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13

So fuhr er nun wieder, ein wortkarger, stiller Mann, in seiner, wie von einem Waldbrand verödeten und von Rauch und Nebel durchzogenen Seele nichts weiter als, gleich Nebelfetzen, die Erlebnisse und Gestalten jener schrecklichen Fahrt, und das dumpfe, gleichgültige Mißtrauen gegen das Leben und gegen die ganze Welt. Er machte es sich in diesen dumpfen, bittren Gedanken so recht heimisch, indem er sich immer wieder alle Einzelheiten der Fahrt vor die Seele stellte. Mit dumpfem, gleichmütigem Lohn verglich er das Schicksal der Guten und Bösen: des alten bösen Kapitäns vor der Hütte und seines zarten, mißhandelten Gegners, des zierlichen, behenden Mannes in seinem schönen Gartenzimmer und der beiden armen Gefährten in der Kirche auf Sylt, die er sich sehr düster dachte. Er sah sie alle wie im Nebel hantieren, hörte undeutlich ihre Reden und Gegenreden und sah ihre Gesichter; aber er wußte nicht, wie sie hießen, und von wo und wie sie in sein Leben gekommen waren.

Wie ihm nun so im Lauf von drei, vier Jahren dieser neue Zustand, nämlich diese stumpfe, kalte Schwermut, sozusagen heimisch und handlich wurde, kam doch allmählich und sachte ein stilles Wundern und Suchen über ihn, ein Begehren, in den Nebel hineinzudringen, um zu sehen, was in ihm wäre, oder um ihn herumzugehen. Er sagte sich, daß doch irgend etwas dahinter vorhanden sein müßte, ein Land, in dem bekannte Menschen und Dinge wohnten. Aber wenn er ein wenig hineinzudringen versuchte, kam alsbald die Furcht über ihn, daß er sich darin verirren und verwirren könnte.

So kam ihm allmählich der Gedanke, mit irgendeinem guten und klugen Menschen über seinen Zustand und seine Sache zu sprechen, und also gewissermaßen in dessen Begleitung hineinzudringen. Es verging aber ein Jahr und noch eins, und es waren in diesem Zustand fünf Jahre vergangen, und er hatte bei seiner Schwerblütigkeit und jetzigen Scheuheit noch keinen gefunden, der ein rechter Mann dazu wäre, die verzwickte Geschichte anzuhören.

Als sie aber eines Tages im Hafen von Montreal in Canada lagen und er in die innere Stadt gegangen war, um sich einmal im dichten Menschentreiben zu ergehen, und in einer Wirtschaft saß, gefiel ihm ein Mann im langen schwarzen Rock, den man in Deutschland Lutherrock nennt, offenbar ein Pastor. Es schien, daß er Vermögensstücke, Bahnaktien oder dergleichen, verkauft oder gekauft hatte, wahrscheinlich für seine Gemeinde, und daß er mit seinem Handel zufrieden war. Er saß mit einigen seiner Farmer, die ihn zu größerer Sicherung des Unternehmens begleitet hatten, und sprach über Aktien, Tarife, Weizenpreise, Vereinigte Staaten und Gott, und sprach weltklug und fromm zugleich, und war bei Whisky und Wasser in jene behagliche Großartigkeit geraten, die sich noch zu verbreitern wünscht und eine Disputation mit dem Teufel als höchstes Vergnügen unternehmen würde.

Jan Guldt fühlte das undeutlich und hatte ja mit so etwas Ähnlichem aufzuwarten, hatte auch ein unbewußtes Gefallen an der ländlichen, baumfesten Frömmigkeit, obgleich er selbst völlig aus ihr herausgefallen war und nichts mehr von ihr wußte. Er schob seinen Stuhl an den Pastor heran, stieß seine Pfeife auf der Lehne ab, und sagte: »Reverend, darf ich Ihnen eine Geschichte erzählen?« Und nun legte er das Wrackstück seines Daseins vor ihn hin, das, was ihm allein von seinem ganzen Leben übrig geblieben war: die Fahrt zu dreien; und machte zum Schluß eine Bewegung mit der Hand, die bedeuten sollte: Mehr ist da nicht.

Der Pastor hatte erst seine kurze Pfeife sinken lassen, die er quer im Mund gehabt hatte, dann die breiten Schultern und zuletzt fast das Herz, als er diese dunkle Geschichte hörte und merkte, daß der hagere Mensch mit dem vergrübelten edlen Gesicht weiter nichts in der Seele trug. »Es war da Meer,« sagte Jan Guldt, und fuhr mit seiner Hand sachte über die Lehne des Stuhles ... »und wir schwebten darüber, und machten uns dann unterwegs.« Und schwieg mit offenem Mund, der Antwort gewärtig.

Der Pastor nahm als erstes seine Pfeife wieder auf, aber noch ganz aus Gewohnheit, dann auch die Schultern; dann allmählich straffte sich auch sein munteres Herz wieder. Er sagte leise und unsicher: »Sie haben alles vergessen: Eltern, Namen, die ganze Jugend, mit allen Gespielen? Es muß ein furchtbares Ereignis in Ihr Leben getreten sein.« Und er sah noch einmal eindringlich in das Gesicht. Da sah er die tiefliegenden Augen und die starken Knoten über den Augen und die verwegene Schroffheit des ganzen Gesichts und sagte, gewissermaßen langsam und sprungbereit an die wunderliche Sache heranschleichend, mit tastender Stimme: »Wäre es vielleicht möglich, daß Sie eine Art von ›Benüsselung‹ getroffen hätte?!«

»Was ist das?« sagte Jan Guldt, der das englische Wort nicht verstand.

»Das will ich Ihnen genau sagen,« sagte der Reverend, schon sicherer. »Als ich gestern im Zug hierherfuhr, sah ich von ungefähr auf einer Wiese, auf der noch vom Urwald her einige alte Bäume standen, einen jungen Bullen, wie er einen von diesen alten Bäumen ins Auge faßte. Er faßte ihn scharf ins Auge. Er bog sich ordentlich ein wenig zurück, um ihn noch schärfer ins Auge zu fassen. Dann beugte er den Kopf, und dann rannte er, Schädel voran, gegen ihn an. Mir schien, ich hörte fast den dumpfen, mächtigen Krach. Dann stand er, völlig betäubt, benüsselt wie wir es nennen, die Beine gespreizt, bewegungslos, und ich nehme an, ohne alle Erinnerung früherer Wiesen und Freunde. Ich halte für möglich, daß dies Ihr Zustand ist. Sollte es wohl möglich sein, daß Sie, so wie der Stier gegen den Baum rannte, den er hätte stehn lassen, um den er friedlich hätte grasen sollen, so Sie gegen Gott und Welt gerannt sind? Was meinen Sie dazu?«

Der arme Jan Guldt suchte einige Zeit vergebens in seinem verschütteten Gehirn; dann öffnete er langsam seine linke Hand, in der er die Pfeife hielt, sah tiefsinnig in die innere Handfläche und sagte mit seiner tonlosen Stimme: »Ich habe hier in der Hand, sehen Sie, diese vier weißen Narben. Ich habe nie gewußt, woher ich sie etwa haben könnte: aber vor ungefähr einem Jahr, als wir in Wladiwostok Felle luden und der faule headman der Schauerleute mich drei Tage lang ärgerte und ich ihm am vierten an die Kehle sprang, da schmerzten mich diese Wunden. Also mögen Sie wohl recht haben.« Und indem er von neuem in seine Hand sah, sagte er zögernd zu sich selbst: »Mir ist jetzt auch, als wenn sie damals, als ich nach London unterwegs war, frisch bluteten, ja, als wenn ich an einer weißen Straße saß und sie betrachtete.« Er hob wieder den Kopf und sagte: »Aber was sollen die, gegen die ich dann so rasend angegangen bin, mir getan haben? Was ist das für ein alter Kaptän, der da mit dem andern am Feuer vor der Hütte saß; und wer ist der kleine Mann im Gartenzimmer; und wer sind die beiden, die mit mir waren, die dann nach der Kirche auf Sylt gingen? Ich weiß deutlich – ich höre noch den Ton seiner Stimme –, daß der Knabe sagte: ›Kirche auf Sylt.‹ Und was habe ich mit dem Herrgott solchen ungeheuren Krach zu machen, mit dem Herrgott, der mir ganz fremd ist?« Und er machte eine Bewegung mit der Hand, als wenn er einen Straßenhändler mit seinen Siebensachen von sich schob.

Der Reverend wiegte mißbilligend den breiten biedern Kopf hin und her; dann sagte er ernst: »Ich enthalte mich, darüber zu urteilen, ob jene Wesen, gegen die sich Ihre Raserei gerichtet hat, sich wirklich gegen Sie vergangen haben, zumal was den letzten angeht, der, in meinen Augen, über jegliche menschliche Beurteilung erhaben ist ...«

»So, so,« sagte Jan Guldt, »verzeihen Sie, Reverend. Aber sagen Sie, ob Sie mir raten können, was ich etwa tun könnte, damit es allmählich wieder klar in mir würde.« Und er fuhr mit einer raschen Bewegung mit seinem rotbunten Tuch rund ums rotblonde Haar, wo der Schweiß in Perlen stand.

Der Reverend hatte die Pfeife wieder voll in Gang und freute sich, daß das Gespräch den sumpfigen Boden verließ und auf die feste Straße einbiegen wollte, auf der er jeden Sonntagmorgen marschierte. Er tat einen ordentlichen Zug aus seiner Pfeife und sagte: »Wenn ich einen Menschen sehe, der in seiner Art weichlich, breit und lässig ist, so sage ich zu dem: ›Du mußt dich gerade und stramm halten, Tapferes, Kriegerisches lesen, mit festen Männern Umgang haben.‹ Wenn ich aber einen sehe« – und er sah in Jan Guldts stilles Gesicht, in dem die wilde Kühnheit nur schlief – »der Neigung hat, die Zügel, an denen die ewige Macht uns führt, zwischen die schäumenden Zähne zu nehmen und gradeswegs gegen die Wand der Welt zu stürmen, dann sage ich zu dem: ›Halt dich zu Bäumen, Kindern und Frauen, und lern' von ihnen das Gütige und Sanftmütige; und, wie es in der heiligen Schrift heißt: demütige dich unter die gewaltige Hand Gottes.‹« Und er wischte sich über Stirn und Augen, wie er nach jedem Abschnitt seiner Predigt zu tun pflegte.

Jan Guldt merkte, daß es nun weiter nichts gab, nickte bedächtig, trank sein Glas aus, und nickte noch mehrere Male still vor sich hin. Dann bedankte er sich und ging.

Er nahm sich nun wirklich zusammen, und versuchte freundlich und mitteilsam zu werden, und die erstarrte Seele an dem Lieblichen der Welt zu erwärmen. Wenn er in einen Hafen kam, ging er stille Wege unter Bäumen und hörte den Vögeln zu, und sah den Kindern zu, die da spielten, ob ihm nicht in diesen Bildern die eigene Kindheit erschiene. Er sprach auch Frauen an, die wohl das Alter der Mutter haben konnten, ob ihnen nicht plötzlich das Gesicht der Mutter über die Schulter sähe. Aber er erinnerte nichts. Mit dem empfohlenen Bibelwort konnte er nichts anfangen, da ihm jeder Sinn für Gewaltiges, wie großer Zorn, großer Eifer, große Liebe, verloren gegangen war.

In solchem Zustand kam er sechs Jahre nach jenem Ereignis an einem frühen hellen Wintertage zum erstenmal wieder die Elbe hinauf, jetzt erster Offizier des Schiffes.

Er hatte bei seinen wenn auch schwachen Grübeleien über seine Vergangenheit auch die Sprachen mit in Betracht gezogen, die er verstand, und hatte erst gemeint, daß er von Kind auf Englisch gesprochen, da er bei seiner jetzigen Schwerfälligkeit und Wortkargheit diese Sprache leicht genug dachte und handhabte, und auch in den ersten Jahren eine nur Englisch sprechende Mannschaft an Bord war. Daß er dann, als er eines Tages im Munde einiger Matrosen das Plattdeutsche hörte, feststellte, daß er auch das verstand, konnte ihn nicht wundern, da es gesprochen wird, so weit auf der Erde Meereswogen gehn. Als er aber eines Tages in einem amerikanischen Hafen auch hochdeutsche Rede verstand, erschien es ihm wahrscheinlich, daß er ein Deutscher wäre. Darum fuhr er mit einiger Unruhe nach Hamburg hinauf.

Aber er fuhr an Blankenese und Oevelgönne vorüber, die in dünnem, stiebendem Schnee lagen, und empfand nichts; und sah die grünen Türme und die hohen alten Häuser am Hafen und erinnerte nichts.

Da fuhr er in aller Winterkälte, in schneidendem Ostwind, nach Norden hinauf, nach den ›Gewürzinseln‹, wie der Seemann drollig sagt, kam trotz des Frostes glücklich nach Sylt hinüber, fand die Kirche, wie er sie undeutlich im Gedächtnis trug, sprach ein heimliches Wort mit dem jungen Pastor – der kann's bezeugen –; und saß eine lange Winternacht in der Kirche von Keitum, dumpf wartend, ob er seine Gefährten sähe oder doch spürte, oder an dieser Stelle sonst irgendeinen kleinen Fetzen seines verschollenen Lebens sähe und erfaßte. Aber er saß da vergebens.

Und als er am neunten Tage die Elbe hinabfuhr, schwieg auch der Strand von Oevelgönne und Blankenese wieder, obgleich nun auf seinem Sand und seinen Bäumen ein goldener Rest des Herbstes lag.

Es vergingen wieder einige Jahre, ohne daß der Zustand sich änderte, und es kam das siebente Jahr, das am Körper und Geist des Menschen oft eine wunderliche, geheime Rolle spielt. Da ereigneten sich bald nacheinander zwei Begebenheiten.

Die Alberta, deren Kapitän er nun war, lag im Hafen von Valparaiso und löschte Stückgut und war damit fertig und sollte gegen Abend wieder in See gehn. Da legte sich ein Hamburger Kosmosdampfer Heck an Heck neben sie. Als er festmachte, fiel ihm auf, daß der Kapitän des Hamburgers aufmerksam, und dann verwundert, nach ihm herübersah. Er achtete es aber weiter nicht.

Als er gegen Abend am Heck stand, um den Tiefgang abzulesen, trat der Kapitän des Hamburgers ebenfalls an sein Heck, als wenn er dasselbe vorhätte, sah dann aber auf, lüftete die Mütze und sagte auf Englisch: »Erlauben Sie: haben wir uns nicht gekannt, als wir ein Jahr lang zusammen in Blankenese, da an der Elbstraße, zur Schule gingen?« Da der Verstörte scheu den Kopf schüttelte, fuhr der Hamburger fort: »Ich bitte um Entschuldigung; aber ich glaubte sicher, daß es so wäre.« Damit hob er wieder seine Mütze und trat zurück.

Als der Kapitän der Alberta aber dann in der folgenden Nacht auf der Brücke hin- und herging, immer hin und her, und immer dachte: ›Blankenese?! Blankenese?!‹ und sich das Bild des ganzen Strandes da vor Hamburg, den er vor einigen Jahren gesehn hatte, in Erinnerung rief, war ihm, als wenn er fern im Dämmer und Nebel etwas sehn könnte, das er kennen wollte und müßte, so wie man im Nebel einen hellen Fetzen sieht, ist es ein Segel oder eine Nebelwand? Blankenese? Blankenese? Aber so scharf er auch in die Nacht hineinstarrte, er konnte nichts erkennen, als vielleicht einen Knaben, den die Mutter aus der Tür ließ, und der dann, die Schiefertafel unterm Arm, einen Weg bergan trabte.

Drei Monate später fuhr die Alberta die Themse hinauf nach London, und er stand in Unterhaltung mit dem Lotsen und sah zufällig, an einer flachen sandigen Stelle am Ufer, einen jungen Menschen auf einem Boot sitzen, und sah unwillkürlich noch einmal wieder hin, und zum drittenmal, und dachte, in sich verwundert: ›Was geht dich der junge Mensch an, der da mit wehendem Halstuch auf seinem Boot sitzt!?‹ Da kam ein Mädchen, so von fünfzehn Jahren, aus dem Hause unweit des Boots, ging auf den Jungen zu und reichte ihm etwas. Er meinte, es wäre Brot, und meinte zu sehn, daß sie es mit langem, ausgerecktem Arm gab, wie wenn er bissig wäre. Da durchzuckte es ihn, daß sich sein ganzer Körper erregte, und in dem jähen, heißen Wunsch, mehr zu sehn – als wenn es galt, den Nebel beiseite zu schieben – schlug er mit der Hand hin und her, daß der Lotse dachte, der Kapitän neben ihm wäre von Wespen umflogen. Aber er sah nichts weiter, als daß er so wie jener und mit wehendem Halstuch auf einem Boot saß und ihm Eine ein Stück Brot reichte. Er wußte aber nicht, ob es seine Schwester oder Liebste war, und starrte mit finstern Augen in den grauen Nebel, der auch in Wirklichkeit über der Themse lag.

Es war ihm aber nach diesem Ereignis, als wenn es nun doch heller werden wollte, und er lebte nun unbewußt in einer unruhigen Erwartung, die ihn zur rechten Zeit auch fähig machte, deutlicher zu sehn.

So kam endlich, nach zwei Jahren, die Lösung.

Da lief die Alberta zwei unbedeutende Hafenplätze Südspaniens an und lud Schwefelkies. Dann fuhr sie nach Norden, ihrem Bestimmungsort Hamburg zu. Als sie nun die Biscaja fast schon durchfahren hatte, nicht weit vom Kanal, kam ein Sturm auf. Das Schiff war vollbeladen und arbeitete besonders schwer, wie es bei Schwefelkiesladung zu sein pflegt; es hatte aber weiter keine Gefahr, da es stark gebaut und gut instand war.

Als sie schon ein oder zwei Stunden mit dem Sturm gekämpft hatten, kamen zwei Mann, von denen einer ein Deutscher war, auf das Aufbaudeck, um eines der Boote besser zu sichern. Durch das schwere Rauschen der See hörte er zuweilen einige Worte, die sie einander zuriefen.

Er hörte dies und das, worauf er nicht achtete. Dann hörte er, daß der Deutsche davon sprach, ob wohl der ›preußische Grenadier‹ bald sichtbar würde. Dieser Ausdruck, den Hamburger Matrosen für den schwarz-weiß gestrichenen Leuchtturm von Uschant brauchen, berührte ihn wunderlich, so als wenn von einem alten, bösen Lied ein verwehter Ton widerklang. Es kam, ihm unbewußt, eine weiche empfängliche Stimmung über ihn, die zugleich ängstlich war.

Gegen Abend sahen sie das Feuer von Uschant. Die See wogte weit in wilden kabbligen Wogengängen; Schaum jagte in merkwürdig breiten Streifen darüber hin. Der Mond ging auf.

Gegen zehn Uhr abends wurde von einer überstürzenden See die eiserne Treppe gelockert, die vom Aufbaudeck hinabführte. Gleich darauf ging der zweite Offizier, ein großer, vierschrötiger Mensch, die Treppe hinunter. Da das Deck gerade von einer See überlaufen war, sah es aus, als wenn er direkt ins Meer stieg. Da war ihm, als wenn er genau dies Bild schon einmal gesehn hatte: solche stürmische Mondnacht, auf dem Aufbaudeck neben dem Boot in Lee, und ein großer, starker Mensch geht die Treppe hinab in den Tod, und am Rand der nächtigen See ein Feuer, und er wußte, daß es das Feuer von Uschant war. Es durchschauerte ihn seltsam, und er atmete in schwerer Erregung mühsam.

Als er noch so stand, kamen die beiden Matrosen, der Amerikaner und der Deutsche, wieder in seine Nähe, um das Boot, das viel auszuhalten hatte, noch einmal zu laschen. Während sie sich die Handgriffe zuriefen, hörte er, wie der Deutsche laut und stoßweise, zwischen dem Brausen und Rauschen der Natur, sagte: »Hier ist vor zehn oder elf Jahren die ...« den Namen verschlang eine donnernde See – »untergegangen. Man meinte ... mit Mann und Maus ... Aber nachher ... der dritte Steuermann ... auf Sylt ... in Keitum in der Kirche ... denke dir ... ist er gesehn worden ... hat die ganze Nacht da gesessen ... ist 'n Blankeneser Kind ... hat in Altona die Steuermannsschule besucht. Der Untergang hat ihn wohl verrückt gemacht ... was versteckt er sich sonst und irrt in der Welt umher? Er soll'n Wüterich gewesen sein. Die, die ihn früher gekannt haben, sagen noch manchmal: »Ich kann alles, sagt Jan Guldt.«

Er hörte es. In seiner Seele wogte es; und Himmel und Erde wogten mit, in rotem, brausendem Nebel.

In dem Augenblick kam eine mächtige See und gierte bis zu seinen Füßen herauf, daß es war, als wenn das Schiff unter ihm wegsank. Da fuhren leuchtende, glühende Blitze durch seine Seele. Einer nach dem andern, bündelweise, schlugen sie vor ihm nieder und erfüllten die ganze Welt mit ihrem Licht. »So stand ich ... auf einem elenden Schiff ... ich stand in rasendem Zorn ... Solches Wetter riß mich in die See ... Ewige Mächte, sagt mir ... Anna Hollmann!« schrie er, und warf, geblendet von dem hellen Schein, die Hand vor die Augen. »Die Hollmanns! Der Großvater, ihr böser Knecht! Der Bootsmann! Der blasse Knabe! Der Untergang! Der wilde, rasende Zorn! Im Meer treibend, zwischen den Zähnen des Todes ...«

Der zweite Offizier kam wieder die Treppe herauf, sah ihm ins geistrige Gesicht und sagte entsetzt: »Was ist, Kaptän?« und griff nach seiner Schulter. Er schüttelte den Kopf und winkte dem Mann zur Seite, und stand und sah übers Meer. Es ging erst gegen Mitternacht ... Er aber sah in ein Land, über dem es unter wildem Wetterleuchten tagte.


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