Friedrich von Gagern
Im Büchsenlicht
Friedrich von Gagern

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Eine Soiree mit Hindernissen

Ich hatte ihn oben, im freien, zerschründeten Gamsrevier kennengelernt. Er war ein prächtiger Kerl, voll Witz, Mut und gesunder Unbefangenheit, wie ich sie liebe am Jäger. Geschossen hatte er zwar nichts – ich weiß nicht mehr, war ihm nichts angelaufen, oder hatte er daneben geschaut? – aber feste Freunde waren wir geworden in den paar Tagen derben, würzigen Genusses. Und als wir Abschied nahmen, küßte er mich nach der Sitte seines Volkes auf beide Backen und sagte: »Also auf Wiedersehen in meinen Steppen! Sie kommen doch – diesen Herbst noch, was? Sie können schießen, was Sie freut und soviel Sie freut. Und Frauen gibt es bei uns, ich sage es Ihnen, Frauen . . .«

Das war sein letztes Wort. Aber ich wage nicht zu beschwören, daß es mir deshalb so nachhaltig in der Seele klang. Will es auch nicht beeiden, daß ich aus bloßer Versprechenstreue nach Gamsriegeln und Hirschbrunft meine Koffer packte und zur Abwechslung einmal auf weiße Woche in den Jochen droben und Fasanentreiben in den Hölzern drunten verzichtete. Tatsache war, daß ich eines bitterkalten Spätherbstabends in B. eintraf, nach unzähligen Paß- und Zollschwierigkeiten. Das Überschmuggeln der Gewehre wurde mir 160 zu besonderer Pein, und ich mußte tief, sehr tief in die Rubel greifen. Worauf der Zoll allerdings entfiel . . .

Übrigens: Nichts ist quälender als eine russische Bahnfahrt. Ungeheuer fürnehme Coupés, weiche Sitze und Komfort nach jedem Bedürfnis hin. Aber kein Fördern, ewige Ungeduld. Nur dem Rauchen einer schlechtziehenden Zigarre vergleichbar. Wer ein paarmal im Leben die Feldfurchen an seinem Automobil vorbeifächern gesehen oder die Hast eines mitteleuropäischen D-Zuges gewohnt ist, wird dort im Osten zermürbt, zerbröselt vor Langweile. Raine, Dörfer, Steppen und Telegraphenstangen schleichen matt vorüber, die Aufenthalte dünken endlos, selbst des Schaffners treuer Aufmerksamkeit wird man überdrüssig.

Also: Endlich landeten wir in B., das heißt: meine Gewehre, meine Koffer und ich. Dimitri, der Gute, lachte vom Perron herüber, und einige gebieterische Winke seiner pelzbehandschuhten Rechten genügten, das Gesamtpersonal des kleinen Bahnhofes in fieberhafte Dienstlichkeit zu versetzen. So blieben mir die Arme frei, Dimitris Willkommumarmungen zu entgegnen und mich gleichzeitig einer Kußbrandung sachte zu erwehren. In keinem Lande der Welt wird soviel geküßt wie im heiligen russischen Reiche. Herren und Mädchen, Diener und Mägde – alles küßt. Und doch ist dieser russische Kuß keine flüchtige, gedankenlose Banalität, sondern eine herzliche und dabei feierliche Zeremonie!

Mein Gepäck verstauten die braven Russen in einem besonderen Gefährt, zart und voll unterwürfiger Andacht. Wir selbst erklommen einen leichten Wagen, dem ein Paar herrlicher Jucker vorgespannt war. Das fühlte ich im Fahren, und trotz der Dämmerung vermochte ich noch die prachtvollen Gänge der Stuten zu 161 bewundern. Und – alle Ehre dem ernsten Kutscher, der so monumental in seiner Nationallivree – Dragonermantel mit Tellerkappe – auf seinem Verantwortungsplatz saß. Nebenbei: ohne eigentlichen Kutschbock, also à la Wiener Fiaker. Die Straßen waren fürchterlich: Lehmgeleise ohne Grenzen und Schotter. Trotzdem fegten wir im flottesten Tempo ohne allzu schmerzliche Knochenschüttelei darüber.

Es war stockfinster, als wir vor Dimitris Schlosse vorfuhren. Ein langes, gemütliches Herrenhaus, baumumschattet, von Stallungen flankiert. Viel mehr ließ sich nicht unterscheiden, als die dürftigsten Umrisse. Einige Hunde schlugen wütend an, in den Ställen schien sich noch Geschäftigkeit zu regen, demütige Dienerschaften tauchten neben unserem Gefährt auf. Dann brach plötzlich heimelnde Glut aus einer offenen Tür, ein wärmender, familiärer Lichtschein schrägte heraus, und nachdem mich Dimitri über einige Stufen hinaufgeschupft, stand ich mit einem Male inmitten der teeduftigen Gemütlichkeit einer russischen Adelssippe. Schöne Mädchengestalten huschten über den Hintergrund oder lehnten verlegen am altersrauchigen Getäfel; eine freundliche Matrone hieß mich auf Französisch willkommen; der Samowar summte verheißend inmitten des appetitlichen Abendtisches.

Und Frauen gibt es bei uns, ich sage Ihnen, Frauen . . .

Wahrhaftig, eine russische Familie mit schönem Töchtersegen ist aller Wonne Preis. Zumal dem Jäger quillt da bald die Seele auf in Wärme. Nicht einmal im schönen Britinnenlande hängt die Frau so fest an der Jagd. In jenen Steppen versteht sich fast jedes Mädchen auf Ritt und Hatz. Da glühen diese schönen Augen 162 auf, die Wangen flammen wie die Glut eines Rausches, jeder Nerv zuckt und heischt . . . Dann diese selbstverständliche, innige Gastlichkeit . . .

Dimitris Antlitz strahlte meine Bewunderung wider. Hatte der Kerl aber auch Schwestern und Kusinen! Bis tief in die Nacht hinein plauderten wir von Jagden, Erinnerungen und Plänen, und der Samowar fand nimmer Ruhe.

Dann kamen die Tage schäumender, jauchzender Lust. Wir hatzten den Fuchs mit Dimitris Barsoi-Meute, wir schossen allerhand Wasserwild in den riesigen Sümpfen, wir genossen Hasentreiben und Birkhuhnsuchen, wir flogen in manch tollem Ritt über die Steppe, Schwestern und Kusinen, Dimitri und ich in erhitztem Durcheinander. Ich weiß nicht mehr, ob mir dies wilde Spiel besser behagte oder die Freude an den Barsois, die in schlanker Pace hinter ihren Opfern dreinpfeilten – ein fast gespenstisch Wehen über die mißfarbige Steppe. Rauhe, starke Weidmannsarbeit, nicht gehofmeistert von tausend Sitten und Krittlern, lauter von Neid und Heuchelei: zielloser Flirt voll süßer Torheit und Offenheit, voll Geist und Witz, voll Anstand und Grenzbewußtsein – das war mein Herbst.

Und dem Herbste folgte der Winter, und mit dem Winter begann das gesellschaftliche Leben in der nächsten Stadt, M . . ., zu pulsen. Einladungen schwirrten über die schneeigen Steppen, Küche und Keller hatten zu leisten, in den Zimmern der Damen ging es an ein geheimnisvoll Dichten von Toiletten, an rastloses Probieren und häufiges Weinen . . .

Also übermorgen kam der große Abend, die erste Soiree der Saison. Bei alten Freunden des Hauses, und ich – ich sollte mit. 163

Der Vortag setzte mit eisigem Oststurm ein. Die Flüsse schrumpften zu Eis; selbst die wärmeren Teiche wiesen eine blaugraue, klingende Decke. Nur Stauwässer und Sumpfgetümpel blieb offen. Der ist kein Jäger, so die Gelegenheit nicht nutzt – und gälte es erfrorene Wangen bei der Soiree.

Der Anlaß bot mir Hilfe. Ich wollte morgen mit dem ersten Schlitten, der die Damen und unser Toilettengepäck nach M. brachte, in die Moorbrüche fahren. Dort mußte der ganze Entensegen zusammengeweht sein. Dimitri fuhr erst nachmittags zur Stadt. An bestimmter Stelle – ich wußte nun schon gut Bescheid in den Brüchen – sollte ich ihn treffen. Dort mußte er ohnehin vorbei; dort wollte ich vormittags aussteigen. Dann hatten wir noch fünfzehn Werst bis zur Stadt und konnten uns dort voll Gemütsruhe in die respektiven Soireeklüfte stürzen.

»Aber geh mir nicht zu weit ins Moor, Junge,« warnte Dimitri, »es ist trügerisch – Boden wie Anhaltspunkte. Um Sonnenuntergang hol' ich dich ab.«

Aber wie würd' ich denn . . . Und seelenvergnügt fuhr ich in einer der Troikas meiner »Schwestern und Kusinen« in die tischflache Steppe hinaus.

Etwa zwölf Werst machte ich mit. Die Zeit wurde mir natürlich nicht lang. Im Gegenteil: Fast wäre ich lieber mit nach M. hineingefahren. Aber ich raffte meine ganze Weidsehnsucht zusammen und kroch unter den gemütlichen Pelzdecken hervor – in den schneidkalten Wintermorgen. Einige Pelzmützchen nickten mir schelmischen Abschied, die drei Troikas glitten davon, das frische Schellengeläut tauchte unter in der ungeheuren Stille der Steppe . . . 164

Ich war mir selbst überlassen. Zum ersten Male in diesem Lande der Grenzenlosigkeiten.

Rings die weiße Schneewüste, nur gegen M. zu forstgesäumt, hineinstarrend in des Winterhimmels ödes Bleigrau. Vor mir der Bruch, goldweiden- und erlenumbuscht, tückisch und lockend zugleich, mit dunkelgrünen oder wie fettig irisierenden Wässern, überschwirrt von unermeßlichen Entenschwärmen. Nur mit Mühe erspäht das Auge irgendwo in unbestimmbarer Ferne eine Rauchsäule, das friedliche Zeichen der Menschheit. Keine Spur sonst als die sich verschlingenden Stränge der Schlittengeleise. Wildfährten natürlich in Fülle. Vom Strome klirrt und dröhnt das Eis herüber. Die Schollen wimmern, pfeifen, stöhnen, donnern . . . Du armer Napoleon!

Aber das Weidwerken wird zur Lust in diesem Revier. Mein Schrotpatronenvorrat nimmt reißend ab, der Kugellauf des Drillings arbeitet musterhaft. Längst muß Mittag überschritten sein. Etwa zehn Enten verschiedenster Sippe, einige Wildgänse und Taucher liegen auf der Strecke. Des Wildes nicht zu gedenken, so in tiefes Wasser fiel oder geflügelt ins Rohr verschwand. Schade! Aber wir kennen diese Barbarei der Wasserjagd. Nirgends wird soviel Zündkraut vergeudet, nirgends soviel zuschanden gekratzt . . .

Ich habe mein bißchen Mundvorrat längst aufgekaut, mein Tabak geht zur Neige, der Schrotpatronen hab' ich nur mehr sechs. Und zwei Büchspatronen. Es wird ein mühsam Stück Arbeit werden, das Sammeln und Schleppen der Beute. Immerhin, es geht. Dort drüben liegt noch eine Gans, der das Einblei durch den Hals gefahren. Gerade will ich sie aufnehmen . . .

Da rauscht es und klingt es durch den grauen 165 Himmel. Näher, immer näher . . . Fast spür' ich das Fächeln der riesigen Schwingen. Nun über mir. Ich sinke zusammen in einem Riedbusch. Sie fallen ein, das rauschende Wasser klatscht und spritzt, silbrige Furchen pflügen sie auf, Wellenkreise spülen ans Ufer . . . Schwäne! Der nächste siebzig Schritte! Zitternd fingere ich die Umstellung zurecht, einen Atemzug Ruhe und Wille – dann stauben drüben die weißen Flaumen, machtvolle Schwingen ringen im Tode, schneeige Körper fliegen mit wuchtendem Fittigschlag aus dem Tümpel, ziehen über die Weidendickung und verschwinden im Grau. Mein Opfer liegt still in der Flut.

Ohne viel Besinnung, meinen hohen Wasserstiefeln vertrauend, patsche ich drauf los. Der Grund weicht unterm Tritt, zwei Meter vor meiner Beute muß ich halten. Und wie ich stehe, sinke ich tiefer und tiefer im zähen Grundmoor. Schon sickert es in die Röhren. Ich achte dessen nicht, ich lotse den gewaltigen Vogel mit dem Gewehr heran. Mein! Die Kugel hat ein Stück Hirnschale weggesplittert. So schlecht gezielt! Bis über den halben Waden steigt der Morast, meine Füße fühle ich wasserumspült. Kein Rucken, kein Reißen hilft. Und immerzu wird es tiefer unter mir. Todesangst rieselt mir von unten herauf nackenwärts. Der Schwan fliegt ans Ufer; ein Wutschrei entpreßt sich der Kehle. Die Stiefel im Stiche lassen? Nein – der weite Weg, strumpfbeinig im Schnee! Das Stemmen drückt mich nur tiefer in den leimigen Brei. Und doch! Der rechte Fuß hat sich Platz geschaffen, Wasser unterspült den kleinen Spielraum, das Moor gibt nach – nach oben. Ein verzweifelter Tritt gewinnt festen Grund, ein ungeheurer Ruck befreit den linken Fuß. Gerettet! Aber auch zu Tode erschöpft! 166

Und doch wanderte ich mit meiner schweren Beute in die grenzenlose Steppe hinein . . .

Dämmerung, müde, farblose Dämmerung. Dann beginnt leises, zartes Gekräusel, schwerere Flocken sinken, endlich tolles Wirbeln, tanzend, lebendig – und doch so träge. Die Steppe verschwindet, alles löst sich wie in Frieden und Schlaf. Keine erschreckenden Fernen mehr, kein unerreichbarer Horizont: nur das Pfeifen des Eises vom Strome herüber. Schon ist das Schlittengeleise verweht . . .

Die Zeit wird endlos wie dies Land des Winters. Kein Schlitten schellt näher, kein Dimitri kommt. Ja, bin ich denn überhaupt auf unserem Platze? Ich weiß es nicht. Der Schnee hat mir alle Sicherheit verhüllt. Ich wüßte kaum, wohin Richtung zu nehmen. Und ich bin auch zu müde, meine Füße quietschen im Wasser. Ist hier unsere Station, so wird er kommen. Wenn nicht, so –  . . . Es ist ja alles gleich. Wie tiefer, ewiger Schlaf kommt es über mich aus den grauschwarzen Höhen. Schlafen! Vergessen! Auflösung in Nichtbewußtsein und Frieden . . .

Aber Dimitri kam. Noch gerade recht. Erst ein zweifelhafter Schein im Zwielicht, dann Rufe und Schellengeklirr. Er schien bestürzt. Freilich, heute hatte es zeitig gedüstert . . . Wie das Gebrannte schmeckt! Dann Stiefel aus und die nassen Füße in den warmen Pelzfußsack. Ich war wieder ganz lebendig geworden und erzählte von meinen Fährnissen. Und Dimitri küßte und beglückwünschte mich. Denn das Moor gibt seine Opfer selten frei . . .

Das Dreigespann flog wie ein Sturm über die Bahn, trotz Neuschnee und Dunkelheit. Herrliche Tiere, herrliche Leute! Noch im gedämpften Schneelichte sah ich, 167 wie die Steppe an uns vorüberschoß, hinter uns in Unergründlichkeit verschwand.

»Fünf Werst bis M.,« meinte Dimitri, »eine Viertelstunde.«

Nun ging es durch den Wald. Riesige schneegepanzerte Nadelbäume tauchten auf im roten Laternenschein, rauhe Borken, gefällte Stämme. Die Pferde dampften, der Dunst rauchte durch den Lichtstreif . . .

Da packte Dimitri mein Handgelenk.

»Wölfe! . . .«

Und schon schoß unser Schlitten mit verdreifachter Geschwindigkeit dahin. Der Schnee stob hinter rasenden Hufen gegen unsere Stirnen, Dimitri hatte seine Winchesterflinte hervorgerissen.

Drei, vier, fünf Schatten huschten uns nach.

»Lass' sie nah' kommen!«

»Du links – ich rechts.«

Noch dreißig Schritte. Mein Drilling lag mir vorzüglich. Aber Entenhagel! Zwanzig Schritte . . . Fünfzehn . . . Ich glaube gierige Lichter aufglühen zu sehen, ich höre wildes Keuchen . . . Mein Drilling flog an die Wange . . .

Der Leitwolf sinkt in den Schnee. Wer weiß, ob gut getroffen? Selbst in solchen Fiebern wacht des Jägers Ehrgeiz . . . Dimitri schießt – ein-, zwei-, dreimal. Und auch ich feuere noch einmal – auf einen flüchtigen Schatten.

Habe ich in jener Nacht einen Wolf geschossen?

Dimitri lachte. »Das war ein Spiel. Verzweifelte Bursche, ausgehungert und verwogen. Aber wenn so ein Dutzend hinter dem Schlitten her ist . . .«

Eine Stunde später hatten wir unsere Toilette beendet. Ich war jung und vertrug schon etwas. Wer wird 168 wegen solch würziger Aufregungen den strahlenden Festsaal missen?

Kerzenschimmer gab es, brodelnde Samoware, spiegelglattes Parkett, knisternde Seiden – und: »Frauen, sag' ich Ihnen, Frauen . . .«

In keinem Lande der Welt wird so viel geküßt, wie im heiligen russischen Reiche . . .

Ob mein lieber Dimitri noch lebt? Ob ihm die furchtbare Revolution seines Vaterlandes den roten Hahn aufs Dach gesetzt –, ob er gelyncht wurde samt seinen schönen Schwestern und Basen? Armer Bauer Rußlands, armer russischer Adel! Nirgends ließe sich ein gleich gesunder Landadels- und Bauernstaat errichten, nirgends hat das Extrem ärgere Ernte gesät! 169



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