Emile Gaboriau
Aktenfaszikel 113
Emile Gaboriau

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21.

Verduret schloß das Manuskript, hob den Kopf und blickte Prosper lächelnd an.

»Nun, was sagen Sie dazu?«

Prosper hatte erstaunt, erschüttert zugehört. Wie war es dem außerordentlichen Manne nur möglich gewesen, all dies in so kurzer Zeit in Erfahrung zu bringen!

Verwundert fragte er Verduret, wie das nur möglich gewesen?

»Ja,« antwortete dieser heiter, »man kann viel leisten, wenn man nur den guten Willen dazu hat. Und nun, lieber Freund, freuen Sie sich, noch ehe acht Tage ins Land gehen, habe ich unsere beiden Spitzbuben ins Garn gelockt, Ihre Ehre ist wieder hergestellt, und ich habe mein Versprechen, das ich Ihrem Vater gab, eingelöst.«

»Ist's möglich – wie kann ich Ihnen danken . . .«

»Danken Sie mir nicht, erzählen Sie mir lieber, was Sie die ganze Zeit über gemacht haben?«

Prosper wurde verlegen. Er hätte seinen törichten Streich gerne verheimlicht, aber er sah ein, daß er das nicht durfte, vielmehr dem Manne, der sich seiner in so edler selbstloser Weise annahm, die Wahrheit schulde.

»Ach Gott, ich war ein Narr,« sagte er, »ich habe in der Zeitung die Verlobungsanzeige Magdas gelesen . . .«

»Nun – und . . .?« fragte Verduret besorgt.

»Und da habe ich Herrn Fauvel einen anonymen Brief geschrieben. . .«

Verduret schlug mit der Faust ingrimmig auf den Tisch.

»Sie Unglücksmensch,« rief er zornig, »nun haben Sie mir vielleicht alles verdorben!«

»Aber . . .«

»Schweigen Sie, wollen Sie Ihre Dummheit etwa gar noch rechtfertigen? Was hatte ich Ihnen denn ausdrücklich gesagt?«

»Ich sollte mich ruhig verhalten.«

»Nun – und?«

»Es war abends,« berichtete Prosper kleinlaut, »ich hatte von der Zimmerluft Kopfschmerzen und ging ein wenig spazieren, unseligerweise bekam ich Lust, in ein Kaffeehaus einzutreten – da las ich in der Zeitung die Unglücksnachricht und habe den Kopf verloren . . .«

»Hatte ich Sie nicht gebeten, Vertrauen zu mir zu haben?«

»Ja, aber Sie waren fort, ich fürchtete, die Ereignisse würden Sie überraschen . . .«

»Nur Dummköpfe lassen sich von Unvorhergesehenem überraschen und aus der Fassung bringen,« versetzte Verduret kurz. »Sie haben mir mit Ihrer – Voreiligkeit einen schlechten Dienst erwiesen und sich selber auch, aber da der Fehler nun einmal geschehen ist, müssen wir wenigstens trachten, die Folgen so gut als möglich abzuwenden. – Wann haben Sie den Brief aufgegeben?«

»Gestern abend – ach, ich bereute es sogleich.«

» Vorbedacht wäre gescheiter gewesen als nachträgliche Reue. – Fauvel dürfte also den Brief mit der heutigen Morgenpost erhalten haben. Wo ist er um diese Zeit?«

»In seinem Arbeitszimmer.«

»Also war er allein. – Können Sie sich an den genauen Wortlaut Ihres sauberen Schreibens erinnern?«

»Ja, ich schrieb: Sie haben Ihren Kassierer dem Gerichte überliefert, weil Sie ihn für unredlich hielten. Aber wenn Sie meinen, daß er Ihre Kasse beraubte, glauben Sie, daß auch er es war, der die Diamanten Ihrer Frau ins Leihhaus getragen? An Ihrer Stelle würde ich die Sache nicht wieder bei Gericht anzeigen, sondern vorher ein wenig meine Frau überwachen, auch würde ich, aufrichtig gestanden, dem fremden, plötzlich dahergeschneiten Neffen etwas mißtrauen. Was aber den ehrenwerten Herrn Marquis von Clameran betrifft, so täten Sie vielleicht gut, ehe Sie den Heiratskontrakt Ihrer Nichte unterzeichnet, sich auf der Polizei nach ihm zu erkundigen. Ein Freund. – Dies ist der genaue Wortlaut.«

»Ein richtiger anonymer Brief – ganz niederträchtig!« rief Verduret. »Merkwürdig! Sie betreiben ja die Sache nicht berufsmäßig! . . . Die Wirkung des Briefes muß eine schreckliche gewesen sein . . . Ist Fauvel heftig?«

»Furchtbar heftig und jähzornig.«

»Dann ist die Sache vielleicht wieder gut zu machen.«

»Sie meinen? Ich fürchte im Gegenteil, eben darum . . .«

»Ich meine, jeder gebildete Mensch von hitzigem Temperament kennt sich selbst und trachtet der ersten Aufregung nicht nachzugeben. Wenn sich aber Fauvel nicht beherrschen konnte, wenn er sofort zu seiner Frau gestürzt ist und gefragt hat: wo sind deine Diamanten – dann ist alles verloren . . .«

»Wieso?«

»Weil, wenn es zwischen dem Ehepaar Fauvel zur Aussprache kommt, uns unsere beiden Galgenvögel davonfliegen und das wäre aus mehrfachen Gründen fatal. Übrigens muß ich noch einiges in Erfahrung bringen – wir wissen noch nichts über Raouls Vorleben. Ich habe in London Verbindungen – in den nächsten Tagen erwarte ich Antwort auf meine Fragen. Aber jetzt, lieber Prosper, lassen wir das Plaudern, es gibt noch mancherlei zu tun.«

Verduret ging an die Klingel und läutete, Frau Alexandrine erschien in eigener Person.

»Ich muß sobald als möglich Ihren – will sagen Josef Dubois und Fräulein Anna sprechen. Und jetzt möchte ich mich ein wenig ausruhen, ich habe seit drei Nächten nicht geschlafen. Sie erlauben wohl,« sagte er zu Prosper und warf sich ohne Umstände angekleidet auf dessen Bett. »Wenn jemand kommt, wecken Sie mich.«

Fünf Minuten später schlief er fest.

Prosper, der ebenfalls die ganze Nacht kein Auge geschlossen, warf sich in einen Lehnstuhl. Aber er fand keinen Schlaf, zu lebhaft beschäftigte ihn der Gedanke, wer nur sein Retter sein mochte?

Verduret hatte kaum ein Stündchen geschlafen, als es an der Tür pochte und Josef, der Bediente Clamerans eintrat.

»Endlich sind Sie wieder da, Meister,« rief er, »es ist, glaub' ich, die höchste Zeit; wenn Sie die Vögel fangen wollen, müssen Sie sich beeilen, denn ich glaube, die Kerle haben nicht übel Lust fortzufliegen.«

»Zum Teufel! Da hast du wohl eine Unvorsichtigkeit begangen?«

»Sie sind seit dem Balle schon etwas unruhig, der Bajazzo will ihnen nicht aus dem Kopf. Aber gestern hat sich etwas ereignet . . .«

»Was? Mach rasch.«

»Gestern kommt es meinem Herrn Marquis in den Sinn, seine Papiere im Schreibtisch in Ordnung zu bringen. Plötzlich wird er aschfahl und stößt einen Fluch aus . . . Gräßlich! Er besieht die Papiere nochmals und nochmals, beschnüffelt sie sogar und auf einmal fährt er mit funkelnden Augen in die Höhe und stürzt auf mich los – ich war gerade am Kamin beschäftigt, das Feuer zu schüren, weil es ein naßkaltes Wetter war und er die Wärme liebt. Er also fährt auf mich los und brüllt: Wer war hier, wer hat meine Papiere in Händen gehabt? Ich sage so ruhig wie möglich: Niemand war da, wer sollte auch Ihren versperrten Schreibtisch öffnen? Er aber packt mich, schüttelt mich wie einen Pflaumenbaum, daß ich meine, die Seele fährt mir aus dem Leibe und schreit: Ja, man hat an meine Papiere gerührt, dieser Brief ist sogar photographiert worden. – Ich war sprachlos, wie hat er es nur merken können? Ich bin doch vorsichtig zu Werke gegangen. Aber er ist eben ein geriebener Schuft. Siehst du den Fleck da, rieche – das ist Chlor, sagte er. Und er schrie und tobte weiter, dann ließ er den Zimmerkellner kommen und fragte ihn aus, aber englisch, dann wurde er ruhiger und als der Kellner gegangen war, gab er mir ein Zwanzigfrankstück und sagte, es täte ihm leid, so heftig gewesen zu sein, du bist zu dumm für das, was ich dir zutraute, fügte er hinzu.«

»Und du glaubst, daß er das wirklich dachte?« fragte Verduret.

»Ja warum denn nicht?«

»Nun, es scheint, daß du wirklich nicht sehr schlau bist.«

»Es kann schon sein, daß Ihre Meinung die richtige ist, Meister. Er ließ sich nämlich diesmal nicht von mir fahren, sondern nahm den Hotelwagen . . .«

»Du bist ihm aber doch gefolgt?«

»Natürlich. Er begab sich auf die Bank von Frankreich und dann zu einem Wechsler – ich glaube, der Herr Marquis trifft Reisevorbereitungen. – Das ist alles. Was habe ich jetzt zu tun, Meister?«

»Du mußt sofort nach Hause gehen, dein Herr wird deine Abwesenheit bemerkt haben, aber nichts sagen, du fährst also fort . . .«

Ein Ausruf Prospers, der am Fenster stand, unterbrach Verduret.

»Was gibt's?« fragte er.

»Clameran . . .«

Mit einem Satze waren Verduret und Josef am Fenster.

»Wo?«

»Dort, an der Brücke, hinter dem Zelte der Orangenverkäuferin.«

In der Tat, der Herr Marquis stand dort und lauerte. Er mußte seinem Diener unbemerkt gefolgt sein und wartete nun offenbar, bis daß er wieder aus dem »Erzengel« heraus käme.

»Du siehst nun, wie recht ich hatte,« sagte Verduret zu Josef, »nun hilft nur eins, der Bediente in der hübschen Livree muß verschwinden, geh zu deiner – ich meine zu Frau Alexandrine – du verstehst mich.«

Ohne ein Wort der Entgegnung verbeugte sich Josef und ging.

Es dauerte keine zehn Minuten, da öffnete sich die Tür wieder und statt des nettgekleideten Dieners mit dem frischrasierten freundlichen Gesichte, trat ein sonderbar aussehender Mann ein. Er trug einen schäbigen schwarzen Anzug, der Rock war hoch zugeknöpft und ließ keinen weißen Halskragen sehen, dafür aber war die Krawatte wie ein Strick um den Hals gebunden und der Hut, den der Mann zwischen den Händen drehte, war so fettig, daß man ihn hätte auskochen können – mit einem Wort, Josef Dubois, der vornehme Lakai, hatte sich wieder in Fanferlot, den Polizeiagenten zurückverwandelt.

Bei seinem Eintritt erschrak Prosper, er erkannte den kleinen Mann, der bei seiner Verhaftung gegenwärtig gewesen, gar wohl.

»Bravo,« sagte Verduret, »der Polizist, wie man ihn nicht schöner wünschen kann, du hast mich richtig verstanden, mein liebes Eichhörnchen.«

Fanferlot errötete vor Vergnügen über das Lob seines Meisters.

»Was habe ich jetzt zu tun?«

»Geh' zur Hintertüre hinaus und nimm auf dem Kai Aufstellung, aber so, daß dich Clameran bemerken muß. Er wird natürlich sofort die Polizei wittern und merken, daß, während er auf der Lauer liegt, ihm selber aufgepaßt wird. Da wird er Reißaus nehmen und versuchen, dich auf eine falsche Fährte zu führen. Es gilt also, die Augen offen halten. Der Kerl ist schlau, laß ihn dir nicht entwischen.«

»Ei, ich bin doch kein Neuling!«

»Um so besser. Also vorwärts, rasch, es ist keine Zeit zu verlieren!«

Als Fanferlot sich entfernt hatte, nahmen Verduret und Prosper wieder ihren Beobachtungsposten am Fenster ein, aber noch ehe der Polizeiagent unten erschien, klopfte es an der Türe und Nina Gypsy, jetzt Anna Dupont, trat ein.

Das arme Mädchen war gänzlich verwandelt, früher lebhaft, fröhlich, heiter bis zur Ausgelassenheit, war sie jetzt ernst und still, und ihren schönen Augen konnte man es ansehen, daß sie in letzter Zeit viel geweint hatten.

Sie grüßte Prosper scheu, wie einen Fremden, und wandte sich sogleich an Verduret, der sie mit väterlicher Freundlichkeit empfing.

»Nun, mein liebes Kind, was gibt es Neues?«

»Ich weiß nichts Bestimmtes, ich vermute nur, daß sich etwas Schreckliches vorbereitet. Frau Fauvel schleicht wie ein Schatten durchs Haus und sieht aus, als ob sie nicht mehr zurechnungsfähig wäre, und der Herr ist seit gestern ganz verwandelt. Sonst die Güte und Freundlichkeit selbst, ist er jetzt höchst gereizt und sieht aus, als müßte er sich gewaltsam zusammennehmen, um nicht loszubrechen. Seine Augen haben einen sonderbaren Ausdruck bekommen, der geradezu schrecklich wird, wenn sein Blick auf seine Frau fällt.«

»Habe ich es Ihnen nicht vorausgesagt, Prosper,« rief Verduret, »der unglückliche Mann hat sich beherrscht, hat Beweise gesucht und mag sie schon gefunden haben.«

»Ja,« sagte Nina, »jetzt komme ich darauf, kein Zweifel, Herr Fauvel weiß alles.«

»Das heißt, er glaubt alles zu wissen, und das ist allerdings noch schrecklicher als die Wahrheit.«

»Jetzt verstehe ich erst den Befehl, den Herr Fauvel seinem Kammerdiener gegeben hat.«

»Was für einen Befehl?«

»Herr Cavaillon will gehört haben, wie Herr Fauvel den Kammerdiener beauftragte, ihm sämtliche Briefe, an wen sie auch seien, zu überbringen.«

Verduret schien das Gehörte zu überdenken.

»Ich danke Ihnen, liebes Kind,« sagte er nach einer Pause. »Gehen Sie schnell nach Hause und beobachten Sie jede Geringfügigkeit genau, und wenn etwas vorfällt, benachrichtigen Sie mich sofort. Adieu.«

Aber Nina ging nicht sogleich.

Sie hob schüchtern den Blick und fragte leise: »Und Caldas?«

Prosper fiel der Name, den er schon einmal, er wußte nicht mehr wann und wo, gehört hatte, auf, er wollte eine Frage stellen, aber Verduret, der bei Nennung des Namens zusammengezuckt war, antwortete Nina: »Ich habe Ihnen versprochen, daß Sie ihn wiederfinden sollen, ich werde mein Wort halten – jetzt gehen Sie.«

Nachdem sich Nina entfernt hatte, schritt Verduret im Zimmer nachdenklich auf und ab. Er runzelte die Stirne, und sein Gesicht drückte schwere Besorgnis aus.

»Ich habe Sie wohl in eine schreckliche Verlegenheit gebracht?« fragte Prosper.

»Jawohl, schrecklich ist das richtige Wort dafür. Ich weiß nicht mehr was ich tun soll – es ist Zeit, daß der Untersuchungsrichter ins Vertrauen gezogen wird. Kommen Sie mit; Herr Pertingent soll sich über die Bereicherung seines Aktenfaszikels 113 wundern!


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