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Als er unter solchem täglichen Umgang und einseitiger Unterhaltung vierzehn Jahre alt geworden war, und sich schon nach einem Schiff umsah, seine erste Reise zu machen, fand er eines Sonntagmorgens in aller Frühe ein kleines unansehnliches Boot am Strand, dem eine Schiffsschraube das Heck zerschlagen hatte. Er geriet in heißen Eifer, lief auf einen kleinen Hamburger Turnerzug zu, der in weißen Jacken und singend des Weges kam, und bat mit eiligen Worten, ihm das Boot zu bergen, bevor die alten Fischer kämen, die sich sonst immer solch Gut aneigneten. Die fahrenden Jungen hatten Freude an dem Knaben, der mit seinen heißen Augen vor ihnen stand, und waren von dem Auftrag, der Gelegenheit gab, Kraft und Gewandtheit zu zeigen, sehr erbaut. Sie liefen gleich vier Mann hoch zu Wasser, holten es heraus, zogen es über den Sand, faßten an und trugen es ihm in den Garten. Dann zogen sie frischer singend weiter.

Nun lag das Boot in dem versteckten kleinen Garten zwischen den kurzen krummen Pflaumenbäumen; und die Sonnenlichter glitten bei jedem leisen Windzug, der durch die beiden Bäume fuhr, flatterig und spielig, und völlig ohne Ernst darüber hin und her; und er zweifelte immer mehr, ob er es wieder instand bringen könnte. Um damit kurz ein Ende zu machen, sagte er zu sich selbst: ›Will ich es nun? Oder will ich es nicht?‹ und sagte zu seiner Mutter, die aus der Küche heraussah: »Ich habe es bei mir abgemacht, Mutter; ich will nicht eher wieder essen, als bis mein Boot ein neues Heck hat. Also reden wir nicht von Essen und Trinken bis dahin.«

Nun fing er damit an, die zersplitterten Enden der Planken säuberlich abzusägen. Dann zeichnete er auf einen alten eichenen Tonnenboden, den er lange gehegt hatte, die Umrisse des neuen Spiegels ab; dann sägte er ihn aus dem Brett heraus, was große Mühe machte; dann half er noch mit dem Brotmesser nach, das alle Augenblicke geschärft werden mußte. Er arbeitete so heftig, daß bei jedem Windzug, der durch die Pflaumenbäume ging und die Sonnenflecke hin- und herjagte, die Schweißtropfen rund um sein rotblondes Haar funkelten.

Als seine Mutter, die dann und wann aus dem kleinen blinden Küchenfenster heraussah, merkte, daß die Arbeit so in den zweiten Tag hineingehen würde, kam sie in Sorge um ihn. Da sie ihn aber kannte und wußte, daß er ihr echter Sohn war, stand sie vor Morgengrauen auf und brach ein großes Stück Brot ab, wickelte es in ein Stück Papier und legte es unter den alten Stachelbeerbusch, als wenn etwa ein Matrose, der des Weges kam, es dahin geworfen hätte. Er sah es auch da liegen und roch den Brotgeruch, und wußte auch gleich – da er seiner Mutter Sohn war –, wie es dahin gekommen war; er hielt aber an sich, bis das Boot am Nachmittag dicht und fertig war.

Am folgenden Tage machte er sich wieder an die Arbeit, gab dem Boot noch Mast und Steuer, und machte aus einem gelblichen, viel geflickten Bettlaken, das der leichtfertige Matrose eines Fischevers bei seiner Mutter gelassen, und offenbar völlig aufgegeben und vielleicht gar vergessen hatte, ein leidliches Segel, und brachte auch das übrige zustande. Am selben Abend noch rief er seine Spielkameraden, sie möchten ihm sein Boot zu Wasser bringen, das von seines Vaters Zeiten her noch im Hühnerstall gelegen hätte und nun von ihm repariert wäre.

Sie kamen und stellten sich rundherum und beurteilten es mit lauter Stimme, und stritten lange und heftig über seine Dichtigkeit und Schwimmkraft und dergleichen. Dann besannen sie sich plötzlich, daß sich ja dies alles sofort erweisen würde, wurden plötzlich still, faßten an und trugen das kleine Ding hinunter.

Nun wollte der Zufall, daß ein älterer Junge der Nachbarschaft, vom Fenster seines Elternhauses her, den kleinen Zug entdeckte. Er war eben von seiner ersten Reise in die Tropen mit Malaria heimgekehrt und saß gelangweilt in seiner Mutter Haus, und wartete auf Dinge, die ihm nicht paßten, und besonders auf Jan Guldt, der so voll Leben war; denn er war, abgesehen von der Malaria, auch schon von Natur grämlich, und ein wackerer Feuerlöscher. Er sah sofort die sonderbar abgehackte und plumpsige Form des Bootes, sprang aus der Tür, griff mit seinen gelben, mageren Händen in sein dünnes, helles Stoppelhaar und lachte mit seinem runden, schlaffen Gesicht überlaut: »Hallo! ein Stapellauf! Kommt her, Jan Guldt läßt ein Boot vom Stapel!«

Das hörten einige von den alten Fischern und einige Kinder, und dachten: ›Was hat Paul Grien? Was jault er da, während er sonst immer nur mault?‹ und kamen aus allen Ecken hervor und gingen mit. Die Alten sagten: »Gotts Dunner! Er hat dem kleinen Ding den Stert abgeschlagen und einen neuen angesetzt.« Die Kinder lachten, waren auf Jan Guldts Seite, den sie liebten, wie Kinder das Feuer lieben, und sagten prahlig: »Jan Guldt kann alles, was er will! Er höhlt ein Sechsgroschenbrot aus: da ist es ein Boot.« Paul Grien riß sein gelbes, schlaffes Gesicht in die Länge und schrie noch lauter: »Seht, Jan Guldts Sechsgroschenbrot! Nein  ... Jan Guldts Rundstück!«

So kam eine ziemliche Zahl von Menschen zusammen. Es gab ein Hallo und Gedränge, und da der gelbe Grämling die Träger auch noch anstieß, kam das Boot mit einem heftigen Aufstoß gegen die Stacksteine zu Wasser. Jan Guldt sprang hinein.

Da wollte ein guter Freund von ihm, Karl Kröger, eine schlichte, biedere Seele, ihm zeigen, daß er alles mit ihm trüge, und gerade auch jetzt auf seiner Seite stünde. Er sprang hinterher, und sagte ruhig wie ein alter Bootsmann: »Laßt das dumme Lachen! Hände weg!« und stieß von Land.

Das Boot lag wunderlich im Wasser, so als wenn es verlegen war und nicht recht wagte, sich hinzulegen, vorn zu hoch und hinten zu tief, und hatte noch dazu durch den Stoß ein Leck bekommen, durch das ein zierlicher kleiner Wasserstrahl hineinschoß.

Karl Kröger meinte bedenklich, sie sollten sich lieber am Strand halten. Aber Jan Guldt saß mit finsteren Augen, hielt Steuer und Großschot, und richtete den Kurs geradeaus nach dem Sand hinüber. Da grade Stauwasser war, gab es keinen Abtrieb; auch war der Wind günstig. So kamen sie rasch hinüber und rutschten, halb voll Wasser, auf den Strand.

Er stieg aus und ging ein wenig auf den Sand hinauf und sah mit einem Gesicht nach Blankenese hinüber, als wenn er es fressen wollte, und rührte sich nicht. Karl Kröger schöpfte das Wasser aus dem Boot, riß sein großes rotes Taschentuch in Fetzen und stopfte das Leck. Als er es gut genug gedichtet hatte, rief er ihn, daß er wieder einstiege. Aber er hatte sich völlig in Zorn verbissen; schüttelte den Kopf und lachte verständnislos: »Er sollte wieder zu diesen Menschen hinüber? O nein! Nie wieder! Viel lieber hier auf dem Sand verhungern, als mit solchem Pack zusammenleben.« Und als wenn er sich an solchen und anderen Worten erst recht vergiftet hätte, drehte er sich um und ging nach den Büschen, die am Ende der Insel stehn.

Da fuhr sein Freund allein zurück und wurde mit großem Wundern und Lachen empfangen. Aber dann gingen sie auseinander, lachten und meinten, dieser oder jener würde wohl hinüberfahren und ihn heimholen; und kümmerten sich nicht weiter um ihn.

Karl Kröger aber sorgte um ihn. Er konnte aber den folgenden ganzen Tag nichts für ihn tun, da er seiner Mutter zur Hand gehn mußte, die ebenfalls eine Seemannswitwe war. Der Wind hatte eine dünne Stelle ihres Strohdachs aufgerissen, und nun saßen beide auf dem Dach und nähten es, er draußen, sie drinnen. Er schalt in seiner Unruh unaufhörlich, daß sie die Nadel so langsam einfädelte, die er hindurchsteckte, und sagte alle Augenblicke: »Mutter, neih too!« Sie aber suchte drinnen im Dunkeln vergeblich den Nadelkopf; denn er sah alle Augenblicke nach dem Sand hinüber, ob er Jan Guldt sehen könnte, und stach schräg hindurch, und hörte mit gerunzelter Stirn, wie es dumpf aus dem Dach klang: »Wo is dee Nadel? Wo is dee Nadel?« Als das Dach am Abend endlich dicht war, ging er eilig nach Jan Guldts Haus.

Er schlich herum und sah durchs Fenster in die Stube. Als er von Jan Guldt nichts sah, öffnete er vorsichtig die Tür und steckte die Nase hinein. Christiane Guldt saß zur Seite auf dem steinernen Herd; neben ihr auf dem Tische lagen in Haufen Strümpfe und Hemden, und sie arbeitete.

Er fragte mit tiefer und gedämpfter Stimme, wo ihr Sohn wäre.

Sie sah gar nicht auf und sagte in ihrer unfreundlichen, buffigen Art: »Was geht Euch an, wo Jan Guldt ist? Und wenn er tot ist?«

»O,« sagte er mit breiter Würde »ich habe ihm immer beigestanden, all meine Lebtage!«

Sie sah nicht auf; aber sie erkannte seine Freundschaft soweit an, daß sie noch einmal den Mund auftat und mit ihrem harten Mißtrauen hervorstieß: »Sie haben sein Boot entzwei geschlagen! Und sie haben es mit Willen getan! Sie sind ebenso schlecht, alle miteinander, wie die Hollmanns.«

Er zog sein Gesicht aus der Tür und klinkte sie sachte wieder zu. Indem er aber das tat und den leisen, vorsichtigen Klang der Klinke hörte, fuhr es ihm eigen durch den Sinn, so, als wenn Jan Guldt ebenso wie er durch diese Tür gekommen wäre, so vorsichtig schweigend, und daß die Tür dabei ebenso sachte geklinkt hätte. Er stutzte und dachte in seiner einfachen und treuen Seele: ›Was ist das? Er ist doch auf dem Sand?‹ Aber im nächsten Augenblick war ihm plötzlich klar, daß Jan Guldt dagewesen war. Woher wußte sie sonst, daß sein Boot entzwei war? Von ihrem Hause aus konnte sie es nicht sehen; und sie hatte sicher mit keinem Menschen geredet. Er war also in der Nacht herübergeschwommen und dann wieder zurück! Er sah ordentlich den rotblonden Kopf da so einsam in der Nacht in den Wellen treiben.

Er kam wieder nach Haus; und da er mit seinen vierzehn Jahren schon längst regierender Herr war, sagte er zu seiner Mutter: »So und so ist es. Und darum will ich mir diese Nacht um die Ohren schlagen und sehn, ob Jan Guldt vom Sand herüberkommt.«

Er stand also eine Stunde lang oben auf der Mauer im Schatten junger Linden und sah den hellen Strand auf und ab, und in die blaue Nacht hinein, in der Himmel und Strom beieinander lagen und schliefen, und überdachte und übersann in aller Gemütlichkeit und Ruhe alle die wunderbaren Dinge, die er, wenn er erst zur See führe, auf fernen Meeren, auf dem Wasser, und an bunten Küsten, und am Himmelsbogen sehn und erleben wollte. Gerade vor ihm lag auf dem Strand das unglückliche Boot, das noch kein Mensch anzurühren gewagt hatte. So saß er eine oder zwei Stunden. Als dann immer noch nichts geschah, schien ihm, daß er ebensogut sitzend Wache halten könnte. Er setzte sich also auf die Mauer, lehnte den Kopf gegen die Linde und schlief ein.

Als er vom kühlen Morgenwind erwachte, und sich besann, wo er war, sah er Jan Guldt in der Dämmerung unten an dem Boot schaffen. Er arbeitete so heftig und redete dabei so heiß vor sich hin, daß es in der heiligen Morgenstille herüberklang. Seine Mutter, die sonst das ganze Jahr das Haus nicht verließ, stand neben ihm und half nach Kräften. Eben hatte sie einen großen Stein in Händen, der bestimmt war, das Boot vorn tiefer zu legen.

Karl Kröger rutschte von der Mauer herab und trat hinzu und fing an, mitzuarbeiten, und dachte: ›Wenn ich nur ein einziges Wort, und gar eins von Vertragen oder Liegenlassen oder dergleichen sage, so wirft er sich sofort wieder in die Elbe;‹ und schwieg und arbeitete. Als sie fertig waren – der Morgen graute schon – ging die Mutter davon.

Da schoben sie das Boot ins Wasser und Jan Guldt stieg hinein. Sein Freund fragte, ob er mitfahren sollte; aber er schüttelte den Kopf. Da gab Karl Kröger dem Boot noch einen Stoß, daß es vom Land kam, und sah ihm eine Weile nach und freute sich, daß es nun ordentlich lag, und ging dann bedächtig nach Haus.

Er trank behaglich und langsam seinen Morgenkaffee, wobei er seiner Mutter eine bedächtige Rede über den verfallenen Zustand ihres Strohdachs hielt, und die Neudeckung der ganzen westlichen Seite vorschlug, und die Kosten zusammenrechnete. Dann ging er nach der Gewohnheit der Blankeneser, als am Sonntagmorgen, wieder nach dem Strand und nach der Landungsbrücke.

Nachdem er sich die Menschen etwas angesehen hatte, und besonders die Hamburger, die schon auf dichtbesetzten Booten herankamen, mit kühlen Augen begutachtet hatte, sah er sich nach Jan Guldt um, und entdeckte ihn gleich, wie er da im frischen Wind vor der Brücke hin und her kreuzte, um den Leuten zu zeigen, wie sein braunes Strandgut jetzt schön liefe. Vor und hinter ihm kreuzten, einzeln und in Haufen, große und kleine Segler, die von Oevelgönne herunterkamen. Und nun erschien noch zwischen ihnen eine weiße vornehme Yacht, die an der Stenge den Hahn der Hollmanns trug, den sie im Hamburger Hafen den Geier nennen.

Ob es nun so war, daß Jan Guldt in der Hitze sich in der Entfernung oder in dem Laufe der Yacht versah, oder daß aufschießender Haß ihn nach dem Geier hinzog, oder daß der kleine schlanke Mann in Weiß, der das Steuer hielt, wirklich absichtlich nach Backbord hielt, um das kleine braune Ding zu ängstigen und zu raken: Jan Guldt lag plötzlich quer vorm Bug der Yacht, und einen Augenblick später auf dem gelben geflickten Bettlaken im Wasser, neben der steilen weißen Yachtwand; und wurde von der Hand eines wollmützigen Matrosen an Deck gezogen.

Er stellte sich an den Mast, an dem er sich hielt, und sah scheinbar nach seinem Boot, das langsam und kläglich, das Segel im Wasser, stromab trieb; in Wahrheit wußten sein rasender Zorn und all die überstürzenden Gefühle nicht, wie sie alle zugleich herausbrechen sollten. Der Mann in Weiß, der kurz aufgelacht hatte, hielt ruhig auf die Brücke zu, auf der halb Blankenese sich drängte, streifte sie mit schlagenden Segeln, und rief Jan Guldt zu, daß er sich rühre und davon mache.

Da wandte er sein rasendes Gesicht mit funkelnden Augen zu ihm und schrie mit gellender, sich überschlagender Stimme: »Du? Du hast meinen Vater und meinen Großvater umgebracht!? Wolltst du mich auch umbringen?! Du Lump?!« und indem er mit dem Arm hinwies, schrie er: »Das ist der Hollmann, der seine Leute versaufen läßt ... der ... der ...«

In dem Augenblick drängte sich der gelbe Paul Grien atemlos durch die Menge, sah Jan Guldt durchnäßt dastehen, begriff die Sache und schlug vor Freude auf seine Schenkel, und lachte und schrie laut in die Stille. Da sprang Jan Guldt von der Yacht auf die Brücke und stob durch die zur Seite weichenden Menschen hindurch und lief nach dem Strand.

Hans Hollmann gab mit unbeweglichem Gesicht die nötigen Befehle. Die Haken seiner Leute ließen die Brücke, und die Yacht mit dem Hahn im Topp glitt wieder in den Strom.

Karl Kröger lungerte am anderen Vormittag stundenlang um das Haus Jan Guldts; bekam ihn aber nicht zu sehen. Spät abends wagte er, die Tür aufzuklinken und das Gesicht hineinzustecken. Die Mutter saß wie immer auf dem Herd und arbeitete, umgeben von den grauen Haufen Wollenzeug. Als er mit sachter getragener Stimme, welche die wohlüberlegte und ruhige Bedächtigkeit seiner Auffassung beweisen sollte, fragte, wo Jan Guldt wäre, sagte sie, bitter auffahrend: »Jan Guldt? Jan Guldt?« und riß eine grobe Wolljacke durch die Finger, um die schadhaften Stellen zu suchen. »Ihr trachtet ihm ja nach dem Leben! Ihr und der Hollmann! Aber du kannst glauben, daß er's dem Paul Grien und den Hollmanns gedenken wird, wenn er groß ist! Mach', daß du wegkommst!«

Da schloß er die Tür sachte wieder zu und ging langsam nach dem Strand und kam zu dem Boot, das angetrieben war und aufgerichtet dalag. Da sah er, daß Jan Guldt sein buntes Taschentuch, auf dem die drei Türme von Hamburg gedruckt waren, an den Mast gebunden hatte, und zwar halbmast. Er sah es eine Weile an und machte sich seine Gedanken, und fand richtig, daß Jan Guldt also nun an ganz Blankenese verzweifelt war und nach Hamburg auf und davon gegangen war.


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