Emile Gaboriau
Aktenfaszikel 113
Emile Gaboriau

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10.

Der Palast des Bankier Jandidier war einer der schönsten von Paris und mit geradezu märchenhafter Pracht ausgestattet.

An dem Abende, an welchem der Kostümball stattfand, erstrahlte er in feenhaftem Lichte, und die elegante Gesellschaft, die sich in den Salon drängte, konnte das glanzvolle und künstlerische Arrangement nicht genug bewundern. Die Gäste, welche den vornehmsten und reichsten Gesellschaftskreisen angehörten, waren alle in kostbare geschmackvolle Kostüme gekleidet, von denen einige sich durch Echtheit besonders auszeichneten. So blieb ein Bajazzo, der ein echtes altitalienisches Kostüm trug und dessen ausdrucksvolles Gesicht merkwürdig zu der gewählten Tracht paßte, nicht unbemerkt. Er fiel dadurch besonders auf, daß er in einer Hand eine leinene, buntbemalte Fahne hielt, während er in der anderen ein Stöckchen hin und her schwang und von Zeit zu Zeit auf die Leinwandbilder schlug, wie es die Quacksalber auf den Jahrmärkten zu tun pflegen, ehe sie ihre Waren ausschreien und anpreisen.

Man umringte den Bajazzo, da man einen Spaß von ihm erwartete, als man sich aber in der Erwartung getäuscht sah, ließ man ihn allein.

Er stellte sich so auf, daß er die Eingangstür im Auge behalten konnte und verließ diesen Platz erst, nachdem Herr Fauvel mit seiner Familie erschienen war.

Zehn Tage waren seit dem Diebstahl bei Fauvel verflossen, aber man sprach noch immer davon und jetzt nahmen viele – Freund und Feind – willkommenen Anlaß, dem Bankier ihre Teilnahme, die bei den einen aufrichtig, bei den anderen nur erheuchelt war, auszusprechen.

Fauvel trug kein eigentliches Kostüm, sondern hatte nur, dem Zwange sich fügend, einen schwarzseidenen spanischen Mantel um die Schultern geworfen, er führte seine Frau, die trotz ihrer achtundvierzig Jahre noch blendend schön aussah, am Arme. Sie trug ein Hofkleid aus Samt und Brokat aus der Zeit Ludwigs XIV. und zwar ohne Diamanten noch sonstigen Schmuck, wie es in den letzten Regierungsjahren des großen Sonnenkönigs Mode gewesen, und bewegte sich mit dem vornehmen Anstand einer Königin.

Ihr zur Seite, als Edelfräulein gekleidet, schritt Magda, sie war schöner und anmutiger denn je und fand allgemein aufrichtige und ungeteilte Bewunderung.

Fauvel geleitete seine Damen in den Ballsaal, in welchem das Orchester unter der Leitung des berühmten Kapellmeisters Strauß die entzückenden Tonweisen spielte, und begab sich dann in das Spielzimmer, wo für die älteren Herren Kartentische aufgestellt waren.

Der Bajazzo lehnte vergessen in einer Fensternische und ließ seine Blicke über die bunte wogende Menge schweifen, aber ein Paar, das eben an ihm vorübertanzte, erregte seine besondere Aufmerksamkeit.

Es war Magda, und ihr Kavalier im prachtvollen Dogenkostüm, niemand anderes, als der Marquis von Clameran. Er sah sehr vorteilhaft aus und schien dem schönen Edelfräulein eifrig den Hof zu machen.

Wie kommt Magda dazu, sich von dem adeligen Schurken so anschmachten zu lassen? dachte der Bajazzo. Ein Glück, daß Prosper nicht hier ist!

Inzwischen war der Tanz zu Ende und der Bajazzo hatte das Paar aus den Augen verloren. Ich finde sie gewiß bei Frau Fauvel wieder, dachte er und schob sich durchs Gedränge, um die Frau des Bankiers zu suchen. Er hatte nämlich bemerkt, daß sie sich, von der großen Hitze des Saales belästigt, in den wundervollen Wintergarten zurückgezogen hatte. Wirklich entdeckte er sie bald in einer Laube, die durch blühende Flieder-, Kamelien- und Orangenbäume gebildet war. Ihr zur Seite stand Raoul, als Edelknabe vom Hofe Heinrichs III. kostümiert. Er sah wirklich bildschön aus und der Bajazzo mußte denken, daß es eigentlich gar nicht verwunderlich wäre, wenn sich ein junges Mädchen in ihn verliebte. Allein Magda schien in dieser Beziehung völlig unempfindlich zu sein, sie saß auf der anderen Seite der Frau Fauvel und sah traurig aus. Sie hatte eine Kamelie vom nächsten Strauche gepflückt, drehte sie gedankenlos zwischen den Fingern und starrte wie geistesabwesend ins Leere.

Vom Spielsalon konnte man sehr gut in den Wintergarten sehen, dort an der Tür lehnte der Doge und beobachtete Frau Fauvel und Magda, ohne von ihnen gesehen zu werden.

Frau Fauvel und Raoul sprachen miteinander, er bückte sich zu ihr herab und ihr Gespräch schien sehr lebhaft zu sein, der Bajazzo hätte gerne etwas davon erlauscht, doch hielt es schwer, unbemerkt näher zu kommen; er schlängelte sich durch mehrere Gruppen und als er endlich einen günstigen Platz hinter dem Kameliengebüsch gefunden hatte, erhob sich Magda, um einem Tänzer, der sie abholte, in den Ballsaal zu folgen. Gleichzeitig entfernte sich Raoul, ging auf Clameran zu und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

Offenbar sind die beiden armen Damen in den Krallen jener Schufte, dachte der Bajazzo, aber was mag da vorgehen?

Plötzlich entstand eine lebhafte Bewegung: Im Hauptsaale sollte ein großer Maskenumzug stattfinden, man wußte, daß prachtvolle Gruppen dazu angemeldet waren und wollte die Herrlichkeit sehen; im Nu war der Wintergarten und die Nebensäle fast leer und nur wenige, die das große Gedränge verabscheuten und lieber bequem im Kühlen saßen, blieben zurück.

Nun schien dem Bajazzo die günstige Stunde für sein Vorhaben gekommen.

Er schwang seine Fahne, klopfte mit seinem Stöckchen, während er sich nächst der Türe in einiger Entfernung von Frau Fauvel aufstellte. Er begann damit einen Trommelwirbel so geschickt nachzuahmen, daß alle Zurückgebliebenen überrascht aufsprangen und ihn umringten. Nun ließ er ein Konzert von Pauken und Trompeten vernehmen, daß sich seine Zuhörer lachend die Ohren zuhielten und schließlich ließ er eine Rede mit so ungeheuerer Zungenfertigkeit von Stapel, daß ihn seine Kollegen vom Jahrmarkt sicher beneidet hätten.

Er stellte sich als Schaubudenbesitzer und Theaterdirektor vor und lud die geehrten Herrschaften zur Besichtigung ein, namentlich rühmte er das chinesische Trauerspiel, das seine Gesellschaft zur Aufführung brächte und um dem hochgeschätzten Publikum einen kleinen Begriff von dem wunderbaren Drama zu geben, sagte er, wolle er den Inhalt erzählen und an den Bildern seiner Fahne erläutern.

Nach dieser Einleitung gab es wieder einen Trommelwirbel und einen dröhnenden Paukenschlag und dann fuhr er fort: »Hier, meine verehrten Damen und Herren,« sagte er, indem er auf das erste Bild zeigte, »erblicken Sie die schöne Mandarinenfrau Li-Fo. Sie ist von ihren Kindern umgeben, ihr Gemahl, der große Mandarin Fo-Fo steht ihr zur Seite und sieht sie liebend an. Die Familie ist glücklich, weil die Frau tugendhaft ist und Tugend beglückt, wie Konfuzius so schön sagt.«

Unwillkürlich hatte sich Frau Fauvel dem Marktschreier genähert, indem sie sich erhob und auf einem näheren Sessel Platz nahm.

»Können Sie das Bild auf der Fahne erkennen?« fragte ein dicker Türke einen mageren Spanier. »Stellt es wirklich das vor, was er sagt?«

»Es kann ganz gut eine Mandarinenfamilie vorstellen,« entgegnete der Spanier, »aber ebensogut könnte es ein Rübenfeld sein . . .«

Ein neuer Trommelwirbel unterbrach ihn und der Bajazzo rollte ein zweites Bild auf.

»Hier sehen wir die schöne Li-Fo wieder, aber o – was ist aus ihrer Schönheit geworden? sie ist entstellt, denn ach, sie hat ihre Tugend und Ehrbarkeit verloren und da floh die Schönheit entsetzt. Nun weint die unglückliche Mandarinenfrau, sie schaut in ihren silbernen Spiegel und erkennt, daß sie über Nacht grau geworden! Verzweifelt rauft sie sich die Haare aus, besonders die weißen – aber es hilft nichts! Was war mit unserer schönen Mandarinenfrau geschehen? Ach, jammervolle Geschichte! Eines Tages erblickte sie in den Straßen von Peking einen bildhübschen jungen Taugenichts und verliebte sich in ihn!«

Mit tragischem Tone und Gebärde hatte der Bajazzo die letzten Worte vorgetragen, und sich dabei so gewendet, daß er Frau Fauvel gerade gegenüberstand und ihm keine Bewegung ihres Gesichtes entgehen konnte.

»Die Geschichte ist um so jammervoller,« fuhr er salbungsvoll fort, »als Li-Fo auch ihre Jugend verloren hat, und sie, die alternde, die Mutter erwachsener Söhne, liebt einen Jüngling! Ach, sie fühlt ja ihre Torheit, sie sieht ein, daß er ihre Leidenschaft unmöglich teilen kann und doch vermag sie ihr Herz nicht von ihm loszureißen.«

Der Bajazzo beobachtete, während er seinen Zuhörern die Bilder erklärte, Frau Fauvel scharf, aber seine Worte machten offenbar nicht den geringsten Eindruck auf sie, sie saß in ihren Sessel zurückgelehnt und blickte klaren Auges und lächelnd die Bilder der Fahne an.

Potzblitz, dachte der Bajazzo, sollte ich mich doch geirrt haben?

»Am dritten Bild,« fuhr er laut fort, »bitte, meine Herrschaften, betrachten Sie es genau, sehen wir unsere Mandarinenfrau von ihren Gewissensbissen befreit – sie hat offenbar moderne Philosophen gelesen – sie reißt sich nicht mehr die weißen Haare aus, sondern sie färbt sie, und da sie den schönen Jüngling durchaus an sich zu fesseln wünscht, greift sie zu allerlei Auskunftsmittelchen. Sie denkt: wenn schon nicht aus Liebe, so wird er aus Interesse, weil es sein Vorteil ist, bei mir bleiben. Und sie beginnt damit, ihm einen Titel beizulegen, der ihm nicht zukommt, der ihr aber erlaubt, ihn bei allen Mandarinen der Hauptstadt des Himmlischen Reiches einzuführen und damit er nun auch standesgemäß leben kann, entäußert sie sich ihrer ganzen Habe, sie opfert ihm ihre Perlen und Diamanten, ihr ganzes kostbares Geschmeide. Und der junge Schurke trägt alles in die Leihhäuser Pekings und weigert sich dann noch obendrein, die Pfandscheine herauszugeben.«

Seit einer kleinen Weile bemerkte der Bajazzo mit Genugtuung, daß Frau Fauvel unruhig wurde, sie versuchte zuletzt aufzustehen, aber die Kraft schien ihr zu fehlen, sie sank auf den Sessel zurück und mußte weiter zuhören.

»Aber, meine Damen und Herren,« begann der Bajazzo nach einem Trompetenstoß aufs neue, »der gefüllteste Kleinodienschrein wird endlich leer, wie ein Krug, aus dem man immer trinkt. Die arme Li-Fo hatte nichts mehr zu verschenken, allein er hatte sie umgarnt und begehrte nun, daß sie ihm den kostbaren Jaspisknopf ihres Mannes geben solle. Aber das war nicht leicht, denn Fo-Fo hatte das wundervolle Kleinod, das ja das Abzeichen seiner Würde war, in einem Felsenkellergewölbe, das Tag und Nacht von drei Soldaten bewacht war, verschlossen. Wie soll ich mich dessen bemächtigen? fragte sie. O ja, du kannst es, entgegnete er, von deinen Gemächern führt ein Weg ins Felsengewölbe. Ja, aber man wird die armen, unschuldigen Soldaten verdächtigen und da sie ihre Unschuld nicht beweisen können, zum Tode verurteilen, hinrichten . . .? Es half nichts, Li-Fo mochte einwenden, was sie wollte, mochte weinen, flehen – der schöne Schurke ließ nicht nach, bis sie seinen Willen tat. Dies vierte Bild hier, meine Herrschaften, zeigt Ihnen, wie die beiden Schuldigen über die geheime Treppe hinabschleichen, Sie sehen die Angst auf ihren Zügen . . .«

Er brach ab, denn Frau Fauvel war ohnmächtig geworden und einige von den Zuhörern, die es bemerkten, waren erschrocken auf sie zugeeilt, indes erholte sie sich sogleich und man gab der Hitze und dem betäubenden Fliedergeruch an ihrem Unwohlsein schuld.

Während der Kreis um den Bajazzo sich gelöst hatte und jetzt alle Frau Fauvel umdrängten, fühlte sich der Bajazzo plötzlich heftig am Arm gefaßt; er drehte sich um und sah sich Herrn von Lagors und dem Marquis von Clameran gegenüber. Beide waren bleich und ihre finsteren Gesichter sahen unheilverkündend aus.

»Sie wünschen, meine Herren?« fragte er im verbindlichsten Tone.

»Sie zu sprechen,« antworteten beide gleichzeitig.

»Ich stehe zur Verfügung,« sagte er und folgte ihnen in eine abgelegene Fensternische. Niemand hatte den Auftritt bemerkt, übrigens war eben der Maskenumzug zu Ende, die Menge strömte und drängte hin und her, man lachte und plauderte und unterhielt sich vorzüglich.

Der Marquis von Clameran, der sich kaum zu beherrschen vermochte, begann: »Wer sind Sie?«

Der Bajazzo stellte sich, als glaubte er, es handle sich um einen Maskenscherz und antwortete demgemäß: »Wer ich bin? Ei, meine Herren, das sehen Sie doch an meinem Kleide! Die lustige Person bin ich, außerdem noch Theaterdirektor, Seiltänzer, Taschenspieler . . .«

Der Marquis unterbrach ihn wütend: »Sie haben sich soeben einen niederträchtigen Scherz erlaubt.«

Der Bajazzo zog seine buschigen roten Augenbrauen hoch empor und fragte verwundert: »Ich???«

»Ja Sie, was wollten Sie mit der schändlichen Geschichte, die Sie vorgebracht haben?«

»Erlauben Sie nur, verehrter Doge, das ist ein ergreifendes Drama, das ich gedichtet habe! Sie verletzen meine Dichtereitelkeit auf das grausamste, wenn . . .«

»Genug,« herrschte ihn der Marquis an. »Es ist eine Feigheit von Ihnen, zu leugnen, daß Ihre Geschichte nichts anderes als eine elende Anspielung auf Frau Fauvel war.«

Der Bajazzo zog die Augenbrauen noch höher und hörte offenen Mundes zu, er sah ungeheuer einfältig aus – aber einen Augenblick funkelte es wie teuflische Bosheit aus seinen Augen.

»Eine Anspielung?« fragte er mit dem Ausdrucke höchster Verwunderung. »Welcher Zusammenhang sollte zwischen meiner Heldin Li-Fo und der von Ihnen genannten Dame bestehen, die ich gar nicht kenne?«

»Wollen Sie etwa behaupten, daß Sie von dem Unglück, das Herrn Fauvel betroffen hat, nichts wissen?«

»Ein Unglück?« fragte der Bajazzo. »Ist jemand gestorben?«

»Ich spreche von dem Diebstahl, der im Bankhause Fauvel stattgefunden hat und von dem alle Zeitungen sattsam berichteten.«

»Ja, ja, ich weiß, sein Kassierer ist mit einer halben Million durchgegangen, hieß es, mein Gott, das ist ja sozusagen ein alltägliches Ereignis. Aber welchen Zusammenhang Sie zwischen meinem chinesischen Drama und jenem Pariser Diebstahl sehen, ist mir unerfindlich.«

Ehe der Marquis eine Antwort fand, stieß ihn Raoul mit dem Ellbogen in die Seite. Der Stoß schien ihn plötzlich zu ernüchtern, offenbar bereute er seine Heftigkeit und die ihm entfahrenen bedeutungsvollen Worte, er zwang sich zur Ruhe, maß den Bajazzo mit verächtlichem Blick und sagte kalt: »Ich habe mich offenbar getäuscht, Ihre Erklärungen genügen mir.«

Der Bajazzo, der bis jetzt einfältig und bescheiden geschienen hatte, warf sich plötzlich in die Brust, stemmte die Faust in die Seite und nahm eine übertrieben herausfordernde Stellung, wie ein richtiger Raufbold, ein und sagte: »Ich habe Ihnen keine Erklärung gegeben und war Ihnen keine schuldig.«

»O . . .« versuchte der Marquis einzuwenden.

»Lassen Sie mich ausreden. Wenn ich wirklich eine Dame ohne es zu wollen verletzt habe, so ist es, meine ich, an ihrem Manne, mich zur Rede zu stellen. Sie haben mich gefragt, wer ich bin, nun aber frage ich Sie: Wer sind Sie, daß Sie sich unaufgefordert zum Verteidiger der Frau Fauvel aufwerfen? Mit welchem Rechte beschimpfen Sie sie, indem Sie eine Anspielung in einer Geschichte entdecken wollen, die ich nur zum Spaß erfunden habe?«

Der Marquis war einen Augenblick über diese Frage betroffen, er faßte sich aber rasch und entgegnete: »Ich bin Fauvels Freund, und noch mehr, binnen kurzem werde ich zu seiner Familie gehören . . .«

»Ah. . .?«

»Jawohl, Fräulein Magda Fauvel ist meine Braut und in den nächsten Tagen wird die Verlobung öffentlich bekannt gegeben werden.«

Diese Mitteilung schien den kaltblütigen Bajazzo doch etwas aus der Fassung zu bringen, aber nur einen Augenblick, dann verbeugte er sich übertrieben tief und sagte mit ironischem Lächeln: »Meine besten Glückwünsche, Ihre Braut ist nicht nur die Ballkönigin des heutigen Festes, sie bekommt, wie ich mir sagen ließ, rund eine halbe Million Mitgift.«

Raoul hatte sich während dieser Unterredung fortwährend ängstlich nach allen Seiten umgeblickt und nur mit größter Ungeduld zugehört.

»Jetzt ist's genug,« sagte er, und verächtlichen Tones fügte er hinzu: »Ihnen aber, Herr – Possenreißer, sage ich nur das eine, Ihre Zunge ist entschieden zu lang.«

»Das mag sein, mein schöner Ritter, aber – mein Arm ist noch länger!«

»Genug,« sagte jetzt Clameran seinerseits. »Komm, Raoul, was können wir von einem Manne erwarten, der die Maskenfreiheit derartig mißbraucht und sich nicht zu erkennen geben will.«

»Es steht Ihnen frei, den Hausherrn zu fragen, wer ich bin – wenn Sie den Mut dazu haben!«

»Sie sind . . .« rief der Marquis zornbebend, »Sie sind . . .«

Durch eine rasche Bewegung verhinderte Raoul seinen Freund, die beabsichtigte Beleidigung auszusprechen; sie hätte wahrscheinlich zu einer Herausforderung, zu Lärm und Skandal geführt, und das wollte der besonnenere Raoul vermieden wissen – es wäre für beide zu gefährlich gewesen.

Der Bajazzo schien die Beleidigung zu erwarten, er lächelte nur ironisch, als sie aber ausblieb, sah er dem Marquis scharf ins Auge und sagte langsam: »Wer ich bin, fragen Sie? Ich bin der beste Freund, den Ihr Bruder Gaston bei Lebzeiten hatte, ich war sein Vertrauter, sein Ratgeber – bis zur letzten Stunde.«

Wenn der Blitz zwei Schritte vor Clameran in den Boden gefahren wäre, hätte er unmöglich entsetzter aussehen können. Er wurde totenbleich und fuhr erschrocken mit vorgestreckten Händen zurück, als wollte er ein Gespenst, das sich dräuend vor ihm erhoben, abwehren. Er versuchte zu antworten, aber die Kehle war ihm wie zugeschnürt, er vermochte kein Wort hervorzubringen.

»Komm mit mir,« sagte Lagors, der seine Ruhe bewahrt hatte und zog den Willenlosen mit sich fort; er mußte ihn stützen, denn der Marquis schwankte, wie ein Betrunkener.

»Ah!« sagte der Bajazzo im höchsten Erstaunen. »Ah!«

Er war über die Wirkung seiner Worte selbst im hohen Grade bestürzt, er hatte die geheimnisvollen Andeutungen nur aufs Geratewohl gemacht, vielleicht war es auch sein Polizisteninstinkt, der ihn dazu antrieb, in keinem Fall aber hatte er eine bestimmte Absicht damit verbunden.

Was bedeutet das? fragte er sich. Was hat den Schurken so erschreckt? Dem muß ich auf die Spur kommen.

Der Bajazzo verließ seinen Platz in der Fensternische und drängte sich durch die auf und ab wogende Menge, um zu sehen, was aus den beiden Spießgesellen geworden. Es dauerte nicht lange, so sah er sie, wie sie von Gruppe zu Gruppe gingen und eine Menge Leute anredeten.

Aha, dachte der Bajazzo, die ehrenwerten Herren möchten erfahren, wer ich bin. Fragt nur immerzu, meine ehrlichen Freunde, fraget nur.

Ihre Nachforschungen blieben ohne Erfolg und das schien sie noch mehr zu beunruhigen, sie empfanden das Bedürfnis, allein zu sein, und ohne das Souper abzuwarten, entfernten sie sich.

Der Bajazzo sah sie zur Garderobe gehen, ihre Mäntel nehmen und das Haus verlassen und da er selber nichts mehr auf dem Feste zu tun hatte, entfernte er sich ebenfalls.

Vor dem Hause standen viele Wagen, da aber das Wetter schön war, beschloß der Bajazzo zu Fuß nach Hause zu gehen und seine verworrenen Gedanken in der erfrischenden Nachtluft zu sammeln und zu ordnen.

Er zündete sich eine Zigarre an und schlenderte langsam seiner Behausung zu.

Plötzlich – er mochte noch keine hundert Schritte gegangen sein – sprang ein Mann aus dem Schatten, in dem er sich verborgen gehalten, hervor und drang mit erhobenem Arm auf ihn ein.

Aber der Bajazzo hatte den Mann im Schatten bemerkt, und als er jetzt auf ihn zustürzte, bog er sich rasch zurück und streckte die Arme vor. Diese Bewegung rettete ihm das Leben, und der wütend geführte Dolchstoß, der ihn sonst unfehlbar getötet hätte, traf nur den Arm.

»Ha, Schurke,« rief er.

Als der Mörder seinen Anschlag vereitelt sah, entwich er eilenden Laufs.

Das ist sicher der edle Ritter Lagors, da wird der andere Kumpan auch nicht fern sein, dachte der Bajazzo.

Indessen schmerzte ihn die Wunde empfindlich. Er stellte sich unter eine Gaslaterne, um sie zu besichtigen, sie schien ihm nicht sehr gefährlich, doch war sie sehr breit und blutete heftig. Er verband sie mit seinem Taschentuch, das er in Streifen riß, so gut es angehen wollte und setzte seinen Weg gedankenvoll fort.

Ich muß sehr bösen Dingen auf der Spur sein, wenn sie zum Dolche greifen, dachte er. Man setzt sich doch nicht einer Geringfügigkeit willen der Gefahr aus, ins Zuchthaus zu kommen.

Der Bajazzo ließ, trotzdem ihm seine Gedanken lebhaft beschäftigten, die Vorsicht nicht außer acht, er vermied die dunkeln Ecken und hielt sich mitten auf der Straße. Trotzdem er niemand sah, war er überzeugt, daß seine Verfolger in der Nähe waren und richtig, als er bei einer Kreuzung die Straße überschritt, gewahrte er zwei Gestalten, die ihm wohl bekannt waren.

»Es sind geriebene Schufte,« sagte sich der Bajazzo, »die sicher schon mehr derartige Abenteuer bestanden haben, sie folgen mir ganz offenkundig. Jetzt wollen sie mich nicht mehr umbringen, sondern sie wollen ganz einfach wissen, wer ich bin. Es wird schwer halten, sie auf falsche Fährte zu locken. Der Spaß mit dem Wagen, auf den Fanferlot hineingefallen ist, würde bei ihnen nicht verfangen, die sind zu schlau. Die Schurken sind mir knapp an der Ferse und ich kann weder nach Hause noch in den Erzengel gehen; denn, wenn sie herausbekommen, daß hinter dem Bajazzo ein Detektiv steckt, dann ist's mit meinen Plänen vorbei, dann fliegen mir meine Galgenvögel davon – Geld haben sie ja, die Schufte – und ich hätte das Nachsehen, samt meinen Unkosten und dem Messerstich.«

Der Gedanke, daß ihm die Spitzbuben entwischen könnten, brachte ihn so auf, daß er Lust bekam, sich ihrer gleich zu versichern, das wäre sehr einfach gewesen, er brauchte nur nach einem Schutzmann zu rufen, der sie dann alle drei aufs Polizeikommissariat führen würde. Aber was wäre das Resultat? Gegen Raoul lagen genügend Beweise vor, aber gegen Clameran? Da sprachen nur Vermutungen; es mußten also erst Tatsachen gesammelt werden und darum ließ der Bajazzo seine Idee, einen Stadtsergeanten zu seiner Hilfe anzurufen, wieder fallen. Indes mußten die Verfolger um jeden Preis irregeführt werden – er konnte unmöglich länger mehr mit seinem schmerzenden Arm ziellos durch die Vororte wandern.

Ein Entschluß war bald gefaßt und raschen Schrittes eilte er vorwärts. Als er mehrere Straßen kreuz und quer gewandert war, blieb er plötzlich stehen, zwei Schutzleute kamen ihm entgegen, er grüßte und fragte sie um eine unbedeutende Auskunft.

Sein Kunstgriff hatte die erwartete Wirkung, Raoul und der Marquis blieben in einiger Entfernung zurück und wagten sich nicht vorwärts.

Dieser Vorsprung genügte dem Bajazzo, noch während er sprach, läutete er an dem Hause, vor welchem sie standen, als er den Riegel klirren hörte, grüßte er die Schutzmänner und trat rasch in das geöffnete Tor.

Sobald sich die Wachmänner entfernt hatten, näherten sich Clameran und Lagors dem Hause und läuteten ebenfalls.

Sie fragten den Hausmeister, wer der Mann wäre, der eben in einem Maskenanzug nach Hause gekommen sei?

»Ich weiß von keiner Maske,« entgegnete der Hausmeister, »von unseren Mietern war niemand auf einem Ball soviel ich weiß, es muß ein Fremder gewesen sein, der nur durchgegangen ist, denn das Haus hat rückwärts noch einen zweiten Eingang.«

»Wir sind betrogen,« rief Lagors, »und werden nun und nimmer herausbringen, wer dieser Bajazzo ist!«

»Wenn wir es nur nicht zu unserem Schaden allzubald erfahren,« antwortete der Marquis nachdenklich.

Während die beiden Spießgesellen voll Besorgnis ihren Heimweg einschlugen, flog der Bajazzo wie ein Pfeil dem »Erzengel« zu.

Prosper, der am Fenster lehnte und ihn schon von weitem erblickte, eilte ihm entgegen. »Kommen Sie endlich?« rief er, »seit Mitternacht erwarte ich Sie und jetzt ist es drei Uhr! Haben Sie Magda gesehen? Waren auch Raoul und Clameran anwesend? Haben Sie etwas erfahren?«

»Gedulden Sie sich wenigstens, bis wir in Ihrem Zimmer sind, hier ist doch wahrlich nicht der Ort für vertrauliche Mitteilungen,« antwortete der Gefragte, »übrigens, geben Sie mir vorerst etwas Wasser, damit ich meine Wunde auswaschen kann, sie brennt wie Feuer.«

»Um Gottes willen, Sie sind verwundet?«

»Ja, ein kleines Andenken von Ihrem lieben Freunde Raoul. Nun, er soll nicht so leichten Kaufes davon kommen!«

Prosper half Verduret den Arm verbinden und dann sagte dieser: »Ich hatte mich getäuscht, ich war der Meinung, daß Frau Fauvel ein sträfliches Verhältnis mit Raoul unterhalte. Ich dachte, um unauffälliger mit ihm verkehren zu können, habe sie dem hübschen Abenteurer den Namen eines ihrer Verwandten gegeben und ihn ihrem Manne als Neffen vorgestellt. Sie hat ihm ihr ganzes Geld, dann ihren Schmuck – den er ins Leihhaus getragen, gegeben, und als sie nichts mehr besaß, ließ sie ihn die Kasse ihres Mannes berauben. – So dachte ich mir die Sache.«

»Und auf diese Weise ließe sich alles erklären.«

»Nein, nicht alles, und das habe ich zuerst übersehen. Wie wäre Clamerans Einfluß zu erklären?«

»Er ist einfach Raouls Mitschuldiger.«

»Das ist eben der Irrtum. Auch ich habe Raoul für die Hauptperson gehalten, aber nun weiß ich, daß er nur das Werkzeug in den Händen des anderen ist. In einem Streit, den Josef gestern erlauschte, sagte Clameran: Übrigens, mein Junge, laß es dir nicht einfallen, mir zuwider handeln zu wollen, ich würde dich zerschmettern wie Glas. – Das läßt tief blicken. Clameran hält alle in seinen Teufelskrallen, Raoul, Frau Fauvel und selbst Magda muß ihm gehorchen.«

Gegen letztere Behauptung lehnte sich Prosper auf. Verduret begnügte sich, die Achsel zu zucken. Er hätte ihm ja einen vollgültigen Beweis, durch die Mitteilung von der Verlobung, die er aus Clamerans eigenem Munde hatte, geben können, allein er wollte ihm den Schmerz ersparen, war er ja doch überzeugt, daß es ihm rechtzeitig gelingen werde, die Heirat zu verhindern.

»Woher Clameran die Macht über Frau Fauvel hat,« fuhr Verduret fort, »ist ein Rätsel, dessen Lösung nicht in der Gegenwart, sondern in der Vergangenheit zu suchen ist. Es handelt sich also darum, Clamerans Vergangenheit in Erfahrung zu bringen. Ich habe heute zufällig den Namen seines Bruders Gaston ausgesprochen und da erschrak er so, als sähe er ein Gespenst. Dann erinnerte ich mich, daß Gaston während eines Besuches seines Bruders plötzlich gestorben ist.«

»Glauben Sie denn an einen Mord?«

»Ich kann von Leuten, die einen meuchlings überfallen, alles glauben. Die beiden Schurken mögen mancherlei auf dem Gewissen haben. – Wenn es sich nur mehr um den Diebstahl handelte, wäre die Sache sehr einfach, denn darüber bin ich nicht im geringsten im unklaren.«

»Wie, wär's möglich . . .? Sie wüßten . . .?« rief Prosper hoffnungsfreudig bewegt.

»Ja, ich weiß, wer den Schlüssel hergegeben, und ich weiß, wer das Stichwort verraten hat.«

»Den Schlüssel kann man allenfalls Herrn Fauvel entwendet haben, aber das Stichwort . . .?«

»Das haben Sie unglücklicherweise selbst preisgegeben! Sie staunen! Erinnern Sie sich nicht mehr daran? Nun, zum Glück hat Fräulein Nina ein besseres Gedächtnis. Zwei Tage vor dem Diebstahl beklagte sie sich – es war gerade Gesellschaft bei Ihnen, Ihr Freund Raoul war auch darunter – daß Sie sie nicht mehr liebten. Wissen Sie noch, was Sie zur Antwort gaben, Sie unvorsichtiger Mensch? Sie sagten: Du tust Unrecht, mir Mangel an Liebe vorzuwerfen; Beweis, daß ich stets an dich denke, ist, daß eben jetzt dein geliebter Name die Kasse meines Chefs behütet!«

Prosper schlug sich vor die Stirn, ja, jetzt erinnerte er sich, er hatte dem Sekt fleißig zugesprochen und leichtsinnigerweise das Stichwort verraten.

»Nun wird Ihnen auch das übrige klar sein. Lagors oder Clameran, einer von den beiden, hat Frau Fauvel gezwungen, den Schlüssel ihres Mannes herauszugeben und konnte nun leicht mit dem Stichwort die Kasse öffnen und das Geld entwenden. Die arme Frau müssen sie mit schrecklichen Drohungen eingeschüchtert haben, sie war am Tage nach dem Diebstahl ganz krank und sie war es, die, ungeachtet aller Gefahr, Ihnen die zehntausend Frank geschickt hat. Nun fragt es sich, wer war der Dieb, Raoul oder Clameran, und wer verleiht ihnen eine solche Macht über Frau Fauvel? Und wie kommt es, daß Magda in diese Schändlichkeiten verwickelt ist? All diese Fragen sind noch offen und darum gehen wir noch nicht zum Untersuchungsrichter. Lassen Sie mir noch acht Tage Zeit, mein lieber Prosper, und wenn ich dann nicht alles Wünschenswerte entdeckt habe, dann gehen wir zu Herrn Pertingent und erzählen ihm, was wir wissen – indes denke ich – meine Reise wird nicht fruchtlos sein.«

»Wie, Sie wollen verreisen?«

»Ja und zwar sogleich, ich fahre nach Beaucaire, denn aus dieser Gegend stammen Clameran und Frau Fauvel, die eine geborene Gräfin von Laverberie ist; dort will ich mich über beide Familien genau erkundigen. Raoul und sein würdiger Freund werden inzwischen nicht entwischen – übrigens ist ja Josef da. Aber Sie, lieber Prosper, bitte ich, seien Sie vorsichtig. Versprechen Sie mir, während meiner Abwesenheit den Erzengel nicht zu verlassen.«

Prosper gab das Versprechen, doch ehe Verduret ging, konnte Prosper sich nicht enthalten, zu fragen: »Darf ich noch immer nicht erfahren, wer Sie sind und welchen Umständen ich Ihre Hilfe, Ihre mächtige Unterstützung verdanke?«

Der sonderbare Mann lächelte traurig.

»Ich werde es Ihnen in Ninas Gegenwart am Tage vor Ihrer Hochzeit mit Fräulein Magda sagen.«

Prosper hielt sein Versprechen, er blieb den ganzen Tag in seinem Zimmer und wagte kaum, den Kopf zum Fenster hinauszustecken, aus Furcht, gesehen zu werden. Zweimal schrieb ihm Verduret, daß alles gut ginge und er die Geduld nicht verlieren solle.

Prosper verlor auch die Geduld nicht, nur am siebenten Tage nach Verdurets Abreise bekam er heftiges Kopfweh, er hatte schon einige Nächte schlecht geschlafen und meinte, ein kleiner Spaziergang würde ihm gut tun.

Frau Alexandrine wollte ihn nicht gehen lassen, aber er sagte: »Jetzt ist es zehn Uhr abends, wer soll mich denn da in diesem fremden Stadtviertel sehen? Ich will nur ein bißchen in den Kaianlagen auf und ab schlendern und komme gleich wieder zurück.«

Er ging, dehnte aber seinen Spaziergang weiter aus und als er an einem Kaffeehaus vorüberkam, bekam er Lust, ein Glas Bier zu trinken. Er trat ein, ließ sich an einem Tischchen nieder und während der Kellner das Verlangte brachte, griff er mechanisch nach einer Zeitung, aber er hatte kaum einen Blick hineingeworfen, als er sich, wie vom Blitz getroffen, niedergeschmettert fühlte. Das Blatt enthielt die Verlobungsanzeige der Nichte des Bankiers André Fauvel mit dem Marquis Louis von Clameran.

Die schreckliche Nachricht regte Prosper so auf, daß er vollständig den Kopf verlor, er vergaß sein Verduret gegebenes Versprechen, sich ruhig zu verhalten und ihm ganz zu vertrauen; er war nur von dem einen Gedanken beseelt: die Heirat müsse hintertrieben, Magda aus den Krallen dieses Schurken befreit werden! Warten? Konnte, durfte er es? Wie, wenn Verduret zu spät käme? Nein, Magda mußte um jeden Preis gerettet werden!

Prosper ließ sich vom Kellner Papier, Tinte und Feder geben und ohne zu bedenken, daß ein anonymer Brief immer eine Gemeinheit und eine Feigheit ist, schrieb er mit verstellter Schrift:

»Herrn André Fauvel.

Sie haben Ihren Kassierer dem Gerichte überliefert, weil Sie ihn für unredlich hielten. Aber, wenn Sie meinen, daß er Ihre Kasse beraubte, glauben Sie, daß auch er es war, der die Diamanten Ihrer Frau ins Leihhaus getragen? An Ihrer Stelle würde ich die Sache nicht wieder bei Gericht anzeigen, sondern vorher ein wenig meine Frau überwachen, auch würde ich, aufrichtig gestanden, fremden, plötzlich dahergeschneiten Neffen etwas mißtrauen. Was aber den ehrenwerten Herrn Marquis von Clameran betrifft, so täten Sie vielleicht gut, ehe Sie den Heiratskontrakt Ihrer Nichte unterzeichnen, auf die Polizei zu gehen und sich nach ihm zu erkundigen.

Ein Freund.«

Nachdem der Brief geschrieben war, bezahlte Prosper eilig und ging. Es drängte ihn, sein Schreiben zur Post zu bringen und er fürchtete, es könnte vielleicht zu spät kommen.

Kein Bedenken über seine Handlungsweise stieg in ihm auf, bis zu dem Augenblick, als er den Brief in den Sammelkasten steckte, ihn losließ und das dumpfe Geräusch des Falles hörte.

Hatte er recht getan? fragte er sich, hatte er nicht überstürzt gehandelt, etwa gar Verdurets Pläne gefährdet? Seine Bedenken verwandelten sich in bittere Selbstvorwürfe und er hätte den Brief am liebsten wieder zurückgenommen, wenn es angegangen wäre.

Als er nach Hause kam, fand er eine Depesche von Verduret vor, worin er seine Ankunft für den nächsten Abend anzeigte und guten Erfolg meldete.

Prosper war über seine Unbesonnenheit in reiner Verzweiflung und erwartete mit Bangen des Freundes Rückkehr.

Dieser erschien zur angekündigten Stunde, er war sehr aufgeräumt und brachte ein umfangreiches Manuskript – seine Aufzeichnungen für den Untersuchungsrichter – mit.

»Sie sollen eine hübsche Geschichte zu hören bekommen,« sagte er zu Prosper, »daraus werden Sie sehen, daß ich recht hatte, als ich behauptete, die erste Ursache eines Verbrechens liegt oft in der Vergangenheit. Auch in bezug auf den Diebstahl bei Fauvel bewahrheitet sich dieser Satz. Doch nun hören Sie.«

Verduret setzte sich in seinem Lehnstuhl zurecht, schlug sein Manuskript auf und begann zu lesen:


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