Emile Gaboriau
Aktenfaszikel 113
Emile Gaboriau

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2.

Wenn es auf der Welt einen Menschen gibt, den keinerlei Ereignisse in Erstaunen setzen oder aufregen, der sich nicht durch den Schein trügen läßt und dem nichts unglaublich oder unmöglich erscheint, so ist es sicher ein Polizeikommissar von Paris.

Der Kommissar, den der Bankier hatte rufen lassen, erschien mit ruhiger, gleichgültiger Miene, ihm folgte ein kleines schwarzgekleidetes, äußerst bewegliches Männchen.

»Ein peinlicher Umstand zwingt mich, Ihre Dienste in Anspruch zu nehmen, Herr Kommissar,« sagte Fauvel.

»Ich weiß,« entgegnete jener, »es handelt sich um einen Diebstahl.«

»Allerdings, um einen unerhörten, niederträchtigen Diebstahl, der an der Kasse, die Sie hier offen sehen, begangen worden und nur mein Kassierer – der Bankier deutete bei diesen Worten auf Bertomy – hatte den Schlüssel und das Stichwort.«

Diese Worte, die einer direkten Beschuldigung gleichkamen, rüttelten den unglücklichen Kassierer aus seinem dumpfen Hinbrüten auf.

»Entschuldigen Sie, Herr Kommissar,« sagte er mit erloschener Stimme, »auch der Chef besitzt einen Schlüssel und kennt das Stichwort.«

Aus diesen beiden Aussagen ward es dem Kommissar sofort klar, daß die beiden Männer einander gegenseitig anklagten, und daß in der Tat nur einer von ihnen der Schuldige sein konnte. Sein Gesicht verriet seine Gedanken nicht, aber er betrachtete abwechselnd den Chef und den Kassierer mit der größten Aufmerksamkeit, als wollte er aus ihrer Haltung Beweise für die Schuld des einen oder des anderen herauslesen.

Prosper war auf seinen Stuhl niedergesunken, seine Arme hingen schlaff herab, er war totenblaß und er sah äußerst niedergeschlagen aus. Der Bankier hingegen war stehengeblieben. Sein Gesicht war zornesrot und seine Augen funkelten. Er sprach mit größter Heftigkeit.

»Es handelt sich um keine Kleinigkeit, 350 000 Frank sind spurlos verschwunden. Der Diebstahl hätte für mich unabsehbare Folgen haben, meinen Kredit schädigen können.«

»Das begreife ich,« versetzte der Kommissar, »an einem Verfallstage zum Beispiel . . .«

»Jawohl, ich hatte gerade heute eine größere Zahlung.«

»In der Tat, ah?«

In dem Kommissar war ein Verdacht aufgestiegen und die Art, wie er diese Worte betonte, ließen Fauvel seine Gedanken erraten, er zuckte zusammen, entgegnete aber schnell: »Ich bin trotzdem meinen Verpflichtungen nachgekommen. – Aber ich muß noch erwähnen, daß sich die 350 000 Frank nicht in der Kasse befunden hätten, wenn meine Befehle befolgt worden wären.«

»Wieso?«

»Ich behalte nie gern größere Summen über Nacht im Hause. Mein Kassierer war angewiesen, stets bis zur letzten Stunde zu warten, ehe er das Nötige von der Bank von Frankreich, wo ich meine Gelder liegen habe, holen ließ.«

»Verhält es sich so?« wandte sich der Polizeikommissar an Bertomy.

»Ja, Herr Kommissar,« versetzte dieser.

»Kann der Dieb nicht von außen gekommen sein?« fragte der Kommissar aufs neue.

Fauvel zögerte mit der Antwort.

»Kaum,« entgegnete er endlich.

»Und ich bin sicher, daß er nicht von außen kam,« sagte Prosper bestimmten Tones.

»Trotzdem dürfen wir nichts unberücksichtigt lassen,« sagte der Kommissar, und sich an seinen unscheinbaren Begleiter wendend, setzte er hinzu: »Sehen Sie doch nach, Fanferlot, ob Sie nicht irgendwelche Spuren finden, die den Herren entgangen sind.«

Fanferlot war Beamter der Sicherheitspolizei und wurde von seinen Kollegen wegen seiner ungemeinen Behendigkeit »das Eichhörnchen« genannt. Er war von einem ungeheuern Ehrgeiz beseelt und brannte darauf, sich auszuzeichnen; seit Jahren suchte er nach einem außerordentlichen Fall, der ihn ans ersehnte Ziel führen könnte – bis zur Stunde aber war es ihm noch nicht gelungen.

Noch ehe der Kommissar ihm den Auftrag gegeben, hatte er schon überall herumgespürt, Wände und Türen untersucht, sogar in der Asche im Kamin herumgestöbert.

»Ein Fremder dürfte hier schwerlich eingedrungen sein,« sagte er endlich. »Wird die Tür abends geschlossen?«

»Ja, gewiß.«

»Und wer hat den Schlüssel?«

»Ich übergebe ihn jeden Abend dem Bureaudiener,« entgegnete Bertomy.

Und Fauvel fügte hinzu: »Dieser Diener schläft im Vorzimmer auf einem Feldbette.«

»Ist er hier?« fragte der Kommissar.

»Ja,« antwortete der Bankier, öffnete die Tür und rief: »Anselm.«

Der Diener erschien; er war schon zehn Jahre im Hause und genoß das volle Vertrauen seines Herrn; er wußte, daß kein Verdacht gegen ihn vorliegen konnte und doch entsetzte ihn der Gedanke an den Diebstahl so, daß er wie Espenlaub bebte.

»Haben Sie heute nacht im Nebenzimmer geschlafen?« fragte der Kommissar.

»Ja, Herr Kommissar, wie gewöhnlich.«

»Um wie viel Uhr sind Sie schlafen gegangen?«

»Es mochte halb elf sein, ich habe den Abend mit dem Kammerdiener im Kaffeehause nebenan zugebracht.«

»Haben Sie nachts kein Geräusch gehört?«

»Nicht das geringste, ich habe einen sehr leichten Schlaf und erwache sofort, wenn zum Beispiel der Herr in das Kassenzimmer kommt.«

»Pflegt der Herr öfters nachts in das Kassenzimmer zu kommen?«

»Nein, Herr Kommissar, im Gegenteil, sehr selten.«

»War er heute nacht da?«

»Nein, bestimmt nicht, ich konnte lange nicht einschlafen, weil der schwarze Kaffee, den ich getrunken, sehr stark war, ich müßte jedes Geräusch gehört haben.«

»Es ist gut,« sagte der Polizeikommissar, »Sie können gehen.«

Fanferlot hatte unterdessen seine Nachforschungen fortgesetzt und die Türe, durch die man zur Wendeltreppe gelangte, geöffnet.

»Wohin führt diese Treppe?« fragte er.

»In mein Arbeitszimmer,« erwiderte der Bankier.

»Kann ich es besichtigen? Ich möchte den Eingang untersuchen.«

»Gewiß, kommen Sie, meine Herren und auch Sie, Prosper.«

Das Privatbureau Fauvels bestand aus zwei Räumen, einem vornehm ausgestatteten Empfangssalon und dem Arbeitszimmer, das außer einem riesigen Eichenschreibtisch nur wenig Möbel enthielt.

In das Arbeitszimmer mündete die geheime Wendeltreppe, eine zweite Türe führte in das Schlafzimmer, während der Empfangssalon einen Ausgang nach dem Hausflur und der Haupttreppe hatte.

Mit einem einzigen Blick hatte Fanferlot das Arbeitszimmer überschaut und sich sofort überzeugt, daß hier nichts zu entdecken war. Er begab sich in den Empfangssalon, wohin ihm der Kommissar und Fauvel folgten. Prosper blieb allein zurück.

Er war noch immer keines klaren Gedankens fähig, aber er fühlte, daß sich seine Lage verschlimmert hatte. Er war sich dessen bewußt, daß es einen Kampf galt zwischen ihm und seinem Chef, und daß der Unterliegende die Niederlage mit seiner Ehre bezahlen würde. Und er wußte auch, daß die Aussichten für ihn weit ungünstiger standen, das drückte ihn völlig nieder.

Nein, niemals hätte er's gedacht, daß Herr Fauvel seine Drohungen erfüllen würde und es auf einen Prozeß ankommen ließe, stand doch für ihn ebensoviel, ja noch mehr auf dem Spiele wie für seinen Untergebenen.

Prosper war auf einen Sessel gesunken und die trostlosesten Gedanken stürmten auf ihn ein. Da öffnete sich plötzlich die Seitentür, die in das Schlafzimmer führte, und ein wunderschönes junges Mädchen erschien auf der Schwelle. Sie war schlank und hochgewachsen und das enganliegende Morgenkleid ließ ihre jugendlich-schwellenden Formen voll zur Geltung kommen. Ihre großen schönen Augen blickten aus einem wahren Blumengesichtchen und ihre dunklen Flechten hingen lang auf ihr weißes Gewand herab.

Es war Magda, die Nichte Fauvels.

Als sie statt des Oheims, den sie suchte, Prosper erblickte, konnte sie einen Ausruf des Erstaunens nicht unterdrücken.

Prosper war emporgesprungen, in seinen erloschenen Augen leuchtete es auf, ihm war als wäre ihm ein Engel des Trostes, der Hoffnung erschienen.

»Magda,« stammelte er, »Magda!«

Das junge Mädchen war wie eine Rose rot geworden. Sie wich einen Schritt zurück, als wollte sie sich entfernen, aber da Prosper sich ihr genähert hatte, siegte in ihr das Gefühl, das stärker als ihr Wille war und sie streckte ihm die Hand entgegen, die er respektvoll an die Lippen führte. Dann standen sie schweigend und befangen einander gegenüber und wagten nicht, sich anzublicken; sie hatten sich so viel zu sagen und konnten keine Worte finden.

Endlich sagte sie leise: »Sie, Prosper, Sie?«

Diese Worte brachen den Zauber, der junge Mann ließ die kleine Hand los, die er noch in der seinen gehalten, trat einen Schritt zurück und sagte bitteren Tones: »Jawohl, Prosper ist es, der Spielgefährte Ihrer Kinderzeit, der nun des schmählichsten Diebstahls verdächtig und angeklagt ist, den Ihr Oheim den Gerichten ausliefert, der, ehe der Tag sich neigt, im Gefängnis schmachten wird!«

Magda erschrak auf das heftigste.

»Mein Gott, was wollen Sie damit sagen?«

»Wie, Fräulein Magda, Sie sollten noch nichts davon wissen, hat Ihnen die Tante nichts gesagt?«

»Die Tante ist so unwohl, daß ich eben deshalb herübergekommen bin, um den Onkel zu holen. – Ich weiß von nichts, sagen Sie mir um Himmels willen, was Ihnen widerfahren ist?«

Prosper zögerte. Einen Augenblick lang war's ihm, als sollte er ihr sein Herz erschließen, aber dann kam die Erinnerung an das, was einst zwischen ihnen vorgefallen war und erstickte die Stimme seines Inneren. Traurig schüttelte er das Haupt und sagte: »Es ist sehr edel von Ihnen, Fräulein Magda, daß Sie mir Ihre Teilnahme bezeigen, aber – es ist besser, ich schweige – was ich zu sagen habe, würde Sie nur unnötig betrüben – wir werden uns ja wahrscheinlich nie wiedersehen – erlassen Sie mir den Schmerz, vor Ihnen erröten zu müssen.«

»Ich will alles wissen, sprechen Sie!«

»Mein Unglück und meine Schande werden Ihnen kein Geheimnis bleiben, man wird dafür sorgen, daß Sie alles erfahren und dann werden Sie froh sein über das, was Sie getan haben.«

Magda drang in ihn, sich deutlicher zu erklären, sie bat, sie beschwor ihn, ihr alles zu sagen, allein er beharrte bei seinem Entschlusse.

»Ihr Oheim ist mit den Polizeiorganen hier nebenan,« sagte er, »sie können jeden Augenblick zurückkommen, bitte, gehen Sie, damit man Sie hier nicht findet. Bitte, gehen Sie,« wiederholte er und drängte die Zögernde sanft über die Schwelle. Er hatte eben noch Zeit, die Türe hinter ihr zuzuziehen, als der Kommissar und der Bankier wieder eintraten.

Die beiden hatten das Empfangszimmer und die Haupttreppe besichtigt, aber von dem, was im Arbeitskabinett vorgegangen, nichts gehört, aber Fanferlot war auf der Lauer gewesen. Er hatte sich gesagt, »wenn der Kassierer sich allein glaubt, wird manches auf seinem Gesichte zu lesen sein,« und ihn deshalb belauscht. Auf diese Weise war er Zeuge des Gespräches zwischen Magda und Prosper geworden.

Zwar war daraus nicht viel zu entnehmen, nur soviel erriet er, daß zwischen den beiden ehemals etwas vorgefallen sein mußte, das sie jetzt nicht berühren wollten.

Es galt Fanferlot als ausgemacht, daß der Kassierer das schöne Mädchen liebte, auch sie mochte seine Neigung erwidern, und nun spann der phantasievolle Sicherheitsagent sofort einen Roman daraus, der ihm den Schlüssel zu dem rätselhaften Verbrechen geben sollte: Der Bankier sah das Liebesverhältnis der beiden mit scheelen Augen an, und um sich des jungen Mannes zu entledigen, hatte er den Diebstahl fingiert.

Fanferlot war klug genug, seine Vermutung für sich zu behalten, er war von der Unschuld des Kassierers zwar überzeugt, aber er wußte, daß er sie auch beweisen mußte, um andere davon zu überzeugen, und da er den Ruhm, diese verwickelte Geschichte zu entwirren, ganz allein haben wollte, beschloß er, die Untersuchung auf eigene Faust zu führen. Er war ganz vergnügt bei dem Gedanken und schwelgte schon im Vorgeschmack seines künftigen Triumphes.

Unterdessen war die Besichtigung im ersten Stocke beendet und alle begaben sich wieder ins Kassenzimmer hinab. Der Polizeikommissar sah sorgenvoll aus. Der Augenblick war gekommen, wo er einen Entschluß fassen mußte und die Entscheidung fiel ihm schwer.

»Wir haben also,« sagte er, »unsere erste Meinung bestätigt gefunden, von außen ist niemand eingedrungen. Sie sind doch auch der Meinung, Fanferlot?«

Der Angeredete gab keine Antwort, er war damit beschäftigt, das Schloß der Kasse mit der Lupe zu untersuchen und sein Gesicht drückte so unverhohlenes Erstaunen aus, daß es allen auffiel. Der Kommissar, Fandet und Prosper traten hinzu und ersterer fragte: »Haben Sie etwas entdeckt?«

»O, nichts von Bedeutung,« antwortete Fanferlot leichthin, innerlich höchlich verstimmt, daß er sein Erstaunen nicht besser verborgen hatte.

»Wir möchten aber doch gern wissen, was es ist,« sagte Prosper.

»Nun, ich habe einfach den Beweis gefunden, daß der Geldschrank vor kurzem mit einer gewissen Heftigkeit geöffnet oder geschlossen worden ist.«

»Woraus schließen Sie das?« fragte der Kommissar mit sichtlichem Interesse.

»Hier, Herr Kommissar, bitte, besehen Sie den Strich an der Türe, der am Schlüsselloch anfängt.«

Mit diesen Worten überreichte der Sicherheitsagent seinem Vorgesetzten das Vergrößerungsglas und dieser besichtigte lange und aufmerksam die bezeichnete Stelle. Es war deutlich, selbst mit freiem Auge zu erkennen, daß sich ein etwa zwölf bis fünfzehn Zentimeter langer Strich von oben nach unten durch den Firnis zog.

»Den Strich sehe ich wohl,« sagte der Kommissar, »allein was soll er beweisen?«

»O nichts, ich sagte es ja eben,« erwiderte Fanferlot; in Wirklichkeit aber war er überzeugt, daß der offenbar frische Strich eine Bedeutung hatte, ja er war um die Auslegung nicht verlegen und er sah darin die Bestätigung seiner Vermutung, daß nicht der Kassierer, sondern der Bankier selbst der Dieb war. Der Strich verriet Eile, nun, der Kassierer, der zu jederzeit in die Kasse gehen kann, braucht sich nicht zu beeilen, wohl aber der Chef, der nachts heimlich auf den Fußspitzen herabschleicht, um den Diener nebenan nicht zu wecken – wie leicht konnte da der Schlüssel seinen zitternden Händen ausgleiten und den Firnis ritzen.

Da aber Fanferlot entschlossen war, die Angelegenheit allein zu entwirren, so behielt er seine Meinung für sich und war sogar bemüht, des Kommissars Aufmerksamkeit wieder von dem Strich abzulenken.

»Meiner Meinung nach,« sagte er zu seinem Vorgesetzten, »kann kein Fremder hier eingedrungen sein, derjenige, der die Kasse öffnete, besaß den richtigen Schlüssel und kannte das Stichwort.«

Diese Worte machten der Unentschlossenheit des Kommissars ein Ende.

»Darf ich Sie um eine Unterredung bitten, Herr Fauvel?« sagte er.

»Ich stehe zur Verfügung,« entgegnete dieser. Prosper begriff, er verließ das Zimmer und ging in das Bureau nebenan, ehe er sich aber entfernte, stellte er seinen Hut absichtlich auf den Tisch, damit man nicht glauben solle, er wolle durchgehen.

Der Kommissar gab Fanferlot unauffällig ein Zeichen, er wußte, was es heißen sollte, nämlich: laß den Mann nicht aus den Augen – es hätte dieser Mahnung nicht bedurft.

Der Sicherheitsagent folgte dem Kassierer in das Bureau und dort setzte er sich auf ein Bänkchen, das im Hintergrunde stand. Er machte sich's recht bequem, gähnte herzhaft, verschränkte die Arme, lehnte den Kopf an die Wand und schloß die Augen.

Prosper hatte sich unterdessen an ein Schreibpult, das unbenutzt war, gesetzt.

Die übrigen Beamten waren alle neugierig und hätten gerne das Ergebnis der Voruntersuchung erfahren, aber sie getrauten sich nicht, Bertomy zu befragen. Nur sein Freund, der junge Cavaillon, trat an ihn heran und fragte: »Nun?«

Prosper zuckte die Achseln.

»Man weiß nichts,« versetzte er.

Er war wieder vollkommen Herr über sich selbst geworden und niemand hätte zu erraten vermocht, welcher Aufruhr erst vor kurzem in seinem Inneren getobt hatte. Er trug wieder seine gleichgültig, hochmütig kalte Miene zur Schau, die ihm unter seinen Kollegen soviel Feinde gemacht hatte. Fanferlot, der ihn trotz seiner scheinbar geschlossenen Augen scharf beobachtete, sah, wie er nachlässig mit einem Bleistift spielte, plötzlich aber ein Blatt Papier nahm und hastig einige Worte darauf schrieb.

»Zum Henker,« dachte der Sicherheitsagent, »was der für starke Nerven hat . . .«

Und nun beobachtete er, wie der junge Mann das beschriebene Blatt zusammenfaltete, sich dann sorgfältig umsah, auch ihn, Fanferlot, der regungslos auf der Bank lehnte, mit einem Blick streifte und dann das Briefchen Cavaillon zuwarf und dabei leise das einzige Wort: »Gypsy« aussprach.

Unterdessen setzte der Polizeikommissar den Bankier von der unabwendbaren Folge der Voruntersuchung in Kenntnis.

»Es ist kein Zweifel mehr möglich,« sagte er, »Ihr Kassierer hat den Diebstahl begangen und ich bin gezwungen, ihn zu verhaften.«

»Schrecklich!« sagte Fauvel traurig. »Armer Prosper!« Und als ihn der Kommissar verwundert anblickte, fügte er hinzu: »Ja, ich bedauere den Unglücklichen; ich habe ihn herzlich lieb gehabt und mein Vertrauen war unerschütterlich . . . Was hätte ich nicht darum gegeben, das Schreckliche von ihm abzuwenden. Ich habe ihn gebeten, beschworen, zu gestehen – es war umsonst! – – Und was für Unannehmlichkeiten und Demütigungen mir noch bevorstehen . . .«

»Wie meinen Sie das?«

»Nun, werden die Richter nicht Einsicht in meine Geschäftsgebarung begehren? Und wie, wenn ich nicht beweisen könnte, daß meine Aktiven meine Passiven übersteigen? Wie nahe läge die Gefahr, selbst verdächtig zu erscheinen!«

Der Bankier war bei diesen Gedanken ganz aufgeregt.

»Beruhigen Sie sich, Herr Fauvel,« sagte der Polizeikommissar begütigend, »noch ehe acht Tage vergangen sind, hat das Gericht vollgültige Beweise, die die Schuld Ihres Kassierers auf das untrüglichste dartun. – Jetzt bitte, lassen Sie ihn wieder hereinkommen.«

Ruhig und gefaßt hörte Prosper die Ankündigung, daß er verhaftet sei, an, er antwortete nur einfach: »Ich bin unschuldig, Herr Kommissar.«

Herr Fauvel war nicht so ruhig. »Ich bitte Sie, Prosper,« sagte er eindringlich, »noch ist es Zeit, um Himmels willen, lassen Sie es nicht zum Äußersten kommen.«

Aber der junge Mann schien ihn nicht zu hören. Er zog einen Schlüssel aus der Tasche, legte ihn auf das Kaminsims und sagte: »Hier ist der Kassenschlüssel, Herr Fauvel, ich hoffe um meinetwillen, Sie werden eines Tages erkennen, daß ich unschuldig bin und um Ihretwillen hoffe ich, daß es alsdann nicht zu spät sein wird!«

Er schwieg, und erst nach einer Pause fuhr er fort: »Hier auf meinem Schreibtische sind alle Papiere, Bücher und Verzeichnisse, mein Nachfolger wird alles in Ordnung finden. Nur muß ich, ehe ich gehe, Sie aufmerksam machen, Herr Fauvel, daß ich, abgesehen von den 350 000 Frank, noch ein Defizit in der Kasse zurücklasse.«

Ein Defizit! dachte der Polizeikommissar, wie könnte man da noch an seiner Schuld zweifeln, ehe er die Kasse im Großen bestahl, plünderte er sie mit kleinen Beträgen!

Ein Defizit! dachte sich Fanferlot, der gerade in dem Augenblick aufgestanden war, als Bertomy vor den Kommissar gerufen wurde und ihm daher gefolgt war, ein Defizit? Jetzt ist doch an der Unschuld des armen Teufels nicht zu zweifeln, denn, wenn er die große Summe gestohlen hätte, würde er doch sicher den Fehlbetrag gedeckt haben!

»Ein Defizit?« fragte der Bankier verwundert.

»Ja,« entgegnete Prosper, »es fehlen 3500 Frank und zwar habe ich das Geld als Vorschuß genommen. Zweitausend für mich und fünfzehnhundert habe ich einigen Kollegen vorgestreckt, da morgen der Erste ist, wo die Gehalte ausgezahlt werden, so . . .«

Der Kommissar unterbrach ihn.

»Waren Sie ermächtigt, aus der Kasse beliebig Geld zu nehmen und Vorschüsse zu gewähren?«

»Eigentlich nicht, aber Herr Fauvel hätte mir sicher erlaubt, den Kollegen gefällig zu sein und übrigens ist das überall gebräuchlich . . .«

Der Bankier bestätigte dies durch Kopfnicken.

»Was das Geld anbelangt, das ich für mich entnommen,« fuhr Bertomy fort, »so hatte ich gewissermaßen ein Anrecht darauf, weil ich mein persönliches Eigentum – etwa 15 000 Frank in der Bank stehen habe . . .«

»Das ist richtig,« bestätigte Fauvel ebenfalls.

Nun war alles erledigt, der Polizeikommissar hatte nichts mehr zu tun, er erhob sich daher und verabschiedete sich von Herrn Fauvel, dann sagte er zu Bertomy die inhaltsschweren Worte: »Folgen Sie mir.«

Mit größter Ruhe, die dem Kommissar fast als Frechheit erschien, griff Prosper nach seinem Hut und den Handschuhen und sagte: »Ich bin bereit, Herr Kommissar.«

Sie gingen und Fauvel sah ihnen tränenden Auges nach.

»Ach Gott,« murmelte er, »es wäre mir lieber, man hätte mir das Doppelte gestohlen, wenn nur nicht Prosper in die Sache verwickelt wäre und ich noch an ihn glauben könnte.«

Fanferlot hatte sich von seinem Vorgesetzten die Erlaubnis erbeten, Nachforschungen auf eigene Faust anstellen zu können. Das Briefchen, das Bertomy dem jungen Beamten zugeworfen, gab ihm zu denken. Er vermutete, da er das Wort Gypsy vernommen, daß es für eine dritte Person bestimmt war, und legte sich auf die Lauer.

Gegenüber dem Bankhause in einem Torweg nahm er Aufstellung. Von seinem Platze aus konnte er den Eingang genau überwachen und richtig, es dauerte nicht lange, sah er Cavaillon heraustreten. Der junge Mann blieb einen Augenblick zögernd auf der Schwelle stehen, blickte sich vorsichtig nach allen Seiten um und begann dann so rasch auszuschreiten, daß der Sicherheitsagent Mühe hatte, ihm zu folgen. Endlich, in der Chaptalstraße, auf dem Montmartre, trat er in ein Haus. – Aber kaum hatte er zwei Schritte in dem ziemlich engen und dunklen Flur gemacht, als ihm jemand auf die Schulter klopfte. Er wandte sich um und erkannte zu seinem Schrecken den Polizisten, der bei Prospers Verhaftung gegenwärtig gewesen war.

Cavaillon erblaßte und blickte sich suchend nach einem Ausweg um, aber an eine Flucht war nicht zu denken: Fanferlot hatte ihm zu gut den Weg vertreten.

»Was wollen Sie von mir?« fragte er mit angstbebender Stimme.

Fanferlot war ein äußerst höflicher Mensch, wenn er jemand verhaftete, entschuldigte er sich immer vorher, daß er sich die Freiheit nehme, er begegnete daher auch jetzt Cavaillon mit ausgesuchter Höflichkeit.

»Verzeihen Sie mir, wenn ich so frei bin, Sie um eine kleine Gefälligkeit zu bitten,« sagte er zuvorkommenden Tones.

»Mich? Ich kenne Sie ja gar nicht.«

»Aber ich weiß, mit wem ich die Ehre habe zu sprechen, Sie sind Herr Eugen Cavaillon, übrigens halte ich Sie nicht für so gedächtnisschwach, daß Sie sich meiner nicht entsinnen sollten. Sie haben mich heute schon ganz genau gesehen. Doch bitte, erweisen Sie mir jetzt das Vergnügen, mich einige Schritte zu begleiten; ich wünsche nur eine kleine unbedeutende Auskunft.«

Und ohne Cavaillons Antwort abzuwarten, nahm Fanferlot des jungen Mannes Arm und führte ihn hinaus.

Die Straße war abgelegen und wenig belebt, es ließ sich daher ganz gut auf und ab wandeln und plaudern.

»Mein lieber Herr Cavaillon,« begann der Agent freundlich, »ich habe heute Ihre und Bertomys Geschicklichkeit bewundert, er warf Ihnen ein Briefchen zu und Sie fingen es auf – wirklich geschickt!«

In Cavaillon war längst eine unbestimmte Ahnung aufgedämmert, daß es sich um Prospers Billetchen handelte, und er war entschlossen, zu leugnen.

»Sie irren sich,« sagte er, wurde aber dabei bis über die Ohren rot.

»Es tut mir unendlich leid, Ihnen widersprechen zu müssen, aber ich weiß, was ich sage.«

»Nein, gewiß, Prosper hat mir nichts gegeben.«

»Allerdings, gegeben hat er Ihnen nichts, aber zugeworfen, wozu leugnen, es war ein ganz klein zusammengefaltetes, mit Bleistift geschriebenes Blatt –«

Da Cavaillon einsah, daß es töricht wäre, auf seiner Aussage zu beharren, gab er den Empfang des Zettels zu.

»Nun ja,« sagte er leichthin, »mein Freund hat mir allerdings geschrieben, da aber die Mitteilung nur für mich bestimmt war, habe ich das Blatt, nachdem ich es gelesen, zerrissen und ins Feuer geworfen.«

Fanferlot war schon einen Augenblick geneigt, ihm Glauben zu schenken, aber da fiel ihm rechtzeitig das geheimnisvolle Wort, das Prosper ausgesprochen hatte, ein. Auf jeden Fall wollte er mit List die Wahrheit entdecken.

»Ich bin betrübt, Ihnen nochmals widersprechen zu müssen, aber das Briefchen war gar nicht für Sie, sondern für Gypsy bestimmt.«

An dem verzweifelten Ausdruck in des jungen Mannes Gesicht, erkannte Fanferlot, daß seine List gelungen und er auf der richtigen Fährte war.

»Aber ich schwöre Ihnen . . .« versuchte Cavaillon zu sagen.

»Verschwören Sie nichts, mein lieber Herr, es nützt nichts. Sie haben den Brief in der Tasche und waren im Begriff, ihn jener Person zu überbringen.«

Cavaillon beteuerte, daß dies nicht der Fall sei, aber der Sicherheitsagent beachtete seine Worte nicht und sagte noch immer höflich, aber äußerst eindringlich: »Sie werden gewiß die Liebenswürdigkeit haben, mir den Inhalt des Briefes mitzuteilen.«

»Niemals,« versetzte Cavaillon heftig und versuchte sich von Fanferlots Arm loszumachen, der Polizist hielt ihn aber wie in einem Schraubstock fest.

»Geben Sie acht,« sagte er, »es täte mir leid, wenn ich Ihnen weh tun müßte. Machen Sie übrigens keine Umstände und zwingen Sie mich nicht, zu unangenehmen Maßregeln zu greifen. Wenn ich einen Stadtsergeanten rufe, so führt er Sie aufs nächste Polizeikommissariat und durchsucht Ihre Taschen – das wäre Ihnen doch gewiß weit peinlicher. Sie sehen also, Ihrem Freund nützen Sie durch Ihre Weigerung nicht und Sie selbst machen sich nur unnötigerweise verdächtig . . .«

Cavaillon sah ein, daß der Polizist recht hatte, er war wütend über seine Machtlosigkeit, denn er konnte nicht einmal das Billet vernichten, es blieb ihm also nichts übrig, als sich zu fügen.

»Ich muß gehorchen, da Sie der Stärkere sind,« sagte er betrübt, entnahm das unselige Blatt seiner Brieftasche und überreichte es dem Polizisten.

Dieser ergriff es hastig, dann aber sagte er in gewohnter Höflichkeit: »Mit Ihrer gütigen Erlaubnis,« verneigte sich und las:

»Liebe Nina!

Wenn du mich liebst, tue was ich dir sage sofort, ohne eine Minute zu verlieren. Packe also gleich deine ganzen Habseligkeiten – alles, alles, hörst du? – zusammen und nimm dir eine möblierte Wohnung möglichst am entgegengesetzten Ende von Paris. Zeige dich nicht, halte dich verborgen, als ob du verschwunden wärst. Im Schreibtisch müssen noch 500 Frank sein, nimm sie. Deine neue Adresse teile Cavaillon mit. Ich bin eines bedeutenden Diebstahls angeklagt und werde sogleich verhaftet werden, C. wird dir Näheres darüber sagen. Verliere den Mut nicht und sei gegrüßt, auf Wiedersehen.

Prosper.«

Fanferlot war über den Inhalt dieses Briefes höchlich enttäuscht. Er hatte gehofft, darin den vollgültigen Beweis von Bertomys Schuld oder Unschuld zu finden, indes war es eine Art Liebesbrief, und entschieden war der Schreiber mehr um das Schicksal des Fräuleins besorgt, als um sein eigenes.

Der Brief war weder ein Beweis für noch gegen ihn. Zwar, die Worte alles, alles, hörst du? die unterstrichen waren, gaben zu denken und darum beschloß der Polizeiagent, die Sache weiter zu verfolgen.

»Fräulein Nina Gypsy ist wohl die gute Freundin Prosper Bertomys und wohnt in jenem Hause, in das Sie hineingegangen sind?« fragte Fanferlot.

Cavaillon bejahte.

»In welchem Stockwerke?«

»Im ersten, es ist Prospers Wohnung.«

»Schön, mein lieber Herr Cavaillon, ich danke Ihnen bestens für Ihre gütige Auskunft, ich werde Ihnen dafür den Weg ersparen und dem Fräulein selbst den Brief überbringen.«

Cavaillon wollte dies durchaus nicht zugeben, aber der Sicherheitsagent schnitt ihm das Wort ab und sagte wohlwollend: »Ich möchte Ihnen, mein lieber junger Herr, den guten Rat geben, ruhig in Ihr Bureau zurückzukehren und sich nicht weiter um die Angelegenheit zu kümmern.«

»Prosper ist unschuldig, ich bin davon überzeugt, er hat mir stets Gutes erwiesen, er ist mein Freund und Beschützer.«

»Das ist alles sehr schön, aber wie gesagt, Sie können ihm nicht helfen und schaden sich nur selbst, wenn man Ihre längere Abwesenheit bemerkt, können Sie nur Unannehmlichkeiten davon haben; wenn Herr Bertomy unschuldig ist, so wird das auch ohne Sie an den Tag kommen – also gehen Sie an Ihre Geschäfte und – ich habe die Ehre, mich bestens zu empfehlen.«

Mit diesen Worten ließ Fanferlot den armen Cavaillon stehen, der tief gedemütigt gehorchte. Während er den Rückweg einschlug, schmiedete er tausend Pläne, wie er Prosper nützen, Gypsy warnen und vor allem, wie er sich an diesem entsetzlichen Polizeiagenten rächen könnte.

Fanferlot begab sich indessen rasch zu Prospers Wohnung; er hatte nicht lange zu suchen, denn im ersten Stock stand auf einem Porzellanschild Bertomys Name. Fanferlot läutete und ein etwa fünfzehnjähriger Bursche in greller Livree öffnete.

Der Geheimagent fragte nach Fräulein Gypsy und da der kleine Bediente mit der Antwort zögerte, fügte er hinzu: »Herr Bertomy sendet mich, ich habe einen dringenden Brief zu bestellen und soll auf Antwort warten.«

»So treten Sie ein, ich werde das Fräulein benachrichtigen.«

Der Diener führte Fanferlot in einen reizenden kleinen Salon, der mit kostbaren Möbeln, Vorhängen, Teppichen elegant ausgestattet war, und ließ ihn warten.

»Potzblitz,« dachte der Polizist, »unser Kassierer ist fein eingerichtet!«

Er hatte aber nicht die Zeit, all die hübschen Sachen in Augenschein zu nehmen, denn eine der Portieren öffnete sich und Nina Gypsy erschien.

Sie war klein und ungemein zierlich gebaut und ihre Gesichtsfarbe hatte jenen goldigen Schimmer, der die Kreolinnen auszeichnet.

Sie hatte ein allerliebstes reizendes Gesichtchen und ihr Anblick ließ es begreifen, daß mancher Mann bereit war, für sie tausend Torheiten zu begehen.

Sie trug ein hellfarbenes seidenes Morgenkleid und bewegte sich wie ein anmutiges Kätzchen.

Donnerwetter, dachte der Polizist, dem beim Anblick des kleinen Dämchens die edle Schönheit Magdas, die er vor einigen Stunden gesehen, in den Sinn kam, mein Herr Kassierer hat einen guten Geschmack – einen fast allzu guten!

Während Fanferlot ziemlich verlegen dastand, musterte Nina ihren Besucher und war entrüstet, daß der Bediente einen so schäbigen Menschen in ihren Salon eingelassen hatte, da fiel ihr ein, daß es vielleicht einer ihrer Gläubiger sein könnte, der sich wahrscheinlich den Eintritt erzwungen und mit gerunzelter Stirn fragte sie kurz: »Was wünschen Sie?«

»Meine Gnädige,« versetzte er höflich, »ich bin von Herrn Bertomy beauftragt, Ihnen einen Brief zu bringen.«

»Wie, Sie kennen Prosper?« fragte sie verwundert.

»Jawohl und ich gehöre sogar, wenn ich mich so ausdrücken darf, zu seinen Freunden.«

»Nicht möglich,« entfuhr es Nina, die mehr aufrichtig denn höflich war. Es erschien ihr höchst unglaubwürdig, daß ihr eleganter Prosper, der zumeist mit Kavalieren verkehrt, einen so schäbigen, unbedeutend aussehenden Freund haben sollte.

»Ja,« wiederholte Fanferlot, »ich nenne mich seinen Freund und ich kann Sie versichern, daß im Augenblick wenig Leute den Mut hätten, dies zu bekennen.«

Der Agent sprach so ernst, daß Nina betroffen war.

»Was wollen Sie damit andeuten?« fragte sie. Statt aller Antwort zog der Polizist den Brief hervor und hielt ihn ihr hin. Ahnungslos ergriff ihn Nina. Aber kaum hatte sie ihn überflogen, als sie tödlich erblaßte und vor Schreck fast umgesunken wäre. Einen Moment starrte sie wie fassungslos auf das Blatt, dann aber trat sie auf den Agenten zu, ergriff ihn so heftig am Arme, daß er beinahe aufgeschrien hätte und rief: »Was soll das heißen, erklären Sie mir, was das zu bedeuten hat?«

Fanferlot war ein tapferer Mann, er fürchtete sich nicht vor den gefährlichsten Verbrechern, aber der Zorn des schönen Wildkätzchens flößte ihm Angst ein. Er schwieg.

»Ist es möglich, daß man Prosper verhaften will und man ihm eines Diebstahls beschuldigt?«

»Leider ja, man behauptet, daß er die Kasse beraubt hätte.«

»Das ist eine niederträchtige Verleumdung!« rief sie mit blitzenden Augen. »Die Behauptung ist auch unsinnig,« fügte sie ruhiger hinzu, »Prosper besitzt ja ein großes Vermögen.«

»Darin täuschen Sie sich, Bertomy ist nicht reich, er ist nur auf seinen Gehalt angewiesen.«

Nina war von dieser Antwort betroffen. »Nicht reich? Aber dann wäre ja  . . .«

Sie hielt inne, indes wußte Fanferlot genau, was sie sagen wollte, nämlich: dann wäre ja ich es, die durch meinen Luxus ihn soweit gebracht.

Dieser Gedanke war allerdings einen Augenblick durch Ninas hübsches Köpfchen geflogen, sie verwarf ihn aber allsogleich.

»Nein,« sagte sie, »Prosper würde nur meinetwillen keinen Pfennig veruntreuen, denn leider liebt er mich nicht und nur die übergroße Liebe kann einen Mann zum Verbrecher machen.«

»Wie, Prosper sollte Sie nicht lieben?« rief der höfliche Polizist galant, »Sie glauben wohl selber nicht, was Sie sagen.«

Sie schüttelte traurig das Köpfchen.

»Ich glaube es nicht nur, ich weiß es bestimmt, er liebt mich nicht; in seinem Leben habe ich nichts zu bedeuten.«

»Ja – dann – warum . . . «

»Warum? . . . Ich verstehe wohl, was Sie meinen, aber darauf habe ich keine Antwort; seit einem Jahre, seit ich ihn kenne und mit ihm lebe, quält mich der Gedanke und ich frage mich unablässig, warum er mich zur Geliebten genommen, mich mit allen Luxus umgibt, meine törichten Wünsche erfüllt, da er mich doch nicht liebt! Ich beobachte ihn, aber er ist undurchdringlich; er ist gütig und freundschaftlich zu mir – aber von Liebe keine Spur!«

Nina vergaß in ihrer Erregung, daß es ein völlig Fremder war, den sie so Einblick in ihr Innerstes gewährte, vielleicht glaubte sie auch, sich keinen Zwang auferlegen zu müssen, da der Mann sich doch Prospers Freund nannte. Fanferlot dagegen freute sich, über Bertomys Charakter auf so untrügliche Weise Aufschluß zu erlangen.

»Man behauptet, daß Prosper ein Spieler sei,« warf er ein, »und das Spiel führt weit.«

»Er spielt wohl, allein er ist kein Spieler,« entgegnete sie, »ich habe es selbst gesehen, wie er, ohne eine Miene zu verziehen, verloren oder gewonnen hat; er bleibt beim Spiel, wie bei allem anderen, völlig leidenschaftslos, er verliert niemals die Herrschaft über sich selbst und alles scheint ihm gleichgültig zu sein. Nein, Prosper ist kein Dieb, das möchte ich mit meiner Seligkeit verbürgen, aber ich glaube, daß es in seinem Leben ein Geheimnis, ein Unglück, irgend etwas sehr Trauriges gibt, das er zu vergessen wünscht und darum sucht er sich zu betäuben.«

Tränen waren in Ninas schöne Augen getreten und rollten langsam über ihre Wangen herab. Aber plötzlich ermannte sie sich, trocknete die Tränen und rief energisch: »Ich will ihn retten, wenn er mich auch nicht liebt, so liebe ich ihn, denn er ist gut, ist edel – nein und tausendmal nein, er ist kein Verbrecher! Ich gehe sofort zu seinem Chef, zum Richter, wenn es sein muß, zum Präsidenten, ich werde beweisen, daß er unschuldig ist! Kommen Sie, kommen Sie, ehe der Tag sich neigt, muß Prosper frei sein!«

»Ihre Absicht ist sehr löblich, mein verehrtes Fräulein,« entgegnete Fanferlot, »aber Sie würden meinem Freunde nicht nur nicht nützen, sondern sich selbst nur schaden, man wird Sie für seine Mitschuldige halten.«

»Was liegt daran!« rief Nina opferfreudig, »wenn sie ihn in den Kerker werfen, will ich sein Los teilen.«

»Sehr edel von Ihnen, mein liebes Fräulein, aber Ihren Freund retten Sie damit nicht, im Gegenteil, Sie geben ihn um so sicherer dem Verderben preis, außerdem würden Sie direkt gegen seinen Willen handeln. Was schreibt er Ihnen denn? Daß Sie sich verborgen halten sollen, nicht? Nun glauben Sie, daß er dies nicht mit besonderer Absicht geschrieben, begreifen Sie denn nicht, daß er Gründe hat, schwerwiegende Gründe . . .«

Nina hatte nur ungeduldig zugehört, sie war im Zimmer erregt auf und ab geschritten, und als sie an einem der Fauteuils ein leicht hingeworfenes schwarzes Spitzentuch erblickte, nahm sie es und schlang es um den Kopf, als mache sie sich zum Fortgehen bereit; die letzten Worte des Sicherheitsagenten machten sie aber stutzen, sie blieb stehen und auf einmal war es, als ginge ihr ein Licht auf.

»Ah, jetzt verstehe ich, meine Anwesenheit hier in seiner Wohnung ist schon eine Anklage wider ihn, und wenn man erst meine Kleider, meine Spitzen, meinen Schmuck fände . . . o, Sie haben tausendmal recht, ich muß fort, so schnell als möglich fort – – wer weiß, ob die Polizei mir nicht schon auf der Spur ist und gleich erscheinen wird . . .«

Und ohne sich weiter um den Fremden zu kümmern, stürzte sie in ihr Schlafzimmer und rief mit lauter Stimme nach dem Diener und dem Kammermädchen und befahl, rasch Koffer zu bringen und zu packen. Sie selbst machte sich sofort daran, die Schränke und Schubladen zu leeren.

Einen Augenblick später kehrte sie wieder, glühend vor Eifer und Aufregung, in den Salon zurück und sagte zu ihrem Besucher: »Ich werde gleich bereit sein, aber wohin soll ich gehen? Prosper schreibt, ans andere Ende von Paris, in eine möblierte Wohnung – aber wie soll ich eine solche so rasch finden?«

In Fanferlots Augen blitzte es freudig auf, indes bemühte er sich, völlig gleichmütig zu scheinen.

»Ich wüßte wohl ein Hotel garni, freilich so fein wie hier ist es nicht, aber auf meine Empfehlung würden Sie wie eine Prinzessin behandelt werden, außerdem wären Sie dort wirklich gut verborgen.«

»Also dann nur schnell hin, bitte schreiben Sie den Empfehlungsbrief, dort am Schreibtisch finden Sie alles Nötige. – Ja, wo liegt es denn?«

»Am jenseitigen Ufer der Seine, es heißt Hotel zum Erzengel, die Besitzerin, an die ich Sie wärmstens empfehlen werde, heißt Frau Alexandrine.«

Mit diesen Worten trat er an den Schreibtisch und warf rasch einige Zeilen auf ein Blatt, das er in einen Briefumschlag schob.

»So, mein liebes Kind, da ist der Brief und ich hoffe, Sie werden zufrieden sein!«

»Danke. Aber wie soll ich Cavaillon meine Adresse zukommen lassen? Richtig, warum ist er denn nicht gekommen? Prosper schreibt doch . . .«

»Er war verhindert,« fiel Fanferlot ein, »aber machen Sie sich keine Sorgen, ich komme heute noch mit ihm zusammen und werde ihn verständigen.«

Nina wollte den kleinen Diener um einen Wagen senden, aber ihr höflicher Besucher erbot sich, den Auftrag zu übernehmen; er empfahl sich und ging.

Er hatte nicht weit zu gehen, denn als er aus dem Hause trat, fuhr eben eine leere Droschke vorüber, er hielt sie an und sagte zu dem Kutscher, nachdem er sich ihm als Detektiv zu erkennen gegeben: »Es wird gleich eine junge Dame mit viel Gepäck herabkommen. Wenn sie zum Hotel Erzengel zu fahren wünscht, ist es gut, dann knalle mit der Peitsche, wenn sie dir aber eine andere Adresse geben sollte, dann steige vom Bock und mache dir etwas am Leitseil zu schaffen, ich werde in der Nähe sein und alles beobachten.«

Nachdem er diesen Befehl gegeben, trat er in den Torweg eines der nächsten Häuser und hielt sich verborgen. Er hatte nicht lange zu warten, ein lautes Peitschenknallen verkündete ihm, daß sein Plan gelungen war.

»Nun, die ist mir sicher,« sagte er fröhlich und begab sich aufs Gericht.


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