Emile Gaboriau
Aktenfaszikel 113
Emile Gaboriau

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

5.

Fanferlot hatte Nina Gypsy wirklich nicht zuviel gesagt, als er behauptete, daß man im »Erzengel« gut aufgehoben sei, besonders wenn man von ihm empfohlen war.

Denn Frau Alexandrine war niemand anderes, als seine eigene Frau und eine wirklich vorzügliche Wirtin. Sie nahm sich ihrer Logirgäste wahrhaft mütterlich an, wie sie überhaupt eine herzensgute Frau war. Sie hielt ihren Mann für ein Genie und liebte und bewunderte ihn aufrichtig.

Zur selben Stunde, als der Untersuchungsrichter ins Spital fuhr, erwartete sie »ihr liebes Männchen,« wie sie Fanferlot zu nennen pflegte, ungeduldig zum Essen. Sie war immer besorgt, wenn er sich verspätete.

Endlich erschien er.

Sie fiel ihm zärtlich um den Hals und begrüßte ihn, als ob er von einer weiten Reise zurückkehre.

»Ich bin todmüde,« sagte er, sich losmachend, »ich habe stundenlang mit dem Kammerdiener des Herrn Fauvel Billard gespielt – er hatte heute einen freien Nachmittag – natürlich ließ ich ihn gewinnen, obgleich er ein elender Spieler ist und nun sind wir die besten Freunde; wenn ich an Stelle des erkrankten Bureaudieners eintreten will, wird er mich seinem Herrn wärmstens empfehlen.«

»Du denkst doch nicht im Ernste daran?« fragte seine Frau erschrocken.

»Wenn es notwendig sein sollte, gewiß; aus dem Kammerdiener war nichts für mich Brauchbares zu erfahren; seiner Schilderung nach ist sein Herr der reinste Tugendspiegel, ein Millionär, der keine Passionen hat, der einfach bürgerlich lebt, der seine Frau und seine Kinder abgöttisch liebt! Ist das erhört?!«

»Ist seine Frau noch jung?«

»Nicht mehr besonders, da sie erwachsene Kinder hat.«

»Hast du über diese etwas gehört?«

»Ja, der Jüngere ist eben erst Offizier geworden und liegt irgendwo in der Provinz in Garnison, der Ältere, Lucian soll ein ebensolcher Ausbund an Tugenden, wie sein Vater sein; dann ist noch eine Nichte da.«

»Wenn du aus dem Kammerdiener nichts herausgebracht hast, mein liebes Männchen, so ist das nur ein Beweis, daß nichts herauszubringen war. Der Fall ist eben sehr verwickelt und es wäre vielleicht doch gut, wenn du dich mit Herrn Lecoq beraten wolltest.«

Fanferlot, der während des Gesprächs gemütlich seine Suppe gelöffelt hatte, fuhr auf, wie von der Tarantel gestochen.

»Du willst wohl, daß ich um meine Stelle komme? Wenn er wüßte, ja, nur eine Ahnung hätte, daß ich auf eigene Faust arbeite, wäre ich verloren!«

»Ei, du brauchst ihm ja dein Geheimnis nicht preiszugeben, du horchst nur so beiläufig seine Meinung aus und handelst ganz nach eigenem Gutdünken.«

Fanferlot überlegte.

»Es wäre vielleicht nicht schlecht, nur – Lecoq ist verteufelt schlau, er wäre imstande, mich zu durchschauen.«

»Ei, laß ihn nur schlau sein, mein liebes Männchen ist auch nicht auf den Kopf gefallen – ich meine eben ihr beide zusammen würdet das Richtige aushecken.«

»Nun – ich will mir die Sache überlegen. Aber nun sage mir, was macht unsere Kleine?«

Damit meinte er die Nina Gypsy.

Das arme Mädchen hatte noch immer keine Ahnung, in wessen Hause sie sich befand, vielmehr war sie recht zufrieden, da die Wirtin sie sehr liebenswürdig aufgenommen hatte. Nur eins überraschte sie: die Vorladung, die sie erhalten hatte, und staunte über die Findigkeit der Polizei, da sie doch geglaubt hatte, besonders vorsichtig zu sein, weil sie nicht mit dem Namen Nina Gypsy, sondern mit ihrem wirklichen, Anna Dupont, eingezogen war.

Auf die Frage Fanferlots nach der »Kleinen« antwortete seine Gattin: »Es wird täglich schwieriger, sie zu halten, sie hat immer tausend neue Pläne; als sie vom Verhör zurückkam, war sie außer sich und wollte durchaus zu Fauvel, um dort Lärm zu schlagen, und heute hat sie einen Brief geschrieben, den sie durch den Kellner zur Post schicken wollte, natürlich habe ich ihm das Schreiben abgenommen, weil es für dich vielleicht von Wichtigkeit ist.«

»Wie, du hast einen Brief und sagst das erst jetzt? Schnell her damit, er birgt vielleicht des Rätsels Lösung.«

Die Adresse des Briefes lautete:

Herrn Marquis von Clameran,
      Hüttenbesitzer,
für Herrn Raoul von Lagors.
      Hotel Louvre.

Und in der Ecke stand noch das Wörtchen: dringend.

Mit bewundernswerter Geschicklichkeit öffnete Fanferlot das Schreiben, ohne Umschlag und Siegel zu verletzen und las, während seine zärtliche Gattin hinter seinem Stuhl stand, ihre rundliche Gestalt sanft an seine Schulter lehnte und mitlas.

»Lieber Herr Raoul!

Prosper ist im Gefängnis, eines Diebstahls, den er, wie ich fest überzeugt bin, nicht begangen hat, angeklagt. Ich habe Ihnen dies sofort geschrieben . . .«

»So,« unterbrach sich Fanferlot, »geschrieben hat sie und ich habe den Brief nicht zu Gesicht bekommen! Wer hat ihn aufgegeben? Was ist das für eine Wirtschaft!«

»Aber liebes Männchen,« beschwichtigte Frau Alexandrine, »sie wird den Brief selbst zur Post gebracht haben, als sie zum Verhör ging.«

Das »liebe Männchen« beruhigte sich und las weiter:

». . . geschrieben, bin aber noch immer ohne Antwort. Wer soll Prosper retten, wenn seine besten Freunde ihn im Stich lassen? Falls Sie auch diesen Brief unerwidert lassen, werde ich mich meines Ihnen gegebenen Versprechens für ledig erachten und Prosper das Gespräch zwischen Ihnen und dem Marquis von Clameran, welches ich erlauscht habe, mitteilen. Aber ich hoffe, daß Sie mir beistehen werden und erwarte Sie morgen bestimmt im Hotel Erzengel.

Nina Gypsy.«

Ehe Fanferlot den Brief wieder in den Umschlag steckte, schrieb er ihn sorgfältig ab. Er hatte diese Arbeit kaum vollendet, als vor der Tür ein eigentümlicher Pfiff erscholl. Fanferlot sprang auf und war im Nu im Nebenzimmer verschwunden, denn der Pfiff war ein Signal, das der Zimmerkellner gab, welches besagte, daß jemand zu Frau Alexandrine kam, den Herrn aber nicht sehen sollte.

Kaum war der Sicherheitsagent verschwunden, als die Tür aufgerissen wurde und Fräulein Nina hereintrat.

Das arme Mädchen sah recht schlecht aus, ihre Augen waren vom Weinen gerötet und ihre frischen Pfirsichwangen waren entschieden bleicher.

»Ich bitte, Frau Alexandrine,« sagte sie, »wenn jemand nach mir fragen sollte, sagen Sie gefälligst, daß ich gleich wieder zurückkomme . . .«

»Wie, Sie wollen ausgehen, liebes Kind, jetzt um diese Zeit und wo Sie doch so unwohl sind?«

»Ja, ich muß, es ist von großer Wichtigkeit, nun, da Sie so gut gegen mich sind, kann ich es Ihnen ja anvertrauen, eben hat mir ein Dienstmann einen Brief gebracht . . .«

»Nicht möglich!« rief Frau Alexandrine bestürzt, »ein Dienstmann soll hier gewesen und zu Ihnen hinaufgegangen sein?«

»Freilich, was ist denn da so Erstaunliches dabei?«

»O nichts, nichts, nun, und darf man wissen, was der Brief enthält?«

»Bitte, lesen Sie selbst.« Frau Alexandrine nahm das Schreiben und las so laut, daß Fanferlot jedes Wort im Nebenzimmer verstehen konnte.

»Ein Freund Prospers, der weder zu Ihnen kommen, noch Ihren Besuch bei sich empfangen kann, hat nichtsdestoweniger dringend mit Ihnen zu sprechen und bittet Sie, sich heute abend in dem Omnibusbureau gegenüber dem Jakobsturm einzufinden. Schreiber dieses wird Ihnen dann wichtige Mitteilungen machen. Er schlägt Ihnen diesen Ort vor, um Ihnen jede Furcht zu benehmen.«

»Und Sie wollen wirklich zu diesem Stelldichein gehen, liebes Kind?« fragte Frau Alexandrine, »das wäre ja eine furchtbare Unvorsichtigkeit, vielleicht will man Ihnen eine Falle stellen.«

»Was liegt daran?« entgegnete Nina trübe, »ich bin so unglücklich, daß mir alles gleichgültig ist.«

Und ohne weitere Vorstellungen anzuhören, entfernte sie sich.

Kaum war Nina fort, als Fanferlot wie eine Bombe aus seinem Versteck herausflog. Der sonst so sanfte und höfliche Mann war hochrot vor Zorn und schimpfte wie ein Besessener.

»Zum Henker, was ist denn das für eine Wirtschaft! Da soll doch gleich das Donnerwetter dreinschlagen! Ist denn der Erzengel ein Taubenschlag, daß man beliebig ein- und ausfliegen kann! Ha, das ist unerhört, ein Dienstmann war da und niemand hat ihn gesehen noch gehört . . .«

Er tobte so, daß seine arme Frau erschrocken dastand und sich nicht ein Wort hervorzubringen getraute.

»Und zu alledem,« fuhr er nach einer Pause fort – denn er war so atemlos, daß er innehalten mußte – »und zu alledem wollen Sie, Frau Alexandrine, recht klug sein und bemühen sich noch, das kleine Fräulein von dem Stelldichein abzubringen . . .«

Wenn Fanferlot böse war, sagte er »Sie« zu seiner Frau, worüber sie stets höchst unglücklich war.

»Aber liebes Männchen . . .«

»Schweige! Begreifst du denn nicht, daß wenn ich ihr folge, dies zu höchst wichtigen Enthüllungen führen kann? Darum rasch, hilf mir, sie darf mich nicht erkennen.«

Im Nu hatte Frau Alexandrine ihrem lieben Männchen eine Perücke aufgesetzt, während er sich selber einen dichten schwarzen Vollbart anheftete. Sie half ihm eine Bluse anziehen und reichte ihm eine alte fettige Mütze.

»Hast du deine Karte und deine Waffen bei dir?« fragte Frau Alexandrine besorgt.

»Ja, ja,« entgegnete er hastig und eilte zur Tür hinaus.

Nina hatte zwar einen Vorsprung von zehn Minuten, da er aber die Richtung, die sie einschlagen mußte, kannte und obendrein im Laufschritt folgte, gelang es ihm, sie einzuholen, noch ehe sie den bestimmten Platz erreicht hatte. Er sah, wie sie unschlüssig war, wie sie vor Anschlagsäulen stehen blieb, als wollte sie Theaterzettel lesen, und wie sie endlich zögernd doch in den Omnibus-Warteraum ging und sich dort auf einer Bank niederließ.

Einen Augenblick später trat Fanferlot ebenfalls ein – doch da er trotz seines dichten Bartes fürchtete, Gypsy könnte ihn erkennen, so setzte er sich abseits, wo sie ihn nicht bemerken konnte.

Der Warteraum hatte sich nach und nach gefüllt und wieder geleert, fortwährend kamen und gingen Leute, die Nummern verlangten oder umstiegen, und die Beamten riefen die Bestimmungsorte der ankommenden Omnibusse aus.

Niemand kümmerte sich um Nina und Fanferlot wurde schon ungeduldig. Endlich erschien ein älterer, ziemlich beleibter Herr, mit rotem freundlichen Gesicht und graublondem Backenbart. Er ging geradeswegs auf Fräulein Gypsy zu, grüßte sie und nahm neben ihr Platz.

Der verkleidete Polizist verschlang ihn fast mit den Augen und dachte: Dich, mein Lieber, werde ich schon wiedererkennen, wenn ich dich nächstens treffe und heute noch muß ich erfahren, wer du bist.

Fanferlot vermutete, daß der Fremde ein Kaufmann oder dergleichen sei, übrigens hatte er durchaus nichts bemerkenswertes an sich. Leider konnte der arme neugierige Fanferlot auch nicht ein Wort von dem hören, was die beiden miteinander sprachen, so sehr er sich auch anstrengte; das Geräusch um ihn her war zu stark, und er saß zu entfernt; er mußte sich also damit begnügen, ihr Mienenspiel zu beobachten.

Nina hatte, als der Fremde sie grüßte, so erstaunt ausgesehen, daß leicht zu erraten war, daß sie ihn nicht kannte. Der Unbekannte sprach dann sehr eifrig auf sie ein und Nina schien bestürzt; sie schüttelte wiederholt den Kopf und war dem Weinen nahe, endlich lächelte sie und zuletzt hob sie die Hand wie zu einem Schwur.

Fanferlot zerbrach sich den Kopf, was dies alles bedeuten könne und ärgerte sich, daß er so einfältig gewesen, sich so weit wegzusetzen.

Eben versuchte er sich geschickt und unauffällig zu nähern, als die beiden sich erhoben und weggingen. Fanferlot folgte ihnen und sah, wie sie auf eine Droschke zugingen und einstiegen.

So, jetzt habe ich euch, dachte der Polizist vergnügt und als sich der Wagen in Bewegung setzte, lief er knapp hinter ihm her. Die Pferde gingen im scharfen Trab, aber Fanferlot hieß nicht umsonst das Eichhörnchen, er blieb immer dicht am Wagen, endlich, als ihm schon der Atem auszugehen drohte, erinnerte er sich eines Kunststückchens, das er, als er noch ein kleiner Gassenjunge war, oft ausgeführt hatte; er schwang sich an den Federn auf, drückte sich an die Radachsen an und hielt sich in der Schwebe.

So, lachte er vergnügt in seinen falschen Bart hinein, jetzt fahr' zu, Kutscher, so schnell du willst!

Der Kutscher knallte richtig und fuhr ziemlich rasch durch ein ganzes Gewirr von Gassen und Straßen und hielt endlich vor einer Weinschenke. Der Kutscher stieg vom Bock und ließ sich einen Schoppen bringen, Fanferlot war abgesprungen und lauerte auf das Aussteigen der beiden Fahrgäste. Als er aber fünf Minuten vergeblich gewartet hatte, wunderte er sich höchlich und schlich heran, um einen Blick in das Innere des Wagens zu werfen. O weh! Niemand saß darin!

Fanferlot war starr. Einen Augenblick lang wollte er seinen eigenen Augen nicht trauen, dann aber machte sich sein Zorn in einigen kräftigen Flüchen Luft.

»Angeführt!« Er, der geriebene schlaue Polizist war so schmählich angeführt und betrogen worden! Natürlich erriet er sogleich, wie das zugegangen.

»Der Kerl,« sagte er sich, »ist mit Nina bei einer Tür eingestiegen und bei der anderen hinaus. Aber daß er sich dieser List bediente, beweist, daß er kein gutes Gewissen hatte – folglich . . .«

Er schloß seinen Gedankengang nicht, denn der Kutscher hatte sich eben wieder auf den Bock geschwungen und zur Abfahrt bereit gemacht. Fanferlot hoffte, durch ihn etwas zu erfahren, aber der Kutscher maß ihn bei den ersten Worten von Kopf bis zu Füßen und schwang die Peitsche dazu in so beunruhigender Weise, daß der arme Sicherheitsagent gar nicht daran dachte, sich zu erkennen zu geben, sondern sich aus dem Staube machte.

Wie ein geschlagener Feldherr trat er betrübt den Rückzug an; es war schon spät und er hatte einen weiten Weg nach Hause, todmüde langte er endlich an.

Seine erste Frage lautete: »Ist die Kleine zurück?«

»Nein, aber ein großes Paket ist für sie gebracht worden.«

»Laß sehen,« sagte er und trotz seiner Müdigkeit machte er sich stehenden Fußes daran, den Inhalt des Paketes in Augenschein zu nehmen. Es enthielt mehrere einfache Kattunkleider und weiße Häubchen, wie sie die Dienstmädchen zu tragen pflegen.

Der Polizist war im höchsten Grade erstaunt, er konnte sich nicht vorstellen, was diese Maskerade zu bedeuten habe und seine Verstimmung nahm noch zu.

Er hatte sich zwar vorgenommen, seiner Frau nichts von der erlittenen Schlappe zu erzählen, ihren besorgten teilnehmenden Fragen konnte er aber um so weniger widerstehen, als er das Bedürfnis fühlte, sich mitzuteilen. Das Abenteuer gab beiden Ehegatten viel zu denken. Sie beschlossen, Ninas Heimkunft abzuwarten, denn Frau Alexandrine hoffte, ihre hübsche Mieterin, wie so oft, zum Reden zu bringen. Aber diesmal täuschte sie sich. Auch sonst schien ihr Fräulein Gypsy, als sie endlich kam, völlig verwandelt, zwar war sie noch traurig, aber nicht mehr niedergeschlagen und mutlos.

»Ich war in großer Sorge um Sie, liebes Kind,« begann Frau Alexandrine.

»Besten Dank, es war nicht nötig,« entgegnete Nina, »bitte, hat man nichts für mich gebracht?«

»Ja, ein großes Paket. Nun sagen Sie mir, liebes Kind, haben Sie den Freund des Herrn Bertomy getroffen?«

»Ja und seine Vorschläge haben meine Pläne so verändert, daß ich Sie morgen zu meinem Bedauern verlassen muß, denn ich verreise.«

»Wie, morgen schon wollen Sie uns verlassen, ja, was ist denn vorgefallen?«

»O nichts, was Sie interessieren könnte,« entgegnete Nina kühl, zündete ihre Kerze an der Gasflamme an, nahm ihr Paket, wünschte »gute Nacht« und ging.

»Wie kommt dir das vor?« fragte Fanferlot, der alles gehört hatte, als seine Frau zu ihm ins Nebenzimmer trat.

»Es ist mir unbegreiflich; sie hat doch Herrn von Lagors herbestellt und nun wartet sie seinen Besuch gar nicht ab!«

»Sie wird vielleicht gehört haben, wer ich bin und hegt nun Mißtrauen gegen uns.«

»Wer sollte ihr das gesagt haben; der Freund des Kassierers?«

»Wahrscheinlich, das muß ein geriebener Gauner sein, vielleicht ist er im Komplott, die Spitzbübin hat sicher das Geld und will damit durchgehen.«

»Das glaube ich zwar nicht, aber, liebes Männchen, da sich die Sache immer mehr verwickelt, wäre es vielleicht doch gut, Herrn Lecoq zu Rate zu ziehen.«

»Schön, ich will es tun, um mein Gewissen zu beruhigen, aber, wenn ich den Faden nicht finden kann, wie sollte er es!«

Am nächsten Morgen war er schon um sechs Uhr zum Ausgehen bereit, denn man muß früh kommen, wenn man Herrn Lecoq antreffen will.

Nicht ohne Herzklopfen begab er sich zum »Meister,« wie die übrigen Polizisten Herrn Lecoq nannten, und er erschrak sogar ein wenig, als die Magd ihm beim Öffnen der Tür sagte: »O gut, daß Sie kommen, der Herr erwartet Sie.«

Bei dieser Ankündigung wäre er am liebsten umgekehrt, aber die Magd hatte schon die Tür zu Lecoqs Arbeitszimmer geöffnet und den Ankömmling gemeldet.

In Lecoqs Arbeitszimmer, das mit den hohen Bücherregalen eher der Studierstube eines Gelehrten, denn dem Bureau eines Polizisten glich, saß der »Meister« vor einem mächtigen Eichenschreibtisch und arbeitete.

Beim Eintritt Fanferlots, der sich ehrerbietig bis zur Erde verneigte, hob er den Kopf und sagte: »Kommst du endlich, mein Lieber? Du hast endlich eingesehen, daß es mit dem Fall Bertomy doch allein nicht recht vorwärts gehen will?«

»Wie, Sie wissen?« stammelte der Polizist.

»Ich weiß, daß du die Sache so verwirrt hast, daß du dich nun selber nicht mehr zurecht findest.«

»Meister, es ist nicht meine Schuld . . .«

Lecoq erhob sich, trat vor Fanferlot, sah ihn mit seinen trotz der Brille scharfen Augen durchbohrend an und sagte: »Was würdest du von einem Manne denken, der das Vertrauen seiner Vorgesetzten mißbraucht, von dem, was er entdeckt, nur gerade soviel enthüllt, als nötig ist, um die Anklage auf falsche Fährte zu führen und aus einfältiger Eitelkeit das Gericht betrügt und der Sache des armen Angeklagten schadet?«

Fanferlot war erschrocken zurückgewichen.

»Ich . . . ich . . .« stotterte er.

»Du bist wohl auch der Meinung, daß ein solcher Mensch bestraft und fortgejagt zu werden verdient, nicht? Du hast nur das Beste des Angeklagten im Auge gehabt? Nun, mein Lieber, wenn der Spürhund ohne Jäger auf die Jagd gehen will, muß er eben schlauer sein, als du es bist.«

»Aber Meister, wie soll man es angreifen bei einem Fall, wo gar keine Handhabe gegeben ist?«

»Du bist doch ein rechter Stümper, du hast selber das Mittel entdeckt und in Händen gehabt, um herauszubringen, wessen Schlüssel die Kasse aufgesperrt hat, der des Bankiers oder der des Kassierers.«

»Das wäre . . .!« rief Fanferlot erstaunt.

»Erinnerst du dich nicht des Striches, den du am Geldschrank entdecktest? Er ist dir so aufgefallen, daß du einen Ausruf nicht unterdrücken konntest, du hast ihn sorgfältig mit dem Vergrößerungsglas untersucht, aber es ist dir nicht eingefallen, auch die beiden Schlüssel genau in Augenschein zu nehmen, einer von ihnen mußte, da der Strich, wie du richtig festgestellt hast, ganz frisch war, wenigstens einige Atome von der grünen Lackfarbe, mit der der Schrank angestrichen ist, aufweisen.«

Fanferlot hatte mit offenem Munde zugehört, bei den letzten Worten schlug er sich vor die Stirn und rief: »O, ich Dummkopf.« Und bittend fügte er hinzu: »Meister, wenn Sie sich des Falls annehmen wollten . . .«

Lecoq, der seine eigenen Pläne nie verriet, entgegnete nur: »Wir wollen sehen . . . Aber jetzt setze dich und erzähle mir alles genau.«

Fanferlot berichtete alles wahrheitsgetreu, nur den Schluß, wie ihm der dicke Herr so übel mitgespielt hatte, ließ er aus Eitelkeit weg.

»Es will mir scheinen, mein liebes Eichhörnchen, als ob du etwas vergessen hättest . . . Sage mir doch, wie weit du dem leeren Wagen nachgelaufen bist?«

Fanferlot errötete wie ein ertapptes Schulkind und schlug die Augen nieder.

Ist denn dieser verteufelte Lecoq allwissend? dachte er. Da durchzuckte ihn plötzlich ein Gedanke, er sprang vom Sessel auf und rief triumphierend: »Jetzt hab' ich's, Meister, der dicke Herr waren Sie! Und ich habe Sie doch so genau angesehen, aber nicht erkannt! – Auch ich war verkleidet . . .«

»Und das ziemlich schlecht, mein lieber Freund, um sich unkenntlich zu machen, genügt ein falscher Bart und eine Bluse nicht. Alles muß verändert werden, der ganze Gesichtsausdruck, sogar der Blick . . .«

Fanferlot staunte noch immer über Lecoqs Kunst. Endlich sammelte er sich und fragte: »Da Sie alles wissen, so wird es Ihnen wohl auch bekannt sein, warum Nina den »Erzengel« verläßt?«

»Sie handelt meinen Ratschlägen gemäß.«

»Und mir bleibt nur übrig, die Sache aufzugeben, da ich vollständig unfähig bin,« sagte Fanferlot, der sich tief gedemütigt fühlte.

»Nein, mein Freund, du bist nicht unfähig,« entgegnete Lecoq begütigend, »du hast zwar einen Fehler begangen, aber der läßt sich gutmachen.«

»O, Meister,« rief Fanferlot erfreut, Lecoq so freundlich zu finden, »ich bin überzeugt, Sie kennen schon den Schuldigen!«

Lecoq lächelte.

»Nein, Eichhörnchen, ich kenne ihn so wenig wie du, ja, ich habe mir noch nicht einmal eine feste Meinung gebildet, während du den Kassierer für unschuldig und den Bankier für schuldig hältst. Ich weiß nur eins, daß man von dem Strich an der Tür des Geldschrankes ausgehen muß, um sichere Anhaltepunkte zu finden.«

Bei diesen Worten hatte Lecoq am Schreibtisch unter Papieren eine große Photographie hervorgezogen, die er Fanferlot hinhielt. Es war eine vorzügliche Aufnahme des Geldschrankes, alle Einzelheiten am Schlosse waren genau wiedergegeben und deutlich trat der Strich hervor.

»Betrachte dir den Strich noch einmal genau,« sagte Lecoq, »du wirst bemerken, daß er sich von oben nach unten, von links nach rechts zieht, das heißt, daß er an der Seite endet, wo sich die Geheimtreppe befindet. Oben beim Schloß ist er tief, nach unten aber verliert er sich allmählich.«

»Ja, Meister, so ist es.«

»Nun hast du natürlich gedacht, daß diese Ritze durch den Dieb gemacht wurde, wir wollen uns nun überzeugen, ob es sich tatsächlich so verhält. Hier habe ich einen kleinen eisernen grünlackierten Schrank; da, nimm den Schlüssel und versuche damit ihn zu zerkratzen.«

Fanferlot tat wie ihm befohlen und fuhr mit dem Schlüssel kräftig auf dein Schrank herum.

Nach zwei oder drei vergeblichen Versuchen schüttelte er den Kopf und sagte: »Der Lack ist schwer anzugreifen.«

»Am Geldschrank wird er unstreitig noch dauerhafter sein, glaubst du nicht? Was ergibt sich also daraus? Daß der Strich, den du entdeckt hast, unmöglich von der zitternden Hand des Diebes, dem der Schlüssel ausglitt, gemacht worden.«

»Das ist in der Tat sehr richtig, man muß ja mit aller Gewalt aufdrücken, wenn man den Kasten zerkratzen will. Aber warum . . .?«

»Ja, warum? Drei Tage habe ich darüber nachgedacht, aber ich glaube, jetzt hab' ich's, komm, wir wollen uns auch davon überzeugen.«

Bei diesen Worten schritt Lecoq an die Tür, die in ein Nebenzimmer führte, zog den Schlüssel heraus und behielt ihn in der Hand.

»Jetzt stelle dich neben mich,« sagte er zu Fanferlot, »so, nun nehmen wir an, daß ich diese Tür gegen deinen Willen aufsperren will, und du mich zu verhindern trachtest. Wenn du siehst, daß ich mit dem Schlüssel mich dem Schlüsselloch nähere, was für eine Bewegung wirst du da machen?«

»Ich werde mit beiden Händen Ihren Arm drücken und ihn an mich heranziehen, daß Sie den Schlüssel nicht ins Schlüsselloch bringen können.«

»Sehr richtig, nun wollen wir's versuchen.«

Sie machten das Experiment und der Schlüssel, den Lecoq in der Hand hielt, glitt ab und brachte einen vollkommen deutlichen Strich hervor, der genau wie jener an der Kasse schräg von oben nach unten lief.

»O, o!« rief Fanferlot staunend.

»Begreifst du nun . . .?«

»Wie sollt' ich nicht, jetzt, da Sie es herausgebracht haben, ist es kinderleicht und ich sehe die Szene vor mir, als ob ich dabei gewesen wäre: Es standen zwei Personen vor der Kasse, die eine wollte den Diebstahl verüben, die andere suchte sie daran zu verhindern! Das ist klar.«

»Es ist wenigstens wahrscheinlich, mein lieber Fanferlot, aber – welche Schlüsse ziehst du nun aus unserer Annahme?«

»Vor allem, daß ich mich nicht getäuscht und der Kassierer unschuldig ist, denn er konnte die Kasse öffnen und schließen, wann er wollte, er würde in Gegenwart von Zeugen sich gewiß nicht zum Stehlen angeschickt haben.«

»Sehr richtig, aber da dasselbe auch vom Bankier gilt, so ist auch seine Unschuld erwiesen.«

»O,« sagte Fanferlot niedergeschlagen, »das ist allerdings wahr, aber dann sehe ich keine Möglichkeit . . .«

»Doch, wir müssen den Dritten, den wirklichen Räuber suchen, der sich jetzt ruhig seines Raubes freut, während der Verdacht auf zwei Unschuldigen ruht.«

»Ein Dritter! Unmöglich! Da Sie alles wissen, dürfte Ihnen auch der Umstand bekannt sein, daß nur zwei Schlüssel da sind, die der Kassierer und Fauvel stets bei sich tragen?«

»Das ist nicht richtig, an dem Abend, an welchem der Diebstahl ausgeführt wurde, lag der Schlüssel des Bankiers in einer Lade des Schreibtisches, der im Schlafzimmer steht.«

»Der Schlüssel allein genügt nicht, zum Öffnen ist auch noch das Stichwort erforderlich.«

»Wie lautete das Stichwort?«

»Gypsy.«

»Der Name von Bertomys Geliebten. Nun – kommst du nicht darauf? – – Ich will dir auf die Spur helfen, mein liebes Eichhörnchen: sobald du den Mann entdeckt hast, der mit dem Kassierer so befreundet ist, um ihm das Geheimnis des Stichworts zu entlocken, und der gleichzeitig bei Fauvel aus und ein geht, dann hast du das Rätsel gelöst und den wirklichen Täter gefunden.«

»O, Meister, wenn Sie sich der Sache annehmen, dann muß es gelingen.«

»Ich hoffe es, aber höre wohl, ich will dir nur im geheimen beistehen und niemand darf wissen, daß ich mich an der Untersuchung beteilige – meine Gründe kümmern dich nicht, es genüge dir, daß der Erfolg nur dir allein zugeschrieben werden wird. Ich kann auf deine Verschwiegenheit zählen?«

»O, Meister, wie können Sie zweifeln, ich bin Ihnen ja zu größtem Dank verpflichtet.«

»Schön, dann reden wir nicht weiter darüber. Jetzt nimm die Photographie des Geldschranks und begib dich sofort zum Untersuchungsrichter, der, wie ich weiß, völlig ratlos ist. Erkläre ihm alles, zeige ihm den Versuch mit dem Schlüssel und ich bin versichert, daß er den Kassierer in Freiheit setzen wird. Er muß nämlich frei sein, wenn ich meine Veranstaltungen beginnen soll.«

»Ich gehe sofort. Aber bitte, sagen Sie mir noch, soll ich durchblicken lassen, daß ich einen Dritten im Verdacht habe?«

»Natürlich, das Gericht muß wissen, daß du den Fall weiter verfolgen willst. Pertingent wird dir den Auftrag geben, Bertomy zu überwachen, sage, daß du ihn nicht aus den Augen verlieren wirst.«

»Und wenn er nach Nina Gypsy fragt?«

Lecoq zögerte einen Augenblick, ehe er erwiderte: »Dann sage ihm, du habest sie in Bertomys Interesse bestimmt, eine Stelle in einem Hause anzunehmen, wo sie Gelegenheit hat, eine verdächtige Person zu überwachen.«

Fanferlot war höchlich vergnügt, er bedankte sich nochmals, nahm die Photographie und wollte sich empfehlen, aber Lecoq hielt ihn zurück.

»Noch eins, liebes Eichhörnchen, verstehst du mit Pferden umzugehen?«

»Das will ich meinen, ich war doch früher Stallmeister im Zirkus Renz.«

»Richtig, ich erinnere mich, das kommt uns nun sehr zu statten. Also, sobald die Angelegenheit beim Untersuchungsrichter erledigt ist, eilst du nach Hause, dort ziehst du dich wie ein Kammerdiener an, machst dir dazu eine passende Frisur zurecht und begibst dich in das Stellenvermittlungsbureau, für welches ich dir einen Brief mitgeben werde.«

»Aber Meister . . .«

»Keinen Widerspruch, mein Lieber; der Stellenvermittler wird dich zu dem Marquis von Clameran, der einen Kammerdiener sucht, schicken.«

»Verzeihen Sie, aber der Marquis ist nicht Bertomys Freund, folglich . . .«

»Sei so gut, schweige, tue, was ich dir sage und kümmere dich um das übrige nicht. Der Marquis ist allerdings nicht Prospers Freund, aber er ist der Freund und Beschützer Raoul von Lagors. Wir müssen in Erfahrung bringen, woher die Vertrautheit dieser beiden im Alter so verschiedenen Männer stammt, wir müssen erfahren, was der Hüttenbesitzer, der sich um seine Hochöfen nicht im geringsten kümmert, sondern in Paris lebt, für ein Mensch ist, und weil er im Louvrehotel, das schwer zu überwachen ist, wohnt, sollst du ihn aus nächster Nähe im Auge behalten. Er hat Wagen und Pferde, da du kutschieren kannst, wirst du ihn fahren und auf diese Weise über all seine Schritte genau Bescheid wissen. Noch eins. Der Marquis ist ein sehr mißtrauischer Charakter, also sei auf deiner Hut. Du stellst dich ihm unter dem Namen Josef Dubois vor und weisest dich mit diesen drei Zeugnissen aus, die bestätigen, daß du bei hohen Herren gedient hast und daß sie mit deinen Dienstleistungen zufrieden waren. So, nun kannst du gehen, mach' deine Sachen gut.«

»Sie sollen mit mir zufrieden sein, Meister.«

Nachdem Fanferlot sich entfernt hatte, eilte Lecoq in sein Schlafzimmer und im Nu hatte er sein Äußeres, sozusagen den offiziellen Lecoq, der aus Brille, Perücke, weißer Halsbinde und so weiter bestand, abgestreift, und stand in seiner wahren Gestalt, die fast noch niemand gesehen hatte, da. Er war ein schöner junger Mann mit dunklem Kraushaar, feurigen Augen und einem beweglichen Schauspielergesicht.

Er setzte sich an seinen Toilettetisch, auf dem zahllose Büchschen und Dosen mit allerlei Salben und Essenzen standen und eine Menge Perücken und Bärte in allen Farben lagen, und nicht lange dauerte es, da war der wirkliche Lecoq verschwunden und der freundliche dicke Herr mit dem rötlichen Gesichte und dem graublonden Backenbart schaute aus dem Spiegel heraus.

Wenn nur Fanferlot keine Zeit verliert, dann kann ich gleich ans Werk gehen, dachte er, als er seine Wohnung verließ.

Nein, Fanferlot verlor keine Zeit, er lief nicht, er flog fast aufs Gericht, er war glücklich, mit seinem Scharfsinn glänzen zu können, daß es nicht sein eigener war und er sich mit fremden Federn schmückte, vergaß er – wahrscheinlich in der Eile – ganz und gar.

Der Untersuchungsrichter bewunderte in der Tat die Genialität des Verfahrens und wenn er auch nicht vollständig überzeugt war, so mußte er doch zugeben, daß es den Kassierer wesentlich entlastete.

»Ich will in der Strafkammer günstig aussagen,« erklärte er, »und man wird ihn wahrscheinlich sofort freilassen.«

Und nachdem Fanferlot sich entfernt hatte, sagte er zu seinem Schreiber: »Das ist nun wieder eines jener Verbrechen, das unaufgeklärt bleibt, und nur unser Archiv um ein Aktenfaszikel vermehrt.«

Und mit eigener Hand schrieb er auf den Umschlag die Ziffer, die an der Reihe war: 113.


 << zurück weiter >>