Emile Gaboriau
Aktenfaszikel 113
Emile Gaboriau

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15.

Zwanzig Jahre waren verflossen, seit Valentine André Fauvel geheiratet hatte, und sie mußte es selbst bekennen, daß sie diesen Schritt nicht zu bereuen gehabt hatte.

Die alte Gräfin, die bis zu ihrem Tode bei ihrer Tochter lebte, sagte ihr in ihrer Sterbestunde: »Gestehe, daß ich recht daran tat, dich zum Schweigen zu überreden. Du hast mir dadurch einen friedvollen Lebensabend bereitet und du selber kannst dich nicht unglücklich nennen.«

Nein, in der Tat, unglücklich konnte sich Valentine nicht fühlen, da ihr Mann sie auf Händen trug und ihre Kinder ebenso gutgeartet als schön waren. Die Schreckgespenster ihrer Jugend verblaßten immer mehr und mehr und schließlich war die Erinnerung daran nur mehr wie an einen bösen Traum. Sie widmete sich ganz der Erziehung ihrer Kinder; zu ihren beiden Söhnen hatte sich noch ein drittes Kind gesellt, ein kleines Mädchen, namens Magda, eine elternlose Waise, Nichte ihres Mannes, die sie liebreich in ihrem Hause aufgenommen hatte, und an der sie nun eine liebevolle Tochter besaß.

Eines Tages – der Bankier war in Geschäften verreist – wurde ihr ein Brief überbracht, dessen Adresse eine ihr völlig unbekannte Schrift aufwies. Da ihre Wohltätigkeit allgemein bekannt war, wurde sie vielfach in Anspruch genommen, es war daher nichts seltenes, daß Fremde ihr schrieben und darum öffnete sie arglos das Schreiben.

Aber ihr Herz erbebte, als sie es mit einem Blick überflogen hatte, sie mußte es nochmals und abermals lesen, um sich zu vergewissern, daß sie nicht träume.

Ach, es war keine Täuschung, da standen wirklich die schrecklichen Worte:

»Verehrte gnädige Frau!

Hieße es zuviel Vertrauen in das Gedächtnis Ihres Herzens setzen, wenn ich mich der Hoffnung hingäbe, daß Sie mir eine halbstündige Unterredung gewähren würden? Ich werde die Ehre haben, morgen zwischen zwei und drei bei Ihnen vorzusprechen.

Hochachtungsvoll

Marquis von Clameran«

Marquis von Clameran! Die Vergangenheit war also nicht tot! Sie hatte ihre Schuld noch nicht ganz gebüßt, gesühnt! Nun stand das Gespenst drohend vor ihr!

Die arme Frau war fast sinnlos vor Angst. Aber nach und nach sammelte sie sich und dachte ruhiger über die Sache nach.

Der Brief war offenbar von Gaston, er war nach Frankreich zurückgekehrt und wünschte sie wiederzusehen. Das war ja eigentlich ganz natürlich, und von ihm, dem edlen ritterlichen Mann, hatte sie nichts zu fürchten.

Er würde kommen, sie als Frau und Mutter wiederfinden, sie würden wehmütige Erinnerungen tauschen; sie konnte ihm endlich sein Vermächtnis zurückgeben und dann würden sie mit einem Händedruck für immer scheiden.

Aber ein Zweifel quälte sie, sollte sie Gaston alles offenbaren?

Durfte, konnte sie es? Hieß das nicht das Glück und die Ehre ihres Mannes, ihrer Kinder aufs Spiel setzen?

Durfte sie aber andererseits jenem armen Kinde, das sie verlassen, den Vater rauben?

So peinigten sie zwiespältige Gedanken und der nächste Tag, die gefürchtete Stunde kam heran – sie war noch zu keinem Entschluß gekommen.

Sie hatte sich im letzten Augenblick gesagt, daß sie ihn nicht empfangen werde, als es aber zwei Uhr schlug, saß sie hochklopfenden Herzens im Empfangszimmer und wartete. Wenige Augenblicke später meldete der Diener den Herrn Marquis von Clameran.

Sie war so aufgeregt, daß sie sich weder erheben, noch sprechen, ja, nicht einmal denken konnte.

Er jedoch verneigte sich ehrerbietig und blieb dann ruhig mitten im Zimmer stehen.

Er mochte ungefähr fünfzig Jahre zählen, trug einen ernsten, fast traurigen Gesichtsausdruck. Haupthaar und Schnurrbart waren leicht ergraut. Zitternd betrachtete ihn Valentine und suchte in seinen Zügen die Erinnerung an den Mann wiederzufinden, den sie in ihrer Jugend mit voller Hingebung geliebt hatte. Aber nichts, gar nichts sprach aus seinen Augen zu ihrem Herzen; in dem gereiften Manne war nichts von dem Jüngling wiederzufinden.

Sie seufzte, und da er stumm blieb, fragte sie schüchtern: »Gaston?«

Er schüttelte das Haupt.

»Ich bin nicht Gaston, gnädige Frau. Mein Bruder ist dem Elend der Verbannung erlegen – ich bin Louis von Clameran.«

Ein Schauder des Entsetzens schüttelte Frau Fauvel. Nicht Gaston! Was konnte dieser Bruder von ihr wollen? Sie wußte, daß Gaston ihm damals kein Vertrauen geschenkt, ihm ihr Geheimnis nicht anvertraut hatte.

Sie gewann endlich soviel Fassung, um Louis einen Sitz anzubieten und ziemlich ruhig fragen zu können.

»Darf ich bitten, mir den Zweck Ihres Besuches mitzuteilen?«

»Vor allem möchte ich mir die Frage erlauben, gnädige Frau, ob uns hier niemand hören kann?«

»Warum? Ich glaube nicht, daß Sie mir etwas zu sagen haben, was mein Mann und meine Kinder nicht hören dürften?« versetzte sie schroff.

»Es ist nur in Ihrem Interesse,« erwiderte Louis – »doch wie Sie wünschen.«

Er rückte seinen Sessel näher an Frau Fauvel heran und fuhr mit gedämpfter Stimme fort: »Gnädige Frau, ehe Gaston starb, hat er sich mir vollständig anvertraut – – Verstehen Sie mich jetzt? – – Ich will Ihnen nicht die unseligen Umstände, die so schrecklich in das Leben meines Bruders eingegriffen haben, ins Gedächtnis zurückrufen. Sie sind eine reiche glückliche Frau geworden, aber ganz werden Sie doch den Freund Ihrer Jugend nicht vergessen haben . . .?«

Frau Fauvel antwortete nicht.

»Ist Ihr Gedächtnis wirklich so schwach geworden?« fuhr Louis fort, »muß ich Sie erst daran erinnern, daß mein unglücklicher Bruder Sie geliebt hat, daß Sie seine Gefühle erwiderten?«

»Sie scheinen zu vergessen, mit wem Sie sprechen, ich bin Frau und Mutter . . . Wenn Ihr Bruder mich geliebt hat, so ist das sein Geheimnis und an Ihnen ist es nicht, mich an die Vergangenheit zu erinnern, er würde das nicht getan haben . . . Für mich ist die Vergangenheit tot . . .«

»So haben Sie alles vergessen?«

»Ja, vollständig.«

»So? Auch Ihr Kind?«

Diese Frage traf die unglückliche Frau wie ein Schlag. Woher wußte er . . .? Aber sie sagte sich, sie dürfe sich keine Blöße geben, das Glück und die Ehre ihrer Kinder, ihres Mannes stünden auf dem Spiele.

Mit einer Willenskraft, der sie sich selber kaum für fähig gehalten, faßte sie sich und entgegnete mit Würde: »Ich glaube, Sie wollen mich beschimpfen, Herr Marquis.«

»Sie erinnern sich also auch nicht mehr an Raoul?«

»Ich verstehe Sie nicht.«

»Ihr Leugnen hilft nichts, gnädige Frau, ich sagte Ihnen ja schon, daß ich alles weiß. Soll ich Ihnen den Beweis geben? Hören Sie: Vor zwei Jahren kam mein Bruder nach London, dort begegnete er in einer Familie einem Jüngling, namens Raoul Wilson. Der junge Mann gefiel ihm so gut, daß er Erkundigungen über ihn einzog und schließlich in Erfahrung brachte, daß er seinen eigenen Sohn vor sich habe.«

»Was habe ich mit diesem Roman zu schaffen?«

»War ich noch nicht deutlich genug? Ihre Mutter, die Gräfin von Laverberie, war zwar sehr vorsichtig, sehr klug, aber der Zufall enthüllte das Geheimnis. Eine der Freundinnen, die Ihre Mutter in London hatte, wollte sie in dem Dorfe, das Sie bewohnten, besuchen, Sie waren schon abgereist, aber die Dame hatte vor der Frau, bei der das Kind in Pflege war, Ihren wirklichen Namen genannt, und so kam die Geschichte ans Licht. Gaston hat sich untrügliche Beweise verschafft und hat seinen Sohn anerkannt.«

»Ich weiß in der Tat nicht, Herr Marquis –«

»Bitte, hören Sie mich noch an, ich bin gleich zu Ende. Mein Bruder ist im Elend gestorben, die Sorge um die Zukunft Raouls verdüsterte seine letzten Stunden, da vertraute er sich mir an und bat mich, zu Ihnen zu gehen, an Ihr Herz zu appellieren –«

Valentine erhob sich, sie wollte ein Ende machen.

»Sie werden mir zugestehen, daß meine Geduld groß ist.«

Louis war von ihrer unerschütterlichen Ruhe so verblüfft, daß er keine Antwort fand.

»Ich bekenne Ihnen,« fuhr sie fort, »daß ich ehemals allerdings das Vertrauen Ihres Herrn Bruders besaß, er übergab mir vor seiner Abreise den Schmuck der Frau Marquise, Ihrer Mutter, und den will ich Ihnen übergeben.«

Bei diesen Worten zog sie unter dem Diwankissen den Beutel, der den Schmuck enthielt, hervor und reichte ihn Louis.

»Es wundert mich nur,« fügte sie hinzu, »daß Gaston dies Vermächtnis nicht von mir zurückverlangte.«

Obgleich Louis ungeheuer überrascht war, besaß er doch genug Selbstbeherrschung, um sich nicht zu verraten.

»Ich hatte den Auftrag,« versetzte er, »nicht davon zu sprechen.«

Frau Fauvel fand zwar, daß das keine Antwort auf ihre Bemerkung war, doch sagte sie darüber nichts, sondern streckte die Hand nach der Klingel aus.

»Sie werden begreifen, Herr Marquis, daß ich eine Unterredung abbreche, die ich überhaupt nur in der Absicht zuließ, um Ihnen den Familienschmuck einzuhändigen.«

»Gut, ich gehe, aber ich bitte Sie, gnädige Frau, die letzten Worte, die mir mein Bruder auf dem Totenbette sorgte, zu beherzigen: Wenn Valentine sich weigern sollte, die Zukunft Raouls zu sichern, dann befehle ich dir, sie dazu zu zwingen. Ich habe geschworen und – bei meiner Ehre – ich werde den Schwur halten!«

Damit verbeugte er sich und ging.

Es war die höchste Zeit. Frau Fauvel hatte kaum mehr die Kraft, sich aufrecht zu halten, und als sie sich endlich allein sah, brach sie zusammen.

Ihre Verzweiflung war fürchterlich; ihre schlimmsten Befürchtungen waren zur Wirklichkeit geworden, der Abgrund tat sich vor ihr auf und ach, die ihr die liebsten waren, sollten mit ihr ins Verderben gerissen werden, und büßen, was sie nicht verschuldet!

Nur Gott allein konnte sie retten und im inbrünstigen Gebete flehte sie um Erbarmen für ihren guten Mann, für ihre unschuldigen Kinder.

Ach, für sie gab es keine Hoffnung mehr, Clameran würde wiederkommen – was dann?

Sie erschauderte bei dem Gedanken.

Freilich, den armen verlassenen Knaben hätte sie gerne dem Elend entrissen, aber konnte, durfte sie Clamerans Vermittlung annehmen?

Der Mann flößte ihr Widerwillen, Mißtrauen ein. Seine Erzählung war lückenhaft und unwahrscheinlich. Warum hatte Gaston, wenn er in Paris gewesen und mittellos war, nicht den Schmuck von ihr zurückgefordert, wenn schon nicht für sich, so doch für das Kind, und warum hat er sich nicht selbst an sie gewendet, warum hatte er erst auf dem Totenbette ihrer gedacht?

Nein, Louis von Clameran war nicht vertrauenswürdig und – das fühlte sie deutlich – ein einzig unbedachter Schritt würde sie ganz in seine Hände geben, sie ihm für immer ausliefern.

Einen Augenblick dachte sie daran, sich ihrem Manne zu Füßen zu werfen und ihm alles zu gestehen, aber leider führte sie diesen rettenden Gedanken nicht aus, sie stellte sich seinen Schmerz vor, wenn er nach zwanzig Jahren erfahren sollte, daß er hintergangen worden, sie sah ihr glückliches Familienleben für immer zerstört – nein, nein, sie konnte nichts sagen, mußte alles allein tragen, versuchen, das Schreckliche durch eigene Kraft abzuwehren.

Sie fühlte sich so krank, daß sie zwei Tage das Zimmer hüten mußte. Zum erstenmal seit ihrer Verheiratung war sie über die Abwesenheit ihres Mannes froh, sie wäre nicht imstande gewesen, ihm in die Augen zu schauen.

Sie empfing auch ihre Söhne nicht, sie ließ sagen, daß sie Migräne hätte, die Kinder sich aber nicht sorgen sollten, es würde bald vorübergehen.

Magda aber ließ sich nicht abweisen. Sie hatte den Mann mit dem finsteren Blick, der die Tante besucht hatte, beim Weggehen gesehen und bemerkt, daß die Tante seitdem leidend war.

»Tantchen,« sagte sie teilnehmend, »möchtest du nicht den Herrn Pfarrer kommen lassen, er wird dich trösten und aufrichten.«

»Ich bedarf keines Trostes,« antwortete sie gereizt, »ich habe nur Kopfschmerzen und wünsche allein zu bleiben.«

Tag und Nacht dachte die unglückliche Frau nach und suchte nach einem Ausweg und schließlich sagte sie sich, daß sie sich fügen, daß sie alles geduldig tragen müsse, nur um das Schreckliche von dem Haupte ihrer Lieben abzuwenden. Wenn sie Clamerans Wünsche erfüllt, wird sie wohl damit sein Schweigen erkaufen.

Herr Fauvel war von seiner Reise zurückgekehrt und seine Frau hatte sich soweit gefaßt, daß sie ruhig und freundlich wie immer scheinen konnte, aber sie schien es nur, in Wirklichkeit lebte sie in steter Angst. Sie erschrak, wenn die Klingel ertönte, fürchtete, so oft die Türe aufging, den Marquis eintreten zu sehen und wagte nicht auszugehen, aus Furcht, daß er in ihrer Abwesenheit kommen könnte. Sie erwartete ihn von Minute zu Minute und es erfüllte sie mit banger Sorge, daß er nicht kam, nichts von sich hören ließ.

Die Qual war schier unerträglich geworden, als sie endlich einen Brief erhielt. Er war nicht von ihm selbst geschrieben, sondern von fremder Hand, er ließ sich entschuldigen, er könne krankheitshalber nicht kommen, bitte sie aber dringend am zweitnächsten Tage, in ihrem eigenen Interesse im Hotel du Louvre zu erscheinen.

Sie verbrannte den Brief sofort und war fest entschlossen, der Einladung nicht Folge zu leisten.

Als aber der Tag kam, ging sie einfach gekleidet und dicht verschleiert aus. Erst in großer Entfernung von ihrem Hause wagte sie es, einen Wagen zu nehmen, der sie zum Hotel brachte.

Mit Herzklopfen und Zagen fragte sie sich zurecht und stand endlich vor der bezeichneten Türe. Sie klopfte leise an, als sie aber eintrat, fand sie zu ihrem Erstaunen nicht den Marquis, sondern einen jungen Mann, der sie ehrerbietig grüßte.

Sie glaubte sich im Zimmer geirrt zu haben und sagte errötend: »Entschuldigen Sie, man sagte mir, daß hier der Marquis von Clameran wohne . . .«

»Man hat Sie recht gewiesen, gnädige Frau,« versetzte der junge Mann.

Sie antwortete nicht und machte Miene, wieder zu gehen, da fügte der Jüngling rasch hinzu: »Ich glaube die Ehre zu haben, Frau Fauvel zu sprechen?«

Valentine erschrak. Also hatte Clameran ihr Geheimnis verraten!

»Beruhigen Sie sich, gnädige Frau,« sagte der junge Mann, der ihren Schrecken bemerkte, »Sie sind hier so sicher, wie in Ihrem eigenen Heim. Der Herr Marquis läßt sich entschuldigen, er ist zu leidend, um Sie sprechen zu können.«

»Warum aber hat er mir so dringend geschrieben?«

»Er hatte allerdings Pläne, doch hat er darauf verzichtet . . .«

Überrascht fragte Frau Fauvel: »Wie, er verzichtet . . .?«

Der Blick des jungen Mannes drückte innigstes Mitgefühl mit der Seelenqual der unglücklichen Frau aus.

»Ja, gnädige Frau, der Marquis verzichtet auf das, was er – mit Unrecht, für seine heilige Pflicht ansah. Glauben Sie, er hat lange gezaudert und es ist ihm schwer geworden, zu Ihnen zu gehen. Sie haben ihn abgewiesen – es war Ihr Recht – aber ihn hat die Abweisung erbittert, er dachte nur an das Versprechen, das er seinem sterbenden Bruder geleistet – da ließ er sich hinreißen, Ihnen zu drohen – verzeihen Sie ihm. Er hat Beweise gegen Sie gesammelt – aber fürchten Sie nichts, gnädige Frau, sie werden Ihnen keinen Schaden zufügen, Ihr Glück nicht zerstören.«

Während der letzten Worte war er an den Kamin getreten und hatte ein Bündel Papiere vom Sims genommen.

»Hier sind die Beweise,« sagte er, indem er ein Blatt nach dem andern durchsah. »Hier ist die Beglaubigung des Geistlichen, Reverend Sedley, die Erklärung der Bäuerin, Frau Doblin, hier sind auch die beglaubigten Aussagen der Leute, die die Gräfin Laverberie gekannt haben. Es fehlt nichts. Nur mit Mühe habe ich dem Marquis die Dokumente entrissen, er wollte sie mir nicht lassen – vielleicht fürchtete er, was ich mit ihnen beginnen will. Und sehen Sie, gnädige Frau, was ich mit den Beweisen tue . . .«

Und mit rascher Bewegung warf er die Papiere in die Flammen des Kamins.

»Nun sind sie vernichtet,« sagte er. »Die Vergangenheit ist ausgelöscht, gnädige Frau – es gibt keine Beweise mehr – Sie sind frei!«

Frau Fauvel fragte sich zuerst, was dies bedeuten solle, aber plötzlich kam es über sie wie eine Erleuchtung. Der Jüngling, der ihre Ehre rettete, ihr ihre Willensfreiheit wiedergab, war niemand anderes als ihr verlassener Sohn!

Da vergaß sie alles; das lang zurückgedrängte Muttergefühl brach sich Bahn und mit tränenerstickter Stimme flüsterte sie »Raoul . . .!«

»Jawohl, Raoul,« rief er, »Raoul, der tausendmal lieber sterben, als seiner Mutter den leisesten Schmerz bereiten möchte, der all sein Blut vergießen würde, um ihr eine einzige Träne zu ersparen!« Überwältigt breitete sie die Arme nach ihm aus, er sank an ihre Brust und flüsterte: »Mutter, teuere Mutter, hab' Dank, tausend Dank!«

Frau Fauvel war auf einen Stuhl gesunken; sie war von dem Glücke, ihren Sohn gefunden zu haben, erschüttert, er kniete zu ihren Füßen nieder, und sie betrachtete ihn mit einer an Andacht grenzenden Liebe.

Wie schön er war! Sein goldbraunes Haar war fein und lockig wie Seide, seine Stirn weiß und rein, wie die eines jungen Mädchens und aus seinen großen wunderbaren Augen leuchtete Verstand und Herzensgüte. Und dieser herrliche Jüngling war ihr Sohn, gehörte ihr!

»O Mutter,« sagte er, »du weißt nicht, wie mir war, als ich erfuhr, daß der Onkel dich bedrohte, dich, geliebte Mutter! – Glaube mir, als mein Vater dem Onkel befahl, sich an dich zu wenden, war er nicht mehr bei klarem Bewußtsein – er war so edel, so gut. Oft schweiften wir in der Nähe deines Hauses herum und wenn wir dich erblickt hatten, waren wir glücklich. Er sprach immer nur von dir und lehrte mich dich lieben.«

Valentine vergoß Tränen der Rührung und Freude, sie vergaß ihren Gatten, ihre beiden Söhne und versenkte sich ganz in den Anblick des schönen Jünglings, der in ihr die holde Erinnerung an ihre Jugendliebe wachrief.

Raoul aber fuhr fort: »Erst seit gestern weiß ich, daß der Onkel einige Brosamen deines Überflusses für mich verlangt hat. Aber ich will nichts, Mutter, hörst du, ich will nichts. Wenn ich auch arm bin, so besitze ich doch Jugend und Gesundheit, ich kann und will arbeiten und werde mir den Lebensunterhalt schon verdienen. Von dir, geliebte Mutter, begehre ich weiter nichts, als daß du mir ein Plätzchen in deinem Herzen gönnst.«

Frau Fauvel war von soviel Edelsinn gerührt; sie streichelte sein Haar, küßte seine Stirne und nannte ihn ihr liebes, liebes Kind. Dann begehrte sie seinen ganzen Lebenslauf zu kennen, und er erzählte, wie die Bauersfrau, der er übergeben worden, ihn lieb hatte und ihm eine Erziehung über ihren eigenen Stand angedeihen ließ. Er erzählte, daß er mit sechzehn Jahren eine Stelle bei einem Bankier erhalten hatte, dort sei eines Tages ein Herr erschienen, der sich ihm als sein Vater zu erkennen gegeben und ihm mit sich genommen habe.

Die Mutter hörte mit Begier zu, sie wollte immer mehr wissen, alle Einzelheiten seines Lebens kennen.

Die Zeit verging. Da plötzlich schlug die Uhr sieben. Valentine erschrak, wie leicht konnte ihre lange Abwesenheit bemerkt worden sein. Sie erhob sich.

»Werde ich dich wiedersehen, Mutter?« fragte er angstvoll.

»Gewiß, mein Kind,« rief sie zärtlich, »täglich, morgen schon.«

»O, tausend Dank, geliebte Mutter,« sagte er und küßte ihre Hände.

Sie zog ihn an ihr Herz.

»Lebewohl, mein süßes Kind, auf Wiedersehen.«

Sie kam in großer Erregung nach Hause und es fiel ihr schwer, ihre Gefühle zu verbergen, sich zu bemustern. Sie war froh, als endlich die Abendmahlzeit zu Ende war und sie sich, unter dem Vorwande, Kopfschmerzen zu haben, auf ihr Zimmer zurückziehen konnte. Sie schloß sich ein und durchlebte im Geiste noch einmal die vergangenen Stunden.

Sie hatte ihr armes, verlassenes Kind wiedergefunden! Und es war nicht verkommen, es war vielmehr zum herrlichsten Jüngling geworden, schön, edel und gut! Arbeiten wollte er, um sein Brot zu verdienen? War sie nicht reich? Nein, er sollte nicht darben, während die beiden anderen im Überflusse schwelgten.

Zum erstenmal seit ihrer Verheiratung bedauerte sie, sich so wenig persönliche Freiheit bewahrt zu haben, es war so ungewöhnlich, daß sie allein ausging – es mußte auffallen.

Frau Fauvel war wirklich schon am nächsten und die folgenden Tage ins Hotel Louvre gegangen. Magda, die gewohnt war, die Tante auf ihren Spaziergängen und Ausfahrten zu begleiten, sah sie nur höchst verwundert an, als sie jedesmal zurückgewiesen wurde.

Die Blicke Magdas erregten und ärgerten Frau Fauvel. Sie fühlte immerfort die fragenden Augen des jungen Mädchens auf sich gerichtet und ein Gefühl, das fast an Haß streifte, keimte in ihr auf. Es überkam sie wie Reue, daß sie die Waise ins Haus genommen, hatte sie sich doch an ihr nur eine Spionin großgezogen! Tag und Nacht sann sie darüber nach, wie sie Magda entfernen könnte.

Da fiel ihr ein, das beste Mittel wäre, das junge Mädchen zu verheiraten. Und das konnte bald geschehen; der Kassierer des Hauses, Prosper Bertomy, interessierte sich für sie schon seit langem, Fauvel war nicht dagegen, es galt also nur die Angelegenheit in Fluß zu bringen.

Selbigen Abend noch sprach sie in altgewohnter liebevoller Weise mit Magda, brachte die Rede auf Prosper und entlockte dem jungen Mädchen das Geständnis, daß sie die Gefühle des jungen Mannes erwidere. Die Tante umarmte sie und versprach sogleich, mit dem Onkel zu sprechen, in zwei Monaten könnte die ganze Ausstattung besorgt sein und die Hochzeit stattfinden.

Leider war Herr Fauvel an jenem Abend nicht zu Hause und in den folgenden Tagen vergaß sie daran, weil der Gedanke, wie sie Raoul zu einer angenehmen Stellung und zu Vermögen verhelfen könnte, sie unablässig beschäftigte.

Längst schon war sie bei ihren Besuchen im Louvrehotel mit Louis von Clameran zusammengetroffen und sie fand ihn nun äußerst sympathisch, weil er ausschließlich nur auf das Wohl seines Neffen bedacht zu sein schien.

Sie hatten daher miteinander auch stundenlange Unterredungen, wie die Zukunft Raouls gesichert werden könnte. Der Jüngling freilich, wenn er zufällig anwesend war, wollte von Geldangelegenheiten nichts wissen; »ich will die Liebe meiner Mutter, aber nicht ihr Geld,« war seine stete Rede, der Onkel jedoch kümmerte sich nicht um seine jugendliche Sorglosigkeit und nahm es an, daß Frau Fauvel ihm die Mittel gab, sämtliche Ausgaben Raouls zu decken, der Jüngling aber wollte nichts davon wissen.

Der Marquis versprach, Sorge zu tragen, daß Raoul eine Stellung bekäme, nur meinte er, müsse die Sache wohl überlegt und auch die Neigungen des jungen Mannes in Betracht gezogen werden. Um leichter miteinander verkehren zu können, hatte der Marquis Frau Fauvel vorgeschlagen, ihn ihrem Manne als alten Freund ihrer Familie vorzustellen, und sie ging freudig darauf ein, war es ihr doch nicht möglich, Raoul so häufig zu besuchen. Sie schrieb ihm zwar, doch wagte sie nicht, sich Antwort kommen zu lassen, nun konnte der Marquis sie ihr bringen.

Der Marquis zeigte sich gegen Herrn Fauvel äußerst liebenswürdig und nicht lange dauerte es, so zählte er zu den Intimen des Hauses: er war zu jeder Stunde ein gern gesehener Gast.

Valentine war glücklich, sie fand immer Gelegenheit, einige Augenblicke wenigstens mit ihm allein zu sein und von ihrem Herzenskinde zu sprechen.

Aber der Marquis brachte nicht immer gute Nachrichten, er klagte über den Charakter des Jünglings und gestand, daß er sich beunruhigt fühle.

Frau Fauvel erschrak.

»Um Gottes willen, was kann er denn getan haben?«

»O, nichts von Bedeutung, er ist nur leichtsinnig; er weiß nichts von Ihrer Güte, sondern glaubt, auf meine Kosten zu leben; nun scheint er mich für einen Millionär zu halten und treibt die Verschwendung schier ins Maßlose.«

Frau Fauvel fand das nicht so schlimm.

»Er ist noch so jung, er wird schon zu Vernunft kommen,« meinte sie.

»Ihm fehlt eben die Erziehung, er hatte leider keine Eltern,« entgegnete der Marquis ernst. »Aber ich habe seinem sterbenden Vater versprochen, mich seiner anzunehmen, und ich werde Wort halten. Ich kann es nicht dulden, daß er auf der schiefen Ebene, auf die ihn sein Leichtsinn geführt hat, weitergehe. Doch Sie, verehrte Frau, Sie müssen mir helfen, Ihren ganzen Einfluß geltend machen.«

»Ach, was kann ich tun, ich sehe ihn ja viel zu selten.«

»Das ist's eben, Raoul entbehrt den Segen einer geordneten Häuslichkeit, eines glücklichen Familienlebens.«

»Ach, ich kann es ihm nicht verschaffen.«

»Sie können es, hören Sie mich an, ich habe einen Plan entworfen. Sie werden Raoul bei sich empfangen.«

Frau Fauvel entsetzte sich. Ihre ganze Ehrlichkeit bäumte sich dagegen auf.

»Das geht nicht, das geht nicht,« sagte sie.

»Und doch ist es die einzige Möglichkeit, Raoul zu retten. Ich sagte Ihnen ja schon, daß ich einen Plan habe, der Ihnen die Sache leicht machen soll. Besitzen Sie nicht in Saint-Remy eine nahe Verwandte?«

»Ja, meine Base von Lagors.«

»So ist es, und diese Base, die sich in mißlichen Verhältnissen befindet, lebt von Ihrer Unterstützung.«

»Wie,« rief Frau Fauvel verwundert, »das wissen Sie?«

»Ich weiß noch mancherlei. Ich weiß zum Beispiel, daß Ihr Mann Ihre Verwandten in der Provence nicht kennt und wahrscheinlich von dieser Base keine Ahnung hat. Darauf ist mein Plan gebaut. Dieser Tage erhalten Sie einen Brief aus Saint-Remy, worin Ihnen Ihre Cousine schreibt, daß sie ihren Sohn nach Paris schickt und Sie bittet, sich des Jünglings freundlich anzunehmen. Diesen Brief zeigen Sie Ihrem Manne . . .«

»Niemals,« rief Frau Fauvel empört. »Und meine Cousine würde sich auch niemals zu solch schmählicher Komödie hergeben. Übrigens hat sie gar keinen Sohn, nur zwei Töchter.«

»Da Ihr Mann von der Existenz der Cousine keine Ahnung hat, bleibt es sich vollkommen gleichgültig, ob ein Sohn in Wirklichkeit existiert, oder nicht. Übrigens habe ich gar nicht gesagt, daß die Cousine ins Vertrauen gezogen werden muß. Den Brief werde ich besorgen und durch eine Vertrauensperson in Saint-Remy zur Post geben lassen. Ihre Verwandte wird also gar nichts wissen; übrigens, selbst wenn sie zufällig etwas erführe – was aber höchst unwahrscheinlich ist – sie ist Ihnen viel zu sehr verpflichtet, um die Verräterin zu spielen – nichts hindert Sie . . .«

Frau Fauvel hatte sich, außer sich vor Entrüstung erhoben.

»Und Sie glauben, daß ich je in dieses Verbrechen einwilligen würde?«

Auch Clameran hatte sich erhoben.

»Ehe Sie von Verbrechen reden,« sagte er kühl, »bitte, denken Sie an Ihre Vergangenheit. Sie hatten als junges Mädchen ein Kind, haben dieses unschuldige Geschöpf schnöde verlassen, haben auch keine Skrupel gehabt, sich mit einem ehrenwerten Mann, der keine Ahnung von Ihrem Vorleben hatte, zu verbinden! – Und da wollen Sie plötzlich die Tugendhafte, Ehrliche hervorkehren und von ›Verbrechen‹ reden! Sie haben Gaston zugrunde gerichtet und nun weigern Sie sich, den Sohn zu retten! Aber bei meiner Ehre, das dulde ich nicht – oder Sie sollen nicht länger vor der Welt im unverdienten Ansehen stehen!«

Louis halte die letzten Worte drohenden Tones mit verhaltener Heftigkeit gesprochen, und die unglückliche Frau Fauvel war niedergeschmettert, vernichtet. Seine Anklagen hatten sie wie Keulenschläge getroffen, ihr Widerstand war gebrochen.

»Ich werde gehorchen,« sagte sie zerknirscht. Und in der Tat, acht Tage später war Raoul als Neffe erschienen und war von nun an täglicher Gast im Hause Fauvel.


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