irroy. Na. Pommery ist besser.

Gott segne die Champagne und ihre Kalkfelsen! Unter gewissen Gesichtswinkeln sind sie mir lieber als jene weißen Wände, auf denen gewisse Gamsböcke nicht liegen bleiben wollen . . .

Diesmal saß ich neben dem Bäschen. Der Regen schien meine ganze Vergangenheit von mir hinweggespült zu haben. Ich kam mir heute so rein und unverdorben vor und beschloß, auf Grund dessen ein neues Leben zu beginnen. Mit Kitty dear wollte ich anfangen. Sie mit ihren fünfzehn Jahren war meiner Fleckenlosigkeit noch würdig. Auch hatte ich sie seit einer gewissen Gemstreibjagd sträflich vernachlässigt. Und schließlich war ich ihr noch Beschwichtigungspralinés schuldig.

Aber sie war spröde heute abend. Ich nicht.

Als wir im Salon waren, sagte sie mir plötzlich: »Du bist heute sehr komisch.«

»Why, my child?«

»Weil du mich immer so anschaust.«

»Das finde ich gar nicht komisch.«

»Du – du bist heute entweder betrunken oder – –«

»Oder –«

»Aber nicht bös sein –«

»Darling – ich bös?« 93

»– du willst einen – nein, ich sag's nicht.«

Aber ich nahm mir's. Später – als wir nach dem Wetter sahen von der Terrasse aus.

Von da ab blieb dieser zweite Fall der integrierendste Bestandteil einer sich ad hoc rasch entwickelnden Geheimsprache . . .

Ja, ja . . . Heute Hirsch, morgen Sau – heut' mein Mädel, morgen die Frau (eines anderen)! . . . Nur der Wechsel ist ewig. Und das hat seinen Grund: man muß doch die Schrammen verbinden, solange sie bluten und brennen.

* * *

Der nächste Morgen brachte ein Wetter – blau und kühl wie die Augen sehr heißblütiger Frauen. Die Bäder unten im See hatten bereits an Reiz, das heißt an Temperaturmöglichkeit verloren; der Boote und Saisongäste wurden immer weniger; besonders die Nichtarier waren nur mehr in angenehmer Minderzahl vertreten. Da nun der allvormittägliche Wassersport entfiel, rutschten wir insgesamt per Auto zum Gabelfrühstück in die Provinzhauptstadt. 40 Kilometer, drei Viertelstunden. Kleinigkeit. Straße herrlich. Rechts der blitzende See, drüben die grünen Fichten, dahinter die Berge, alles in so frischen Farben, wie in der Mattscheibe einer Kamera. Strecke: ein Hund, eine Gans. Scheu geworden: ein Mehlwagen und zwei Jüdinnen. Die Meilensteine sausten so rasch aufeinander vorbei, daß ich glaubte, wir führen durch einen Friedhof . . .

Und von nun ab wurden die Automobiltouren zum täglichen Brot, richtiger: Biskuit. Im Schloß war es auch so einsam geworden, daß wir niemand zu Hause lassen mußten. Onkel, Tante, Kitty dear, Oliver, Jim, 94 ich – ready. Der eigentliche Herbst war gekommen, der die Zugvögel aus diesem traulichen Neste verjagt. Gott sei Dank: bei Tisch mehr Platz für die Ellenbogen.

Außerdem mehr Gemütlichkeit, obwohl es auch früher daran nicht gebrach. Jetzt konnte sich aber mein Gemüt frei entwickeln und seine geheimen Tiefen offenbaren. Vorläufig hatte nur »Treff«, der alte, etwas angeräudetle Köter, etwas davon entdeckt, da ich ihm bei Tisch die erlesensten Knöchelchen bot. Jetzt kam aber Kitty dear daran, die ich mit Pralinés fütterte. Womit ich mir verbiete, diese ungewohnte Zusammenstellung irgendeiner zynischen Gedankenassoziation zuzuschreiben! Geschah nur der systematischen Anordnung nach materiellen Dingen zuliebe.

Zwei Automobilfahrten brachten interessante Zwischenfälle, und da sie mit jagdlichen Dingen in gewissem Kausalnexus stehen, will ich in meinem Tagebuch darüber nachlesen.

Richtig, da steht's: 30. September. Fahrt nach S. Vierte Geschwindigkeit. Einige Hühner und Enten, ein Hund, ein Heuwagen. Der Bahnschranken.

Das kam so.

Der 30. September war ein herrlicher, klarer Tag. Wir lunchten früher und verstauten uns dann im Daimler, der schon vor der Aufgangstreppe stampfte. Wir fuhren selbsechst. Onkel kutschierte, ich saß neben ihm auf dem »Bock«, Kitty dear mir zu Füßen »behind engine«, an einer rotseidenen Krawatte strickend, die ich heute noch an hohen Festtagen anlege. Hinten Tante, Jim, Hopkins. Stilvoll – besonders die rote Krawatte.

Oliver war zu Hause geblieben. Er behauptete, das Rütteln des Automobils mache seine Hand zitterig und 95 zum Kugelschießen untauglich. Fauler Zauber – er besaß wenig Vertrauen zu Onkel.

In S. wollte Onkel ein Schloß besichtigen, das er im nächsten Jahre samt Gamsrevier zu mieten gedachte. Gams sollte es dort geben wie Rebhühner in böhmischen Feldern – aber geringe Ware.

Es ging famos. Meine Krawatte machte Fortschritte, und der brave Wagen fraß die Distanzen. In V. gab es kurzen Aufenthalt: Benzinspeisung. Zudem verschwand Onkel, der Gütige, in der Haupt- und Spezialitätentrafik und warf mir beim Heraustreten ein verlockend Kistlein an das Haupt. Doch was die Marke war, ist mir entfallen.

Von da flott weiter. Straße fast hervorragend. Wir überholten einige mühselige Personenzüge; durch ein Dorf ging's in gewagten Serpentinen, aber heil und frisch. In S. angekommen, sahen wir zwar, aber siegten nicht. Das Städtchen liegt ganz niedlich; Pilsner gibt's auch irgendwo alle Samstag abends; aber das Gamsrevier liegt verteufelt entlegen. Rückzug nach in vierter Geschwindigkeit eingenommener Jause.

Kaum aus dem Bereich des kleinbürgerlichen Pflasters, einige Rucke am Hebel; der Wagen schien einen Augenblick starr in der Luft zu hängen – dann schoß er vorwärts wie von einer ungeheuren Ladung Rottweiler getrieben. Die blendend weiße, sich schnurgerade verjüngende Straße wurde verschlungen, Felder und Bäume hasteten nach rückwärts; für die Stimmung des still verblutenden Herbstabends gab's keinen Blick. Alles straff gespannt, alle Köpfe steif gegen den Luftstrom gestemmt, jede Fiber wohlig zitternd. Fast dieselbe unruhige Erregung wie im Theater. Weiter, weiter. 96

Und auch diese rasende Jagd war ein großartiges Gedicht. Nur mußte man es fühlen können. Das tiefe, symptomatische Problem heraustasten.

In unserem Rücken erlosch das letzte Rot. Die ungeheuren Azetylenlampen brannten längst schon; weiße Lichtkegel schossen vor uns her wie gehetzte Gespenster. Aus den Wäldern kam es kühl, fast kalt geweht; als ob uns nervöse wahnwitzige Menschlein ein Gruftfriede anhauchte. Da drinnen in den finsteren, feuchten Tannenforsten schlief die Vergangenheit – ihren Todesschlaf . . .

Eine Serpentine, scharf bergan; ruhelos hinaufgehastet . . . Die weiland Fuhrleute überwanden den Berg in selbstzufriedener Gemächlichkeit und tranken dann im Dorfwirtshause oben einen Liter Wein – auch zwei. Wir tollten nur so über das Hindernis hinweg, zu Sekt und Flirt und Spieltisch . . .

Aber die Vergangenheit trat uns mahnend entgegen, das heißt, wir fuhren ihr fast in den Rücken, als sie in Gestalt einer breitausladenden Grobmahdfuhr langsam hinaufkeuchte. Den Schwung durften wir nicht opfern, sonst war uns ein Steckenbleiben auf dem feindselig steilen Berg gewiß – wir mußten an der Vergangenheit vorüberrasen. Allein sie schlief fest im weichen Halmenpolster und war für den schönen, warmen Ton unserer Trompete taub. Links vorbei! Die sich bedächtig hinaufstemmenden Gäule fuhren nach rechts, die Fuhre folgte, geriet ins Schwanken und legte sich sanft in den Graben. Da erwachte die Vergangenheit endlich, strampelte sich aus der duftenden Last heraus und schüttelte uns drohende Fäuste nach. Was half's? Das Recht des Wachen und Jüngeren ist das stärkere.

Aber noch einmal begegneten wir dem Geiste des 97 19. Jahrhunderts, und da wäre es fast zu einem argen Assaut gekommen.

Vor uns polterte ein Zug dahin. Das kann ein ehrgeiziger Automann nicht sehen, besonders wenn noch eine gute Straße neben dem Schienenstrange läuft. Unser Daimler gab sein letztes her, denn der Zug vor uns war ein Schnellzug, der allerdings ganz moderiert sein Pensum abarbeitete.

Unsere Geschwindigkeit schien sich zu verdoppeln. Der Wagen besaß Ambition und verrichtete Überleistung.

Noch ein halber Kilometer – 200 Meter – Schrotschußweite – wir sind auf gleicher Höhe mit dem letzten Waggon. Langsam, langsam an den hellerleuchteten Wagen vorbei. Jetzt merkt man nichts mehr von Geschwindigkeit; der gleichmäßig weiterrollende Zug bietet keinen Anhaltspunkt. Die Lokomotive ist zornig – sie speit rotglühenden Qualm . . .

Da – ein furchtbarer Ruck, eine verzweifelte Drehung unseres Wagens – er steht, zitternd und schnaubend. Siegesbewußt und hoheitsvoll dröhnt der Zug an uns vorbei, in die Nacht hinaus. Zögernd gehen die Schranken in die Höhe. Die Bremsen haben wundervoll funktioniert. 20 Schritte vor den Schranken bemerkte Hopkins, der jetzt fuhr, das Hindernis, fünf Schritte vom Bahndamm halten wir. Alle sind stumm, und ich muß mit Scotch Whisky gelabt werden . . .

Dann wieder mutig über die Schienen. Kalt und hart blitzt die Strecke im Mondschein, weit, weit hinein in die schwarzen Kiefernwälder. Dort unten glühen noch die drei roten Laternen des letzten Waggons, und die Föhren am Geleise flammen im Licht des feurigen Dampfes.

Aber das 20. Jahrhundert prustet mit unverminderter 98 Schnelligkeit nach. Hie und da leuchtet ein weißer Meilenstein auf, um gleich wieder im Dämmerlichte des Waldrandes unterzutauchen. Tief in das finstere Holz hinein huschen unsere weißen Strahlen, bleiche, groteske Stämme und unheimliche Farrenwedel scheinen mitzutanzen. Die Augen werden mir müde vom Luftzug – ich fuhr ohne Brille – und angestrengtem Schauen. Als wir durch unsere liebe, alte Lindenallee flogen, tat ich sie wieder auf – ich hatte inzwischen allerhand spukhaftes Zeug geträumt.

Eine einsame Nachtstunde verbrachte ich damit, meinen letzten Willen säuberlich und eigenhändig zu Papier zu bringen, da für morgen eine Fahrt nach F. anberaumt war.

Der sonnige Vormittag sah uns denn auch schon den blitzenden See entlang eilen. Heute waren wir nur fünf – Jim war noch vor Morgengrauen in die Berge gezogen.

In der nächsten Stadt ließen wir zu meinem Schmerze Klein-Kitty zurück – im Kreise einer befreundeten Familie. Aus diesem Anlasse sah ich mich gezwungen, auf materielle Neuregulierung der inneren Kräfte zu dringen, was denn auch geschah. Dann schüttelten wir den Staub des Krähwinkels von unseren Pneumatiks.

F. nistet tief in den Bergen und soll prächtig gelegen sein. Außerdem gibt es irgendwo unterwegs eine alte Raubburg mit zugehörigem Revier, wonach mein guter Onkel stark schielte. Trotz dieser für einen Autolenker eigentlich unpassenden Augentätigkeit saß er heute hinterm Steuerrad, und Tante riskierte, neben ihm zu sitzen; Hopkins und ich schwiegen im Fond des Wagens.

Wir kamen nicht weit.

Ein schmieriger Kerl stand plötzlich mitten vor uns auf 99 der Straße und schwenkte aufgeregt eine noch schmierigere, rot gewesene Flagge. Dabei kauderwelschte er italienisches Zeug, woraus wir endlich insoweit klug wurden, als wir verstanden, daß irgendwo in der Nähe eine Dynamitsprengung vor sich gehen werde. Wir waren an einem anderen Punkte der neuen Bahnanlage. Neugieriges Volk sammelte sich alsbald um unser ungeduldig stampfendes Automobil, und niemand achtete der dumpfen Sprengschüsse.

Mit einem Male schrie eine Stimme: »Steine! Steine! . . .« und ein unheimliches Surren ober uns ließ uns automatisch niederducken. Schon wollte ich über solche Fahrlässigkeit zu fluchen anheben, da griff Hopkins nach seinem Kopf und sank bewußtlos in meine Arme. Unter der Automobilkappe hervor quoll ein breiter Blutstrom über seine aschfahlen Züge; als ich ihn bestürzt fragte: »Hopkins, what's the matter?« – da vermochte der arme Bursche nicht mehr zu antworten. Sachte schafften wir den Ohnmächtigen aus dem Wagen und schleppten ihn zur nächsten Baracke, wo uns hundert dienstfertige Hände mit Wasser und schmutzigem Leinenzeug umdrängten. Die Erregung war groß; ein altes, greuliches Weib kreischte immerzu: »Öl drauf! Öl drauf!« und wir wetterten in allen uns zu Gebote stehenden Sprachen. Mein Onkel stand in berserkerhafter Boxpositur da, ich regalierte alle Überflüssigen mit wohlgezielten Schienbeinfußtritten, und Tante doktorte inzwischen in Hopkins' bürstenstraffem Kraushaar herum. Der Verunglückte kam endlich wieder zu Sinnen – mehr durch den wüsten Lärm als das Wasser, das Übereifrige ihm gießkannenweise über den Kopf schütteten.

Nach einer saftigen Abschiedsrede an die Umstehenden 100 verluden wir unseren armen Patienten und fuhren zurück, der Stadt zu, wo wir den Verletzten der Nadel des Chirurgen anvertrauen wollten. Onkel fuhr jetzt ein Höllentempo, besonders durch das alte Spießbürgernest. Auf dem Hauptplatze und in der einzigen Häuserzeile, die den Ehrentitel einer Straße beanspruchen darf, pflogen die angestammten Pensionisten gerade ihren knickebeinigen, kurzschrittigen, knarrstiefeligen, ansonsten sehr ehrenhaften Mittagskorso. Wir pfauchten mitten in dieses ehrwürdige Häuflein hinein, so daß die alten Zitterschenkel plötzlich wieder elastisch wurden und gewagte Seitwärtssprünge ausführten. Hinterher erhoben die Greise freilich erbittert ihre leberfleckigen Bebberhände. Das kümmerte Onkel wenig. Er brüllte nur nach rechts und links: »Wo ist das Spital? Wo ist das Spital?« und regalierte jeden weniger flinken Passanten mit »damn fool«, »rotten old beast« oder ähnlichen Zärtlichkeiten. Endlich liefen wir in den Hafen, das heißt den Hof des Spitales ein, und bald saß Hopkins unter der Nadel. Der Stein hatte die starke Automobilkappe glatt durchschnitten und den Kopfbalg bis auf die Beinhaut säuberlich aufgeschärft. Ich fand das Corpus delicti später im Wagen vor; es war ein Stück rotbraunen Felsens von der Größe eines Hühnereies.

Da ich in dem schönen Lande inzwischen noch ganz andere Dinge erlebt habe, schweige ich über diesen Fall.

Natürlich bedurfte ich jetzt dringend einer Stärkung und suchte sie mir auf eigene Faust, da Onkel und Tante im Spital der Spezialordres des Chirurgen harrten. Hierauf holte ich Kitty ab, die zur Katastrophe meinte, sie wäre bloß froh, daß ich nicht auf Hopkins' Platz gesessen sei. Außerdem sei meine Oberlippe heute gar nicht 101 rasiert, behauptete sie plötzlich – im dämmerigen Treppenflur des alten Patrizierhauses . . .

Heim ging's sehr langsam – 25 km die Stunde – mit Rücksicht auf den Kranken. Er war noch bleich, versuchte aber schon aus seinen Bandagen hervor zu lächeln. Als ich abends nach Hopkins fragte, hieß es, er putze eben das Auto . . .

Onkel war mächtig beeindruckt. »God bless Jimmy, God bless Jimmy!« jammerte er unaufhörlich, »just this place was always Jimmies.«. Jimmy hatte inzwischen einen guten und dazu abnormen Gamsbock auf die Decke gelegt und begann abends in wehmütiger Stimmung seine Koffer zu packen. Das kleine, dürre Kerlchen war urkomisch in seiner Verzweiflung.

Also morgen noch ein Gamsriegeln, übermorgen eine Brackierjagd und nach übermorgen vielleicht noch ein kleines Gamsriegeln – dann ist's aus . . .

Er mußte nach England zurück und beneidete seinen Bruder, der als englischer Offizier grenzenlose Urlaube genoß, dementsprechend – grenzenlos. Also morgen Gamsriegeln. In den hohen, rotgrauen Wänden, die mir damals Teusch gezeigt hatte. Nach einem Diner mit extra viel Sekt und Zigarren – ich war noch immer bedenklich geschwächt vom Blutverluste Hopkins' her – kroch ich zeitig in die Federn.

* * *

Der Start war diesmal noch kälter und dunkler als sonst. Wir verdämmerten die Fahrt schweigend und verdrossen: der Reindlkuchen war der sonst wirklich braven Köchin gestern angebrannt.

Der Rendezvousplatz wimmelte heute von Gästen. 102 Sechs oder sieben Stuck. Teusch brummt allerhand unverständliches Zeug in seinen Bocksbart. Nach faden Vorstellungen – man versteht die verdammten Namen nie – machten wir uns auf die Strümpfe, recte Genagelten.

Immer derselbe Aufstieg: ein Stück Tal bis zum Tunneleingang, dann eine steile, regelmäßig patschnasse Wiese, später gemütliche Waldwege bis hinauf in die Revierkammer. Die Zyklamen waren tot, und das süße Moosbankerl, auf dem sie damals saß mit gelöstem Schuhband, lag unter rostfarbenem Laub begraben.

Kitty trippelte heute ganz still und traurig mit. Sie sollte zu Jim auf den Stand, um ihm die letzten Ehren zu erweisen. Ich tröstete nach Möglichkeit und versprach goldene Berge. Dann studierten wir die Gäste.

Da war ein endloser, ausgedörrter Kerl, fürnehm angetan wie ein Graf, mit einer gigantischen Doppelbüchse englischer Provenienz – Kal. 12, Schrotkaliber 12! Aber der Lange trug seine Last mit Anstand und Ausdauer. Dann ein reizend zugewichstes Mutterpüppchen mit einem blonden Schnurrbart, der geradezu »unerreicht« aufgebürstet war, und handhohem Doppelstehkragen. Dieser unschuldige Milch- und Blutmann war mit einer zierlichen Doppelbüchse ausgestattet, die ebenso naiv aussah wie ihr Träger. Ferner ein stämmiger, fester Gesell, dem ein farbloser Schnauzer von der Oberlippe herabweinte. Das Habit dieses Weidmannes hatte einen gewissen sympathieerregenden Abnützungsgrad erreicht, ohne gerade gesucht schäbig zu sein; aber der in dieser Kluft stak, war im Verkehr ein unangenehmer Herr, vorlaut und gehässig. Schließlich ein blonder, treuherziger Jüngling, der reinste Michel Hellriegel. Er machte sich an mich heran und erzählte mir wehmütige 103 Erinnerungen aus seiner Heimat nebst Reflexionen über Jagdliches-Allzujagdliches.

Der übrige Gasttroß war uninteressant.

Auf einer kleinen Halt trennten sich die Lager. Die Gäste wurden dem Oberförster überantwortet, der sie auf eine weniger dringliche Feuerlinie verteilen sollte; die guten Stände blieben im Hause. Der blasse Jüngling nahm mit einem sentimentalen »Weidmannsheil!« Abschied von mir, was ungefähr soviel heißen sollte, wie »da droben schieß' i ja do nix . . .«

Das Glück Jims, zugleich das meine, wollte, daß ihm einer der höchsten Stände zugedacht wurde. Dort konnte er gute Repetierarbeit verrichten; aber Kitty war diesem Stande nicht gewachsen. Ich konnte unten auch gut ausschießen auf meinem Stande, aber ob mir so viele Gams kamen? . . .

Endlich war das Treiben umstellt. Sieben Rohre umdräuten die riesige Schütt, die sich in die hohen Wände hinaufzog. Links oben in der Felskanzel der Onkel, rechts oben Jim; tiefer Oliver mit Tante, dann ich mit Kitty, hierauf Forstmeister mostschädliches, ganz unten zwei Gäste, die eventuell zu Schuß kommen durften – wenn's grad sein mußte.

Mein Platz war geradezu urgemütlich. Unter einer alten Schirmlärche – bequeme Sitzgelegenheit auf molligen Moospolstern – hinter uns Holz, vor uns die Schütt. Allerdings bemerkte ich mit leisem Mißbehagen, daß man sich auch ganz gut anbleien könne gegenseitig. Aber wenn nur Kugelbüchsen in Betracht kommen, erschüttern mich solche Perspektiven wenig. Wenn mich der Kerl nicht weidwund oder lauflahm schießt, ist's ja gleich erledigt. Mein Gott, das bissel Leben . . . 104

Heut hatte ich zwar gar kein Anrecht auf Weltschmerz . . .

Zuvörderst gabelten wir nach Kräften. Kreuzsapperlot, Lachsschinken entpuppte sich aus einem appetitlichen Papierpaket, einige Zoll Mettwurst aus einem anderen. Mein Herz schuhplattelte vor Vergnügen. Außerdem holte Kitty eine große Tüte Pralinés hervor. Dann 105 wischte ich mir den Mund mit feierlicher Gründlichkeit ab – am Ärmel selbstredend.

»But disgusting . . .«

»Bring me a napkin! Oder soll ich nach Lachsschinken und Wurst riechen?« . . .

»Du bist schrecklich – unartig.«

»Wenn's weiter nichts ist?«

Und ich wischte noch intensiver am Ärmel des ohnehin mordsspeckigen Jagdkittels.

Die geladene Büchse lehnte neben mir; Knicker und Munition hatte ich reinlich auf einem Moosplätzchen arrangiert – jetzt konnte alles mögliche losgehen und ich hatte vorläufig auf nichts aufzupassen, denn den Hebschuß mußte ich doch hören. Immerhin – noch einen fürsichtigen Späherblick in die Runde. Wir sitzen so peinlich exponiert. Nichts. Luft rein. Das heißt, es ist noch kein Gams da . . .

Ein scharfer Pfiff schreckte uns auf . . .

Da steht er, kaum 70 Schritte unter uns, in seiner trotzigen Stärke. Ein ganz uriger Lackel mit ausgelegten, massigen Krucken . . . Also den Hebschuß glücklich – sagen wir: verschlafen?

Natürlich, hinauf komme ich nicht mehr mit der Büchs. Wie ein Satan geht er auf den Forstmeister zu. Aber bei dem knallt's auch nicht. Es war doch keine Halluzination? . . . Böses Gewissen?

Jetzt aber aufg'schaut.

Richtig, hoch oben über die Schütt kommen sie auch schon, eine ganze Wallfahrt. Alles gegen Jims Stand. Der kann sich heute ausrepetieren für ein Jahr. Er fängt auch schon an. Herrgott, ist das ein Geknatter! . . . Drüben im Eck bei der Kanzel steigen auch 106 zwei Rauchwölkchen auf – der schießt Schwarzpulver. Einige Augenblicke darauf die Schüsse.

Wieder vier Stück schußbar ober mir. Geiß, Kitz, Geiß, Kitz. Wie sie die Äser aufsperren, die Hascherln! Oliver läßt das Zeug passieren, selbstredend.

Jetzt wieder Steineln links unten. Ein einzelnes starkes Stück. Vorsichtig wechselt es über das Geröll. Das Korn zeigt Tiefblatt, der Bock zeichnet gut und verschwindet im Wald.

»Hat er's?«

»Er hat's.«

»Bravo!«

Unten in der Schlucht bei den Ehrengästen dröhnt's nun auch. Fürchterlich, die Schütten könnten ins Rollen kommen davon. Das muß der Zwölfer des fürnehmen Dürrlings sein. Noch ein bißchen ersterbendes Feuer, bei Jim oben der letzte Schuß, natürlich!

Kulnigg holt uns ab.

Unten vor der Halterhütte reden schon aufgeregte Gruppen durcheinander.

»So is er mir kommen.«

»Nein, aber meiner hat ein' guten Kammerschuß.«

»Nein, aber meiner is g'wiß schon a fünfjähriger.«

Lauter Landsleute, natürlich. Die Engländer sind zwar äußerst passioniert, reden auch recht gern davon; aber Gezänk kennen sie nicht, ebensowenig Schußneid. Damit belastete Exemplare gibt's auch dort – kenne selbst welche – aber im Charakter der Nation liegt das händelsüchtige Rechthaberln des deutschen Jägers nicht. Die Engländer schießen Rekorde, die Deutschen möchten sie noch viel lieber schießen, wenn Börse und Schießfertigkeit auslangten. Aus Neid natürlich, nicht zum Sport. 107

Nur der fürnehme Dürrling stand abseits der Gruppe, ein verächtlich Lächeln auf den schmalen Lippen.

Ich trat zu ihm.

»Haben Sie nicht zweimal gelöst?«

»Gewiß. Ein paar Stuck wollten die Schlucht überfallen. Ich habe sie wieder in den Trieb zurückgedonnert.«

Brüderpaar und Vater erschienen nun gleichfalls auf der Bildfläche.

Jims kleines Gesicht strahlte.

»Denke, ich hab' drei Böcke. Der arme Oliver aber gar nichts.« Jetzt sah er ganz bekümmert drein.

»Ich hab' nur zwei Stücke,« meldete der Jagdherr, »Bock und Geltgeiß.«

Langsam kamen Treiber und Heger herabgetröpfelt, und fast jeder brachte ein Stück. Als Strecke gemacht wurde, lagen fünf Böcke und – fünf Geißen auf dem Fichtenreisig. Der fünfte Bock entfiel auf mich. Er war fast vor den Füßen des Forstmeisters zusammengebrochen, nachdem dieser eine Viertelstunde früher vom schwarzen Satansbock fast umgerannt worden wäre.

Die Gäste – ich rechne mich zum Hause – hatten nur Geißen geschossen. Zwei »Milchgeißen«, wie man die Kitzgeißen dort zu nennen pflegt, prangten auch darunter. Der Jagdherr schnitt ein bitterböses Gesicht.

»Wer hat denn die Schweinerei gemacht?«

Der Stammgast trat mannhaft vor.

»Ich. Ich habe mich im Ansprechen eben einmal versprochen.«

»Na, wenn Sie den Plunder von Krucken an die Wand hängen wollen –. All aboard? Ich geh'.«

Der Oberförster wollte mir einen Bruch reichen; Kitty entwand ihm das Reis.

»Nein, das bekommst du von mir.« 108

Ehrfürchtig lüpfte ich mein schäbiges Hütl und übergab es Kitty dear zu weiterer Amtswaltung. Das alte Reindl schien denn auch sehr gerührt und überließ sich willig den weichen Mädchenfingern.

Dann kam die mühselige Talhatscherei, der solenne Schlußschoppen, die dämmerige Heimfahrt. Mehr ist nicht zu berichten.

* * *

Die Brackierjagd am nächsten Tage, die ich mitmachte, um nicht verwaist daheim zu bleiben, zahlte meine Überwindung aus. Denn ich habe auf einer Jagd nimmermehr derartig gelacht.

Diesmal wurde der Auszug automobiliter in Szene gesetzt.

Onkel schrie noch nie so brutal sein stereotypes: All aboard? Ich geh' . . .« Und heute wäre er fast gegangen, wenn ich ihm nicht mit Hintansetzung meiner körperlichen Sicherheit in den Hebel gefahren wäre.

Die Sache verhielt sich nämlich folgendermaßen:

Tante räusperte sich beim Frühstück einige Male sehr unbehaglich und frug dann so von ungefähr: »Ist die Straße sehr schlecht bis dorthin?«

Onkel sah mißtrauisch von seinen ham and eggs auf. »Warum?«

»Könnte man auch mit dem Automobil fahren – zum Beispiel?«

»Nein – mit dem Motor« – der Engländer nennt jedes Auto »Motor« – »fahr' ich da nicht. Nein, unter keiner Bedingung.«

»Dann können wir heute nicht auf die Jagd.« 109

»Was heißt das?«

»Weißt du –« – Tantes Stimme sank bis zur einschmeichelndsten Hingebung herab – »Martha kommt heute mit dem Siebenuhrdreißigzug.«

»Das auch noch? All aboard? Ich geh'. Jetzt geh' ich aber. Die Martha soll nur kommen, wie sie mag. Übrigens kann ja Hopkins die – die – die – Martha auch mit dem Motor holen.«

»Sie fährt aber in keinem Motor, wie du weißt.«

»For heavens sake, und muß das gerade heute sein?«

»Sie hat gestern abend telegraphiert.«

Onkel knurrte einiges vor sich hin, wovon ich nur etwas wie »confound« verstand. Dann entschied er: »Ihr und du und Martha – ihr könnt machen, was ihr wollt. Ich fahr' nicht mit dem Motor auf die Jagd. Jim, sag' dem Hopkins, er soll in fünf Minuten mit dem Motor hier sein.«

Die Ladung, die der Wagen heute aufgenommen hatte, war einigermaßen bunt. Vorne hinterm Steuerrad der Onkel in harber Wichs; mit gelbgrünem Lodenhütl und Gamsbart, grüner Weste und nackten Knien als Automobillenker! Neben ihm ich, etwas angegriffen von den verbalen Gewalttätigkeiten meines Gastfreundes. Hopkins behind engine. Im Fond Tante, Kitty und Oliver, letzterer etwas besorgt, da von Haus aus für die Postkutsche geboren. Und das beste: Jim auf dem Pony hinterher. Im Wagen herrschte eine chaotische Unordnung: Gewehre, Patronengürtel, Sitzstöcke, eine erkleckliche Anzahl von Proviantkörben verheißenden Volumens und auf all dem thronend Treff, der Feiste, Steinalte, Triefäugige, Angeräudelte, nur mehr Eichkatzeln Verbellende . . . 110

Die Straße war über alle Erwartungen gut. Aber jagen konnte man freilich nicht. Immerhin mußte Jim unausgesetzt in gestrecktem Galopp hinterherfliegen. Sein eigenes Hammerleß baumelte ihm am Rücken – die reinste Savannenszenerie. Treff hatte wenig Sinn für die kühle Taufrische des schönen Morgens und den Reiz des Augenblicks. Er starrte ängstlich und aufgeregt hinaus, heulte, sooft wir an einer im Klee kauernden Katze vorbeifuhren, und geriet bei jeder Straßenbiegung aus dem Gleichgewichte.

Von der bereits versammelten Jägerkorona wurden wir mit ehrfürchtigem Staunen begrüßt. Des Jagdherrn Automobil war gaubekannt; aber zur Brackierjagd war er noch nie per Benzin angepfaucht gekommen. Dazu das Innere des Wagens!

Langsam entwutzelte sich dieser Inhalt und gruppierte sich frierend rings um den braven Daimler. Onkel kroch würdevoll, aber unheilverkündend stumm hinter Steuerrad und Huppe hervor, griff schweigend nach seiner Flinte und warf noch schweigendere Blicke in die Runde. Alles fuhr entsetzt zur Seite, als Hopkins mit kühnem Linkszug das Gewaltvehikel wendete und durch den nässeschauernden Tann davonfuhr. Nicht einmal zur Neugier war Zeit geblieben.

Inzwischen war auch Jim ventre à terre herangerast gekommen. Rasch vom dampfenden Gaul herab und ein keckes Gesichtchen aufgesetzt.

»'Morgen, 'Morgen, 'Morgen, Weidmannsdank!« – so erwiderte er allerseits die biederen shake-hands der etwas gemischten Gesellschaft. Als Urweidgerechter im uralten Sinne war »Master Tschimie«, wie man seinen Namen verstümmelte, nicht gerade berühmt, wohl aber als erlesener Büchsenschütze. 111

Wie überall in gams- und hochgebirgsreichen Jagdgründen war auch hier eine richtige Waldtreibjagd etwas Unbekanntes. Rauhes Gelände. Ungeheure Triebe. Keine Treiber, nur eine enorme Kötermeute, mit welcher die Jäger durchbuschierten. Und das Publikum! Wer irgendeinen Fix besitzt, bringt ihn mit und sich selbst samt einem Musealstück von Schießeisen auch. Lauter Bauernjäger, Wilddiebe, Schulmeister, ab und zu einmal eine Kutte. Ein paar gutmütige oder noch unbefangene Gäste, darunter unser berühmter Stammgast, vollenden das bunte und etwas unheimliche Bild. Die vornehmen Rüden winseln und zerren ungefügig am Spagat; die treuherzigen, alten Vorderladermänner mit ihren runzligen, sauberrasierten Physiognomien stopfen gemütlich ihre Finger in die rostigen Schachte ihrer Donnerrohre – die Dinger sind natürlich von uraltersher geladen, mit gemischtem Grobblei womöglich, und auch die Zündhütchen blitzen rot und freundlich unter den Hähnen hervor; jedem baumeln ein paar protzige Kümmerergehörne um die grüne Weste und ein verstohlenes Haselhuhnpfeiferl lugt auch aus irgend einer Tasche. Diese Männer übernehmen Führung und Aufstellung. Jeder Stand wird warm angepriesen und sein eigentlicher Wert mit allerhand kasuistischer Ornamentik verziert; auf den Schlußstand, »a bißl höcher droben« kommt dann der großmütige Führer selbst, heizt sich seelenruhig sein Pfeiferl an, schiebt sich unter die »Feicht'n« ein und erwartet den Fuchs, der da, gerade da kommen wird. Denn ideale Zwangspasserln gibt's da schon. Aber auch erstaunlich viel Rote. Dafür rare Hasen und klägliches Rehwild.

Dieses Programm wurde auch heute getreu abgehaspelt. Ein reinlicher, alter Bauer übernahm das 112 Regiment über die »Herren«; das restliche Volk wußte schon um seine Stände.

»Ich geh' zum Steinbruch abi,« meinte mit lüsternem Augenzwinkern der eine.

»Und ich zu dem g'wissen Eck,« brummte der andere.

Die kannten sich aus . . .

Wir hatten ein gut Stück steilen Weges. Dann gelangten wir in einen Sattel zwischen zwei hohe Bergkuppen. Da wurden wir postiert, und die Stände sahen wirklich furchtbar hübsch und verheißend aus. Oliver – Onkel – Jim mit Tante und Kitty – ich – der Stammgast. Vor mir Fichtenjugend mit etwas Birkensaum – hinter mir Fichten; der Ausschuß war famos, meine beiden Nachbarn konnte ich sehen, und die Fernsicht wirkte erhebend. Das liebe Hochgebirge drüben, zum Greifen nah, stolzprahlend in der Morgensonne; grad da drunten der unheimliche, kleine See mit seinem dunklen, sinnenden Antlitz, den schwarzen Tannforsten am sumpfigen Ufer und den unvergeßlichen Rheinlanken in der düsteren Flut. Fern, jenseits der sanften Hügelwellen, das lachende Tal, wo Städtchen blitzen und der Frühzug schnaubt . . .

Tante Martha fiel mir ein . . .

Der Trieb war für einen Elch- oder Wolfsbogen nicht zu groß. Er versprach, sehr langwierig zu werden. Und mich fror. Denn Kitty dear war heute nicht da. Auch war das Gelände hier gar so offenherzig. Es zog unbarmherzig und steif über den Sattel. Nun, wenn – so hätte ich eben Deckung gesucht. Um des Wildes willen natürlich; denn Kitty trug sich nichts weniger als mimikrymäßig . . .

Es fror mich nicht mehr, sondern jetzt war mir schon hundemäßig kalt. Ganz armselig pflockte ich da oben 113 inmitten der leuchtenden, bunten Gotteswelt. Ein Königreich für einen steifen Grog!

Ein, zwei armselige Rehe liefen mir an; eins davon hätte der Engländer »an apology for a roe« genannt, so ruppig und klein war das Ding. Dazu nannte es sich Bock und trug zwei Nähnadeln zwischen den Losern.

Plötzlich kracht's bei Jim oben.

Ich höre Klagegeschrei, sehe eine verwirrte, verzweifelt gestikulierende Gruppe – und dann werde ich zu Hilfe gerufen.

Aber bevor ich eingreifen konnte, hatte Jim voll Selbstverachtung und mit vornehmer Ignorierung der Reize eines Rehziemers der Sache ein Ende gemacht.

Ein guter Bock war ihm schußmäßig gekommen. Er stürzte zwar im Feuer, konnte sich aber nicht so recht zum Sterben entschließen. Treff, der Hundenarziß, saß neben Jim, mittels eines schottischen Halsshawls angeleint. Er wurde »geschnallt«. Seine zahnlosen Kiefer und seine verzweifelten Verbellungsversuche vermochten dem Bock nichts anzuhaben; der wurde nur desto lebendiger. Jim hatte keinen Knicker, nicht einmal irgendeinen Taschenfeitel zur Hand. Kurz entschlossen, versuchte er mit einer Hutnadel seiner Mutter den weidmännischen Pflichten nachzukommen. Auch dieses zarte Instrument versagte, verbog sich und brach zu guter Letzt.

Da wurde nach mir gezetert.

Jim gönnte mir das Vergnügen und die Ehre kunstgerechten Knickens aber nicht. Der Bock versuchte noch ein bißchen zu schlegeln und bezahlte solches Unterfangen mit Verlust des halben Ziemers und des ganzen Blattes sowie sofortigem Tod.

Weiß Gott, wie ich es damals zuwege brachte, mich ins Farnkraut zu legen und wie ein Toller zu lachen, 114 bis der Atem alle war. Das Räsonieren verging mir in diesem Milieu; auf einer solchen Brackierjagd mußte es ja eigentlich so kommen. Das war wenigstens harmonisch. Klassisch unweidgerecht. Und übrigens: Mind your own business.

Unten – beim Steinbruch und beim g'wissen Eck vermutlich – knallte es auch ein paarmal; heiseres Gekläff verlor sich in den tieferen Hängen – dann wurde abgeblasen.

Schließlich lagen doch fünf Hasen und zwei Rote. Die Krone setzte der arme Bock der Strecke auf.

Heiße Würstel, Bier und derlei jagdliche Frugalitäten entschädigten mich für meine Frostprobe und die blanken Läufe meiner Dopplerin. Zum Dessert hatte ich eine private Unterredung unter vier Lippen mit Kitty. Sie fand ihren Bruder shocking.

Der Nachmittagsbogen brachte die angenehme und interessante Überraschung, daß ein Teil der Schützen um einen Trieb verteilt wurde, den der andere Flügel eines Mißverständnisses halber ignorierte. Der stand in einem anderen Bogen. Jäger und Hunde brackierten indes vergnügt im dritten Trieb.

Aber bei den kühlen Bieren des Waldwirtshauses fand sich alles wieder in Innigkeit und Freundschaft. Onkelchen vermeidet zu meiner Freude den berühmten deutschen Knödelbogen nach Tunlichkeit. Er klomm sofort auf den Führersitz des harrenden Daimlers und nachdem er einigemal vergeblich sein »All aboard! Ich geh'!« gezetert hatte, glitten wir erhaben davon, einem traulicheren Knödelbogen zu. Da Hasen, Füchse und der ziemlich faschende Bock unsere Fracht vermehrten, sah die Benzin-Karawane noch bunter aus.

Auf dieser Heimfahrt sprach Onkel zu mir ein 115 klassisches Wort: »Weißt du, warum ich die Sauferei mit den Deutschen nicht vertrage?«

»Ich kann mir's denken. Viel Rüpelei, viel Rechthaberei, viel Intoleranz.«

»Ungefähr. Aber noch etwas. Sie tragen einem gar so gern das Du an. Und wenn man's annimmt, werden sie zuerst zudringlich und dann grob . . . Du bist ja auch ein Deutscher. Aber sag' das deinen Landsleuten: Bier saufen, lange Pfeifen rauchen und Jägerwäsche tragen – das ist disgusting. Und das besoffene Duzen auch.«

Damals würgte ich noch ein wenig an dieser Pille; heute habe ich sie verdaut. Mehr als das: Heut' schreib' ich selbst Rezepte dafür, ohne ein Feind des eigenen Nestes zu sein. Aber sauberer möcht' ich's haben. Und luftiger.

* * *

Das Diner war mir heute durch Tante Martha vergällt. Sie aß ungeheuer viel. Außerdem wurde sie beim Bridge grob, wenn man nicht nach ihrem Kopf spielte. Immerhin gab es verstohlene Whiskyschlückchen zur Begütigung, und von Wien waren frische Upman zugleich mit Tante Martha eingetroffen. Die Wahl tat mir nicht weh.

Das kleine Gamsriegeln des nächsten Tages brachte Jim seinen Abschiedsbock. Es war der schwerste Gamstag dieser Saison. Ungeheure Wahrscheinlichkeiten von Genickbruch und Erbschaftssteuer. Wir anderen blieben leer. Aber der Tag war wieder herrlich und würzig, und in der windverdrehten, schneezermürbten Halterhütte, wo wir gabelten, atmete ich wieder einmal den richtigen, 116 tränenzwingenden, beißenden Almschmarrenrauch. Fehlten nur die Grandln und der Brunftschrei.

Jim steckte seinen Bruch schier weinend hinter's Hutband. Wenn ich mit dir nur da heroben bleiben könnt'! . . . Eine Nacht noch . . . Und morgen früh eine kleine Birsch . . . Aber es blieb doch bei der Vortragsordnung; der Zug fuhr um 10 Uhr 50 Minuten. Übermorgen 4 Uhr nachmittags Victoria-Station, London.

Auf der Heimfahrt begegneten wir dem Stammgast, der heute den Damen seinen Abschiedsbesuch erstattet hatte. Sie waren nämlich daheim geblieben und packten für Jim. Der Stammgast sah die Krucken aus dem Wagen lugen und rief noch etwas von Weidmannsheil nach. Klang ein bißchen nach Neid und Kränkung. Er war nicht gebeten worden zum Lebewohlriegeln.

Übrigens – unterwegs schoß ich einen Fuchs vom Karriol aus. Es war noch leidlich schußhell, als ich in einer Ackerfurche den Mausenden entdeckte. Einzige Büchsflinte – Vierer-Patrone – vierzig Schritte – la comedia è finita.

Da sich abends alles um Jim drängte und drehte, blieben wir drei unbeachtet. Wir drei? Die Whiskyflasche, die Zigarrenkiste und ich. Wir fühlten, füllten und leerten uns wohl.

Der Wagen, das heißt Daimler, der Gute, fuhr pünktlich vor. Jim hielt sich tapfer. Auf der Treppe gab es große Umarmungen, so daß eine mehr oder weniger nicht auffiel. Dann nahm Onkel seinen Lenkerthron ein, und Jims schmächtige Gestalt kauerte sich an seiner Seite zusammen. Das Stampfen und Rütteln begann – good bye! – und die weißen Strahlenkegel huschten durch das Hoftor in die dunkle Lindenallee hinaus.

Lange standen wir noch unter den blinzelnden 117 Sternen. Der Fluß rauschte unter den Lindengängen vorbei, im Grase trillerte ein verwaistes Grillchen und von der nächsten Anhöhe kam das dumpfe Töppen der Huppe.

Dann war alles vorbei.

Obwohl mir Jim keinen besonderen Auftrag erteilt hatte, hielt ich es für meine Vetternpflicht, seine Schwester nach Möglichkeit zu trösten.

* * *

Noch eine stille Woche.

Die letzten fahlen Blätter tropften von den Linden, der Fuß wühlte in schwermütigen Laubschwaden, und in den Bergen lag hoher Schnee.

Je enger der Kreis, desto intimer und inniger die Stimmung.

Hie und da eine kleine Automobilhatz auf ein paar Pils und Frankfurter, dann und wann ein Erwärmungstennis, abends unvergeßliche Kamin-Teesitzungen. Es fehlte nicht viel und ich wäre zum Dichter geworden. An Reizen fehlte es ja nicht. So fuhr ich einmal mit Kitty dearest per Ponyfuhr ins nächste Städtchen, um frische Blumen für die Tafel zu besorgen. Was wir heimbrachten, waren freilich bloß stille Astern und Chrysanthemen; aber im Herzen trug jedes einen jungen, glühenden Rosenstrauß. Und ein eigentümlich Fahren war's: die Straße, die wir so oft in rasender Eile verschlungen, wollte heute kein Ende nehmen. Die Buchweizenstoppeln und Föhrenhölzer wanderten gemächlich an uns vorüber, und kein Huhn fürchtete unser friedsam Gefährte. Er sollte ja auch kein Ende nehmen, der Weg. 118

Eines Vormittags rief Onkel plötzlich zu meinem Fenster hinauf: »All aboard? Ich fahr'.«

Ich witterte Benzin und Pils. Daher rutschte ich mit Aufsspielsetzung meiner Kreuz- und sonstigen treppensturzempfindlichen Wirbel schleunigst hinab. Diesmal waren wir sehr rasch im Städtchen; aber lange, lange währte es, bis wir seine kühlen Biere ließen. Denn da war ein großer Entschluß gebraut worden. In fünf Tagen reiste Onkel britanniawärts – per Benzin über Calais. Bis dorthin sollte ich mit. Dann eine kleine Pariser Woche. Und zu guter Letzt orient-expressaliter heim. Übrigens, last not least: in Paris Rendezvous mit Tante, Oliver und – –

Wieder heil im Schloß, machte ich mich daran, brieflich mein Haus zu bestellen.

Beim Lunch großes Hallo über das pikante – vide Paris! – Programm.

O Träume – o ihr holden Wirklichkeiten . . .

Noch eine kleine Jagdeinlage, damit sich meine Seele sammle zum Geständnis unerhörter Fahnenfluchten . . .

Der Herbst litt schon am Winter, und der Dachs versäumte die letzte Gelegenheit, sich sein Ränzlein anzumästen, nicht.

Jene edlen Bauernjäger frönen einem ganz eigenartigen Sport der Dachsjagd. Sie besitzen große, langhaarige, bissige Köter, halb Leonberger, halb Fleischerhunde, die von ihnen »Dachshunde« geschimpft werden und auf Grimbart eine außerordentliche, halb angeborene, halb anerzogene Schneid haben. Solch eine Bestie reviert mondscheinnächtlings die Maisfelder ab, stellt den Dachs und deckt ihn so lange, bis sein Herr mit der Zange herbeieilt und den feisten Burschen in einen bereitgehaltenen Sack fördert. Daheim wird der arme Kerl 119 dann erschlagen und sein natürlich ganz tadelloser Balg verschachert.

Kommt eines Tages so ein alter Wilddieb mit Sack, Dachs, Zange und Köter aufs Schloß und erbietet sich, »den Herrschaften« das Schauspiel vorzuführen. Warum nicht? Zuerst schaut alles neugierig in den tiefen Sack. Ein reizender Kerl von Dachs, der gar zu gerne 'raus möchte. Schmuck und feist ist er wie ein Spanferkel. Also Sack umgestülpt. Grimbart sucht sich sofort im nächsten Parkhölzchen zu salvieren. Nun wird die Bestie von Hund geschnallt. Wie eine Furie fährt er auf seinen Erbfeind los, der aber auch nicht mit Bissen spart. Da rennt der Kerl mit der Zange herzu und klemmt den Dachs gegen den Grund, so daß der Hund freies Spiel hat. Das Resultat dieser Feigheit war ein für den Dachsjäger sehr überraschendes. Zunächst fand er sich gesäßlings im Grase wieder, da Onkels schreckliche Boxerfaust mit Nachdruck die Gegend zwischen seiner Nase und Ohrmuschel aufgesucht hatte. Dann mußte er erleben, daß sein berühmter Dachshund, der noch immer wütend in sein armes Opfer biß, von mir eins über die Nase bekam, daß er alle Dächse und Mondscheinnächte auf immer vergaß. Ferner hatte Oliver dem armen Grimbart aus dem zufälligerweise mitgenommenen Gewehr den Gnadenschuß gegeben, und zwar auf zwanzig Schritte, so daß der Balg recht zersiebt aussah. Das bemitleidenswerte Tier hatte sich, nachdem sein Angreifer unschädlich gemacht worden war, doch noch bis zur Gartentür geschleppt und kratzte an dieser wie ein bittender Hund. Ich werde das Schauspiel nie vergessen. Endlich wurde nicht nur dem kühnen Dachsjäger, sondern zugleich allen seinen Kollegen, recte Sportgenossen, die Ausübung jeglichen Jagens oder 120 Fangens ein für allemal untersagt. Für die Ohrfeige und den Hund erhielt er zwanzig Kronen. Einigermaßen erstaunt räumte er das Feld und überließ uns unserer gerechten Entrüstung.

* * *

Einmal muß es ja doch sein . . . Vielleicht gelingt mir meine Beichte unter Beistand einer Nestor Gianaclis besser . . .

Also: ich hatte meine Koffer für Calais schon gepackt – da rüttelte mich ein eingeschriebener Brief aus meinen normannisch-boulevardeusen Phantasien.

»Lieber Freund!

Ich heuere am 10. Oktober, das weißt Du doch. Daß Du mir einmal Deinen Beistand hierzu, will sagen, Deine Assistenz als Beistand zugesagt hast, wirst Du auch noch wissen. Also, warum bist Du noch nicht da?

Dein Harry.«

Ein ganz harmloser Brief.

Aber er hatte auch ein Postskriptum:

»P. S. Am 10. nach der Haupt- und Staatsaktion Diner. Um 6 Uhr. Frack usw. Menu: Comsommé à la Colbert. - Saumon du Rhin, Mayonnaise. - (Sherry 1812.) - Pain Metternich. - Bœuf à la Richelieu. - (Berncastler Doctor.) - Fasan à la Comte Charolais. - (Pommard 1894.) - Selle de Chevreuil. - (Moët et Chandon, B. Imperial 1884.) - Claçe Luxembourg. - Dessert. - Fromage. - Fruits. - Mocca. – (Einige erlesene Bock und beliebige Liköre.)

Hierzu muß ich Dir leider bemerken, daß Gertrud K. Kranzeljungfer ist und Du ihr Tischherr sowie 121 alles übrige sein wirst. Um 8 Uhr fahren Lizzie und ich schon weg. Nebenbei: die Hirsche schreien famos. Ein Zwölfer und drei Zehner stehen Dir zur Verfügung, mehr nicht. In den Keller der Jagdhütte habe ich einige Dutzend Haut-Sauternes einlegen lassen. Ein paar Kisterln Henry Clay findest Du auch vor (wenn Bartl sie nicht sukzess- und furtative verraucht hat). Also 10ten, 3½ Nachm. in der Schloßkapelle. Servus, Alter. H.«

Nun hub ein langwieriges Hinterhauptkratzen an. Ich glaube, damals hat mein Scheitel die Schönheit seiner Jugendlockenfülle eingebüßt . . .

Aber die Koffer blieben doch gepackt. Wir hatten schon den Achten.

Mit den Gams war's hier zu Ende. Und dort schrien die Hirsche. In der Normandie und auf dem Boulevard des Capucines keine. Dafür ist man in Paris vielleicht stilisierter. Und 60 km Durchschnittsstunde ist auch eine Wonne. Das Wagenzüngel schwankt aufgeregt.

Grandlputz'n am Jagdhüttenfeuer – Kitty dear . . . Gertrud K. mit den rotblonden Flechten und den schwarzen Augen – der knallrote Daimler mit Benzinparfüm . . . . Hirschbrunft – Paris. Vier starke Hirsche mit Haut-Sauternes und Henry Clay – –

Und das Züngerl hing schon zu Harrys Gunsten. Brunft, Brunft mit Nebelmorgen und fliegenden Pulsen.

Jetzt nur eine Lüge. Ein Königreich für eine Lüge. Schäm' dich, alter Jäger – keine Lüge haben?

Als wir abends um das grundgemütliche Kaminfeuer saßen, dessen Flackerschein immer so hübsch über die verwahrlosten Tapeten und die Venetianerspiegel irrte, hub ich feierlich an: 122

»Aus unserem entzückenden Projekt wird also leider nichts.« Ein schwerer Seufzer.

»All aboard? Ich fahr' . . .« replizierte Onkel mechanisch.

Und Kitty dear: »Aber warum denn? Du machst nur Spaß.«

»O, es ist nur zu trauriger Ernst. Mein bester Freund ist plötzlich und ziemlich hoffnungslos erkrankt.«

Das war nicht einmal eine Lüge. Es lebe der Symbolismus.

»Das ist kein Grund,« knurrte Onkel.

»Er wird schon gesund werden,« brummte Oliver.

»Vielleicht kannst du nachkommen,« seufzte Tante.

»Ach, der Freund! In Paris gibt's so gute Pralinés,« schmollte Kitty.

Stille. Flammengesumme. Herbstwind an den Fenstern. Pfeifengepaff.

»All aboard. Ich fahr' . . .« Ich versuchte zu scherzen und verzog meine Lippen zu einem schmerzlichen Lächeln.

»Mit uns? . . .«

»Nein, zu meinem armen Freunde.«

Das Diner kränkelte an Schwermut. Ich hielt einen rührseligen Abschiedstoast, vergaß nicht Gamskrucken und Gastfreundschaft hinreißend zu preisen und erstickte meine Tränen mit einem besonders tiefen Schluck.

Die Astern hingen auch schon ganz weinerlich in ihren Vasen und das Klavier war verstimmt. Der Abend verlief unter erbaulichen Gesprächen zu gegenseitiger Stärkung und klang in ein gedämpftes Bridge aus, bei dem ich gerade die Trinkgelder für meine Reise gewann.

In der Nacht fraß der Gewissenswurm an meinem Herzen. Guten Appetit!

Über die Wehen des nächsten Tages gehe ich sanft 123 hinweg. Die alten Parkette ächzten qualvoll unter meinen scheuen Tritten und die alten, feudalen Ritterfrauen schauten mich unheimlich an. Mittags rasten wir noch einmal auf Pils- und Frankfurterbirsch; dann war auch das gewesen.

Die Erfüllungen des Herbstes.

Gegen 4 Uhr nachmittags stand der wackere Zweiundzwanzigpferder wieder fahrtbereit. Hopkins sollte mich führen; Onkel erklärte, einen Abtrünnigen nicht mehr karren zu wollen.

Die alten Steinfliesen vor dem Portale waren naß von Tränentau. Selbst Treff heulte beklommen. Noch einmal fuhr ich verhohlen durch Kittys seidiges Haar, noch einmal sog ich mich in einem Gardinenwinkel an ihren Schelmenlippen fest. Ich hatte meinen Stock im Salon vergessen, und sie wußte wo . . .

Dann lehnte ich in den roten Lederpolstern und sprach zu Hopkins das bittere Wort:

»All right!«

Tücherwehen und verhallende Rufe.

Die Linden huschen hastig vorbei. Das Herrenhaus versinkt hinter der Gartenmauer. An den Pneumatiks klebt das nasse, bunte Laub. Ein Kilometer – und auch das ist weg.

All aboard? Ich fahr' . . .

Als ich ausstieg, gab mir Hopkins einen dicken Brief.

»Miss Kitty gave me this for you, Sir.«

Ihre Abschiedsworte? Das fehlte noch. Ich hastete auf den Perron hinaus, um nur den trauten Daimler nicht mehr zu sehen. Als ich ihn davonzischen hörte, atmete ich auf.

Gott sei Dank, ich eroberte ein stilles Halbcoupé. Da konnte ich mich meinen Schmerzen, der Lektüre des 124 Briefes und einigen milden Zigarren ungeteilt überlassen. Aber sonderbar: Schon von außen sah dieser Brief unheimlich schalkhaft aus. Keine Tränenspuren auf der Adresse. Nichts Zerknittertes an dem Kuvert, wie es ein Lebewohlblatt, das man stundenlang in den geheimsten und intimsten Kleiderfächern herumträgt, zieren soll . . .

Bedächtig schnitt ich den Umschlag auf.

Ein Bögelchen fiel heraus, nebst einem zweiten Brief. Mir wurde schwül.

Zuerst das Bögelchen.

»Lieber Vetter! Diesen Brief hast Du gestern im Salon verloren, als Du Dich beim Bridge nach einer herabgefallenen Karte bücktest. Viele ›zweite Fälle‹. Kitty.«

Es war der Brief meines Freundes . . .

Die schneeigen Grate des Gamsrevieres glommen in rotem Schein – ein letzter, feuriger Gruß. Dann schoben sich andere, fremde Berggestalten vor. Gleichgültige Örtchen glitten vorüber: nur der Bahnschranken da scheint mir bekannt. Und drüben die Hügelserpentine der Chaussee erinnert mich auch an den Hebeldruck der vierten Geschwindigkeit. Weiter – vorbei!

Und träumend fahr' ich in den bronzevioletten Kiefernabend hinaus. 125


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