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9

Die Anna Hollmann war nach dem Tode des zweiten Maschinisten noch acht Tage auf dem Fluß und an der Küste; dann kroch sie, kaum fünf Knoten die Stunde, nach Madeira zu.

Der Kapitän brachte ein überladenes Schiff heim und hatte auch gute Privatgeschäfte gemacht. Er strich seine Schnurrbartenden, daß sie starr wie Heidebesen standen, und trug seinen hölzernen Kopf noch steifer. Der Koch zählte wieder und wieder das Geld, das er am Tabak und am Reis für die Neger verdient hatte, und fand wieder, wie immer auf der Rückreise, daß es lange nicht genug wäre, und fing an, heftiger am Proviant zu sparen. Der Maschinist stand am Sonntag morgen im frischen Hemd an der Reeling, hielt jedem Vorübergehenden dringlicher seine Mahnrede und ging dann eiliger in seine schmutzige Maschine hinunter, als stiege er in seine eigene schmutzige Seele. Der erste Offizier sah seine ewige Hoffnung, Kapitän zu werden, gegen Ende der Fahrt immer wieder schwinden; es ging ihm, je näher dem Ziel, Mut und Glaube aus; er schlich demütiger und stiller hinter dem Kaptän her. Der zweite ging seine Wache und redete in seiner Kammer lauter und zärtlicher mit dem Bild seines Mädchens, da das Wiedersehen näher kam. Die Mannschaft schimpfte, daß sie ihr Lebtag kein Hollmannschiff wieder betreten wollten; und trösteten sich mit Hamburg, das sie in drei Wochen erreichen sollten.

Zwei hörten und sahen von dem allen wenig. Sie sahen sich, wenn sie aneinander vorübergingen, mit raschen, forschenden Augen an, und warteten, ob der andere nicht wieder von der großen Sache anfinge, die ihre Seelen erschütterte; und warteten auf Madeira.

Und eines Morgens, unter blauem Himmel und weichem Wind, lag es wie ein Blumengarten auf dem blauen Meer. Um zehn waren sie, von Booten umschwärmt, auf der Reede; abends, gegen acht, war das Schiff schon wieder rein. Da wurde der erste Offizier an Land geschickt, Herrn Hans Hollmann zu holen.

Jan Guldt hatte noch viel mit dem Übernehmen von Früchten zu tun, und noch sonst allerlei Arbeit, und keine Zeit, sich umzusehn. Die Maschine fing wieder ihren mühsamen, stoßenden Gang an, und die Anna Hollmann fuhr wieder in See; und er hatte immer noch zu tun. Es war zehn Uhr, als er endlich so weit war, sich vor seiner Wache, die um zwölf anfing, noch einige Stunden hinzulegen.

Als er sich seiner Kammer näherte, hörte er ein Stöhnen und Röcheln, daß er die Tür aufriß und in den dunkeln Raum hineinrief, was da wäre. Er bekam keine Antwort. Da machte er Licht, und sah den Bootsmann auf dem Fußboden sitzen, mit verglasten Augen, wie einen Schwerkranken, ja wie einen Sterbenden; sein Atem ging rasselnd ein und aus, als wäre ihm die Kehle verriegelt, und sein Gesicht war von wilden Schmerzen verzerrt. Er nahm ihn aus und versuchte, ihn auf den Rand der Koje zu setzen, wobei er ihm gut zuredete, und ihn fragte, was denn geschehen wäre. Der Kranke gewann auch allmählich soweit die Sprache wieder, daß Jan Guldt verstand: Der an Bord Gekommene wäre nicht der Chef des Hauses, sondern ein Knabe gleichen Namens, »ein lütten Jung«, wie er sagte, also wohl ein Neffe oder Vetterssohn.

Jan Guldt war vor den Kopf geschlagen. Wozu nun all der Schmutz und die Entbehrung, und die Gefahr im Fieber und auf dem schlechten alten Kasten! Er hatte so deutlich den Glauben gehabt, als winkte ihn Gott auf die Anna Hollmann. Er schüttelte den Bootsmann, diesen falschen Boten Gottes, und sagte mit wilden Augen: »Sag' mir jetzt: warum wolltest du, daß ich auf die Anna Hollmann ginge? Quälen dich die vielen bösen Fahrten mit dem alten Jan Guldt, und sollte der junge dich auf gute Gedanken bringen? Und was hast du mit Hans Hollmann zusammen verbrochen? Du sollst es mir jetzt sagen! Heraus damit!« Und er schüttelte ihn, wie wenn er es herausschütteln wollte, und schrie immer wieder: »Heraus damit!«

Der Bootsmann saß geduckt und stier da, das Kinn in die Brust gebohrt, die Augen auf den Boden und ließ Jan Guldt wüten. Als der aber nicht nachließ, sagte er mühsam, mit ringendem Atem: »Es ist nicht allein das mit Jan Guldt ... all die vielen schlechten Fahrten ... Als Jan Guldt und Heinrich Hollmann in Brasilien gefangen genommen waren und wir zurückkamen, da kam hier in Madeira Hans Hollmann an Bord und fuhr mit uns nach Hamburg. Er hatte eine ältere Verwandte bei sich, die hatte eine Jungfer mit an Bord gebracht, ein kleines Ding, noch ganz jung. Die wollte er haben. Aber sie wollte ihn nicht. Wenn sie ihn bloß sah, schrie sie schon. Da sagte er an einem windigen und regnerischen Tag zu mir ... in der Biscaja ..., ich sollte sie nach der Ecke am Gang locken, da wo wir neulich an der Reeling besserten ...« Er schrie laut auf und wand sich in furchtbaren Schmerzen.

»Weiter!« sagte Jan Guldt, und stieß ihn hin und her, als wollte er ihn zerbrechen, und die Geschichte aus den Trümmern nehmen.

»Da wollten wir sie fangen,« sagte der Bootsmann wimmernd. »Ich sollte Geld haben und nachher auch das Mädchen. Als sie aber plötzlich merkte, daß wir sie greifen wollten, und sie unsre Gesichter sah und sich nicht retten konnte, verlor sie Sinn und Verstand ... und sprang über Bord ... Sie sagten nachher, sie hätte Selbstmord begangen, und Hans Hollmann ging in Hamburg frei an Land. Ich aber konnte nach all dem Schrecklichen, das ich an Bord der Anna Hollmann erlebt hatte, nicht mehr weggehn. Ich mußte dableiben und im Geist alles immer weiter sehn und weiter tun, was ich gesehn und getan hatte. So fahr' ich nun vierzig Jahr mit all dem Schreien und Röcheln und mit all den Toten, die rundum im Wasser treiben.«

»Und nun?« sagte Jan Guldt. »Was sollte nun geschehn?« Und stieß ihn hart hin und her.

»Ich dachte immer ...« sagte der Bootsmann, und preßte seine knochigen Hände fest ineinander. »Ich dachte immer, Hans Hollmann würde noch einmal an Bord kommen und mit mir fahren, und dann sollte Gott Erbarmen haben und uns mit der alten verfluchten Anna Hollmann in die Tiefe nehmen, und dem Jammer, in dem ich bin, ein Ende machen. Und da hörte ich eines Tages: Auf der nächsten Fahrt kommt er an Bord! In Madeira, wo er damals auch an Bord kam! Und an demselben Abend, als ich diese Nachricht bekam, traf ich dich! Und du gingst mit! Der Enkel von dem bösen Jan Guldt, der mich in all das Stöhnen und Sterben gebracht und mich gelehrt hatte, es gleichgültig anzusehn! Da dachte ich: Nun werden wir alle drei wieder auf der Anna Hollmann sein! Nun gehn wir Schmutzigen mit der schmutzigen Anna Hollmann in die Tiefe und sinken bis in die Mitte der Erde!« Und er lachte mit wildem, verzweifeltem Hohn und schlug mit den geballten Händen seinen grauen Kopf.

»Weiter!« sagte Jan Guldt. »Weiter!« und würgte ihn.

Der Bootsmann griff nach seinem Hals und sagte, als er wieder Luft gewann: »Die Anna Hollmann hat in den letzten drei Jahren kein schweres Wetter erlebt. Und nun kommt das! Ich weiß es! Es kommt schweres Wetter! In der Biscaja ... Und da geht sie unter. Denn sie ist ganz und gar, und durch und durch verkommen und verdorben. Und Hans Hollmann ist nicht da!« Und plötzlich hob er beide Hände zu Jan Guldt und jammerte flehentlich: »Sag' mir, was ist das? Was ist das für eine Welt? Er soll mit uns! Jan Guldt und Hans Hollmann haben sich an meinem Leben vergriffen, sie haben mich in Sünde und Fluch gebracht ... mein ganzes Leben in Schmutz und Blut ... Die Gesichter! ... All die Jahre! Und wie das Mädchen schrie, als es auf der Reeling stand! Du bist hier ... Hans Hollmann soll auch hier sein! Er soll hier sein! Er soll mit hinunter!« Er verfiel in Raserei, knirschte mit den Zähnen und wand sich an der Erde.

Jan Guldt stand mit finsteren Augen und sah auf ihn herab, ratlos und verstört. Dann riß er sich zusammen und ging hinaus.

Draußen stellte er sich ans Ende des Ganges an die Treppe, und suchte sich zu besinnen. ›Was sagte der alte verzweifelte Sünder? Die Anna Hollmann ist verdorben und mürbe und geht unter? Und ich mit? Ich, der gerechte und unschuldige und schmucke Jan Guldt? Der nächste Sturm drückt uns ins Wasser? Stehen da unten im Westen nicht schon kleine graue Wolken? Irrsinn! Wahnsinn! Wenn es so kommt ... ah, da will ich doch noch ein Wort mitreden! Das lasse ich mir nicht gefallen! O nein! Da geh' ich dagegen an ... wenn es so kommt ... bis in den Tod hinein! Ja ... durch den Tod hindurch! Das sollte ich mir gefallen lassen?! O nein! Nein! Habe ich Hans Hollmann harte Dinge ins Gesicht hinein sagen wollen, so wollte ich mit Gott noch ganz anders reden ... wenn die Sache den Weg läuft!‹

Als er noch so stand, in Zorn und Hochmut am ganzen Leibe bebend, und Gott anknirschte, hörte er eine freundliche Kinderstimme hinter sich, sah sich aufs höchste überrascht um und sah einen Knaben von etwa dreizehn Jahren vor sich, schmal von Gliedern und Gesicht, mit blauen, überklaren Augen und dunkelblondem, weich gewelltem Haar. Man sah seiner ganzen Erscheinung an, daß seine Sinne der Schönheit nachgingen. Er fragte höflich, wo wohl der Bootsmann wäre; er könne einen seiner Koffer nicht öffnen.

Jan Guldt war nach seiner Weise gleich bei der Sache und bei der Hand. »Ich will es selbst versuchen,« sagte er, holte einiges Geschirr, und kniete bald in dem kleinen behaglichen Raum vor dem Koffer und sprach trotz seiner Erregung mit herzhafter Stimme und Art über den Fall. Im Nebenraum kramte eine ältere bäurische Frau, seine Begleiterin, in Koffern und Wäsche.

Die frische natürliche Art des jungen Schiffsmannes machte den Knaben wohl zutraulich. Er sprach dies und das. Dann nahm er sich ein größeres Herz und sagte langsam, und man merkte, wie er Sicherheit täuschte: »Ich bin schon viermal in Madeira gewesen, wegen meiner Lunge, die etwas bedenklich ist ... es wird aber besser mit ihr. Zweimal fuhr ich mit einem Woermann und zweimal mit der Hamburg-Bremer Afrika-Linie, noch niemals mit einem unsrer eignen Dampfer. Es kommt mir aber vor, als wenn die Leute hier auf der Anna Hollmann mindestens ebenso vergnügt und freundlich sind, wie auf den andern Schiffen.«

Jan Guldt hörte, worauf der Knabe hinauswollte, lag sofort auf der Lauer, und sagte ebenso tastend: »Warum sollten sie denn nicht ebenso vergnügt und freundlich sein?«, und sah ihn, noch unsicher, mit kalter Erwartung an.

Da fühlte der Knabe, daß seine innersten Gedanken erkannt wären, und zugleich, daß er auf unerbittlichen Widerstand und harte Wahrhaftigkeit stieße, und sein Gesicht überzog sich jäh mit Röte.

Da zuckte es blitzhell durch Jan Guldts Seele: ›Licht! Licht! Darum bin ich auf die Anna Hollmann gekommen! Ich soll diesem Knaben sagen und ihm zeigen, wie es mit den Hollmannschiffen steht, damit er einst, erwachsen und Mitchef der Firma, der Schmach ein Ende macht und der Herr starker Schiffe wird.‹ Und er sagte kurz und brott, recht als ein Jonas vor Niniveh: »Die Schiffe, mit denen du gefahren bist, sind gut, und gut imstande, und die Leute auf diesen Schiffen haben es gut; aber die Hollmannschiffe sind schlecht, und schlecht gehalten, und die Leute auf ihnen haben es schlecht.«

Die Lippen des Knaben zitterten heftig, und in seiner Kehle schluckte ein heißes Weinen auf. Er suchte es zu bezwingen und würgte mühsam die Worte heraus: »Sie haben es mir in der Schule ... auf dem Spielplatz ... schon dreimal gesagt.«

Sie schwiegen eine Weile. Jan Guldt arbeitete mit einer gebogenen Wiere im Schloß und sah gerecht und finster darein; der Knabe schluchzte leise.

»Wenn du groß bist,« sagte Jan Guldt sicher und siegreich, »und ein Wort mitzureden hast, so in zehn Jahren, mußt du sorgen, daß es anders wird. Du mußt nicht dulden, daß die Firma, wie jetzt, vom Hunger und Not und Tod anderer Menschen lebt, sondern vom redlichen Verdienst, der übrig bleibt, wenn die Arbeiter ihr anständiges Leben und Teil bekommen haben, so wie andere Reeder es auch machen.«

Der Knabe hob das Gesicht, das er an der Erde gehabt hatte, und versuchte, mit einer altklugen kurzen Bewegung beider Hände, die dem künftigen Mann eigen gewesen und gut gestanden hätte, zu zeigen, daß diese Sache bereits durchaus feststände, und sagte: »Ich will nicht eher zufrieden sein, als bis unsere Reederei ebenso vornehm ist wie die anderen.«

Jan Guldt jauchzte inwendig in heller Freude. ›Gott war groß; und Jan Guldt sein tapferer Anwalt!‹ »Wenn du willst,« sagte er, »so besuch' mich morgen in meiner Kammer, dann will ich dir alles erzählen, was ich von der Anna Hollmann weiß. Ich will dir auch alles zeigen, wie es hier ist, und dir erzählen, wie es auf den Schiffen anderer Reedereien steht und hergeht.«

»Ich komme,« sagte der Knabe, »ich will alles genau wissen, daß mich nachher niemand belügen kann.«

»Dann weißt du,« sagte Jan Guldt mit alter sicherer Weisheit, »wie ein einfacher Mann alle diese Dinge ansieht, und wie ihm zumute ist, und kannst deine Sache gut machen, und kannst doch reich werden ... Sieh, dein Koffer ist offen ... Nun geh' ich ...« Und wischte sich mit dem schönen weißen Taschentuch, die er sich bei seiner Standeserhöhung, damals, nach bestandenem Examen, gleich gekauft hatte, den Schweiß weg, der ihm rund ums rotblonde Haar stand.

Er ging hinaus und kam wieder in seine Kammer und stieß den Bootsmann, der gebückt mit den Fäusten an den Schläfen, auf der Koje saß, an die Schulter, und sagte mit froher, sieghafter Stimme: »Du, Bootsmann, ich weiß jetzt, warum ich auf die Anna Hollmann gekommen bin! Ich, der Enkel von dem alten bösen Jan Guldt, werde dem Enkel von dem alten bösen Hollmann erzählen und zeigen, was seine Väter verbrochen haben! Er ist ein guter Mensch! Mit ihm werden die Hollmanns andere Leute werden! Siehst du, so ist es!«

Der Bootsmann hatte die Hände vom Haar genommen und sah Jan Guldt mit blinden Augen an. »Er ist gut?« sagte er. »Er ist gut, sagst du?« Und er nickte höhnisch und lachte wild auf. »So! Ja! Dann kannst du sicher sein, daß die Anna Hollmann versaufen wird! Die guten Hollmanns müssen immer weg, entweder sie sterben an Schwindsucht, oder es geht ihnen wie Heinrich Hollmann in Brasilien, oder wie diesem. So war es immer bei ihnen. Die Guten gehen ab. Nun weiß ich sicher, daß wir in den Tod fahren! Und Hans Hollmann ist nicht da! Wo ist Hans Hollmann? Er soll mit! Er soll mit!« Und er schrie und verfluchte Gott, daß seine Welt ein verruchtes Narrenhaus wäre, und schlug mit der geballten Faust seinen grauen Kopf. »Er soll mit! Er soll mit zu Wasser! Er soll mit in den Tod.«

Jan Guldt saß ihm gegenüber auf dem Stuhl neben dem blinden Bullauge, die geballten Fäuste auf den Knien, nun doch plötzlich wieder von den grausen Zweifeln befallen. »Ich ... untergehn? Ich ... mit der Anna Hollmann?« Das Haar sträubte sich ihm in rasendem Zorn. »Ich? Dagegen kämpfe ich bis in den Tod. Ja ... durch den Tod hindurch! Das soll Er sehn!«


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