Friedrich von Gagern
Im Büchsenlicht
Friedrich von Gagern

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Birschbeichten

Wie heb' ich an zu sagen von all dem Erfreulichen und Schmerzlichen, so mir auf Birsch- und Blattfahrten zugestoßen? Ein richtiges Jägerleben ist das allerschönste Auf- und Niederschwanken zwischen Hausse und Baisse, zwischen Pech und Sau, grämlicher Resignation und dionysischem Hoffnungstaumel. In 20 der Erinnerung hat freilich dann auch das erfahrene Mißgeschick etwas Reizvolles und die Tritte, die uns der zierliche, besandalte Fuß unserer koketten, grausamen und impertinent schönen Göttin Diana versetzte, sind längst verwunden, vielleicht durch einen Kuß der Tyrannin gut gemacht worden . . .

Na . . . über letzteres Kapitel wollen wir mit altgewohnter Diskretion lieber schweigen, was um so angebrachter erscheint, als es ein gefährlich Ding ist, seine Despotin und Geliebte öffentlich zu kompromittieren, und geschähe es auch nur durch eine Gascognade, durch eine Prahlerei . . .

Darum will ich an erster Stelle reumütige Bekenntnisse vorplaudern, und wenn mich dann zum Schlusse doch die Ambition zu jucken beginnt, will ich mich unterfangen, den Vorhang von einigen reizenden Schäferstündchen in Dianas Armen zu lüften.

Der 1. und 2. August des Jahres 1904 waren für mich die traurigsten Tage meines Lebens – ich kann mich an die gewisse lateinische Bezeichnung der klassischen Unglückstage nicht mehr erinnern, das heißt, ich will mich durch die Unkenntnis des Geschlechtes von »dies« nicht blamieren, sonst würde ich nicht verfehlen, den antiken Ausdruck geblähten Stolzes voll zu gebrauchen. Und im Wörterbuch nachschlagen – dazu ist heute bei 27° Reaumur im Schatten zu heiß.

Also diesen beiden Augusttagen schleudere ich heute noch einen lästerlichen Fluch nach. Ich hätte an den beiden Tagen zwei sehr starke und zwei hyperkapitale Böcke haben können. Der Konjunktiv dieses Bekenntnisses verrät das Resultat, könnte man glauben. Aber es kam noch schlimmer.

Damals war es auch brutal heiß, und als ich am 21 1. August um 4 Uhr nachmittags anzog, war ich nach den ersten Schritten dem Verzagen nahe. Ich hatte, bevor ich die Waldeskühle des Rehreviers betreten durfte, ein tüchtig Stück Weg zurückzulegen, und das über elende, karstige, schattenlose Gemeindewege, auf denen die Weißglut hundstägigen Sonnenscheines brütete . . . Hie und da versuchte ein versengter alter Birnbaum mir einen vor den stechenden Sonnenpfeilern geschützten Augenblick zu vergönnen; aber dann mußte ich doch weiter auf den gräßlichen, orientalischen Pfaden, wo jeder erste Schritt einen Verzweiflungsfluch und jeder zweite Tritt einen gepreßten Wehruf kostet – besonders, wenn man dank überflüssiger Fürsorge der Schöpfung auch mit den Füßen zu sehen imstande ist . . . Weiter, weiter! In jedem Dorfe, in jedem Einzelgehöfte soff ich kübelweise Wasser, das mir je nach Umständen von einer dungduftigen. reizlosen Bäuerin oder einem rosmarein- und schweißriechenden Mägdlein serviert wurde. Selbstredend bewertete ich auch die physische Revanche nach diesen ausschlaggebenden Begleitumständen, das heißt im ersteren, aromatisch untergeordneten Falle blieb meine Revanche innerhalb rein psychischer Grenzen . . .

Trotz der Durst- und Temperaturqual spähte ich unterwegs fleißig in die öden Maisstreifen, die den Weg mit rührender Treue bis an den Waldsaum geleiten. Da drückt sich Hinz so gerne an die jugendlichen Hühnervölker heran. Aber heute war alles ausgestorben. keiner meiner Erbfeinde ließ sich eräugen. Bleierne Stille lag auf dem Hügelgelände, und der Horizont flackerte gegen die glühende Himmelskuppel. Hie und da klatschte ein Turteltaubenpaar von einer Stoppelbreite weg, um gleich in einem Feldhölzchen aufzubaumen. Die Äcker, 22 die nach der Ernte wieder gepflügt und bestellt worden waren, hauchten einen zitternden Glast aus . . . Die rechte Brunftzeit . . .

Endlich stand ich in der Sohle eines seichten Tales, das einerseits durch den ersten Waldrücken, anderseits durch welliges Feldland begrenzt wird. Gott sei Dank! Ich atmete tief auf. Vorerst schlürfte ich noch in langen Zügen aus einer vorzüglichen Waldquelle, die unter den Wurzelknorren einer alten Weißbuche hervorplaudert, und versetzte der Quellnymphe im Geiste einen innigen Dankeskuß. Dann lud ich meine alte Büchsflinte – damals war ich noch ein gar unmoderner Weidmann –, steckte mir ein frisch gestopftes Pfeiferl in die Fratze und zog waldein. Der ärmliche Femmelbuchenhain, der einen üppigen Unterwuchs von Farrenkraut und Wacholder beherbergt, war bald durchquert, und ich trat in einen anderen Gürtel des Forstes ein. Das Bild eines uralten Edelkastanienwaldes, der außer Farren und Hungermoos gar keinen Unterwuchs duldet, ist der Mehrzahl deutscher Jäger höchstwahrscheinlich völlig fremd. Die mächtigen, bis acht Meter im Umfange haltenden Stämme stehen weit voneinander, in einem Verbande – wenn man das Wort noch gebrauchen will – von zwanzig und mehr Schritten. Dazu ragen diese grotesken Riesen nicht etwa tannenschäftig gerade gen Himmel, sondern befleißigen sich einer mehr oder minder schiefen Haltung, wobei das Muster der Borke häufig spiralenförmig den stämmigen Baumrumpf umkreist. Die Höhe dieser malerischen Überständer ist nicht imposant; selten übersteigt sie 25 Meter. Mächtige Äste zweigen sich in einer Höhe von fünf bis sechs Metern aus; in den weiten Höhlen des Stammes haust unholdes Getier, wie Eule und Siebenschläfer. Die 23 Ausbeute der überreichen Kastanienernte ist unmöglich. Einen Teil verspeist die Bevölkerung, einen weiteren verschlingen die Schweineherden, die im Herbste zur Mast eingetrieben werden; vor zwanzig Jahren noch bevölkerten enorme Mengen des nützlichen Borstenviehes die riesigen Uskokenwälder, und dann hatten sich Hund und Jäger in acht zu nehmen. Die Hirten, deren Vergnügen in einem traurigen Horngetute besteht, das zur Herbstzeit oft weit durch die Wälder hallt, betreiben als Spezialsport das Ausbrennen der alten Kastanienbäume. Das Lagerfeuer wird am Stamme selbst entfacht und höhlt diesen regelrecht aus. Solche Feuerstellen werden natürlich Herbst für Herbst pietätvoll beibehalten; denn es braucht geraume Zeit, bis die Segensarbeit vollbracht ist. Und der Zweck? Erhöhte Fruchtbarkeit des alten Baumes. Ich kannte einen uralten Kastanienbaum, der in einem der leider immer seltener werdenden romantischen Wälder stand und von Blitz und Feuer zu einem jämmerlichen Krüppel verstümmelt worden war. Der Stamm hing, wie oben beschrieben, ein wenig über und war von zwei Hirtenbubengenerationen gründlich ausgebrannt worden, so gründlich, daß nur noch eine schmale Splintschicht und die bekleidende Borke den Oberbau des Baumes hielten; dabei stand aber von der ursprünglichen Peripherie des Wurzelstockes nur mehr oder, besser gesagt, kaum mehr die Hälfte. In der kohlschwarzen Höhlung des schiefen Baumes konnte man sich vortrefflich vor Regenunbill schützen. Jetzt ist auch er gefallen, wie so vieles, was ich lieb hatte und die Phantasie meiner Jugend beglückte . . . Ein anderer Kastanienbaum von ungeheurer Dimension wurde durch Feuer künstlich zum schönsten Kabinett hergerichtet, welches ein hasenquäkender Jäger besitzen 24 kann – dazu steht dieser Stamm an einem famosen Fuchspasse. Die Feuer wurden nämlich derart künstlich angelegt, daß sie zunächst nur zwei Eingänge in den Leib des Baumes brannten, worauf dieser von innen aus weiter bearbeitet wurde. Heute kann man bequem in den Stamm hineinschlüpfen und pflockt nirgends heimlicher auf seinem Sitzstocke. Was ich aber sagen wollte: diese verstümmelten Bäume entwickeln wirklich eine unheimliche Fertilität.

Die romantischen Zeiten sind vorbei; in den Uskoken hausen keine Räuber, wie die Utmanič und Tadič, und die alten pittoresken Kastanienwälder fallen . . . Die Kastanie wird wohl ewig der Hauptbaum des ersten orientalischen Gebirges, der Uskoken, bleiben; aber sie wurde eben auch auf einen forstwissenschaftlichen, nüchternen Turnus dressiert. Man vergebe mir, wenn ich hier versuchte, den lieben Dryaden, mit denen ich auf so gutem Fuße stand, einen kleinen Nekrolog zu widmen. Aber einem, der ein echter, rechter Dichter ist und ein freudiger Verehrer der Naturseele dazu, möcht' ich gerne noch einen alten Kastanienwald zeigen. Es gibt nichts Seelenvolleres! Jeder Baum ist da eine Individualität, jeder hat seine typischen Züge . . . es liegt etwas Unheimliches, Lauerndes in der Stimmung dieser Haine. Als ob dich tausend Augen ansähen, traurig und sinnend . . .

Mein Ziel war ein hoch in den Bergen gelegenes einsames Bauerngehöft, wo ich nächtigen wollte, da in der Umgegend kein Forsthaus liegt. Abends und morgens gedachte ich die nahen Schläge und Waldwiesen abzubirschen und zu vorgerückter Tageszeit im Holze mit Uhlenhuth zu debütieren. Doch schlug ich a priori einen weiten Bogen, um einen anderen Revierteil abzuspüren. 25 Dort standen auch ein paar hochachtbare Kapitalburschen.

Ich hatte das Stangenholz erreicht und birschte vorsichtig einer Schlammsuhle zu, an deren Rändern häufig ein starker Bock zu spüren war. Eben drücke ich mich so leise, als bei dem krachdürren Zustande von Laub und Reisig möglich war, auf einer Grenzlinie vorwärts – da fährt links ein Stück aus seinem Bette und poltert schimpfend davon, durch das Weißbuchenholz hindurch, dann quer über einen Schlag auf einen außerordentlich steilen und unwegsamen Waldhang zu . . . Teufel, Teufel! War der Lump neben der Suhle gesessen! Und das Mordsgehörn, das ich in der Eile erspekuliert hatte! Aber ich gebe in solchen Fällen das Spiel unter keinen Umständen verloren. Was mich meine Spazierhölzer tragen konnten, ging's dem noch immer fluchenden Bocke nach. Schweißtriefend überfloh ich den Schlag, der in sonniger Nachmittagsruhe träumte und über die wilde Jagd nicht übel erschrocken sein mochte. Für einen Augenblick war ich mir über den Standort des Verfolgten im unklaren; da setzte er aber schon wieder aus einem Kastaniensteckengehege in den anstoßenden Hochwald, der von dem Kamme des Rückens sich den schroffen Hang hinunterzieht. Ein paar Schritte wage ich noch in das Holz – Astwerk und Laub lärmen schreckhaft unter den »Genagelten« – da steht er breit, kaum 30 Gänge unter mir, und verhofft herauf; er weiß wohl nicht was aus dem sonderbaren Birschjäger zu machen. Im Walde ist's dunkel, die Bockgestalt hebt sich nur silhouettenhaft ab. Ich bin ganz ruhig. Das Korn zeigt Blatt, der Schuß knallt. Prasselnde Fluchten bergab . . .

Zunächst senge ich mir eine frische Pfeife an und lasse 26 mich auf den nächstbesten Baumstrunk fallen. In den nackten Knien staken unzählige Brombeerdornen, die Ernte meines Laufes über den Schlag. Gewissenhaft werden die feindseligen Fremdkörper entfernt; dann geht's zum Anschusse. Mächtige Ausrisse in der Streu, jawohl; aber kein Schweiß, kein Schnitthaar. Und da – da hat ja die Kugel eine Gerte geköpft, oberhalb des Bockes. Natürlich ist das Blei dann meilenweit vorbeigepfiffen. Den geb' ich auf.

Man mag immer die sonderbare Art und Weise meiner Birsch auf diesen Bock unweidmännisch schelten. Das läßt mich kalt. Der Begriff Weidgerechtigkeit nimmt nur auf unser Verhalten dem Wilde gegenüber Bezug, zum Beispiel auf die Art und Entfernung des Schusses, die Nachsuche usw. Meine Jagdform unterliegt aber keiner Beurteilung nach weidmännischen Gesichtspunkten, sofern sie keine Schinderei ist. Bekomme ich den Bock so, dann all right; die Mühe hab' ja ich. Intoleranz und akademische Pedanterie werden da freilich die Glatzen beuteln – immerzu! Es gibt eben Verhältnisse, die zur Selbständigkeit zwingen. Wer den Kapitalhirsch in der Marmaros und den Hauptbock in den Uskoken erjagen will, lasse getrost seinen Paragraphenballast und alle jagdliche Sittenrichterlichkeit daheim. Diese schönen deutschen Dinge lassen sich auf anderen Gebieten viel besser verwerten. Ein rechter Jäger lernt immer von den gegebenen Umständen.

Jubelnd ging ich nicht gerade fürbaß nach diesem Bankerott. Übrigens durfte ich jetzt mächtig ausgreifen, wollte ich noch rechtzeitig auf dem großen Schlage anlangen, der in der Nähe des genannten Einödhofes liegt. Mit der Birsche läßt sich da wenig beginnen; man muß 27 früher da sein als das Wild und dann erst, wenn dieses austritt, seine Kalkulationen austüfteln.

Gott sei Dank, der Schlag war noch unbelebt, als ich meine edlen Züge um die kritische Waldecke schob. Rasch suchte ich mir einen Strunk, von dessen Sitzgelegenheit aus ich entsprechende Übersicht über das wellige Terrain hatte, und vertiefte mich dann mit Gründlichkeit in den Genuß des Abends. Im Westen schwammen schwere Wolken mit anilinroten Rändern; von einem fernen Berge grüßte ein bleiches Kirchlein herüber; jenseits des tiefen Tales knallte die rostige Knarre eines kroatischen Wilddiebes. Gut, daß du nicht bei uns herüben dein dunkles Handwerk treibst, mein Junge! Dazwischen der wehmütige, lallende Gesang eines Hirten, das Bellen eines Köters, die Abendglocke! Und Waldberge in endloser Gleichmäßigkeit, Kuppe an Kuppe, seltsame Kulissierungen. Auf dem Gipfel des steilen Ošterc brennt noch ein Schimmer des Tageslichtes. Dann dehnen und recken sich die blauen Schatten höher und höher, die Flamme erlischt, das Rotgold weicht stumpfem, totem Grau.

Drüben tritt ein Reh aus; eine Schmalgeiß, wie ich auf den ersten Blick sehe. Das bekannte Bild des zögernden Verhoffens; dann beginnt das Stück vertraut zu äsen. Da ist er auch schon zur Stelle, der Geliebte. Die Jagd geht sofort los. Mich packt ein unbändiges Fieber, wie ich dieses Gehörn sehe – durchs Glas natürlich, sonst hätte es ja gleich knallen können. Ein schneeweißes Haupt und darauf ein massiges, dunkles Gestänge. Ein Mordsbursch, dieser Bock – der wird die Schulter nicht schlecht schinden.

Die Jagd geht auf mich zu; es wird einen interessanten Fuchsschuß geben im hohen, fahlen Waldgrase. Nein 28 – dort in der Mulde, deren Grund mir unsichtbar ist, stockt das Treiben. Es düstert bedenklich, die Chancen sinken bedeutend.

Mit einem Stoßgebete auf den Lippen schicke ich mich an, das Paar anzubirschen, so gut es in den zischelnden Halmen eben geht. Und es geht ganz gut. Noch sind Bock und Geiß unsichtbar; aber es kann kaum mehr 30 Gänge sein bis zu ihnen. Das unbarmherzige Waldgras benimmt mir jede Aussicht, und ich darf keinen Schritt mehr riskieren. Da wird es in der Mulde unter mir lebendig. Sie haben mich weggekriegt. In mächtigen Fluchten geht's dem Hochwalde zu. Am Rande halten sie; der Bock steht schön breit auf etwa 130 Schritte. Scharf heben sich die roten Körper und die grauen Stammschäfte von der Finsternis der Waldesnacht ab. Jetzt oder nie . . . »Nie! . . .« höhnt das Echo des Schusses. Tief unten höre ich sein trotziges Schmälen, weiter, immer weiter, bis es sich in den wilden Schluchten des rauhen Hanges verliert.

Es ist völlig dunkel geworden; Nachtschwalben schnarren um alte Überständer, die sich blitzzerspellt aus dem verschwommenen Dämmern des Bodens in den westlichen Lichtstreif hineinrecken – Waldrebhühner rufen in der jungen Kultur – eine Kröte hüpft unbeholfen über den Weg. Auch der Waldkauz ist erwacht . . .

Es ist nimmer weit bis zum Einödhofe, wo ich schon so manche Nacht auf Heu oder Stroh süßen Schlummers pflog. Die Hunde schlagen giftig an, aber sie erkennen mich bald und kalfaktern um meine Knie. Der Bauer, der trotz seiner slawischen Volkszugehörigkeit den schönen Namen Heimbring trägt, ist eben mit seinem Gesinde heimgekommen. Und was für ein Gesinde er hat . . . Drei stämmige Brüder, bildsaubere Kerle, frisch 29 und blond. Aber nicht über den Weg zu trauen ist ihnen. Auch der Vater hilft noch mit im Hauswesen, während der Onkel rote Triefaugen hat und alle paar Minuten von einem entsetzlichen, pfeifenden Krampfhusten durchgerüttelt wird. Trotzdem mißt er mich mit einem langen Blick und bittet mich mit röchelnder Stimme, mein Gewehr ansehen zu dürfen. Er hat sich sein Leiden in kalten Winternächten geholt, da er mit seinem Vorderstopper im Schnee auf Reh und Hase lauerte. Ein unheimlicher, wortkarger, abseitiger Gesell war er immer gewesen und seinerzeit der verwegensten Wilderer einer. Ob ich die Rehe mit der Kugel schösse? Gehacktes Blei sei doch besser. Und neulich habe er beim Holzklauben oder Pilzsuchen einen Bock gesehen mit unterarmlangen Hörnern . . .

Es ist was Eigentümliches um die Sitten und Gebräuche des slawischen Volksstammes, der das krainisch-kroatische Uskokengebirge bewohnt und bosnischer Herkunft ist. Schon der Dialekt macht den Kenner slawischer Sprachen stutzig. Das breite Waldgebirge zwischen Karlstadt, Rudolfswert und Samobor ist vielleicht eines der interessantesten Gebiete des alten Pannonien und dort hatte sich noch manches Stück wilder Räuberromantik konserviert, als die Umgebung schon von der Kultur »beleckt« war und der Wolf nur mehr in strengen Wintern die Eichenwälder zwischen Samobor und Leskovac durchtrollte. Ein andermal mehr davon . . .

Meine Quartiergeber lümmelten sich gleich um den rohgezimmerten Tisch im »Herrgottseck« herum, das heißt, sie lümmelten nur so lange, bis die Fisolenbrühe aufgetragen wurde. Da standen sie aber auf wie ein Mann, leierten gedankenlos ihr Tischgebet her und wischten sich träge ein Kreuzzeichen von der Stirn bis zur 30 Magengegend hinab. Dann ging's an den Schmaus aus der gemeinsamen Schüssel. Der Oberkörper wird vorgeneigt, der rechte Ellbogen behaglich aufgestützt und der Löffel mit bedächtigem Anstande in den Futtertrog getaucht. Dann dient der Schüsselrand als Abstreifer des der Außenseite des Löffels anhaftenden Überschusses, und endlich schiebt der Essende die Speise langsam in den Mund. So ißt aber nur der slowenische Uskoke; der kroatische Uskoke oder gar der Kroate der Ebene bemühen sich, orientalische Anmut auch während des Essens beizubehalten.

Ich wurde zur Teilnahme am Abendbrote eingeladen, doch hielt ich mich lieber an meine Konserven und sonstigen Appetitlichkeiten, die ich dem Rucksacke entnahm. Einige gebotene Kostproben wurden verständnisvoll goutiert und gebührend bewundert. Zum Schlusse gab ich etliche Prisen englischen Pfeifentabaks zum besten, die sofort – zwischen den Zähnen verschwanden. Die Süßigkeit des Krautes erweckte ungeteilte Begeisterung; der Opiumgehalt des Tabaks wurde erst nächtlicherweile entdeckt. Endlich gähnte die Bäuerin, eine häßliche, aber fleißige Frau mit blöden Karpfenaugen und gelbem Teint, wie alle slowenischen Uskokinnen wenig anmutig in Gestalt und Formen. Hie und da begegnet dem Beobachter ein selten schönes Gesicht, ein wundervoller Busen, ein herrliches Fußfesselpaar; aber im panzerharten Sonntagsstaate verliert auch diese Blüte ihren Reiz. Schön, wahrhaft schön kann die slowenische Uskokin nur dann sein, wenn sie bei der Arbeit ist. Ihr Kopftuch fällt dann in den Nacken, die krampfhaft zurückgesträhnten Haare lösen sich, das Gesicht glüht, die meist blauen Augen blitzen heiß. Und die Gestalt steckt nicht im Sonntagsmessenharnisch, kein Mieder preßt die weiche Taille 31 platt, kein mißfarbiger Kattun umhüllt den prallen Torso, sondern ein weißes, lockeres Hemd . . . Die Tracht der Uskoken war früher überhaupt sehr geschmackvoll und originell; die kroatischen Uskoken haben ihr buntes Kostüm beibehalten; aber die Mokričaner oder slowenischen Uskokinnen haben ihre weißen, kleidsamen Gewänder gegen grellfarbige, häßliche Fähnchen vertauscht, wie das verkommene Fabriksdirnenpack sie trägt.

Aber wohin gerate ich?

Die Bäuerin gähnte also und wir gingen schlafen. Leiterauf tastete ich mich in den Heuboden, warf Rock und Schuhe weg und war bald mit dem guten Vorsatze, morgen meine Pudelei wettzumachen, eingeschlafen.

Ein rotes Band glühte über dem Savetale, als ich am nächsten Morgen mit etwas schwerem Kopfe an den Sprossen hinabkletterte. Heuduft schlägt mir nicht an. Waschung. Morgenschluck hinter einer Rippe Schokolade her. Frühpfeifchen. Los!

Wir können's gemächlich machen; denn es währt noch eine gute halbe Stunde bis Eintritt des vollen Büchsenlichtes. Ich setze mich an einem Kreuzweg im Walde auf einen Wurzelknorren. Der Waldkauz jauchzt und lacht noch immer, die Siebenschläfer schmatzen und zwitschern im Buchengeäste. Auch der Ziegenmelker will noch nichts vom Tagesanbruch wissen. Er gaukelt über den Wipfeln hin und her, dann sitzt er plötzlich dicht vor mir in einem Wagengeleise, dann huscht er gespenstig leise davon. Kennst du das unheimliche Leben zwischen Dunkel und Licht? Tausend rätselhafte Stimmen weben im Gezweige, auf der Blöße ruhen groteske Sphinxgestalten, im Laube knistert's schreckhaft . . . Kauz und Bilch verstummen. Nun ist's an der Zeit. 32

Langsam geht's auf dem Waldfuhrwege der sogenannten kleinen »Pfarrerwiese« zu. In deren Umgebung trieb sich schon seit Jahren der stärkste Bock des Revieres herum, ein richtiger Gespensterbock. Ab und zu geht ein Gerücht von seinem Urgehörn durch die Jägerei, dann und wann versucht man's wieder mit ihm, natürlich erfolglos. Es hielten aber auch andere Böcke um jene Wiese ihren Stand.

Der rote, eisenschüssige Lehmboden erschwert das Birschen ungeheuer; denn er ist mit Dolomitsteinchen durchsetzt. Doch gelange ich verhältnismäßig leise an mein Ziel. In bleichem Morgenlichte liegt die Wiese vor mir, auf allen Seiten von Buchenstangenholz umdüstert. Heute wird nicht viel Rehwild draußen stehen; denn es weht ein glühender Wüstenhauch und das Gras zeigt keinen Tau.

Drüben sitzt ein Stück in der Wiese. Ich kann es nicht recht ansprechen; aber ein starkes Reh ist es. So offen, so ungedeckt komme ich nicht heran. Ich biege links in das Holz; aber einen Birschpfad gibt es da nicht. Mit peinlicher Genauigkeit vermeidet mein Fuß jedes Blatt, jedes trockene Ästchen. Endlich, nach indianerhafter Kriecherei, stehe ich dem Stücke gegenüber. Vorsichtig schiebe ich ein paar Zweige auseinander. Da starren mich auch schon ein paar dunkle Seher auf kaum 30 Schritte an. Eine ganz kapitale Geiß! Starr verhofft sie herüber. Und dort sitzt noch ein Stück. Herrgott, er ist's, er, der Geisterbock!! Solch ein Gehörn sah ich weder je in der Wildbahn noch an der Wand. Die Vordersprossen stehen hoch über den Luserspitzen! Er döst vor sich hin und hat noch keinen Unrat gewittert. Ein rasch hingeworfener Schrotschuß und er ist mein! Nein – dem gebührt einmal unbedingt die Kugel. Langsam geht der 33 Lauf in die Höhe, das Korn faßt den unteren Blattrand, der Finger zuckt nach dem Züngel . . . Da reißt es die Geiß in die Höhe, der Bock schnellt auf, der Schuß ist nicht mehr zu halten. Die Kugel pflügt einen tiefen Riß in den Wiesenboden; im Holze aber prasselt und knattert es wild davon.

Cherchez la femme!

Ich knurrte es in höchstem Mißmute vor mich hin. Und wenn ein selbstmörderischer Gedanke in diesem Augenblick in mir aufgedämmert wäre – ich würde es noch heute verstehen.

Wenn man nach schwüler Liebesnacht durch die Großstadtstraßen streicht, in die schon das tückische Zwielicht des Morgens schielt, und man sich fröstelnd eingestehen muß, daß nun der Ekel stärker ist als die Sehnsucht; wenn man nach tollem Bacchanal aus totenschwerem Schlaf erwacht mit bitterer Zunge und üblem Humor; wenn man von Diana unausgesetzt genarrt wird und kein Lächeln, keinen Kuß mehr von der Göttin Lippen erwarten zu dürfen glaubt – das sind die drei Ur-Leide des modernen Menschen. So empfand ich's wenigstens an jenem heißen Morgen. Kommt mir wochenlang kein guter Bock vors Rohr, sitze ich morgenein, abendaus auf der Lauer nach einem, der mir absolut über ist, dann gräme ich mich nicht weiter, sondern trachte eben meine Fehler auszubessern. Aber Sau, unerhörte Grobsau durch ganz ordinäres, ganz unadeliges Pech vereitelt zu sehen – das verpfeffert mir die Laune.

Hätte ich doch eine Portion Zweierschrot hinübergeschickt!

Ich bekenne ganz offen, daß ich mich damals diesem wehmütigen, aber verspäteten Optativus nicht verschloß und den Beschluß faßte, pro domo neue Prinzipe über 34 Kugel- und Schrotschuß zu konstruieren. Wie lasterhaft, wie undeutsch, wie aasjägerisch . . . Nur ruhig, ihr Herren! Da ich meine kleinen Tagebuchskizzen nicht bloß um der Erlebnisse willen veröffentliche, sondern sie hauptsächlich in der Absicht schreibe, in diesem Gefäße allerhand Randbemerkungsmaterial zu sammeln, will ich hier ein kurzes Privatissimum über den Schrotschuß auf Rehwild vom Stapel lassen. Ich bin nämlich der Ansicht, daß sich derlei kritische Erörterungen viel gespreizter anhören, wenn sie zum Selbstzwecke verfaßt wurden – dann fängt eben gleich der nüchterne Kathederton an, der dem lebendigen Weidwerke so gar nicht verwandt ist.

Also zum Schrotschusse.

Jedes Ding kann mißbraucht werden, die Kugelbüchse wie die Spritze. Da aber letztere infolge größerer Treffchancen und leichterer Beschaffung vorzugsweise von Schießern und Sudlern geführt wird, wurde ihr Gebrauch mit dem Prädikate »unweidmännisch« belegt und entsprechend verpönt. In der Hand eines guten Jägers und Schützen ist aber ein gutes Schrotrohr eine sehr weidmännische Waffe; denn auf angemessene Distanz (nicht über 40 Schritte!) wirft eine Garbe Viererschrot – aus einem ordentlichen Gewehre natürlich – den Bock im Feuer nieder, rascher als ein tadelloser Blattschuß aus gezogenem Laufe. Und, gut getroffen, verendet der Bock auch fast augenblicklich. Ein guter Jäger wird eben Distanz, Schrotnummer und Stellung richtig zu beurteilen verstehen und keinen Mißbrauch üben. Schießer und Patzer können aber mit der Kugelbüchse gerade so viel und noch mehr Unheil anrichten! Für dieses Pack gibt es überhaupt keine ungefährlichen Gewehre und sollte es überhaupt keine Waffen geben. 35 Diezel zum Beispiel, der, wenn ich nicht irre, bei Besprechung des Bockanstandes den Schrotschuß perhorresziert, schoß doch auf Jagden manches Stück Reh mit grobem Blei, und das mitunter auf sehr, sehr unzulässige Entfernung. Ob man aber das Reh vor den Treibern oder am Wechsel, oder auf der Birsche mit Schrot streckt, bleibt sich hinsichtlich der weidmännischen Zulässigkeit dieser Handlung herzlich gleichgültig! Der leitende Gesichtspunkt bleibt ja immer derselbe: das Wild soll möglichst wenig leiden. Ähnliche Gedanken tauchen ja hie und da verschämt in der Jagdpresse auf. Sie werden aber regelmäßig von irgendeinem sacksiedegroben Klopffechter niedergebrüllt, worauf wir noch zu hören bekommen, daß solche knüppelhafte Kritik deutsche Aufrichtigkeit genannt werde, daß nur das deutsche Weidwerk hie und allerwegen sei usw.

Das deutsche Weidwerk in höchsten Ehren! Ich bin selbst deutsch bis ins Mark hinein; aber ich kranke nicht an verbissener Exklusivität; ich trachte alles aus seiner Grundlage heraus zu verstehen und zu würdigen. Die Krakeelerhorde aber, die das Gefilde der deutschen Jagdpresse unsicher macht, ist zur Propaganda unseres heimischen Weidwerkes wenig geeignet. Solche Schreier gehören an den Stammtisch, aber nicht ins Fachblatt!

Wenn der Geschmack nach dem Grade innerer Befriedigung dem Kugelschusse ein besseres Recht einräumt als dem Schrotschusse – ah, dann Hut ab! Damit bin ich restlos einverstanden. Dann ist aber auch das objektive Moment der Beurteilung verwischt. Das und nicht mehr wollte ich sagen. Mir macht ein präziser Kugelschuß auch mehr Freude als der Schrotschuß. Habe ich aber ein Stück, zum Beispiel jenen kapitalen Bock, unter schwierigen Verhältnissen bis auf 36 Schrotschußnähe angebirscht, dann bestand meine Leistung eben im Herankommen, und diese ist so groß, daß ich mir im Dringlichkeitsfalle den Kugelschuß erlassen kann. So hab' ich's meist gehalten und keinerlei Gewissensbisse dabei verspürt. Die Jagd ist schließlich doch keine Hofzeremonie.

Es war eher ein dumpfer Trott als ein gedämpfter Birschschritt, der mich vom Schauplatz meiner Niederlage neuen Heldentaten zuführte. Es war noch reichlich früh, und trotz der Backofenwärme konnten auf den Schlägen noch Rehe stehen oder wenigstens sprengen. Unweit der »kleinen Pfarrerwiese« liegt ein großer Kessel mit hohen »Fratten« (Kulturen), wo sich oft große Mengen von Rehwild konzentrieren, besonders zur Brunftzeit. Also dorthin.

Auf der ersten langen, schmalen Wiese, der sogenannten »Wolfswiese«, sonnte sich nur eine alte Tante mit endlosen Eselslauschern; jenseits der Fichtenschonung äste ein Schneider. Links unten stand am Rande des, ich darf fast sagen, Urwaldes eine Ricke mit zwei Kitzen. Nach rechts aufwärts habe ich keinen rechten Ausblick; ein Gehölz von Salweide, Jungfichten und Brombeeren verdeckt mir alles, was da stecken kann. Doch dort schimmert es rot zwischen zwei Stauden. Ein Haupt schiebt sich hervor. Wahrhaftig, ein sehr braver Bock. Ich drücke mich in ein Wagengeleise des alten Fuhrweges und blatte, zart, schmachtend, sehnsüchtig, in modo des Vorspieles von »Tristan und Isolde«. Denn einen Schuß dort in die Wirrnis hinein – wenn die Kugel schlecht sitzt, gibt's eine tödliche Nachsuche.

Pi–pi–pii . . . Alles still. Uhlenhut 'raus. Piiiiiä, piiiiiiiiä . . . Aha, nun hebt's zu rumoren an im Gestrüppe. Das Knacken kommt immer näher, gleich wird 37 der Monsieur den Weg überfallen. Die Büchsflinte zeigt schon die Richtung. Da ist er! Bevor er jenseits den Wegbord erreicht, rumpelt er zusammen.

Erleichtertes Aufseufzen. Ende gut, alles gut.

Ja, grundgütiger Himmel, was heißt denn das wieder? Da oben in dem Staudichte hebt ein tiefer Baß lästerlich zu schmälen an. Sollte . . .? Mir versagt der Atem.

Mit einem Satze bin ich beim anderen Bocke, der sich auf den Vorderläufen in der Wegrinne weiterhaspelt und herzzerreißend klagt. O, ein ausnehmend schöner – Spießer mit langen, dünnen, weit ausladenden Stänglein! Und wie wundervoll die Kugel beide Hinterläufe ober dem Sprunggelenke durchstanzt hat! Wonnebebend knicke ich den Jammernden und schnitze mir dabei drei Viertel meines linken Zeigefingers weg.

Dann geht's an ein freudezuckendes Aufbrechen der raren Beute. Mit faschiger Hand und hohem Feiertage im Herzen schwitze ich dem göttlichen Gastfreunde Heimbring zu. Und Heimbring hat nicht schlecht gestaunt über das stolze Heimbringsel, das ich ihm vor die Füße legte.

Wie's kam? Der Schneider reagierte natürlich zuerst auf meine Flöte, und stahl sich herzu. Da wurde er vom starken Bocke ertappt und mir zugehetzt. Das war der tragische Konflikt in der Geschichte . . .

Aber noch hatte ich den Kelch der beiden Augustleidenstage nicht bis zum Grunde geleert.

Am 8. August kam ein Bäuerlein zu mir und erzählte mit wichtiger Miene, dort im steilen Hange läge ein verluderter Bock mit gigantischen G'wicht'ln. Nach peinlicher Inquisition vermeinte ich es glauben zu dürfen und wanderte mit dem Trinkgeldfrohen in die Wälder 38 hinauf. Der Abstieg im betreffenden Hange gestaltete sich äußerst beschwerlich, da die Erde locker und die Lehne, wie gesagt, höchst schroff ist. Es gab mir einen mahnenden Stich durchs Herz, als wir an der Stelle vorbeikamen, wo ich vor einer Woche den ersten Bock be- und eine Gerte erschossen hatte . . .

Der Bock lag etwa 100 Schritte tiefer und hatte sich beim Sturze ganz in die zähen Ranken der Waldrebe verschnürt. Und die †††Kugel – sie saß weidwund, soweit sich das am Kadaver feststellen ließ! Ja, hätte ich damals mit Schrot geschossen! Das ist so ein Beispiel. Er wäre im Dampfe zusammengeknickt und hätte keinen Lauf mehr gerührt. Die hochmögenden Gesetzgeber des deutschen Weidwerkes kennen eben meist nur ihre polierten Tanzbodenreviere, wo die Nachsuche einer blinden Krückengroßmutter gelingen muß. In solch einer Wildnis aber fänden sie größtenteils kaum sich selbst mehr, geschweige ein Stück Wild. Ja, mehr noch: selbst der Hund versagt in solchen Fällen. Übrigens büßt man in den Uskoken jeden Hund früher oder später durch Sandvipernbiß ein.

Mit sehr gemischten Gefühlen kappte ich das schöne, gedrungene Gehörn und ging langsam heim. Jene Brunftsaison war mir durch diese Katastrophen ordentlich vergällt worden, und wenn ich auch später bessere Tage sah, so konnte ich doch das erlittene Ungemach lange nicht verwinden.

* * *

Es bleibt mir nur noch übrig, von dem Schicksale der beiden Kapitalböcke zu berichten, die ich glatt gefehlt hatte. 39

Halt, das war ein großer Euphemismus.

Denn den Gespensterbock hat sein Schicksal noch immer nicht erreicht.

Dafür hat der Gespensterbock fünf Stellvertreter gefunden, die nacheinander statt seiner fallen mußten. Und ihn selbst habe ich noch einigemal gesehen und noch einmal gefehlt.

Wie sich das alles zugetragen, will ich freimütig bekennen, zumal hie und da ganz interessante, stellenweise sogar pikante Umstände mit der Erlegung seiner Substituten verbunden waren.

Seit jenem 2. August war der Schlaue womöglich noch unsteter geworden. Hatte man ihn schon früher an den verschiedensten Orten gespürt und gesehen, so unternahm er jetzt förmliche Reisen. Einer der Revierjäger behauptete obendrein, der Greis trüge jetzt ein ausgesprochenes Achtergehörn – er habe es einmal auf ganz geringe Distanz bewundern können.

Es war am St. Petri- und Pauli-Tage des nächsten Jahres, als ich mich wieder einmal zu einem Versuche aufraffte, den Listigen zu überrumpeln. Es war einer jener Tage, an denen das Rehwild im Stangenholz und auch auf den Schlägen leicht anzubirschen ist –, wenn man ein bißchen Nässe nicht scheut. Es nieselte nämlich unablässig vom grauen Himmel herab; die Berge standen in feuchten Nebeln, und die Wälder weinten. Dazu war es ordentlich kühl, fast herbstlich.

Diesmal fuhr ich in einem tief eingeschnittenen Waldtale mit dem »Steirerkarrikel« bis unter den Berg, der, wie mir dünkte, die Hauptresidenz meines Geheimrates war. Der Steig windet sich von der Talsohle aus freilich verzweifelt steil und so gar nicht diplomatisch 40 geschlungen hinauf; aber was tut's? In zehn Minuten ist man im Stangenholz. Das ist auch etwas wert.

Was ich im Holze zunächst entdeckte, war ein mir neuer, scheinbar stark begangener Wechsel, der, mit unzähligen, gewaltigen Plätzern geziert, so recht einsiedlerisch über einen Rücken führte. Jüngere, wenn auch starke Böcke pflegen althergebrachte, traditionelle Wechsel zu beziehen; nur griesgrämige und sehr fürsichtige Veteranen legen sich derlei Privatwege an. Natürlich stand es für mich fest, daß der alte Urbock hier seine einsamen Wanderungen zu absolvieren pflege. Da wollt' ich nächstens 'mal in den frühen Vormittagsstunden ansitzen.

Der Weg führte auf eine Kultur hinaus, die sich über ein unglaublich kupiertes Terrain erstreckt. Da ist es vorzüglich birschen; denn man hat überall gute Deckung und auch an Birschsteigen fehlt es nicht. Leider steht in diesem Revierteile sommerüber nicht besonders viel Rehwild; aber dafür werden merkwürdigerweise diese Äsungsplätze nur von Böcken, meist starken Burschen, aufgesucht. Niemals sah ich dort Schmalrehe, geschweige denn Altrehe mit Kitzen.

Eben drückte ich mich um eine Ecke, als plötzlich mein Blick auf einen roten Fleck fiel, der unbeweglich, etwa 100 Gänge entfernt, im hohen Grase stand. Das Glas zeigt mir etwas, was mich augenblicklich in einen hysterischen Zitterkrampf versetzt. Ich beherrsche mich und lasse die Büchse mit erzwungener Gleichgültigkeit von der Achsel gleiten. Er ist's, und kein anderer. Nun ist er aber mein.

Das Stechschloß meiner Büchse dachte anders. Ich hatte es heute auf zarteren Abzug geschraubt, und nun rächte es sich für meine Ungenügsamkeit. Als ich das Züngel nach vorne drückte. knipste es zwar ein, aber 41 im selben Momente schlug auch schon der Hahn herab, und der Schuß donnerte, erschrecklich laut, wie mir schien, in den grauen Regentag hinaus, gefolgt von einem hämischen Echo.

Und der Bock blieb stehen . . .

Der ist ein Molch, über den in solchen Augenblicken keine Erregung käme. In fiebriger Hast schob ich eine neue Patrone ein und schoß ohne Stecher.

Das war meinem Gegenüber zu viel. Er verschwand im nächsten Gestrüpp, nicht plärrend wie ein Jüngling, sondern würdevoll und still.

Ohne Stecher zu schießen, ist keine Kunst, wenn man darauf vorbereitet ist. Die Anlehnung des Zeigefingers gibt dem Laufe sogar mehr Ruhe. Die amerikanischen und englischen Jäger kennen den Schneller fast gar nicht und schießen trotzdem beschämend gut. In der Hitze des Gefechtes aber reißt man am Züngel, statt es gemächlich abzuziehen, und erzielt natürlich dadurch einen glänzenden Mißerfolg.

Der graue, nasse Tag schien mir noch viel trostloser über der Welt zu hängen, als mich das Wägelchen heimkarrte. Mein Zigarettenkonsum wies auf Nervosität, und nächtlicherweile kämpfte ich mit allerhand boshaften Faunen und Alben, die meinen Lauf immer aus der Richtung klapsten, wenn ich gerade abdrücken wollte.

Einige Tage später kam eine junge Dame, eine Russin, auf Besuch. Sie wollte um die Welt gerne einmal bei einer Birsch mittun, und ich versprach ihr, sie mitzunehmen. Eines Nachmittags stapften wir also rüstig dem Walde zu; diesmal wieder auf einem anderen Wege. Mein Ziel war die den Lesern nun schon bekannte »kleine Pfarrerwiese«; aber im innersten Herzen drängte es mich nach dem Standorte des 42 »Geheimrates« Fatalistisch – das wird man drunten im Halb-Oriente bald – hoffte ich im stillen, daß gerade das Außerordentliche dieses Birschganges, die plaudernde Damenbegleitung, die Exkursion zu einer glücklichen machen werde.

Es schattete bereits in den tieferen Hängen, als wir der Pfarrerwiese zuschlenderten –»birschen« konnte man diese unvorsichtige Fortbewegungsart doch nicht nennen. Ich hatte die Läufchen meiner Jagdgenossin schonen müssen, war gezwungen gewesen, dann und wann zu rasten – daher die mir unliebsame Verspätung. Es standen auch schon Rehe auf der Wiese . . .

»Da, da, der hat große Hörner, den schießen Sie!« rief meine Russin plötzlich in deplacierter Ekstase und zeigte mir mit der Spitze ihres hellen Sonnenschirmes ein starkes Stück, das ich unbegreiflicherweise übersehen hatte.

Diesen Verrat nahm das Stück aber gewaltig krumm; es flüchtete ab, und während ich dem auf- und abwogenden Spiegel nachstarrte und dem Baßschreckton lauschte, quoll ein schwüler Argwohn in mir auf. Er war es.

Vor allem fluchte ich insgeheim jeder weiblichen Birschbegleitung, der vorliegenden aber insbesondere, und tat den frevelhaften Schwur, mich nie zu verehelichen . . .

Der lange Heimweg zeichnete sich russischerseits durch häufiges Stolpern, meinerseits durch Mangel an Redefreudigkeit aus. Aber sonst war's sehr schön.

». . . Der Mond schien auf die Felder,
die Ähren wogten sacht' . . .«

Wenige Tage später schwitzte ich trotz gewaltiger Backofenhitze wieder meinem Schmerzensziele zu. 43

Vorsichtig birschend, erspähte ich ein starkes Stück, das gerade über den Weg in eine junge, hochgrasige Kultur zog. Da es erst sechs Uhr nachmittags ist und die Sonne noch immer unerhört heruntersticht, denke ich an eine alte Tante. Da – das Stück äst stichgerade auf mich zu. Jetzt hebt es das Haupt – ich sehe ein hohes Gehörn auf grauer Stirn – nun steht es schon breit – –

Nach dem Knall einige hastige, bucklige Fluchten in eine kleine Dickung von Salweide und Brombeere, ein verzweifeltes Knacken und Prasseln – –

Ich sinke glückselig in mich zusammen.

Eine kleine halbe Stunde wird ihm gegönnt, dann gehe ich ihn »abholen«.

Wo er im Salweidenfilz verschwand, finde ich kein Tröpflein Schweiß. Aber er muß doch gleich da irgendwo liegen. Ich schaue unter jede Staude. Alle Augenblicke glaube ich einen gelbroten Körper entdecken zu müssen. Aber es bleibt vorläufig beim Glauben. Ich werde faselig, das Blut steigt mir zu Kopfe, die boshaften Brombeerranken verbeißen sich in meine nackten Knie. Ich plumpse hin und erhebe mich mühsam und dornengespickt, mit unzähligen Ritzen auf Händen, Gesicht und Beinen. Meine »Nachsuche« artet in ein wüstes Umhertoben aus . . .

Nein, nein, das geht nicht! Besser, wir stecken uns eine Pfeife an und denken in Ruhe über das Zweckmäßige nach.

Gedacht, getan. Ich entwinde mich sanft, aber entschieden den hartnäckigen Garnen der schönen Madame Brombeere und trolle gemach der russischen Wiese zu. Vielleicht steht da Rehwild.

Rehwild stand zwar nicht da; doch kam gerade eine reizende Schmalgeiß des Weges getrippelt. 44

Wohin sie ginge? Und so allein im weiten, wilden Walde?

Zu ihrem Onkel übers Gebirg. Und sie fürchte sich mitnichten. Der Herr Jäger werde ihr wohl auch nichts tun.

Der Augenaufschlag besagte, daß die Furcht vor den Tätlichkeiten des Herrn Jägers keine allzu große wäre.

Wie wär's denn, wenn wir der spröden, keuschen Göttin Diana aus Rache einen rechten Tort antäten? Die Kleine da ist vielleicht nicht so unnahbar . . .

Aber nein, wir wollen ja nicht indiskret sein. Diskretion Ehrensache. Und ich habe auch – Hand aufs Herz – gar nichts zu verraten!

Natürlich blieb die Wiese für diesen Abend leer, und nachdem ich mich durch einige tiefinnerliche Erwägungen über jagdliche Schicksalsschläge einigermaßen ernüchtert hatte, trat ich aufs neue zur Nachsuche an.

Der Anschuß war und blieb aber verneinend. Freilich, das Gras ist hoch, die Schnitthaare sind da nicht so leicht zu erspähen und Schweiß muß ja nicht gleich auf dem Anschusse liegen.

Vorerst mache ich mich daran, einige nahe Wassergräben mit Gemütsruhe abzuspähen. Resultat: Null. Das heißt: Einen geringen Bock ging ich bei dieser Gelegenheit auf und hätte ihm fast einen vermeintlichen Fangschuß auf den Vorschlag gesetzt, weil er mich gar so blödsinnig anstarrte. Aber – Huberto sei's gedankt – ich entdeckte doch noch rechtzeitig, daß es zwischen den Lusern gar nicht einladend aussehe und spannte den Hahn wieder ab.

Inzwischen hatte es zu düstern begonnen, und über den fernen Bergrücken wogte ein rotes Flammenmeer. Morgen – mit dem Hund des nächsten Revierjägers. 45 In irgend einem Wassergraben liegt er – krank oder schon verendet. Das ist sicher.

Das Gefühl, eine derartige Affäre für heute unausgetragen lassen zu müssen, ist ekelhaft. Etwas Unreines, Unbefriedigendes haftet ihm an. Und wenn ich es weiß, wenn ich es sehe, wo sich der kranke Bock niedergetan hat – ganz ruhig bin ich doch dann erst, wenn meine Finger in die Gehörnsprossen greifen. Auf den Genuß kommt vielleicht doch mehr an als auf das Bewußtsein . . .

Ich schlendere sehr gemach heim, d. h. dem Jägerhause zu. Schon liegt der Tau im Grase – meine nackten Knie spüren es. Auch die Nachtschwalben lösen sich bereits aus dem Geäste der Randbäume . . .

Plötzlich liege ich da, der Pfeifenstiel spießt sich peinlich in meinen Gaumen und die Gewehrläufe bohren sich ins weiche Erdreich. Mit ungebührlichem Zorne erhebe ich mich und forsche nach dem Grunde meines Sturzes.

Die sich aus solcher Gründlichkeit ergebende Überraschung war ganz angenehmer Natur. Denn vor mir, oder richtiger hinter mir, lag er – der Bock, kalt und steif.

Der Juchhezer erstarb mir in der Kehle, als ich das Gehörn betastete. Er war es nicht. Eine gute, eine recht gute Krone sogar – aber jung, sehr jung, viel eitel Blendwerk und Prahlerei, wenig Solidität. Die gute Perlung beschwichtigt mich einigermaßen. Auch die Rosen sind nicht die geringsten. Und daß der Bock tüchtig im Feist war, spürte ich, als ich ihn den steilen Steig hinabschleppte, oft mehr rutschend als schreitend. Na, schußbar war er, der Bursche, 23 Kilogramm wog er aufgebrochen und seine fünf Jahre hatte er auch. Aber was ist das gegen den anderen! 46

Nun, ganz bös war ich ja nicht – und die sonderbare Auffindung war nicht reizlos. Sich grämen auch noch – nein, den Gefallen erweisen wir der Grausamen nicht.

Übrigens – die Kugel hatte er gut hinterm Blatt. Aber zwei Finger Feist hatte er auch. Resultat: Langsame Schußwirkung, kein Schweiß.

Den nächsten Morgen widmete ich trägem Ansitz am neuentdeckten Wechsel.

Es war brutofenheiß; die Gelsen kannten kein Erbarmen und der Wechsel blieb unbegangen.

Anfangs erhielt ich mich mit Pfeifentabakkonsum wach; dann vergnügte ich mich damit, mittels herausgeschraubter Feldstecherlinse die Sonnenstrahlen auf einen Holzblock zu konzentrieren – und schließlich duselte ich ein. Es war so friedesam im Hochwalde – da und dort das hochsommerliche Turteltaubengegurr, das monotone Lachen eines Grünspechtes, ganz ferne ein Axtklang . . .

Das Knacken eines dürren Ästchens schreckt mich auf.

Dort zwischen den Buchenstämmen verschwindet eben die Gestalt eines starken Stückes, das an mir vorübergezogen sein mußte. Gleichzeitig entdecke ich einige riesenhafte, sozusagen noch warme Plätzer, kaum 40 Gänge unter mir –

O Spuk! . . .

Es war etwa drei Wochen später, als ich wieder einmal in jenen Revierteil spekulieren ging. Die Böcke sprangen tadellos, riesig hitzig; in allen Laubhölzern hörte man preschen und fiepen. Nun wenn St. Hubertus mag . . .

Unter einer alten, dicken Schirmbuche kauerte ich mich in ein Nichts zusammen. Nach rigoroser Beobachtung der Anstandsfrist zog ich den Blatter hervor und hub 47 gar sehnsüchtig zu rufen an. Wackelt dort nicht eine junge Buche wie von Schüttelfrost durchschauert? Da fegt wer . . . und dieser »wer« zieht auch näher, langsam, langsam. Das Laub knistert nervenreizend unter seinen Schalen, noch gibt das dichte Stangenholz ihn nicht frei. Nun aber schiebt sie sich hervor, die rote Gestalt . . .

Wenige Sekunden später schlägt er mit den Läufen. Ein gieriger Griff – ein starkes Gabelgehörn. Der zweite Ersatzmann! Und just am selben Wechsel. Daß der Alte solch unwürdige Konkurrenz duldet! Oder ist ihm schon alles gleich? . . .

Am nächsten Morgen.

Auf den Waldhöhen liegt schon kühles, klares Frühlicht; in der tiefen, wilden Schlucht, die ich hinaufbirsche, ist's noch finster wie in einer Gruft. Ein arges Gehen im Wildbachbette: die Schrankennägel knirschen auf dem nackten Gestein, Stämme liegen kreuz und quer über den Schrund. Ein Stückchen Vorzeit: Zinnkraut mit ungeheuren Blattfächern, Schachtelhalme, Grauwacke. Unter dem feuchten Laube harren Kohlenschätze ihrer Bestimmung. Für den Jäger aber ist diese Birsch ein Stück Urwaldsarbeit.

Rechts hinauf. Ein Weimutskiefernbestand ist zu durchqueren, dann bin ich draußen auf dem Schlage. Schon ist's büchsenlichtig, selbst im Holze. Da fällt mein Blick auf ein kapitales Reh, das unbeweglich am Rande einer kleinen Dickung steht. Das gäbe einen wundervollen Blattschuß; das Stück steht wie eine Mauer auf kaum 60 Gänge. Nur das Haupt ist verdeckt und bleibt mir trotz aller gymnastischen Übungen unsichtbar. Endlich kommt Leben in das Reh. Es kehrt mir den Spiegel zu und zieht langsam, ohne mich bemerkt zu haben, 48 von mir weg, dem nächsten Rücken zu. Nun kann ich es freilich als außerordentlich starken Bock ansprechen – allein was fruchtet das? Ein Schuß ist nicht anzubringen. Umschlagen? Und dann blatten? Zu riskieren ist's.

Ich habe bald einen günstigen Posten in raumerem Bestande gefunden und intoniere. Sofort schiebt sich etwas Rotes zwischen zwei Stämmen hervor, um gleich wieder hinter einer Bodenwelle unterzutauchen. Aber ich gebe nicht nach mit meiner Lockmusik. Und nun kommt's auch heran, das rote Ding: Reineke. Da kann ich meine Kugel nicht halten. Zwar verfehlt sie ihr Ziel, aber der Schlaue ist düpiert und flüchtet standartenwirbelnd auf mich zu. Eine Portion Viererschrot wirft ihn ins Laub.

Und hinter mir schimpft jemand, dessen Baß ich nur zu genau erkenne.

Im Verlaufe des Vormittags meuchelte ich noch ein armseliges Böckerl – einen Spießer, der zwar einerseits eine kümmerliche Gabel trug, aber ganz und gar noch dem zartesten Knabenalter angehörte, ja vielleicht, seinen Anlagen nach zu urteilen, nie ein starker Bock geworden wäre.

Diese Tragödie kam also zustande:

Ich gedachte den schlauen Alten ein zweites Mal zu umschlagen und dann an einem Wechsel zu erwarten, den er meiner Erfahrung nach annehmen mußte, da seine Fahrt nach der Doublette auf Rotrock in jene Richtung gegangen war.

Dort – in einem sehr raumen Rotbuchenbestande – winkten noch andere Freuden.

Vor wenigen Tagen hatte mir der Revierjäger gemeldet – und das so geheimtuerisch, daß es sich nur um 49 etwas Besonderes handeln konnte – dort an dem Wechsel – ich wisse schon wo – stehe ein starker Bock, der nur eine Stange trüge und diese mitten auf dem Haupte.

»Dorten, wenn S' Ihna ansetzen« – er ist ein Steirer – »dort kimmt er net leicht aus . . . Kennen S' eh den Wechsel . . .«

Ja, den kannte ich wie mein Portemonnaie. Nur daß er oft besser besetzt war.

Also dorthin. Einer von beiden – heute morgen noch.

Schon habe ich mich meinem bewährten Ansitzplatze auf etwa 80 Gänge genähert – ein verdammt lautes Gehen auf trockenem Buchenlaub und ‑reisig, besonders so um Jakobi herum – da wird also vor mir ein Reh hoch und nimmt den Rückwechsel an. Aufs Abschneiden versteh' ich mich. Rasch um den kleinen Kogel herum! Er muß da herab, dann über den Weg und zurück in die tiefe Schlucht, die ich heute heraufgekommen bin. Es kann noch gehen. Daß es ein Bock war, hatte ich noch am Pinsel sehen können. Ich dachte nur an meinen Kapitalen und den wechselzuständigen Einstangler.

Kaum bin ich, schwerkeuchend natürlich, angelangt, da knackt's auch schon ober mir. Oben auf der Kante verhofft er. Verteufelt dicht ist der Mais, aber –

Und schon kracht's.

Im Dampfe schlägt der Bock einen ungeheuren Purzelbaum und kommt dann in ganz korrekten, unaufhörlichen Saltomortalis herunter, alles Gestrüpp mitreißend. Nie habe ich solche Todesfahrt gesehen: es prasselte und knatterte, als ob ein Wisent zusammenbräche. Da, in einem undurchdringlichen 50 Brombeerbusch vor mir bleibt er liegen. Noch ein paarmal schwanken die Ranken, und ein dürres Blättlein raschelt. Dann still – ganz still.

Ein Hinterlauf ragt hervor, ich erfasse ihn und ziehe die Beute auf den Weg.

Da lag er, der Beweinenswerteste. Hinterher ist's freilich zu spät . . .

Aber den seltsamsten Schuß meines Lebens tat ich hier wenigstens. Die Kugel hatte den Spießer unten zwischen den Vorderläufen gefaßt und oben das Kreuz zerschlagen. Das Herz war ein schlaffer Lappen; in den Wegrinnsalen staute ein ansehnliches Schweißbächlein.

Nie habe ich leichterer Schulter und schwereren Herzens an einem Bock getragen . . .

Wenige Tage später trieb ich mich wieder in der verdächtigen Gegend herum.

Steht da nicht, wie angeleimt, mitten auf dem breiten Waldwege ein kapitaler Bock und starrt mich unverwandt, ja höhnisch an, als wollt' er sagen: »Du kriegst ja deine Knarre doch nicht mehr hoch . . .«

Wie lange wir uns tief in die Lichter sahen, weiß ich nicht mehr. Endlich tastete meine Hand doch schüchtern nach dem Kolbenhals der geschulterten Büchse . . .

Böh, böh, böh . . . Und dahin ging's durch den Buchenwald.

Das war meine letzte Begegnung mit dem Gespensterbock.

Denn als ich nächsten Nachmittag mich wieder, diesmal gehörig vorbereitet, jenem Winkel zudrückte, waren Weg und Umgebung leer, trostlos leer. Nur zahllose Fliegen schwärmten um eine Straßenlache, und der Grünspecht lachte gellend. 51

Aber dort, im Zwickel zwischen den beiden Holzabfuhrwegen, da leuchtet es rot. Jetzt schiebt sich ein weißes Haupt hinter einer Staude hervor, und auf diesem Haupte sitzen Sechserstangen. Also doch da, mein Alter?

Es knallt, und wie sich der Rauch verzieht, sitzt der Bock auf den Keulen. Er kann nicht mehr hoch werden. Ein Schrotschuß auf den Vorschlag – auf etwa 25 Gänge – macht den Leiden des Weidwunden ein Ende.

Natürlich war »er« es nicht, sondern ein für Uskokenverhältnisse sehr mittelmäßiger Sechser. Doch war der Träger ein sehr alter Bock, einer jener Böcke, die es nie weit bringen, feinknochig und klein. Nur ein Blick in den Äser und eine genaue »Obduktion« des Stirnbeines können über solche zweifelhafte Fälle sichere Belehrung geben, wenn schon der Typus des Alters auch solchen geringeren Exemplaren deutlich aufgeprägt ist – so war es übrigens auch hier.

Jenes Jahr machte ich über den ersehnten Kapitalen ein Kreuz und widmete mich anderen Böcken, woran es mir auch nicht mangelte. Einen starken Sechser schoß ich trotz bewußten Schwures in Damenbegleitung, und zwar beim Blatten – und sonst ging alles »noch g'rad' gut 'raus«.

Im nächsten Frühjahr meldete der Jäger wieder den Einstangler und den »Großen«. So hieß der Begehrenswerte nun. Die beiden Uriane standen zusammen, nicht weit von ihren früheren Stammplätzen. Der Einstangler war unverbesserlich geblieben, und der andere Bengel sollte heuer aber schon aufhaben, daß . . .

Kurz und gut, ab 15. Mai begann die Sache für mich wieder aktuell zu werden. 52

Am 25. Mai, einem trüben, unfreundlichen Tage, birschte ich wieder einmal dem Platze zu, wo ich damals über den verendeten Bock hingefallen war. Dort herum sollten sie stehen. Zwei »Gute« hatte ich nachmittags schon schußmäßig angebirscht – nach ihnen aber stand mir nicht der Gaumen.

Bevor ich um die kritische Ecke zog, hörte ich schon dumpfes Gestampfe im Waldgrase und dachte, alles sei verloren. Wind, eine kleine Unvorsichtigkeit meinerseits – oder so etwas . . .

Darum riskierte ich die letzten paar Schritte mit völliger Außerachtsetzung aller Vorsichtsmaßregeln. Jetzt war's schon gleich.

Da stand er, auf kaum 35 Schritte, wie aus dem Grase gewachsen und äugte mich groß an. Das war sein Verderben. Zwar deckte mir ein Fichtlein sein Blatt, allein das famose Flecklein grad hinterm Blatt war frei und dorthin wies auch schon das Silberkorn.

Im Knall stand der Bock senkrecht auf den Vorderläufen – ohne Übertreibung. Solch imposantes Zeichnen habe ich nie früher oder später beobachtet. Wie eine gelbrote Säule ragte es einen Augenblick hinter dem Fichtlein hervor – dann ging's davon, mit gespreiztem Spiegel und in wahnwitzigen Fluchten.

Merkwürdigerweise lag auf dem Anschusse wieder einmal kein Schweiß, auch kein Tröpflein. Der Hund faselte lange Zeit herum; endlich entschied er sich für eine Richtung, wies mir aber auf 100 Schritte kein Schweißtröpflein. Zu meinem Erstaunen zog der Kurzhaar dann einen kleinen Hang hinauf. Das vermochte ich mir nicht zusammenzureimen. Ich rief den Hund ab und folgte meinem Verstande. Aber nirgends Zeichen, nirgends der Bock. Ratlos irrte ich zwischen den 53 verschiedenen Möglichkeiten hin und her, benützte auch das Glas fleißig, um gegenüberliegende Hänge abzuspähen. Nachdem ich am Ende meiner Weisheit angelangt war, beschloß ich, dem Hunde noch einmal zu folgen.

Er führte mich wieder den kleinen Hügel hinauf, und diesmal klomm ich nach.

Hurra! Da, vom Kamme der kleinen Bodenwelle leuchtet's mir verheißend entgegen; das Blatt eines Lungenkrautes, getränkt in Schweiß. Und von da abwärts eine durchs Dickicht gebrochene Rutschbahn, beiderseits von roten Spritzern begleitet.

Unten steht auch schon der Hund, freudewedelnd beim Verendeten. Der hat sich beim Sturze überschlagen – das Haupt liegt unter dem Rumpfe.

Der erste Griff, der erste gierige Blick dem Gehörn . . .

Der Einstangler.

Ein alter, starker Bock ist's, dem irgend ein Unfall einen Rosenstockbruch eingetragen hat. Auf dem nach abwärts gewucherten Knorpel sitzt ein schwaches Gabelstänglein, mühsam die vorgeschriebene Richtung innehaltend; auf dem gesunden Stirnzapfen thront eine brave, langendige Sechserstange. Der Bock wies, wie angetragen, einen guten Hinterblattschuß; aufgebrochen 23 Kilogramm.

Das war der letzte Stellvertreter meines Gespensterbockes, der heute noch in jenem Revierteile geistert.

Der andere Kapitalbock aber, den ich damals am 1. August so schmachvoll vorbeigeschossen, hat seine Trophäe zum Wandschmuck hergeben müssen.

Er hatte inzwischen seinen Standort zwar nicht verändert, aber seine frühere Schlauheit verdoppelt. Außerdem wurde in jenem Schlage die Birsch von Jahr zu Jahr schwieriger. Manchen Gang widmete ich auch 54 diesem alten Burschen; aber nur zweimal hatte ich ihn schußmäßig vor mir und beide Male wurde er durch eine Unvorsichtigkeit des begleitenden Jägers vorzeitig von der nahenden Gefahr avisiert. Er hatte schon famos auf! . . .

Als ich ihm das drittemal, wenige Tage nach der Erbeutung des Einstanglers, an den Leib rückte, patzte ich. Ich hatte den Jäger diesmal auf einem Beobachtungsposten zurückgelassen, von wo aus er mich mittels verabredeter Zeichen an ein starkes, aber nicht anzusprechendes Stück hindirigieren sollte, das im brusthohen Waldgrase äste. Schon war ich auf 70 Schritte an das fragliche Stück herangebirscht, da entdeckte ich linkerhand ein plötzlich aufgetauchtes zweites Stück mit mächtigen Stangen auf grauem Haupte. Im hohen Waldgrase schießt man leicht vorbei, und ich strafte diese Wahrheit nicht Lügen. Der Bock duckte sich nach dem Schusse und ging dann im gesundesten Tempo ab – hochwaldwärts. Die Nachsuche ergab nichts als einen riesigen Wechsel im steilen Buchenhange, der immerhin der gelegentlichen Erinnerung wert war.

Wenige Tage später schweißte ich spät abends einen starken Gabler an; die Nachsuche mußte ich auf den nächsten Morgen verschieben, was mir sehr ungelegen kam; denn ich hatte einen freundnachbarlichen Besuch – bei Nachbarinnen natürlich! – versprochen und mußte mich nun eines Bockes halber entschuldigen. Man trägt mir's heute noch nach, und das wird mein Tod sein . . .

Als ich mich dem Anschußplatze näherte, wo ich gestern eine Menge Lungenschweiß gefunden, zog der Hund gewaltig an, und mittels des Feldstechers entdeckte ich alsbald drei Rehe, darunter einen kapitalen Bock. Die 55 Gelegenheit zu erfolgreichem Anbirschen war hier günstig. Ich entledigte mich der Schuhe und schlich auf einem Waldsteige an den Schlag heran, der Hund wie ein Tiger hinter mir her. Durch eine Lücke eräuge ich den Bock, der behaglich in den Brombeeren äst. Die nächste Buche muß zum Anstreichen herhalten – und im Feuer bricht der Kapitale zusammen. Trotz Morgentau und Rheuma marschierte ich stracks auf den Gefallenen zu und hatte die Genugtuung, diesmal wirklich – aber unvorgesehen – einen »Richtigen« gestreckt zu haben. Es war der Kapitale von neulich – und das Kügelchen hatte ihm den Luser säuberlich durchstanzt, daher das Niederbiegen.

Kein Wunder, daß er sich ein bißchen überstellt hatte auf solche Behandlung hin!

Der tags zuvor angeschweißte Bock war auch bald zustande gebracht, so daß ich einigermaßen erleichtert und nicht allzusehr erbittert gegen das nachbarinnenfeindliche Geschick heimschnürte.

Und nun nehme ich Abschied von meinen lieben Uskoken und meinen verwogenen Birschfahrten. Noch manch Eigentümliches habe ich da draußen erlebt in jenen fremdartigen Revieren – aber für heute lassen wir's genug sein.

Schön ist's ja überall, wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual.

Und dann sind die Uskoken wohl besonders schön. Denn da gibt's noch köstliche Einsamkeiten.

Ein Sommerabend auf hochgelegenem Felde zwischen den aufgerichteten Garbenmännchen – die fernen Waldberge in seligem Mondlicht – gegen den verblassenden Sonnenuntergang die bizarren Silhouetten alter Eichen-Einsiedler – die monotonen Grillen in Klee und 56 Stoppeln – den Heimweg auf rauhen Hohlwegen, beiderseits von Brombeerstauden umdornt –, es sind Eindrücke, tiefe Eindrücke, trüb und schwer wie der Charakter des Südslawen. Wer je an den Toren des Orients gejagt hat, vergißt diese Szenerien nie.



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