Emile Gaboriau
Aktenfaszikel 113
Emile Gaboriau

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4.

Während Prosper Bertomys ganzes Leben Gegenstand genauester Nachforschung war, saß er selbst im Gefängnisse, in Einzelhaft, und harrte der Entscheidung.

Die ersten Tage waren ihm nicht allzu lang geworden, er hatte sich Papier geben lassen und arbeitete an einer Verteidigungsschrift. Als aber der zweite, der dritte Tag verging, ohne daß er aufs neue vorgerufen wurde, fühlte er sich beunruhigt: »Muß ich denn hier ewig bleiben?« rief er wiederholt, »werde ich denn nicht wieder verhört?«

»Nur Geduld,« sagte der Gefängniswärter jedesmal, »man wird Sie nicht vergessen.«

Endlich am fünften Tage, nachdem er schon der finstersten Verzweiflung anheimgefallen war, hörte der Unglückliche zu einer Stunde, zu der sonst nie der Gefängniswärter erschien, die Riegel klirren.

»Endlich!« rief er, denn er hoffte, man käme ihn zum Verhör zu holen, sprang auf und eilte zur Tür, aber er war wie vom Blitz getroffen beim Anblick des weißhaarigen Mannes, der auf der Schwelle erschien.

»Vater . . .!« stieß er hervor, »Vater!«

Nachdem sich Prosper von der ersten Überraschung erholt hatte, durchflutete ihn ein Gefühl unendlichster Freude. So war er nicht ganz verlassen und vergessen, sein Vater hatte die weite Reise nicht gescheut, um zu ihm zu eilen, ihm beizustehen . . .

»Vater,« rief er nochmals froh bewegt, breitete die Arme aus und stürzte ihm entgegen.

Aber der alte Bertomy stieß ihn zurück.

»Hinweg von mir,« sagte er. Dann trat er vollends ein, die Tür hinter ihm wurde geschlossen und Vater und Sohn standen einander allein gegenüber. Prosper war gebrochen und vernichtet, der Alte zornig, beinahe drohend.

»Vater, auch du glaubst an meine Schuld?« rief Prosper schmerzlich aus.

»Spare dir die Komödie,« entgegnete der Alte verächtlich, »ich weiß alles!«

»Ich bin unschuldig, Vater, beim Andenken meiner Mutter schwöre ich dir . . .«

»Entweihe ihren Namen nicht – Wohl ihr, daß sie nicht mehr lebt – deine Schande hätte sie getötet!«

»Vater, Vater, du schmetterst mich nieder und ich bedarf doch jetzt meines ganzen Mutes – ich bin ja das Opfer schmählichster Ränke . . .«

»Was soll das heißen? Hast du vielleicht die Stirn, den zu beschimpfen, der dich mit Wohltaten überhäuft, dir eine glänzende Stellung verschafft hat und eine glückliche Zukunft bereiten wollte?!«

»Höre mich, Vater – –«

»Wie, willst du etwa die Güte deines Chefs leugnen, hast du mir nicht selbst geschrieben, du bist seiner Zuneigung so sicher, daß er dir gewiß die Hand seiner Nichte, die du liebst, nicht verweigern wird. Verhält es sich vielleicht nicht so?«

»Allerdings,« versetzte Prosper mit gepreßter Stimme.

»Das ist nun ein Jahr her – deine Neigung zu dem Fräulein scheint seitdem erloschen zu sein.«

»Nein! Ich liebe sie unverändert.«

»Wahrhaftig?« rief der alte Bertomy verächtlich. »Die Liebe zu diesem reinen Mädchen hat dich aber nicht vor Ausschweifung bewahrt. Du liebst sie – wie konntest du ohne Erröten vor sie hintreten, wenn du von der schamlosen Gesellschaft kamst, in der du lebtest?«

»Laß dir erklären, Vater, durch welches Verhängnis Magda und ich – –«

»Genug, du brauchst mir nichts zu erklären, ich weiß schon alles . . . Ich war in deiner Wohnung und habe alles begriffen: Ich sah die seidenen Vorhänge, die vergoldeten Möbel, die kostbaren Teppiche und Bilder – bei solch einen: Luxus ist es kein Wunder, daß du den ehrlichen Namen, den du trägst, schimpflich beflecktest und zum Diebe geworden bist!«

Prosper taumelte bei diesen Worten, als ob er einen Schlag ins Gesicht erhalten hätte, er erbleichte, sagte aber kein Wort.

Der Vater schwieg einen Augenblick, dann fuhr er veränderten Tones fort: »Aber lassen wir das, ich bin nicht gekommen, um dir Vorwürfe zu machen, ich bin gekommen, um den Schaden zu ersetzen. Wieviel bleibt dir noch von dem gestohlenen Gelde?«

»Aber um Gottes willen, Vater,« stöhnte der Unglückliche, »ich sagte dir ja schon, daß ich unschuldig bin.«

»Du bleibst also hartnäckig dabei? Wohl, dann werden wir den Schaden allein tragen und gutmachen, was gutzumachen ist. Ich besitze 150 000 Frank und mein Schwiegersohn hat mir sofort, als er dein Verbrechen erfuhr, die Mitgift seiner Frau zurückgegeben, so daß ich Herrn Fauvel 250 000 ersetzen kann.«

»Das wirst du nicht tun,« rief Prosper mit ausbrechender Heftigkeit.

»Das werde ich tun, und zwar gehe ich sofort hin. Was die noch fehlende Summe betrifft, so wird mir Herr Fauvel Zeit lassen, ich will mich aufs äußerste einschränken und Paul, mein Schwiegersohn . . .«

Der alte Bertomy hielt plötzlich erschrocken inne, denn Prospers Gesicht hatte einen entsetzenerregenden Ausdruck und seine Augen sprühten Feuer.

»Das wirst du nicht tun,« wiederholte er fast schreiend, »dazu hast du kein Recht! . . .« Und etwas ruhiger fügte er hinzu: »Ich kann dich nicht zwingen, Vater, mir zu glauben, aber du darfst einen Schritt, der einem Geständnis gleichkäme, der mich unrettbar ins Verderben stürzen würde, nicht tun. Wer beweist dir, daß ich schuldig sei? Das Gericht zögert noch und du, mein eigener Vater, bist unbarmherziger und verurteilst mich!«

»Ich erfülle meine Pflicht!«

»Ich stehe am Abgrunde, du stößt mich hinab und das nennst du Pflicht! Fremde klagen mich an und du glaubst ihnen und nicht deinem Sohne, der dir schwört, daß er unschuldig ist. Warum bist du so ungerecht, Vater? Statt mir zu helfen, meine Ehre, die ja die deinige, die unserer ganzen Familie ist, zu retten, meine Unschuld an den Tag zu bringen, willst du mich ganz zugrunde richten!«

Der alte Bertomy war bewegt, aber trotzdem sagte er: »Wie kann ich dir glauben, da alles gegen dich spricht?«

»Ach, Vater, eines Tages sah ich mich gezwungen, mich von Magda loszureißen, ich wollte mich betäuben, zerstreuen und stürzte mich in einen Strudel . . . aber Vater, ich habe keine Schlechtigkeit begangen . . . Ich suchte Vergessenheit – konnte ich ahnen, daß ich nur Ekel und Schande finden würde? Aber ich bin unschuldig und werde bis zum letzten Atemzuge kämpfen. Ich weiß, daß ich verurteilt werden kann, denn die menschliche Gerechtigkeit ist dem Irrtum unterworfen, aber wenn ich meine Strafe verbüßt habe, dann . . .«

»Unseliger, was sagst du?«

»Ich bin ein anderer Mensch geworden, Vater,« fuhr Prosper erregt fort, »mein Leben hat nur einen Zweck, und der heißt Rache! . . . Ich bin das Opfer eines schändlichen Anschlages; im Hause Fauvel ist mein Feind, dort werde ich ihn suchen und finden!«

»Der Zorn verblendet dich, Prosper.«

»Nein, Vater, das schöne patriarchalische Leben, die Ehrenhaftigkeit dort sind nur Schein, unter denen sich schmähliche Geheimnisse bergen müssen. Warum hat mir Magda plötzlich eines Tages verboten, an sie zu denken? Warum hat sie mich verbannt, da sie mich doch liebt, und sie selbst unter unserer Trennung leidet. Ja, sie liebt mich, ich habe untrügliche Beweise dafür . . .«

Die Stunde, die dem Vater zur Unterredung mit dem Sohne gewährt worden, war verstrichen, der Gefängniswärter kam, sie mußten sich trennen.

Tränen traten dem Alten in die Augen und die widerstreitendsten Gefühle zerrissen sein Herz.

Warum sollte er Prosper nicht Glauben schenken? Und selbst, wenn er schuldig wäre, war er darum weniger sein Sohn? Sein Sohn, den er so sehr geliebt, der bis zu dem unseligen Augenblick seine Freude, sein Stolz gewesen!

Und von seinen Gefühlen übermannt, breitete er die Arme aus und zog sein Kind an sein Herz.

»O Prosper,« sagte er, »mögest du die Wahrheit gesprochen haben!«

Prosper wollte antworten, aber es mußte geschieden sein.

Kaum war der Vater fort, erschien der Gefängniswärter nochmals und holte Prosper zum Verhör.

Er war von der Unterredung mit seinem Vater noch so erregt, daß er jetzt gern allein geblieben wäre, aber er mußte gehorchen. Doch ging er festen Schrittes mit erhobener Stirn, er war nicht mehr gebrochen und verzweifelt, sondern das Feuer der Entschlossenheit leuchtete aus seinen Augen.

Da er den Weg kannte, schritt er dem Gefängniswärter rasch voran, plötzlich trat der Herr mit der goldenen Brille, der ihn in der Aufnahmekanzlei so scharf beobachtet hatte, auf ihn zu und sagte: »Mut, Herr Bertomy, wenn Sie unschuldig sind, wird Ihnen geholfen werden.«

Prosper war erstaunt stehen geblieben, doch ehe er eine Antwort finden konnte, hatte sich der Fremde entfernt.

»Wer ist der Herr?« fragte Prosper den Gefängniswärter.

»Wie, Sie kennen ihn nicht?« versetzte dieser, im Tone größter Verwunderung, »das ist ja Herr Lecoq von der Sicherheitspolizei.«

»Lecoq? Ich habe den Namen nie gehört, wer ist das?«

»Sie können schon Herr Lecoq sagen, das wird Ihnen nichts schaden. Herr Lecoq ist ein Mann, der alles erfährt, was er erfahren will und dem man nichts weismachen kann; wenn Sie ihn gehabt hätten, statt des einfältigen, zuckersüßen Fanferlot, wäre Ihr Fall schon längst aufgeklärt. Übrigens scheinen Sie ja bekannt mit ihm zu sein.«

»Ich habe ihn früher nie gesehen.«

»Das läßt sich schwer behaupten, denn sehen Sie, ich glaube, es gibt keinen einzigen Menschen, der sich rühmen kann, Herrn Lecoqs wahres Gesicht gesehen zu haben. Heute ist er blond und morgen braun, bald ist er ein Jüngling, bald ein hundertjähriger Greis. Ich bin schon auf meiner Hut und doch führt er mich jedesmal an. Ich plaudere zum Beispiel mit einem Unbekannten, den ich nie im Leben gesehen zu haben vermeine, und plötzlich ist es Herr Lecoq. Er kann sich verkleiden und verstellen, wie er will, und wenn er sich nicht freiwillig zu erkennen gibt, erkennt ihn keiner, nicht einmal seine eigene Mutter!«

Prospers Führer würde noch lange forterzählt haben, wenn sie nicht angelangt wären. Der Untersuchungsrichter erwartete diesmal Prosper, und so wurde er gleich vorgelassen.

Pertingent hatte dem alten Bertomy die Erlaubnis gegeben, seinen Sohn zu besuchen, weil er viel von der Unterredung des rechtschaffenen Vaters mit dem des Diebstahls angeklagten Sohn erwartete. Als Menschenkenner sagte er sich, daß ein erschütternder Auftritt stattfinden würde und diese Erschütterung müsse notwendig den starren Sinn Prospers erweichen, ihn geneigt machen, ein Geständnis abzulegen, und darum ließ er ihn sogleich nach der Unterredung zum Verhör vorführen.

Er war über die Haltung des Kassierers, die ihm geradezu herausfordernd erschien, nicht wenig erstaunt.

»Nun, haben Sie es sich überlegt?«

»Ich hatte nichts zu überlegen, da ich nicht schuldig bin.«

»O, verschlimmern Sie Ihre Lage nicht, nur Aufrichtigkeit und Reue können Ihnen die Nachsicht der Richter erwerben.«

»Ich bedarf weder der Nachsicht noch der Gnade.«

Herr Pertingent konnte eine ungeduldige Gebärde nicht unterdrücken. Er schwieg eine Weile, dann fragte er plötzlich: »Was würden Sie antworten, wenn ich Ihnen sagte, was aus den 350 000 Frank geworden ist?«

Aber die List – ein Mittel, das die Untersuchungsrichter häufig mit Erfolg anwenden – verfing nicht. Prosper schüttelte traurig den Kopf und antwortete: »Wenn man es wüßte, wäre ich nicht hier, sondern frei.«

»Sie bleiben also dabei, Ihren Chef des Diebstahls zu bezichtigen?«

»Ich muß es wohl, da nur er das Stichwort kannte. Freilich zerbreche ich mir vergebens den Kopf, welches Interesse er daran haben konnte, sich selbst zu bestehlen?«

»Allerdings hat er keines gehabt, aber ich kann Ihnen sagen, welches Interesse Sie hatten. Können Sie mir vielleicht mitteilen, wieviel Sie im letzten Jahre ausgegeben haben?«

»Ja,« entgegnete Prosper ohne Zögern, »ich habe über meine Ausgaben Buch geführt, es werden ungefähr 50 000 Frank sein.«

»Und wo haben Sie die hergenommen?«

»Ich besaß 12 000, die ich von meiner Mutter geerbt hatte, 14 000 beträgt mein Gehalt, an der Börse gewann ich 8000, das übrige bin ich noch schuldig, kann es aber bezahlen, da ich bei Herrn Fauvel noch 15 000 Frank stehen habe.«

»Wer lieh Ihnen das Geld?«

»Herr von Lagors.«

»Schön, aber nun sagen Sie mir, warum Sie das Geld, dem ausdrücklichen Befehl Ihres Chefs entgegen, am Vortag holen ließen?«

»Herr von Clameran wünschte das Geld gleich früh zu haben – das wird er Ihnen, wenn Sie ihn rufen lassen, selbst bestätigen. Anderseits fürchtete ich, daß ich an jenem Tage etwas verspätet ins Bureau kommen könnte.«

»Sind Sie mit Herrn von Clameran befreundet?«

»Nein, ich habe vielmehr eine, wie ich gestehen muß, durch nichts gerechtfertigte Abneigung gegen ihn, aber es ist ein guter Bekannter meines Freundes Raoul von Lagors.«

Nach einer Pause fragte der Untersuchungsrichter weiter: »Wie haben Sie den Abend, der dem Diebstahl voranging, zugebracht?«

»Ich verließ um fünf Uhr das Bureau und fuhr mit dem Zuge nach Saint Germain, um meinen Freund Raoul in seinem Landhause in Besinet aufzusuchen. Er hatte 1500 Frank von mir zurückverlangt und ich brachte ihm das Geld, das ich ihm schuldete; da er nicht anwesend war, übergab ich es seinem Diener.«

»Sagte man Ihnen, daß Herr von Lagors verreisen werde?«

»Nein, ich wußte nicht einmal, daß er in Paris ist, sonst wäre ich ja nicht aufs Land hinausgefahren.«

»Was taten Sie, als Sie Besinet verließen?«

»Ich kehrte nach Paris zurück, traf einen Bekannten und ging mit ihm in ein Boulevardrestaurant essen.«

»Und hierauf?«

Prosper zögerte.

»Sie schweigen, also will ich Ihnen sagen, wie Sie Ihre Zeit verbrachten. Sie gingen nach Hause, um sich umzukleiden und begaben sich sodann zu einem Fräulein Wilson, die dem Namen nach eine dramatische Künstlerin ist, in Wirklichkeit aber eine Spielhölle hält und allerlei zweideutige Gesellschaft bei sich empfängt – ist das richtig?«

»Ja, ich war allerdings dort.«

»Und zwar nicht zum erstenmal, es ist überhaupt Ihre Gewohnheit, solche Gesellschaften aufzusuchen. Sie waren einmal in eine skandalöse Spielgeschichte verwickelt, nicht?«

»Nein, ich wurde nur vorgeladen, weil ich Zeuge eines Diebstahls gewesen.«

»In der Tat, das Spiel führt zum Diebstahl. Haben Sie bei der Wilson nicht Bakkarat gespielt und 1800 Frank verloren?«

»Entschuldigen Sie, nur 1100.«

»Schon gut. Nicht wahr, am Vormittag hatten Sie einen Wechsel von 1000 Frank eingelöst?«

»Ja.«

»In Ihrem Schreibtische befanden sich noch 500 Frank, bei sich trugen Sie, als Sie verhaftet wurden, noch 4000 Frank, so macht das im ganzen 4500 Frank innerhalb vierundzwanzig Stunden.«

Prosper war höchlich überrascht, den Untersuchungsrichter so gut unterrichtet zu sehen, er schwieg daher betroffen, endlich antwortete er.

»Ihre Rechnung stimmt vollkommen.«

»Woher hatten Sie dieses Geld, da Sie doch am Tage vorher nicht imstande waren, eine unbedeutende Rechnung zu begleichen?«

»Ich hatte einige Wertpapiere, die ich verkaufte, außerdem habe ich auf meinen Gehalt 2000 Frank Vorschuß genommen. Ich habe nichts zu verbergen.«

»So, wenn Sie nichts zu verbergen haben, wozu dieses Billet, das Sie geheimnisvoll einem Ihrer Kollegen zuwarfen?«

Und bei diesen Worten wies der Untersuchungsrichter den an Nina Gypsy gerichteten Brief vor.

Diesmal war Prosper noch mehr betroffen, er senkte vor dem Blicke des Untersuchungsrichters die Augen.

»Ich wollte . . . ich dachte . . .« stammelte er.

»Sie wollten Ihre Geliebte verbergen.«

»Das ist wahr, ich wußte, daß man einem Manne, der eines Verbrechens angeklagt ist, alle Schwächen seines Lebens als arge Versündigungen anrechnet.«

»Das heißt, Sie haben eingesehen, daß die Anwesenheit eines leichtfertigen Frauenzimmers in Ihrer Wohnung für Sie sehr erschwerend in die Wagschale fällt.«

»Fräulein Gypsy ist keine schlechte Person, sie war Erzieherin, als ich sie kennen lernte, sie ist in Oporto geboren und kam mit einer portugiesischen Familie nach Paris.«

»Sie heißt weder Gypsy, noch ist sie eine Portugiesin, noch war sie jemals Erzieherin.«

Und aus einem Aktenfaszikel entnahm der Untersuchungsrichter mehrere Blätter, las und sagte dann: »Sie heißt in Wahrheit Anna Dupont und ist das Kind armer Handwerkersleute. Früh schon mußte sie als Dienstmädchen ihr Brot verdienen, sie scheint aber nirgends besonders lange ausgehalten zu haben, denn bis zu ihrem sechzehnten Jahre hatte sie mindestens zehn bis zwölf Stellen. Dann versuchte sie es längere Zeit als Ladenmädchen, aber nicht mit besserem Erfolg, endlich kam sie zu einer portugiesischen Familie und ging mit dieser nach Lissabon, nach einem Jahr war sie aber wieder in Paris und hatte sich den Namen Nina Gypsy mitgebracht.«

»Ich versichere Sie . . .« versuchte Prosper zu erwidern.

»Ich weiß schon, was Sie sagen wollen: natürlich hat man Ihnen diese Geschichte nicht erzählt, sie ist zwar nicht romantisch, aber wahr, doch das Romantische kommt noch – In Paris lernte sie einen Reisenden, namens Caldas, kennen, der sich in sie verliebte und ihr eine Wohnung einrichtete, ja noch mehr, er erlaubte ihr sogar, seinen Namen zu tragen. Ein Jahr lebte sie mit ihm – dann lernte sie Sie kennen und verließ ihn, um zu Ihnen zu ziehen. Der arme Teufel liebte das falsche Geschöpf so sehr, daß er über ihre Treulosigkeit fast von Sinnen kam. Er schwur, sich an dem elenden Räuber seines Glückes zu rächen, ihn zu töten; indes hat man allen Grund anzunehmen, daß er sich selber umgebracht hat, denn bald nach dem Entweichen seiner Geliebten ist er verschwunden und alle Bemühungen, seine Spur aufzufinden, sind erfolglos geblieben.«

Der Richter hielt einen Augenblick inne, dann schloß er mit scharfer Betonung: »Dies ist das Weib, das Sie zu Ihrer Gefährtin gemacht, dem zuliebe Sie gestohlen haben sollen!«

Herr Pertingent, durch Fanferlots unvollständigen Bericht irregeführt, hatte absichtlich Nina Gypsys Geschichte so ausführlich erzählt, er hoffte, Prospers Leidenschaft werde zum Ausbruch kommen, zu seinem Erstaunen blieb Prosper völlig kalt.

»Gestehen Sie wenigstens, daß die Dirne an Ihrem Verderben schuld ist,« drängte der Richter.

»Das kann ich nicht gestehen, da es nicht der Fall ist.«

»Wie, wollen Sie leugnen, daß Sie allein im vergangenen Monat 2000 Frank für Kleider und Schmuck ausgegeben haben?«

»Das leugne ich nicht, aber ich habe das Geld nicht sinnlos und auf ihr Drängen, sondern aus freiem Antriebe und völlig besonnen ausgegeben.«

Der Untersuchungsrichter zuckte die Achseln.

»Wollen Sie etwa auch behaupten, daß Sie nicht jenem Frauenzimmer zuliebe Ihre jahrelange Gewohnheit, die Abende im Hause Ihres Chefs zuzubringen, aufgaben?«

»Ja, das leugne ich, es geschah nicht ihretwillen.«

»Warum aber hörten Sie plötzlich auf, sich um die Nichte des Herrn Fauvel zu bewerben?«

»Dazu hatte ich Gründe, die ich nicht angeben kann,« antwortete Prosper und seine bis dahin feste Stimme zitterte merklich.

Also hier ist seine Achillesferse, dachte der Richter, laut fragte er: »Sollte Fräulein Magda an Ihrer Entfernung Schuld tragen?«

Prosper schien erregt, doch er schwieg.

»Sprechen Sie,« drängte der Untersuchungsrichter, »dieser Umstand kann für Sie von großer Bedeutung sein.«

»Ich weiß, daß mein Schweigen meine Lage nicht verbessert, allein – ich kann nicht anders.«

»Das Gericht läßt sich mit Gewissensskrupeln nicht abfinden, es ist Ihre Pflicht, zu reden.«

Prosper antwortete nicht.

»Sie schweigen? Sie beharren bei Ihrer Weigerung? Nun, dann zu etwas anderem. Sie geben zu, daß Ihre Ausgaben sich in dem einen Jahr auf 50 000 Frank beliefen, die Anklage spricht zwar von 70 000 – indes – für den Augenblick ist dies gleichgültig. Sagen Sie mir, was dachten Sie zu tun, denn Ihre Mittel sind zu Ende, Ihr Kredit erschöpft – was also wollten Sie beginnen? Die alte Lebensweise konnten Sie nicht mehr fortsetzen.«

»Ich hatte keine Pläne, ich dachte, es geht so lange es eben geht und dann – –«

»Und dann ist ja die Kasse da, nicht wahr.«

»Aber Herr Untersuchungsrichter, wenn ich mich wirklich an fremdem Gelde vergriffen hätte, wäre ich doch nicht so dumm gewesen, wieder ins Bureau zurückzukehren.«

»Diesen Einwand erwartete ich; gerade dadurch, daß Sie blieben und dem Sturm standhielten, beweist, daß Sie nicht dumm handelten. Durchgehen wäre dumm gewesen. Die Kassierer, die heute Gelder veruntreuen, haben von anderen Prozessen her gelernt, daß das Durchbrennen ein erbärmliches Mittel ist. Die Eisenbahn ist schnell, aber der Telegraph noch schneller und nirgends in der Welt gibt es eine Zufluchtsstätte. Amerika ist bei den Defraudanten längst in Mißkredit, denn sie können den Fuß nicht auf amerikanischen Boden setzen, ohne sofort verhaftet zu werden. Nein, so dumm waren Sie nicht. Sie blieben und sagten sich: Wahrscheinlich kann ich mich aus der Schlinge ziehen, wo nicht, so gibt es im schlimmsten Fall einige Jahre Haft, dann aber habe ich ein Vermögen.«

»Wenn ich wirklich so gedacht hätte, würde ich mich nicht mit 350 000 Frank begnügt, sondern eine Gelegenheit abgewartet haben, um eine Million zu stehlen.«

»Das hätte Ihnen vielleicht zu lange gedauert, die Gelegenheit war eben zu günstig.«

Prosper antwortete nicht, er schien nachzudenken.

»Eben fällt mir ein Umstand ein, den ich in meiner Verwirrung ganz vergessen hatte, ich glaube, er kann zu meiner Entlastung beitragen.«

»Dann sprechen Sie.«

»Ich glaube mich bestimmt zu erinnern, daß ich das Geld in Gegenwart des Dieners, der es von der Bank gebracht hat, in die Kasse einschloß. Er muß es gesehen haben, in jedem Falle aber bin ich vor ihm weggegangen.«

»Es ist gut,« entgegnete der Richter, »ich werde den Diener verhören. Jetzt werden Sie in Ihre Zelle zurückkehren, und wenn Sie meinen Rat befolgen wollen, so werden Sie sich Ihre Sache noch einmal gut überlegen.«

Der Untersuchungsrichter hatte Prosper so rasch entlassen, weil er einsah, daß die Aussage des Dieners von ungeheuerer Wichtigkeit war und er vorerst in dieser Sache Klarheit haben wollte.

Da aber dieser Diener krank war und nicht zum Verhör kommen konnte, so fuhr Herr Pertingent mit einem Schreiber, um keine Zeit zu verlieren, selbst ins Spital und frug den Arzt, ob der Bureaudiener Antonin vernehmbar sei.

Die Antwort lautete bejahend, der arme Mensch litt wohl große Schmerzen, da er sich den Fuß gebrochen hatte, war aber vollständig imstande, auszusagen.

Nachdem die Förmlichkeiten, die Fragen nach Namen, Alter, Stand und so weiter erledigt waren, hub der Richter an: »Also Sie haben das Geld, das bei Fauvel gestohlen wurde, von der Bank geholt?«

»Ja.«

»Können Sie sich erinnern, um wieviel Uhr Sie zurückgekommen sind?«

»Da ich mehrere Gänge hatte, war es ziemlich spät geworden, es mag nicht weit vor fünf Uhr gewesen sein!«

»Erinnern Sie sich, was Herr Bertomy getan hat, als Sie ihm das Geld überbrachten? Lassen Sie sich Zeit mit der Antwort und denken Sie gut nach.«

»O, ich erinnere mich ganz genau. Herr Bertomy überzählte die Banknoten, machte vier Päckchen, band sie zusammen und legte sie in die Kasse, schloß dann ab und dann glaub' ich – ja ich weiß es bestimmt, dann ging er fort.«

»Sind Sie sicher, daß es sich so verhält?« fragte der Richter eindringlich.

Der feierliche Ton schüchterte den Diener ein.

»Sicher?« sagte er unschlüssig, »ich möchte meinen Kopf verwetten, daß es so war, aber freilich eine andere Sicherheit habe ich nicht.«

Er schien plötzlich Angst zu bekommen, daß vielleicht nun der Verdacht auf ihn fallen könnte und es fehlte nicht wenig, so hätte er seine Aussage widerrufen.

Der Richter drang nicht weiter in ihn, aber als er fortging, war seine Stirn sorgenvoll umwölkt, denn der Fall wurde immer verwickelter und unklarer.


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