Friedrich von Gagern
Im Büchsenlicht
Friedrich von Gagern

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Fehlbirsch – Grenzhirsch

Nun saß ich ja richtig wieder einmal in der Jagdhütte. Hoch oben in den Bergen. Bartls kernige, untersetzte Gestalt silhouettierte sich wundervoll von dem knackenden Herdfeuer. Ein Stückchen Profil sah ich noch im roten Loderscheine und dieses bißchen Gesicht schien selbstzufrieden zu schmunzeln. Der Schmarren goldete sich duftigem Gelingen entgegen. Das Rezept hatte Bartl von mir; was er »Schmarren« nannte, das war auch einer.

Nötig war er ja eigentlich nicht, der Schmarren. Die Speisekammer der gütigen Baronin hatte uns mit Besserem versehen. Schinken, Metwurst, Pastete, Butter, 126 Eier, Schmalz, Reis, ein Markknochen und einige Zwiebeln (für Risotto, den ich großartig mache), ein gewaltiges Stück Rindfleisch – alles, gar alles war da. Dazu die von Harry angekündigten Haute-Sauterne-Batterien. Das langte. Und mußte langen für eine Woche. Den Eiskeller besorgte das hundekalte Wetter. Und eine Woche mußte ich wohl noch heroben bleiben, um mein Pensum abzuarbeiten. Denn die Hirsche schrien flau und unzuverlässig. Darin hatte mich Harry also übel berichtet. Oder er hatte es selbst nicht besser gewußt.

Also, der Schmarren war eigentlich überflüssig angesichts unserer Verproviantierung. Aber er gehört einmal dazu. Ohne Schmarren keine Hirschbrunft. Und stärken mußten wir uns auch tüchtig heute abend, denn morgen wollten wir Großes verrichten.

Einen uninteressanten Zehner hatte ich bereits ganz uninteressant erledigt heute früh. Stellt sich scheibenbreit her auf achtzig Gänge und orgelt darauf los. Nicht einmal Nebel, nicht einmal eine anstrengende Birsch. Auch das Geweih war gähnhaft langweilig, nicht zurückgesetzt, nicht übereilt. Blieb noch das Grandlputzen. Und das besorgte ich eben mit stiller Liebe – im unsicheren Lichte des sprühenden Feuers.

Als wir abends nach erfolgloser Arbeit heimkehrten, kehrte sich Bartl plötzlich nach mir um.

»Erlaubt hat er's eigentli' net, der gnä' Herr, aba . . .«

Er hielt inne und strich seinen langen, dichten Gottvaterbart.

»Was hat er nicht erlaubt?«

»Er hat mir die vier Hirschen für Ihna ang'wiesen. Aba i denk', es machet nix, wenn mir . . .«

»Wenn wir?« 127

»Droben auf der Grenz' schreit a z'ruckg'setzter Zehner. Den wann mir kriegeten . . . Is a Mordstrumm Hirsch.«

»Gehn wir ihn an. Ich übernehm's schon.«

»Ja, wann Sie's übernehmen . . .« Bartls scharfblaue Augen blitzten auf, und mit einem Mal wurde er redselig. Die Komteß von drüben hätt's schon lang scharf auf den Hirsch. Sie ging' furchtbar fleißig an die Grenz' und der lange, dürre Herr, der jetzt bei ihrem Vater zu Besuch ist, auch. Und wie stark er wär', der Hirsch!

Eines also stand fest: morgen galt's dem Grenzzehner. Dafür verzichtete ich auf den Zwölfer. Und wenn Harry . . . aber er wird nicht. Flittert ja kopfüber, und der Flitterkoller macht das Herz milde.

Ich hatte die Grandlsäuberung vollendet und weidete mich nun am Anblick der sauberen Dinger, die im Herdfeuerscheine so vieltraut schimmerten.

Das sind unersetzliche Stimmungen. Der Sturm wälzte sich heulend über den Grat, die Fichten rauschten bänglich, und unsere kleine Hütte ächzte in allen Fugen. Dann schlug das unholde Wetter den Rauch herab, daß wir weinten und husteten. Aber es ist doch hinreißend schön, das chromatisch auf- und niederjammernde Sturmlied.

Ergreifend ist ja der milde Herbst, wenn er still in nassen Gärten weint und über die verwaisten Wege schleicht, die der Ahorn mit flammendem Laub übergoldet. Besänftigend ist auch die reine Verklärung, die sich im Abendlichte auf die rostfarbenen Wälder senkt: man sargt dabei so schön sein Hoffen ein und lebt von Erinnerungen. Das ist der weiche Herbst des Entsagens und des Friedens, wie Dichter und Frauen ihn brauchen. 128 Aber der ungestüme Gast, dem der Mannestrotz entgegenjauchzt – der ist hoch droben zu Hause, auf den Brunftplänen des Hochgeweihten. Wenn er abends durch den Tann jubelt, daß die Stämme bis ins Mark schauern vor Furcht und Ohnmacht: dann straffen sich dem Jäger die Sehnen; in Stolz und Wille und in wilder Freude stemmt er seine Stirn gegen die Wucht der Elemente.

* * *

Solch ein wehmütiger, versonnener Herbsttag war es gewesen, als ich durch den farbenglühenden Park dem Schlosse zufuhr. Kaum fand ich Zeit, alle Hände zu schütteln, liebe, warme Freundeshände und gleichgültige Gastpfoten. Mit ungebührlicher Hast wurden wir nach der Schloßkapelle kommandiert, was mir in Vorausahnung des Diners nicht einmal so unangenehm war. Aber ein Gläschen hätte ich doch gerne gehabt vor der Anstrengung der Beistandspflichten.

Es war übrigens sehr feierlich. Sanftes Licht schrägte durch die bunten Spitzbogenfenster herein und kokettierte mit dem goldroten Haar der Braut. Harry sah nicht allzu ergriffen aus. Ein bißchen Zynismus gehört zur Gesundheit. Einige seiner guten, alten Grimassen konnte er sogar unter dem Eindrucke dieser Krise nicht verwinden. Dafür weinten Mütter und sonstige überflüssige Personen sehr rührhaft, und sogar die Brautjüngferlein zerrten an ihren parfümierten Mouchoirs. Ob aus Ergriffenheit – oder Sehnsucht – oder Neid: das verrieten ihre Tränchen nicht. Den Neid hätte ich übrigens gar nicht begriffen. Denn ich war ja auch noch da . . .

Das Harmonium atmete dazu einige fromme 129 Akkorde; der ehrwürdige Pfarrer sprach eindringlich über allerhand Dinge, die mir weder zur Liebe noch zur Beschleunigung dieser hungererregenden Feier dienlich erschienen, und ein paar Blumensträuße rauschten zu Boden; aus Rührung. Endlich, endlich traten wir aus der gruftigen Weihrauchatmosphäre wieder in den frischen Abend hinaus, und nun hob ein gutes Beglückwünschen an. Aus Versehen gab die Braut auch mir einen Kuß, was ich als hors d'œuvre des Diners mit selbstverständlicher Ruhe entgegennahm.

Ich führte schön Gertraud zu Tisch, ich war natürlich auch ihr Tischherr; aber meine gute, alte – sie war 22 – Freundin interessierte sich wenig um die tadellose Rasur meiner Oberlippe – früher hatte ich einen »Englischen« getragen – ja, nicht einmal meine glühenden Schilderungen von Gams und Lebensgefahr, letzten Deingedenkens in zweifelhaften Momenten und ähnlichen Flattereien vermochten ihren Feuersprühregen von Geist zu entfachen. Als ich ihr endlich – ohne Erröten – gestand, ihretwegen eine Reise nach Calais aufgegeben zu haben, erwiderte sie ein ungeduldiges »Aber hören Sie doch schon auf«, worauf ich mit meiner linken Nachbarin anfing. Das war kein hübsches Schmaltierlein, sondern eine massive Amerikanerin, nichtsdestoweniger Kranzeljungfer – bei dem Herg'schau ganz glaublich – und für einige Höflichkeiten auf englisch beängstigend dankbar. Außerdem hatte sie einen Knödel im Vorschlag und einen zweiten unter dem Lecker, weshalb ich mein Interesse auf die Inkar- und Invinationen der Menukarte zu konzentrieren beschloß.

Harry ist ein lieber, guter Kerl, ja, was mehr als das bedeutet: steinreich. Aber Stil hat er nicht. Das Menu war stillos wie die Wiener Universität. Aber 130 gut und reichlich. Und darauf kommt's am Lande an. Der Wein wie immer untadelig. Und von den Zigarren konnte man auch nicht schlecht denken.

Den Rest dieses Tages schildere ich telegraphisch:

50 Glückwunschdepeschen. 20 Toaste. Fünf Räusche. Photographische Gesamtaufnahme. Brautpaar ab. Jetzt erst recht. Abseitiger Weitertrunk – alles egal. Frühzeitig in die Klappe . . . Halt! Denn da hat sich etwas Bedeutungsvolles ereignet . . .

Als ich den »Archivarius« des Schlosses kennen lernte, ahnte ich nicht, daß dieser sonderbare Mann eine eigenartige Rolle in der Geschichte der nächsten Wochen spielen würde.

Ein komischer Kerl, dieser Heliodor Kranich; komisch vom Namen bis zu seiner Seele. Groß, gut gewachsen, etwas dickbäuchig, glatt rasiert. Dazu ganz verborgene Äuglein hinter einem Klemmer und darüber eine beängstigend gescheite Stirn.

Als ich diesem Homo novus das erstemal die Hand schüttelte, mußte ich Harry wohl fragend angeschaut haben, denn er flüsterte mir in einem unbewachten Augenblicke zu: »Ein großes Genie, weißt du, aber ein verkommenes. Ich habe mit ihm seinerzeit auf der Hochschulbank gesessen; wir haben manch guten Streich zusammen verübt, manch erlesen Glas geleert – aber immer auf meine Kosten – und er ist mir unentwegt der treueste Freund geblieben. Jetzt habe ich ihn unter Verleihung des Titels ›Archivarius‹ zu mir genommen. Er dichtet und geigt, liest meiner Mutter allerhand Schund vor und leistet ihr Gesellschaft, ist harmlos, tiefsinnig und schießt draußen im Park aus philosophischen Gründen alles, von der Krähe bis zur Amsel.« 131

Was Wunder, daß mich Heliodor Kranich interessierte? Ein Mann, der aus Philosophie Krähen schießt? . . .

Der Zufall wollte, daß ich just mit diesem Schweiger die Stätte wüsten Schlemmens verließ. Die Reise lag mir in den Knochen, des Weines hatte ich genug, und die üppige Amerikanerin ängstigte mich.

Als wir mit flackernder Kerze über einen der langen Schloßkorridore schritten, begann Kranich: »Sie scheinen alles zu hassen, was ad pompam et ostentationem geschieht?«

»Hm – einen guten Tropfen veracht' ich nicht . . .«

»Ich auch nicht. Aber das ist eine Sache für sich und soll auch für sich genossen werden. Ich habe einige Upmann Flor und eine gute Flasche auf meinem Zimmer. Wenn Sie einem armen Dichter – der Wille gibt doch den Titel, nicht wahr? – die Ehre erweisen wollen?«

Das paßte mir gerade vor dem Schlafengehen.

Bald saßen wir in Heliodor Kranichs geweihter Dichterstube. Mildes Lampenlicht, das alles Ungewollte verschweigt. Ganz erträgliche Zigarren und ein sanfter Ernüchterungswein. Auf dem großen Schreibtisch engbeschriebene Quartblätter in wirren Haufen, wie windzerrafftes Laub, dazu dick überdeckt von Zigarrenasche. Die Diele gleichfalls überäschert und mit versogenen Stummeln geziert. Inmitten der Geistesblüten eine bronzene Buddhastatue mit stieren Augen in wadenkrampfreizender Hockstellung.

Vor diesen Herrlichkeiten thronte ihr Beherrscher im rotbelederten Lehnstuhle und klimperte auf einer Geige, die er vom Schrank herabgeholt. Ich hatte mir's in der wacker durchgesessenen Kanapee-Ecke bequem gemacht; 132 vielleicht ging etwas auf mich über von der dort ausgebrüteten Weisheit.

Heliodor Kranich sah mich unverwandt an, wenn auch mit dem Ausdrucke der Zerstreutheit.

»Sie sind doch auch ein großer Jäger vor dem Herrn, nicht wahr?« frug er endlich.

»Groß? Wenn Sie die Größe nach der Leidenschaft messen . . . Aber Sie selbst sollen ja – aus philosophischen Gründen jagen?«

»Das ist meines Freundes und Gönners Stimme,« sprach Heliodor Kranich mit schwermütigem Lächeln, »er versteht es nicht anders.«

»Und wie wäre das zu verstehen . . .?«

»Vielleicht ist der Haß ein philosophisches ›Gefühl‹,« sagte der Archivarius dumpf und schwer, »obgleich ich von Heraklit bis auf Nietzsche nichts darüber gelesen. Denn sehen Sie, ich schieße meine Eichelhäher und Krammetsvögel aus Haß . . .«

»Aus Haß?«

»Aus Haß.« Er legte die Geige auf den Tisch. »Gegen den Überwinder. Dieser Überwinder ist der Vogel. Er spottet der Schwerkraft, die uns an den Staub zwingt. Er überwindet dieses furchtbare Naturgesetz, er vermag mehr als wir, und das nicht kraft eines höheren Intellekts, sondern als zufälliger Günstling der Natur. Darum hasse ich den Vogel, und er muß herunter. Hinterher tut es mir ja leid und nichts vermöchte mich dazu, so einen gefiederten Kadaver anzurühren – nicht einmal sehen will ich ihn. Mir genügt es, wenn er fällt. Ich kann auch Stellen, wo ich Vögel geschossen, für einige Wochen nicht wieder betreten, weil mir diese toten Tiere ekeln. Aber das Schrotkorn, welches die Schwerkraft noch leichter überwindet denn der Vogel, hat dank 133 meiner Kunst im Dienste meines Willens den natürlichen Überwinder, den Erzfeind, gestraft. Er mußte wieder in den Staub, an dem ich hafte, und durch Vernichtung seines physischen Mehrvermögens hat ihn der Mensch unterworfen.«

Eine ganz neue Theorie der Jagdleidenschaft! Und eine tiefsinnige obendrein. Heliodor Kranich wuchs in meinen Augen rapid.

»Aber den wahren Genuß hatte ich nie,« fuhr er wehmütig fort; »denn ich treffe nur sitzende Vögel und die nicht immer. Aber während der Überwindung des Irdischen, im Aufschwung will ich den Kerl fallen sehen! Seines unverdienten Glückes beraubt, will ich den Günstling herabplumpsen hören! Das müssen Sie mir vormachen; diese Sensation müssen Sie mir gönnen! Und dann werden Sie auch mich das Flugschießen lehren, nicht wahr?«

»Gerne, wofern Sie nicht talentlos sind . . .«

»Aber, was wollen Sie, ein armer Dichter – halt, da sind sie!«

Die Diele hatte geknackt. Ein unschuldiger Ton, der aber unseren guten Heliodor Kranich enorm zu erregen schien. Er sprang auf und rannte in eine Ecke, aus der er alsbald einen großen Reisekorb hervorzerrte, um ihn vor die ins Nebengelaß führende Tür zu stellen.

»Was haben Sie?« frug ich erstaunt.

»Die Guten, die Guten – ich muß mich zum Nahkampf rüsten . . .«

»Gegen wen, um Gottes willen?«

»Gegen die Geister. Haben Sie sie nicht gehört?«

»Aber Sie werden doch nicht . . .?«

»Natürlich. Was glauben Sie . . .?«

Er zog aus einer Schublade seines Schreibtisches 134 einen alten, rostigen Revolver hervor, der da zwischen beschriebenem Papierwuste seinen Lebenszweck vergessen haben mochte. Dann raffte er aus einem anderen Fach ein kleines Flaubert-Terzerol, dazu einen Knicker mit Rehfuß, der sonst wohl nur zum Buchaufschneiden und Zigarrenköpfen diente, und legte dieses ganze Waffenarsenal säuberlich aufs Nachtkästchen. Schließlich griff er noch auf einen der von schimmernden Bandrücken strotzenden Bücherkasten und förderte einen mächtigen Pallasch zu Tage. Nach einigen Anstrengungen gelang es ihm auch, dieses Ding aus der Scheide zu zerren, und eifrig spießte er den Stahl handbereit neben das Bett in den Fußboden.

»So,« keuchte er dann, »jetzt bin ich mit meinen Vorbereitungen fertig. Nun mögen sie kommen. Solange Sie noch da sind, werden sie sich hüten; aber dann geht's los. Oft liege ich die ganze Nacht in wildem Ringen mit diesen Unholden, daß mir eisiger Schweiß auf der Stirn perlt . . .«

Wieder krachte die Diele.

»Hören Sie sie nicht? . . . Sie melden sich an . . . Natürlich,« fuhr er fort, »jetzt wird unten orgiastisch pokuliert, und da die Guten nicht im großen Saale in ihre Beziehungen zwischen vierter und dritter Dimension treten können, lassen sie ihre Wut an mir aus. Vielleicht rächen sie sich auch für die Heirat des Schloßherrn. Wer weiß? Ich sage Ihnen, diese körperlosen Denker haben differenzierte Empfindungen . . . Ich wage nicht mehr ohne Rückendeckung durchs Zimmer zu gehen – ich kann mich nur an der Wand entlang fortdrücken. Und dann liegen immer kalte Leichen in meinem Bette. Auch schlafen kann ich nur mit dem Rücken an die Wand gepreßt . . .« 135

Nach einem kurzen Gespräche über die Realität solcher Vorstellungen und Tatsachen überließ ich den armen Heliodor Kranich doch seinem Schicksale, das heißt seinen Phantasien, und suchte die eigene Röhre auf, denn der Schlaf bleierte mir in den Augen. Kaum hatte ich die Tür hinter mir geschlossen, so hörte ich auch schon, wie der philosophische Krähenjäger in seinen Vorbereitungen zum »Nahkampf« fortfuhr – er schob auch vor diesen Eingang irgendeine improvisierte Barrikade. Wahrheit ohne Dichtung!

Am anderen Tage wurde ich mir darüber klar, daß ich, abgesehen von Haute-Sauterne, Hirschen und Einlösung meines Wortes, besser nach Calais geautelt wäre. Der Entscheidungsgrund, schön Gertraud mit Namen – sie war für heute noch dageblieben –, erwies sich nämlich als schlechthin vergrämt. Endlich hatte ich mein Wild doch in einer allerdings schon indiskret kahlen Laube festgemacht und erklärte frei, daß mein Hagestolzentum mich nachgerade zum Kümmerer machen werde . . . Oh weh . . . Mein Schmaltierlein kniff die Lippen aufeinander, keine Verheißung, keine Erlösung leuchtete in diesen Augen, und zwischen den schmalen Brauen furchte sich Unheil. Sie sei verlobt, das solle ich respektieren, und wenn ich's nicht wisse, so solle ich's jetzt wissen, und er sei ein ganz anderer Kerl –

O Harry! Betrug am Freunde, schnödestes Vergehen! – Und ich solle lieber in die Berge gehen, die Hirsche schrien schon längst – und Jagen und Morden sei für mich überhaupt besser als plumpe Zartheit . . .

Das begriff ich.

Außerdem war's wirklich hoch an der Zeit, wollte ich mit ein paar guten Geweihen heimfahren.

So nahm ich denn nachmittags Urlaub von der 136 gütigen Baronin, von Heliodor Kranich und von meiner unholden Gertraud, die erst abends abgeholt werden sollte. Ihr Vater war Gutsnachbar.

Die anderen Gäste hatte der Herbstwind über Nacht zerstreut. Im großen Saal sah's öd und dumpf aus nach dem Bacchanal. Umgestürzte Weingläser, Dunst, Kopfweh . . .

Bartl, der gestern natürlich auch da war und in der Gemeindestube tapfer mitgefeiert hatte, litt gleichfalls an Schädelbrummen. Als er aber von Hirsch und Brunft hörte, kam Munterkeit über sein wehes Hirn, und um 2 Uhr ging's richtig aufwärts, in die freien Berge, wo ich jeden Steig kannte. Da gab's keine kleinen lyrischen Leiden, nur große, starke Wonnen. – Und jetzt saß ich heroben, einen herrlichen Racheplan im Herzen. Für die schmachvolle Fehlbirsch.

* * *

Nach saftigem Schlafe erwachte ich sehr zeitig. Bartl rumorte aber schon draußen zwischen allerhand Jagdhausrat herum, und so behaglich sich's auch dehnte unter den Wolldecken auf sanftem Leilach – einmal mußt' ich ja doch raus. In solchen Fällen, da Wille und Fleisch gegeneinander ankämpfen, sieht man am besten nach dem Wetter. So tat auch ich. Als ich aber mein noch etwas traumschwüles Haupt in die Kälte hinaussteckte, fand ich mich reichlich belohnt: der Sturm hatte ruhigem Froste weichen müssen . . . Das rechte Brunftwetter! Weiße Nebelseen fluteten still zwischen den Bergkämmen, die selig zu schauern schienen unter den kalten Mondesküssen. Da und dort trotzte ein schwarzer Fichtenhorst hervor aus dem lichten Wellenspiele . . . dann und wann brandete der milchige Saum höher empor an den 137 Almhängen: ein stilles Geisterleben. Und jetzt grollte es plötzlich von fernen Höhen herüber: »Öh . . . öh . . .« Bartl riß die Tür fast mit sich herein. Wieder sah ich nur seine pittoreske Silhouette gegen die flackerhelle Küche.

»Das is er, gnä' Herr . . . Auf! Auf! . . .«

Ich war ja ohnehin »auf«. In wenigen Minuten hockten wir auch schon um den Herd, hastig kauend und dazwischen in Optimismen schwelgend. Dann eine glimmende »Kurze« unter die Nase – Zigarren vor Sonnenaufgang, das heißt nach dem Schlafe, schmecken greulich – ein Glasel Enzian in die Adern, daß sie aufglühten bis in die Knöchel hinab, und hinaus. Einmal über die Türschwelle, wird man gleich schweigsamer. Da fächelt der Lebensernst kühl entgegen, das Gelände zeigt Neigung zu allerhand privaten Gehässigkeiten und der Magen revoltiert gegen die unzeitgemäße Vertikallage. Dann kommen so die Augenblickchen, wo man am liebsten alles zum Teufel hauen tät' und die Hirsch' verflucht, die grad zwischen Dunkel und Siehstmichnicht schreien müssen, und am allerliebsten wieder in den Federn wär' . . . Ehrlich gestanden, einmal bin ich solch einer Anwandlung auch erlegen. Wir waren um halb 12 Uhr nachts vom Hause weggeritten, bei einer Kälte, daß einem der Steigbügel festfror an der Sohle. Der Ritt währte so seine vier Stündlein, anfangs hübsch lyrisch, durch mondhelle Dörfer und Felder, dann aber mit eins eigensinnig steil über heimtückisch Wurzelwerk und Geröll. Die Haflingerstuten gingen wie die Automaten über das unwirtliche Zeug; nur ganz auf den zottigen Hälsen mußten wir kauern, sonst wär's hintenüber gegangen und ein Steißbeinbruch gehört zu den Dingen, welche neben ihrer objektiven Wirkung auf das Denkvermögen auch höchst subjektive Gefühlswerte 138 auslösen können. Zum Schlusse wurde abgesessen – es war auf einem öden Plane hoch oben zwischen den Kämmen. Und darauf noch eine Stunde Marsch hinter der nach erhitztem Lacke duftenden Laterne des Jägers her. Die armen Teufel taten mir leid, die in finsterer Nacht mit den Gäulen zurück mußten – es fiel auch richtig einer in den Graben samt der kleinen Rappstute. Na, unterwegs hatte ich 's Maul voll gehabt und kam mir vor wie ein rechter rough-rider auf schwarzem Roß in schwarzer Nacht, die Büchse auf dem Rücken und Patronen im Leibgurt. Dazu schmauchten und plauderten wir; nüchtern war keiner so ganz, und die Whiskyflasche fehlte nicht im Rucksack. Aber hinter der verdammten Laterne wurde ich klein, ganz klein; dazu steifte sich ein brennend kalter Wind gegen uns, daß es eine Art hatte. Endlich in der Hütte angelangt, flackerten bei Glühwein und Schnitzeln die Lebensgeister nochmals auf; aber das war schon mehr ein hysterischer Mut, und als die anderen richtig hinausstapften, sagte ich Konkurs aller Sinneszentren an und haute mich in die Klappe . . . Dieser Blamage gedachte ich, als mir jetzt der Morgen so feindselig-ungemütlich ins Gesicht sah und mich bettwärts scheuchen wollte. Aber damals hatte ich ja kein Auge zugetan die ganze Nacht, und meine Leidenschaft war mäßig, da ich mir im Reviere einige Schlappen geholt. Dagegen standen heute eine ausgiebige Nachtruhe, ein starker Zehner und die Wollust der Rache . . .

Hat man den ersten Morgengrant überwunden, so verfällt man bald in einen schweigsamen Saumtiertrott, und der ist das Richtige. Man schwätzt nicht, man säumt nicht, immer vorwärts mit Resignation, bis man vor den Feind gestellt wird.

Auf und ab, ab und auf. Wildbache, Übersprünge, 139 modrige Brückerln, Wasser im Schuh, buckliger Almboden, glimmeriger Sand – jeder kennt das. Noch stand der Mond über den Nebelseen, als wir die Höhe erreichten, die den Brunftplan beherrschte. Im Talgrunde lief die Grenze und da drunten schrie der Zehner, bald hüben, bald drüben.

Behutsam taten wir uns unter einer Schirmtanne nieder und harrten in fröstelnder Ergebenheit der Dinge, die da kommen sollten, vor allem des Büchsenlichtes. Damit schien es indes noch gute Weile zu haben. Drüben im Osten schielte zwar etwas wie schwache Dämmerung über die wogenden Schwaden . . . Trotz des wärmenden Enzians beutelte mich die Kälte durcheinander, daß ich auf rechts und links vergaß und die Zähne wild gegeneinander schnatterten. Der Mond stand still am Himmel, als hätte Josua selig ihn zum Ausharren kommandiert, und die Morgenröte zögerte, als ob sie der Geldbriefträger in Person wäre. Langsam sank meine Stirn vornüber, alles Sichaufreißen versagte, immer wieder zog ein Bleigewicht das Haupt gegen die Knie – ich schlief.

Ööh . . . Ööh . . . Ööööh . . .!

Das dunstige Rot des Morgens stand über den Bergen, alles war hervorgetreten aus seinen Schatten, und in den Bärten der alten Tannen kroch der Nebel herum. Drüben leuchtet ein bleicher Felsbrocken wie ein grinsender Totenschädel, rechts steht etwas Großes, Dunkles hinter den nassen Schleiern. Wild? . . . Die grauen Schwaden weichen zur Seite, sie schleichen hangaufwärts. Es war nur ein Strunk. Immer klarer zeichnet sich die Umgebung ab . . . die Tanne dort, erst eine verwischte Silhouette, zeigt schon Farbe und Borke . . . Der Tag!

Öööh . . . Von zwei Seiten. Jetzt und jetzt . . . Zwei 140 Hirsche auf dem Brunftplan. Und wieder rinnen die Vorhänge ineinander, hinter denen es grollt und dröhnt. Schon ist das Büchsenlicht voll, schon zieht ein kalter Wind herauf, der Sonne treuer Herold. Wird er die Feinde scheuchen, die da zwischen mir und dem Wilde spuken? Da . . . Mählich, ganz mählich zerrinnt der Dunst, die Latten eines Zaunes werden sichtbar – und die Hirsche schreien drüben! Pah . . . wir haben ja die Muschel.

Da kommt das Orgeln näher. Zermalmen könnt' ich den Büchsenlauf in fiebernder Ungeduld. Ein Stuck überfällt den Zaun, grad dort, wo die weiße Flut ein Stückchen Ausblick gönnt. Ein Tier. Hallo, da kommt er hinterher. Vierhundert Schritte im Nebel. Er treibt das Tier über die Latten hinweg, und wieder verschlingt ihn das brauende Chaos.

Immer stärker fegt der Wind das Tal hinauf. Nun flieht er aber, der graue Unhold. Ängstlich hastet er höher und schlüpft in den Bergwald. Die Hirsche drüben stehen frei – der Platzhirsch mit seinem Rudel und ein starker Rivale, ein ernst zu nehmender Achter, der dem anderen unaufhörlich Trutz zuröhrt. So wird's nicht gehen – der Zaun ist die Grenze. Und einen herüberröhren, da beide sich selbst als Gegner vollauf genügen?

Anfänglich hatte es in meinen Adern wilde Revolution gegeben beim Anblick der zottigen Recken, die ihren dampfenden Grimm in den Morgen hinausschrien. Der Zehner schien ein besonders braver Hirsch zu sein; seine Krone blitzte wie ein helles Zelluloid und sein Baß hätte einem italienischen Schmieren-Buffo alle Ehre gemacht. Aber auch sein Widerpart trug mit Unrecht so kargen Endenschmuck; sicher war es ein Zurückgesetzter, ein reifer, alter Jahrgang, eine Marke, wie ich sie liebe. 141 Aber was nützte das? Kochbuch und nichts zu essen, Kristallbecher und keine Glut darin, zwei Kapitalhirsche und auf fremdem Reviere? Bartl mußte mutatis mutandis ähnlich fühlen, denn er brummte allerhand wüste Flüche in seinen langen Bart. Wir saßen aber auch tatsächlich da wie zwei Ableblinge im Ballett, die von ihrer Loge aus die geschmeidigsten Mädchenleiber taxieren können – und das ist halt doch nicht mehr ihr Revier! . . .

Gerade ragte das erste Rändchen des kupferigen Sonnenschildes über die Grate – da kam Leben in die Situation . . . das heißt, nun kam eigentlich der Tod herein.

Bartl gab mir plötzlich einen Rippenstoß, der mich fast gänzlich aus dem in dieser Lage schwer zu beobachtenden Gleichgewichte gebracht hätte. Mein seelisches Gleichgewicht im Revier ist ja immerhin als stabil zu loben – die Qualität des körperlichen hängt dafür von Art und Stärke zahlloser Einflüsse ab. Heute war's zweifelhaft, wie des Morgens immer. Der Morgen ist überhaupt des Menschen Feind und dies aus vielen Gründen: Er zerstört mit brutalem Fußtritt unsere liebe kleine Traumwelt; er grinst boshaft in manches Bacchanal hinein; er oktroyiert uns den lästigen Zeitbegriff; er veranlaßt die Hirsche zu ganz unzivilisiert frühem Geröhre, ja das ganze Wild zu durchaus naturwidrigem Frühleben . . . Schon weiland Shakespeares Liebespaar, Romeo und Julia, greint über den aufdringlichen Naturburschen . . .

Bartl versetzte mir also einen derben Rippenknuff und deutete vorsichtig nach der jenseitigen Lehne. »Da san s' schon.«

Na, deshalb hätt' er mich auch unmißhandelt lassen 142 können. Die Hirsche sah ich auch, etlichemal vergrößert sogar durchs Birschglas.

»Wenn sie nur herüberkommen,« lispelte ich, um den erhaltenen Freundschaftsbeweis doch einigermaßen höflich zu quittieren.

»A wo – das is ja unser Revier,« flüsterte Bartl. »Dös gibt's net.«

»Ja, warum denn nicht?« Im Innern aber frug ich mich: ›Warum sitzen wir denn nachher da?‹

»Na, dös waar do' Wild'rerei.« Ach so, er meinte also jemand, der drüben gleichen Absichten nachging – seine Wünsche auf dasselbe gehörnte Objekt konzentrierte.

»Wer ist es denn?«

»Na, wer, als wia d' Komteß und die dürre Latt'n, die damische – damische . . .« Der echte Bayer! »Aba die bal' den Zehner kriegen.«

Nun sah ich sie auch. Zwei Gestalten. Eine graugrüne, schlanke, sehnsuchterweckende. Und zwei gelbe Striche am Rande des dämmerigen Hochholzes. Das waren die Gamaschen der »dürren Latt'n, der damischen – damischen«.

Fast vergaß ich Hirsche, Jagdfieber, Schußneid, Brunft, Bartl e tutti quanti über der Problematik der Situation einer- und über der Ursach' solcher Problematik anderseits. Nun galt's!

Gertraud hatte uns nicht gesichtet. Zierlich und fest stand sie droben neben einer Fichte, nach dem Rudel hinabspähend, das etwa 400 Schritte unter ihr umherzog. Der andere stockte steif auf seinem Platze. Ihn genau anzusprechen auf Qualität und Alter, war vorläufig unmöglich. Aber die Konturen suggerierten mir sein Bild: lang, hager, mühsamer Scheitel, verdrossener 143 Stutzschnurrbart, schmale, feine Ausläufer – soll man bäuerisch vulgär »Hände« und »Füße« sagen für solch reinrassige Verflüchtigung des Körpers? – ein Brasselett, das aus der handschellenknappen Manschette hartnäckig hervorklimpert, blinkende, saubere Krallen an runzligen Fingern, umfaltete müde Sehwerkzeuge und, um das unwichtigste Organ doch auch zu kennzeichnen, ein leichtes, schmales Hirn, ff! Der richtige, elegante Kümmerer, wie er zur Rassenverfeinerung taugt und von zuchtwählerischen Müttern gerne lanciert wird. Gertrauds Bräutigam! Schwamm drüber. Wer weiß, wie ich in einigen Jahren aussehe! . . .

Das Rudel trat noch immer unruhig umher. Jetzt mußte bald die Entscheidung fallen, denn die Sonne stand schon fingerhoch über den Bergen und ihre Strahlen leuchteten grell im polierten Waffenprunk des Platzhirsches. Der röhrte zeitweilig voll verhaltener Wut – der Achter wich und wankte nicht, er antwortete sogar mit gutem Basse, und der Hausherr hatte alle Mühe, seinen Harem beisammenzuhalten. Ich hielt es für töricht, mittels Muschel in die spannende Situation hineinzupfuschen, ganz abgesehen davon, daß es höchstwahrscheinlich vergebliche Liebesmüh' gewesen wäre. Besser abwarten. Und doch tat mir mein Entschluß leid, als ich das Rudel langsam die jenseitige Lehne hinanziehen sah. Ziehen – das ist es eigentlich nicht. Mehr ein unmerkliches Verrücken der Szene. Der Achter, immer flankierend, wenn auch in respektvoller Entfernung. Schon stand der Platzhirsch keine 200 Gänge mehr unter den gelben Gamaschen. Warum schoß der nicht – ein Zielfernrohr gehörte ja sicher zu einem Helden von solchen Qualitäten? Das war ein ärgerlicher Anblick durchs Glas, das war ein Ameisenhaufen im 144 Kleinhirn! Der kapitale Zehner, brettlbreit dastehend im jungen Sonnenlichte, die Stangen in den Nacken gepreßt, den zottigen Brunfthals gebläht – ein Friesesches Bild! Der Schrei raucht aus dem Äser, dann und wann stampft ein Lauf zornig gegen den Grund. Der Schatten hinter ihm wird kürzer und kürzer.

Ein Peitschenknall, noch einer, noch einer . . .

Das Rudel fährt durcheinander, unschlüssig anfangs, dann in toller Flucht quer an Gertrauds Stand vorbei. Wieder kracht's zweimal. Keine zart aufkräuselnden Rauchwölkchen – moderne Waffen drüben! Das Leittier wirft herum, herunter jagt die ganze Pracht, sie überfallen den Bach, dann den mürben, vernachlässigten Zaun – die Grenze!

Bartl verhält sich musterhaft tout beau. Er weiß, daß wir wuchern werden mit dem blitzschnellen Wechsel der Situation . . .

Einen Stutzer macht das Rudel doch noch. Wo hat's geknallt – wo ist der Tod? So 250 Schritterln wird's noch sein bis hinab. Kügerl, wahr' dich! . . . Du bist die einzige, und der Drilling, den Bartl als Reserve mitgeschleppt, nur Landwehr. Bartls eigene Büchsflinte Landsturm. Aber schon die Truppe muß siegen.

Zu allem Überfluß zog eine fidele Brise quer übers Tal, gerade uns ins Gesicht. Das mußte unserer Wagschale den entscheidenden Ruck geben. Richtig! . . . Sie haben's derwindet, das Mischdüftchen von Salmiak – vide rauchloses Pulver! – und Plang-Plang. Und jetzt kann den Zehner kein Mensch, kein Heiland mehr retten . . .

Das Kopftier wird wohl die Güte haben, von meiner dräuenden Gestalt – die ich ohnehin auf ein Minimum reduziert hinter meiner Schirmtanne – keinerlei Notiz 145 zu nehmen. In der Nachhut poltert der Zehner herauf. Es ist nicht einmal eine rechte Flucht, mehr ein hochchargierter, in Ehren ergrauter Frontgalopp . . .

Und jetzt liegt eine Dampfwolke vor meinem Büchsrohre.

Die freundliche Brise zerpflückte sie rasch. Das Rudel höre ich noch im Holze fortrasen, der Platzhirsch aber walgt talab. Immer wieder bäumt er sich auf und spießt die Vorderläufe in den Rasen; und immer wieder zwingt es ihn nieder, daß er weiter rollt, hinab, hinab – in den Grund, wo noch die kühlen Schatten schweigen. Dort stemmt er sich nimmer empor, still, ganz still liegt er hinter einem Felsköpferl . . .

Und ehrfürchtig still ist die grüne Runde . . .

Bartls Juchschrei gellt wild auf; er höhnt den Träumer weg von dieser Bühne.

Sei der nun Larve oder wahre Physiognomie des Jägers, ich vergaß selbst seiner, als der Mensch neben mir aufjauchzte in der unbändigen Lust des Siegers: des Siegers über Wild und Nebenbuhler. Und als Mensch setzte ich in gierigen Sprüngen hinab, wo meine Beute lag. Die schaute mich an mit glasgrünen Augen. Was galt das jetzt? Die Hand greift gefräßig, wollüstig in die Zinken der Krone, die Muskeln gehorchen dem Willen, nicht ihren Grenzen; mit übermächtigem Rucke reiße ich den Hirsch herum, das Tor zu schauen, durch das mein Tod in dieses trotzige Leben drang. Da, vom Ansatze des Vorschlages sickert's rot durch die Brunftmähne. Und jenseits steckt das Blei in der Decke, handbreit hinter der Lunge . . .

Des kaltblütigsten Denkers Psychologie vermag die Wellen solch heißen Triumphes nicht zu berechnen. Unsere ganze Welt, die Welt, die wir meinen und 146 minnen, die Welt, die uns beherrscht, die uns als Schachfigürlein hin- und herrückt von Schwarz auf Weiß: dieser ganze individuelle Kosmos scheint uns für Augenblicke nur mit Beziehung auf den jungen Sieg zu existieren . . . Das ist das Geheimnis, welches den Jagdtriumph von anderen Eroberungen unterscheidet . . . Und im ersten Rausche vergißt man leicht der Zufälle, so uns zum Siege trugen.

So auch hier. – Die Finger krampften sich wohl freudezitternd um die groben, tiefdunklen Stangen, der starke Zehner war mein; Bartl stand strahlend neben mir, den rotfeuchten Bruch quer übers mürbe Wetterhütl haltend, ein wohlwollendes »Weidmannsheil« auf den Lippen – da tauchte der Mensch in mir unter, und der Grübler reckte seine zweifelsüchtige Fratze hinter den Kulissen hervor. Hinter ihm her schlich ein grau Gespenst, unbequem und freudlos: die Pflicht. Da nahm ich den Bruch aus Bartls Hand, beraubte mit raschem »Eingriffe« den Zehner seiner dunklen, kleinen Haken und rannte spornstreichs hinauf, wo die graugrüne schlanke Gestalt zur Ziersäule erstarrt dastand, leider von den gelben Gamaschen flankiert.

Da ging dem Pflichteifrigen doch der Atem aus; er blieb keuchend zurück, und der leichtfüßige Don Juan, der Schwerenöter, gewann ihm das Handikap ab.

Ergo machte ich, am Ziele meiner Wünsche eingetroffen, einen graziösen Pas und hub devot an zu wohlgesetzter Rede . . .

Aber ich wurde unterbrochen; denn den Hirsch habe ohnehin Rudi geschossen, und mein Schuß sei höchstens als Fangschuß zu bewerten, denn sie habe auch getroffen, und das gut, und überhaupt hätte ich gar nicht 147 mehr zu schießen gebraucht, und obendrein hätte ich da oben gar nichts zu suchen, denn der Hirsch habe mich nichts angegangen, der sei von ihrer Seite, und es wäre eine arge Gemeinheit gewesen, und so weiter; man lese in jeder beliebigen Frauenseele nach.

Don Juan zog sich rasch, sicher und artig zurück, verstummte, steckte das schweißige Reis hinters Hutband und die Grandln in die Westentasche. Dafür drängte sich wieder der brutale, gesunde, breitschultrige Mensch hervor, der ruhig auf eigenäugige Totenschau den Antrag stellte . . .

In einigen Minuten standen wir um den toten Hirsch. Seine grünen Lichter leuchteten teuflisch boshaft, die blauen Augen Bartls zornig, die Blicke Gertrauds gewitterten, und Rudis Sehorgane glotzten blöd und müd.

Bald lag das gestauchte Blei auf meiner Handfläche – und einen zweiten Schuß wollte der Hirsch absolut nicht weisen . . . Ich bekam noch einige bitterböse Falten zu sehen, und Rudi murmelte: »Aber dir kann's doch egal sein, Trudie, mir ist's ja auch; dann habe ich eben den stärkeren Hirsch angeschossen; denn auf den hätt' ich doch nicht einmal gezielt« . . . und laut . . . »Gratuliere – hä – habe die Ehre – hähä – hat mich wirklich sehr gefreut . . .«

Mich auch. Unter solchen Umständen freut einen auch eine mühelose Ernte! . . .

Am nächsten Tage waren wir mit unserem braven Zehner unten, und an rührenden Photoaufnahmen des Paares hat's nicht gemangelt. Bartl gab das Erlebnis in durchaus unobjektiver Weise zum besten; meine Hände wurden weh vor lauter Schütteln und Drücken, und Heliodor Kranich meinte, dies Exempel von 148 Treffkunst genüge ihm fast. Nur in der Bewegung dürfe man das Wild schießen, das uns an solch äußerlichen Fähigkeiten überlegen ist. So zeige man den Meister . . .

* * *

Zehn Tage später.

Die Verlobungskarten waren richtig verschickt worden. Auch ich hatte eine bekommen – schau, schau! Noble Bögelchen aus ff. Schöpfpapier, bedruckt mit einer imposanten Menge von Titeln, Würden und Namen, last not least mit zwei stilvollen Krönlein.

Außerdem zwei Privatbriefe.

Der eine an die Jagdverwaltung. Man möge bis zum soundsovielten einen Rehbock liefern und ein halbes Dutzend Haselhühner. Nun, daran fehlte es auch drüben nicht. Aber vermutlich war der Rehabschuß dort abgeschlossen; na, und Haselhühner schießt man nicht dutzendweise wie Fasanen.

Der zweite Brief war ein Handschreiben Gertrauds an – mich! Ich solle nichts nachtragen, sie sei manchmal eben so (ich kenne sie ja . . . Allerdings! D. Verf.), und gewiß zum Verlobungsdiner kommen, wo es sehr, sehr lustig sein werde. Außerdem möge ich alles, aber schon alles vergessen . . .

». . . Du liebe, du vertraute Mädchenschrift,
ich forscht' in dir nach einem Tröpflein Gift
und fand es doch am Ende nur – naiv . . .«

So oder ähnlich sang Heliodor Kranich, der tiefsinnige Jagdphilosoph, in einem seiner Lieder. Er war auch Dichter und ließ mich manchmal dafür büßen . . . Und so auch dieses Billetdoux. Violette Tinte, eckige, 149 rasseechte Komtessenschrift, leiser Duft von Ledermappe und diskretem Parfüm. Wer könnte da widerstehen?

Ich beschloß, sowohl der Einladung Folge zu leisten als auch zu »vergessen« – nach Heliodor Kranichs Theorie war die Liebe ohnehin nur ein »Spiel in einem Akt« – und obendrein das gewünschte Wildbret höchstselbst der nachbarlichen Küche zu liefern. Bartl wußte ja etwas von einem starken Bocke, der noch aufhaben sollte; und an Haselhühnern war im Gebirge kein Mangel. Übermorgen früh wollte ich mich gemächlich hinaufpfeifen, dann den Bock erbirschen und am nächsten Tage meine Beute der glücklichen Braut zu Füßen legen.

Projekte macht man meist, damit sie »durch die Tücke des Objektes« zernichtet werden. Im vorliegenden Falle spielte allerdings die Tücke eines Subjektes die Verräterrolle, wodurch nota bene meine Luftschlösser doch nicht umgeworfen wurden. »Cherchez la femme« sagt der französische Staatsanwalt – »sucht nach dem Weibe«. Recht hat er. Wieder war es ein Weib, das mich fast um meine schöne Vortragsordnung gebracht – zu »suchen« brauchte ich es allerdings nicht. Denn es kam umgekehrt.

Die gute Baronin, die offenbar von der falschen Voraussetzung ausging, ich könne ohne die süße Würze der Weiblichkeit nicht drei Tage leben, veranstaltete gerade für den Abend, der meinem Jagdausfluge vorausging, eine kleine Soiree. Das war schön und liebreich, aber unpraktisch. Erstens kam ich da nicht zum »Ausschlafen«, und Schlaf ist ein Ding, dessen Mangel mir alle Existenzmöglichkeiten entzieht. Zweitens spielte Heliodor Kranich Violine, und ich – ich mußte ihn begleiten. Grieg, Brahms, Schumann. Wenn Heliodor 150 Kranich nicht besser schoß, als er spielte, so war für Krähennachbrut auf Jahre gesorgt. Drittens hatte unsere gütige Schloßherrin auch Landrats eingeladen. Herr Landrat hatte Dienst, sein Gespons leider nicht. Ich kannte sie schon von früher. Aus dem alten Wein war inzwischen Essig geworden. Eine Walküre selig an Wuchs und durchaus proportioniert gebaut – Mund, Hand, Fuß: alles riesenhaft. Brauner Teint ist nicht übel, nur verträgt sich die Kombination mit entre deux âges schlecht . . . Na, mir lüpft's heut noch den Weidsack . . .

Nach einem Tänzchen – Walkürenritt hätte man es nennen sollen, als Frau Landrat mit dem armen Heliodor Kranich durch den Saal sprengte – wurde die Soiree beendet. Noch zwei Stunden Schlaf, dann marsch, marsch!

Frau Landrat wohnte neben mir, just neben mir. Nur eine schlichte Tür bewachte unsere Tugend. Die ihre schien nicht gefeit gegen meine Reize. Gerade lasse ich die letzten Hüllen fallen, da klopft's ganz brünhildenhaft laut. Mir blieb das »Herein« zwar in der Gurgel stecken vor Schreck, aber meine Nachbarin schien von der Sinnlosigkeit solcher Formalität fest überzeugt zu sein; denn schon stand ihre Heldengestalt in kokettem Halbnachtkostüm greifbar, schrecklich greifbar nahe. Während der Flackerschein ihrer Kerze allerhand spukhaft Schattenwerk auf die Zimmerwände geistert, erklärt sie selbst mit bebender Stimme, ihr Herz klopfe wie ein losgelassener Wecker, und sie befürchte das Ärgste, denn in diesem alten Schlosse . . . Sprach's, fiel dröhnend um und hatte eine Ohnmacht. Was nun? Alles Zureden, alle Güte, Essig, Eau de Cologne, sanfte Fußtritte – alles versagte . . . Himmelkreuz . . . sollte 151 ich denn gar nicht schlafen heute nacht? Blieb mir ein Fangschuß oder Gentlemanlikeneß bis zur Bewußtlosigkeit. Letzteres zu wählen war unpraktischer, schien aber doch gebotener. So bettete ich denn das kapitale Stück – mindestens 150 Pfund mit Aufbruch! – vorsichtig in meine Arme (merkwürdig, da schien die Ohnmacht zu weichen!) und verstaute es im Pfühl eines ungeheuren Kanapees, das dem Meublement der mir zugewiesenen Stube ein wundervolles Junggesellenrelief gab. Schade – diese Impression war jetzt vernichtet!

Betrüblich war vor allem, daß meine Brünhilde, einmal wieder in der Horizontale, durch kein Mittel aus ihrem Zauberschlafe erweckbar schien. Da hatte es Siegfried weiland besser gehabt – hatte sich wohl auch besser gelohnt, die Flammen zu durchreiten. Ich sah auf die Uhr. Halb vier. Erneute Waschungen. Fruchtlos. Vier. Liebevolles Zureden. Umsonst. Viertel fünf. Frottierung. Aussichtslos. Halb fünf. Schon kriegt die Landschaft draußen Umrisse und Farbe. Riechfläschchen, das heißt mein Salmiakbüchschen, das ich wegen der Schnaken und sonstigen Sauger stets mitführe. Resultat Null, respektive konvulsivisches Schnellen mit den Läufen. Fünf. Auf den Hügeln liegt ein stolzer Purpursaum. Das Schloß zusammentrommeln? Da tät' sie mir doch leid. Halt – ein befreiender Gedanke. Heliodor Kranich? Dem war's vielleicht ein willkommen Abenteuer, ausreichend für einen lyrischen Band. Und wie ein Gespenst glitt ich hinaus.

In Heliodor Kranichs Stube brannte Licht. Der Philosoph sann dumpf über einem Essai: vom Werte menschlicher Abendunterhaltungen. Bei meinem Eintreten sah er mich zunächst verständnislos an und begann mir dann ohne weiteres vorzulesen. Als ich ihm 152 aber erklärte, die freiwillige Rettungsgesellschaft gelte mir mehr als die ganze deutsche Kunst, und durch sein tätiges Eingreifen geschähe mir ein großer Dienst – übrigens könne er einige gute Gedichte aus dem konkreten Falle destillieren –, da kam er gern mit.

Aber mein Zimmer war leer . . . Heliodor Kranich glaubte anfänglich an Spuk, rüstete sich zum Nahkampf und deckte seinen Rücken. Dann ließ er sich durch eine aufgefundene Haarnadel und einen verlorenen Schuhknöpfler doch von der Realität meines Abenteuers überzeugen, versprach zu schweigen und erklärte, mich auf meinem Jagdzuge begleiten zu wollen, »denn die Haselhühner muß ich fallen sehen«.

Na, meinetwegen. Eine halbe Stunde später stapften wir dem rosigen Tage entgegen, mein Genosse auf meine flehentlichen Bitten hin unbewaffnet. Unterwegs gab's so allerhand liebe kleine Hölzerln, und da durfte das Beinpfeiferl in seine Rechte treten. Heliodor Kranich schien an Nachtdichtung gewöhnt zu sein, denn er war frisch und aufmerksam wie ein leidenschaftlicher Bonasiajäger. Dafür lockte und schoß ich halb im Schlafe, und das Aufstehen vom Lockplatze kostete mich jedesmal starke Überwindung. Meinem Jagdphilosophen war es natürlich nicht recht, daß ich die Hähne vom Baume herabschoß – denn das könne er auch, nur nicht so flink. Als ich aber dem vierten Haselhahne, einem alten Schlaumeier, der sich etwa achtzig Schritte unter uns auf einen morschen Stock gesetzt hatte und trotz eifrigen Meldens keine Anstalten zum Heranstreichen machte, das Köpferl mit der Kugel abschoß, kannte des Archivarius Freude keine Grenzen. »Das genügt mir vollständig, das war eines Meisters Blei,« erklärte er, indem er meinen braven Drilling liebkosend 153 hin und her drehte, »holen Sie den Vogel, aber geben Sie ihn um Gottes willen gleich in den Rucksack; ich kann tote Vögel nicht sehen . . .«

* * *

Als wir so gegen 10 Uhr in der Jagdhütte eintrafen, fanden wir Bartl in giftiger Stimmung vor. »Da drunt' hat heut einer 'rumknallt,« brummte er, »den wann i derwisch'!« Ich ließ ihn ein wenig zappeln und log dazu, ich selbst habe die Schüsse vernommen und gleich darauf eine frische Schweißfährte gekreuzt. Da entdeckte Bartl aber die Blähung meines Rucksackes, und seine braunen Züge sonnten sich auf . . . »A so, Haselhend'ln? Na, nacha is ja recht . . . Na, und den Bock kriegen mir eh a heut nachmittag . . . Und der Herr da? Den nimm i mit mir. Sie finden den Bock so. Grad wo mir den Zehner kriegt ham. Na, und der Achter is a net g'storb'n dawalt. I sag' hat grad . . .« Einen dritten Zehner hatte ich inzwischen mitten im Revier geschossen – war nichts dahinter. Der Achter wär' der vierte Hirsch! Und vier hat Harry freigegeben . . .

Zunächst schliefen wir, das heißt ich. Bartl spekulierte dieweil mit dem Spektivi herum, und Heliodor Kranich, der kein Schlafbedürfnis zu kennen schien, dichtete. Als ich nach drei- oder vierstündigem Schlummer erwachte, begrüßte mich mein Begleiter mit einer Ode auf das Weidwerk.

Nun galt's ein kleines Frühstück aus den vorhandenen Vorräten zusammenzuscharren. Das Resultat lautete: Eierspeise mit Schnittlauch à la J. H., Gansleberpastete, Torte. Na, und doch noch zwei Pullen Haute-Sauterne. Schwarzer Kaffee hinterher, versteht sich. Und ein paar »Bock« . . . 154

Nun ließ sich's wieder ganz wohl weidewerken.

Heliodor Kranich durfte auf seine Bitten hin doch mit mir gehen, und er marschierte ganz tapfer, trotz aller Hindernisse des Bergwaldes. Mein Schlachtplan war folgender: Den Bock sollte Bartl schießen – mein Gaumen stand nach dem alten Achterhirsch. Der war gute Ware – kaum geringer als mein berühmter Grenzzehner. Da der Bock ohnehin tief unten in bewußtem Talgrunde austrat, ich den Achter aber oben, wo die Almwiesen an den Hochwald stoßen, suchen wollte, ließen sich beide Projekte leicht in Einklang bringen.

Bartl blieb zurück; wir aber griffen rüstig aus und waren so ziemlich à tempo am Ziele. Der Wind zwang mich, in der Talsohle ein Ansitzplätzchen auszuwählen, gerade an der Grenze, wo das Holz die Wiesen säumt und der alte Zaun aufhört. So birschte ich denn vorsichtig am Waldrande hinab. Der Rasen war aber kurz und glatt, der Hang steil, und Heliodor Kranichs Beschuhung ermangelte des Eisens. So zog er es vor, im Holze selbst, mehr par derrière als zu Fuß zu schleichen. Eine Weile ging's ganz schön. Da trat aber der unglückselige Archivarius auf einen Ast, sein des Balancierens ungewohnter Leib verlor das Gleichgewicht, alles krampfhafte Umsichgreifen war vergebens – und hinunter rollte er mit Gepolter, Hilfegebrüll und Schnelligkeit . . .

Erst fluchte ich lästerlich. Dann dachte ich an menschliche Solidarität, christliche Nächstenliebe und Hilfe. Schließlich aber zog ich es vor, meinen Drilling von der Schulter zu reißen, den Kugellauf zu spannen und einzustechen. Denn kaum 70 Schritte unter mir brauste ein fünfköpfiges Rudel heraus, den Achter in der Mitte. Natürlich geht's in voller Fahrt der Grenze zu. Endlich 155 kommt er in die Nachhut; der ganze Hirsch wird frei und . . .

Sie haben Zaun und Bach überfallen, jenseits flüchtet das Rudel hinauf, der Achter mit . . . Da! Er bleibt zurück. Noch will er nach – es langt nimmer. Unschlüssig bleibt er ein Weilchen stehen, dann zieht er wieder herab, mir entgegen. Und dann sitzt er plötzlich auf den Keulen . . . und dann kommt er ins Walgen . . . und dann liegt er still hinterm alten Zaun, ganz wie sein Nebenbuhler vor zwei Wochen . . .

Was soll ich noch lange erzählen? Heliodor Kranich kroch nach einiger Zeit zerschunden, aber gesund aus dem Dämmern des Holzes hervor und fragte mich wehmütig, warum ich denn gleich auf ihn geschossen habe – er könne doch nichts dafür. Dann zeigte ich ihm den Hirsch, und nun war der Freude kein Ende. Auch Bartl kam eiligst; er war meiner Sache ganz sicher und johlte schon von weitem. Mit vereinten Kräften zerrten wir den Gefällten, einen außerordentlich starken Hirsch, über den Zaun – denn morgen wollten wir ihn zu den Nachbarn schaffen, und dabei sollte es lustige Maskerade geben.

Das Stücklein gelang. Nach gesegneter Nacht (Heliodor Kranichs Lyrikerseele schien sich gestern doch zu Tode gefallen zu haben) zogen wir selbstfünft hinab: der Archivarius, Bartl, der Hirsch, ein Viehhalter mit Handkarren und ich – gebunden, ohne Gewehr, mit falschem Bart und verrußter Visage. Der Spaß wurde ungeheuer. Bartl bezeichnete Heliodor Kranich als den kühnen Fänger des frechen und gefährlichen Wilderers; die Schrammen des Archivarius führten beredte Sprache, und er selbst spielte seine Rolle mit der Würde des gewiegten Raubzeugvertilgers. Bartl bewahrte seine Ruhe 156 schon schwerer, und ich mußte gar grimmige Fratzen schneiden, um nicht loszuwiehern. Kranich habe, selbst birschend, einen verdächtigen Schuß erlauscht usw., am Zaune endlich – gefährliches Ringen – Überwältigung. So erzählte Bartl . . .

Na, als mir die Komödie zu dumm wurde, ich den Bart herunterriß und höflich um Geweih und Grandln des jenseits gefallenen Hirsches bat – –, das war eine Salve! Gertraud lachte sich violett, ihr Vater rot, und selbst Rudi machte dreimal: »Hähä!«

Das Verlobungsdiner war erlesen; Geweih und Grandln bekam ich samt feierlichem Gedenkschreiben, alles ward vergessen und verziehen, denn

»Die Liebe ist ein Spiel
in einem Akt . . .«

Der diesen Tiefsinn gedichtet, fuhr wenige Tage später mit mir, ebenso ein stattliches Hirschgeweihquartett. Es war hohe Zeit, daß ich heimkehrte – wie mochte mein Wigwam aussehen? Weiß Gott, ob nicht Palastrevolutionen mein Heim eingeäschert haben, ob nicht Eulen und Krähen auf meinem Bücherkasten horsten und Ratten in den Schuhen hausen? . . .

Aber wir fanden allesall right.

Und Heliodor Kranich schießt jetzt daheim bei mir aus philosophischen Gründen Krammmetsvögel und Häher. »Denn der Vogel ist der Erzfeind, der Überwinder – und er muß herunter zum Staube . . .«



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