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5

Er setzte sich aufrecht, nahm seine Bücher auseinander und fing an, sie zu durchblättern; und wurde allmählich ruhiger, und merkte, daß er bei seiner guten Schulbildung und einer angeborenen Begabung für Messen und Rechnen leicht damit fertig würde. Da fragte er die Alte, ob er, so wie diese Nacht, ferner auf der Bank schlafen und arbeiten könnte; er wolle es ihr vergelten, wenn er das Examen bestanden hätte. Als sie ihm das gleich zusagte, fragte er, ob sie wohl irgendwo Arbeit für ihn wüßte. Sie dachte eine Weile nach, dann meinte sie, es wäre das Beste, er ginge zu dem Bootsbauer Bruhn, der ein menschenfreundlicher Mann wäre, erzählte ihm sein Mißgeschick mit dem Geld und bäte um Arbeit. Soviel sie ihn kennte, würde er dann Arbeit und Essen haben.

Da warf er die Bücher zusammen und ging hinaus. Als er unten vor dem Platz des Bootsbauers ankam, blieb er stehen und sah über die Boote weg, die in allen Formen und Lagen auf dem Platze verstaut waren, nach der Werkstatt dahinter, die schon weit und breit offen stand. Es war aber kein Mensch zu sehen; sie waren wohl beim Morgenbrot. Er stand noch unschlüssig, ob er hier warten oder hinaufgehen sollte, da kam hinter einem stattlichen Segelboot, das hochkant lag, ein altes Volkslied hervor, so klein und fein gepfiffen, daß er anfangs nicht darauf geachtet hatte. Er dachte nicht, daß er sich mit dem Stimmchen über seine große ernste Sache unterhalten könnte; aber es war vielleicht vorteilhaft, daß er sich auf irgendeine Weise auf dem Platz ansiedelte, und ging hinüber. Da kniete da ein Mädchen von fünfzehn oder sechzehn Jahren, mit duffem strohfarbenem Haar und grünlich schimmernden Augen, und pinselte an der Bootsseite und pfiff dazu, und fror dabei im Morgenwind, der ihr das graue Kleid und die hellsten und losesten Strähne Haares zur Seite wehte. Sie war so grau und schmal, verfroren oder verhungert, daß er enttäuscht war, obgleich er nach dem dürftigen Gepfeife wenig genug erwartet hatte. Als sie ihn aber sehr kühl und prüfend ansah, und, was besonders ins Gewicht fiel, nicht aufhörte zu pfeifen, hielt er es für gut und richtig, sie für die einzige Tochter des Bootsbauers zu halten, und fragte freundlich, ob sie wohl meinte, daß er hier auf der Werft für einige Stunden nachmittags Arbeit fände. Er wäre aber kein Bootsbauer, sondern ein Steuermannsschüler.

Sie hörte zu pinseln auf, tauchte den Pinsel vorsichtig in die alte Konservenbüchse, die neben ihr stand, und sagte kühl und gleichmütig: »Das ist ja komisch.«

»Warum komisch?« sagte er zornig. »Ich habe mein Geld verloren, bis auf den letzten Groschen.«

»So!« sagte sie kühl, als wenn sie nun die ganze Sache und den ganzen Mann übersah und machte ein hochmütiges und wissendes Gesicht: »In den Wirtschaften von Sankt Pauli natürlich!«

»Nicht auf Sankt Pauli!« sagte er heftig. »Ich bin noch nicht fünfmal in meinem Leben auf Sankt Pauli gewesen! Es ist mir aus der Lade gestohlen. Karl Kröger, der jetzt hier in Oevelgönne zu Hause ist, kann es bezeugen.«

Sie ließ den Pinsel sinken und staunte: »Oh, dann sind Sie wohl Jan Guldt, der damals auf der Brücke in Blankenese den Hollmann ausgeschimpft hat?« Und indem sie noch einmal rasch zu ihm aufsah, sagte sie etwas unsicher, da sein seltsames kühnes Gesicht sie verwirrte: »Karl Kröger schreibt mir immer Ansichtskarten.«

»So,« sagte er höflicher, »ich habe Ihre Karten immer gelesen. Sie sind Eva Gött...«

»Wenn er im Sommer hier ist, segeln wir zusammen,« sagte sie, »mit diesem Boot, das uns beiden zusammen gehört.«

»So,« sagte er, »sind Sie mit dem Bootsbauer hier verwandt?«

»Nein,« sagte sie, »meine Eltern wohnen dort;« sie zeigte mit dem Pinsel nach dem Nebenhaus. »Mein Vater ist früher Kapitän an der Chinaküste gewesen und lebt jetzt von seinem Geld. Aber ich steh' mich ganz gut mit dem Bootsbauer Bruhn.«

»Das wäre!« sagte er spöttisch, sah bald nach der großen Werkstattür, und bald auf sie nieder, und hatte ein süß-zorniges Gefallen an ihr; und hätte ihr gern was am Zeuge geflickt, da er so, fast wie ein Bittender, vor ihr stehen mußte. Es brieste wieder neu auf, und Haar und Kleid flogen wieder. »Sie könnten noch wegfliegen,« sagte er. »Sie müssen sich am Farbtopf festhalten.«

Sie sah eifrig pinselnd zu ihm auf und sah das Gefallen, das in seinen Augen lag, und sagte spöttisch, während ihr ein leises unruhiges Gefühl von Glück in die Kehle stieg: »Ich denke doch, Sie würden so höflich sein, und mich nicht fliegen lassen.«

»Über alle Schornsteine,« sagte er zornig, »bis ins Etzer Moor.«

Sie sagte boshaft und forschend: »Karl Kröger und die Maschinenbauer, mit denen ich im Sommer immer segle, sind freundlicher als Sie, das muß ich sagen,« und warb scheu mit den grünlichen Augen.

Da kamen von oben Schritte, und der Bootsbauer kam würdig langsam herab, nach einem Boot zu sehn.

»Nachbar Bruhn,« sagte sie, »denken Sie, der hier, einer von den Blankeneser Guldts, hat all sein Geld verloren; es ist ihm aus der Lade gestohlen worden. Sie lügen ja manchmal ganz furchtbar, besonders zuerst, wenn sie von See kommen; aber Karl Kröger ist Zeuge, daß es wahr ist. Nun will er die Schule besuchen und muß Mittag- und Abendkost haben, und möchte dafür hier auf dem Platz arbeiten. Mir scheint, das müssen Sie tun; er kann ja Boden schrapen und teeren. Sehen Sie ihn bloß an, er hat schon lange nicht gegessen.

Jan Guldt wurde blaß vor Zorn und warf ihr einen Blick zu, der sie spießte.

Der Bootsbauer ging lächelnd mit ihm hinaus, und fragte das Nötige, und meinte am Ende, er könne es ja versuchen, Mittag- und Abendkost werde er ja wohl verdienen. Dann solle er nur gleich nach der Schule wiederkommen. Damit ging er wieder in seine Werkstatt.

Jan Guldt wandte sich ab, um wieder nach seiner Bank und nach seinen Büchern zu gehen. Als er am Farbtopf vorbeikam, blieb er stehen und stieß ihn an, daß er zur Seite flog, und knurrte das kleine graue Ding an: wenn sie noch einmal so naseweise Bemerkungen mache, während er hier arbeite, würde er ihr die Ohren scheuern.

Sie griff mit ihren rotgefrorenen Händen nach dem Topf und rettete ihn, und sagte halb bekümmert, halb mit zufriedenem Lachen: »Ich wollte bis zur Schulzeit fertig werden, nun kommt nichts danach; aber dafür habe ich auch Spaß gehabt,« und nickte ihm mit boshafter Freude zu.

Er sah sie wieder in Zorn und Lust an, sah auf, ob niemand da wäre, bückte sich, entriß ihr den Pinsel, griff in ihr Haar am Wirbel, und wischte ihr mit dem Pinsel quer über die Nase.

Sie war ernstlich erschrocken, da sie seinen aufflammenden Zorn gesehen und nicht sicher war, wie es abliefe. Dann aber, als sie empfand, daß er sie fest und doch gelinde anfaßte, empfand sie mit wunderlich schönem Gefühl seine Hand in ihrem Haar; und lachte nun glücklich auf, und rieb sich die Nase, und schalt hinter ihm her. Aber er war schon fort.

Von nun an lag er nachts auf der Bank unterm Fenster, stand um vier auf, lernte da an Ort und Stelle, wo er geschlafen hatte, ging dann in die Schule, und von da nach dem Bootsbauer, von wo er oft erst spät abends wieder zu der verrosteten alten Kanone hinaufstieg.

Es traf sich, daß zu der Zeit keiner seiner früheren Schiffsgefährten zu Hause war oder gar mit in die Schule ging; mit den Bootsbauern aber wurde er wegen des verschiedenen Berufes nicht vertraut. So war er denn ganz einsam, und hatte nur die eine Freude – die ihm wunderlich und seltsam war –, daß er täglich mehrere Male den Kopf nach dem schmalen, grauen Mädchen drehen konnte, die durch den Sand nach ihrem Boot stapfte, und immer genau an der Stelle, wo er ihr den Haarwirbel gezaust hatte, mit langen stummen Augen nach ihm hinübersah. Sie schien eine sehr kurze Schulzeit zu haben, schien sich bei Essen und Trinken wenig aufzuhalten, bei Schularbeiten gar nicht, sondern trieb sich in ihrem Boot auf dem Strom umher, bald allein, aber meist mit allerlei lärmendem jungen Volk, über dem sie mit heller Stimme eine Art Häuptlingsrolle spielte.

Es war eine Schwierigkeit für ihn, daß er Sonntags weder Mittag- noch Abendbrot hatte. Der Alten bei der Kanone sagte er, daß er dann bei einem Freunde wäre; der Bootsbauer mochte glauben, daß es so völlig trostlos mit seinen Geldmitteln nicht stände, und lud ihn nicht ein. So trieb er sich denn sowohl mittags wie abends unter den hunderten Menschen umher, die den Strand bevölkerten, und vertrieb sich Zeit und Hunger, indem er den Kindern zusah, die im Sande spielten. Der Mittag ging so leidlich vorüber. Wenn sie dann aber um vier alle der Reihe nach ihr Brot aus den Taschen zogen und ihre kleinen Gesichter zur Hälfte in die breiten Brotschnitte vergruben, ging er stromab nach Nienstedten zu und setzte sich da auf ein Boot, und schlug mit einem Stock, den er von einer Weide abriß, regelmäßig und heftig den Sand zu seinen Füßen.

Da er für Halswäsche kein Geld hatte, so hatte ihm die Alte ein feines, rotseidenes Halstuch geschenkt, das sie von ihrem Mann, der einst in Ottensen Totengräber gewesen war, überkommen hatte. Er hatte eines Tages, als er eine Grabstätte umzugraben hatte, den seitlich stehenden Sarg eines alten Senators, der im Leben ein patenter Junggeselle und lebenslanger Herzenbrecher gewesen war, verfallen und offen genug gefunden, und hatte das verführerische rotseidene Halstuch, das er um hatte, nach vierzigjähriger Lagerung noch aufs beste erhalten gefunden und gedacht: ›Was soll der Senator, nichts als Knochen, jetzt noch mit dem schönen seidenen Tuch?‹ und hatte es mit nach Hause gebracht. Sie hatte es mit etwas spitzen Fingern geplättet, hatte es aber nicht tragen mögen, und auch ihr Mann hatte sich nicht dazu überwinden können. Jan Guldt, der jederzeit mit dem Teufel angebunden hätte, griff danach. So flatterte nun das lustige Halstuch des alten Senators, das an den Enden schön breit und mit kleinen Vergißmeinnicht bestickt war, an dem braunen Halse Jan Guldts, und bewegte sich bei jedem Hieb, den er in den Sand tat, und kraute bei jedem Windzug zierlich und zärtlich an den bartsprossenden Wangen, durch die sein heißes Blut floß.

So etwa am sechsten oder siebenten Sonntag, als er zur Abendbrotzeit wieder nach Nienstedten hinabzog, begriff die kleine Eva Gött, die ihn immer mit flinken Augen verfolgte, wie es mit ihm stand; nahm einige gut belegte Stücke Brot, stieg in ihr Beiboot und ruderte mit tiefen unruhigen Atemzügen sachte hinter ihm her, und legte da, wo er sich auf ein Boot gesetzt hatte, ans Stack, stieg aus, stieg langsam von Stein zu Stein, und blieb stehen und sah nach ihm hinüber.

Er war gerade dabei, sich auszumalen, wie er, wenn er einmal Kaptän wäre, sich an jedem Sonntagmittag Erbsensuppe mit durchgewachsenem Speck anrichten lassen wollte, und schlug mit stillen, zornigen Augen den dürren, trockenen Sand. Da hörte er ihre Schritte vom Stack her und sah sie da stehen und nach ihm herübersehen, und schoß zornig auf: »Was wollen Sie?« sagte er, »Was starren Sie mich an! Bin ich ein Tier von Hagenbeck?«

Sie war als Kind ihres Landes und selbst ein wunderlicher Mensch, wunderliche Menschen und eine langsame Entwicklung der Dinge gewohnt, blieb also ruhig stehn und wartete. Nach einer Weile aber, als er nur zuweilen nach ihr hinübersah, und die Sache nicht weiter wollte, sah sie scharf nach einem der Stackpfähle, stieß ihn an und sagte ziemlich laut: »Frag' mich mal, was hast du heute mittag gegessen? ... Was ich gegessen habe? Pfannkuchen, daumdick mit Bickbeeren.« Sie stieß den alten Stackpfahl noch einmal an und sagte: »Frag' mich mal, was willst du heute abend essen? Was ich essen will? Eier und Brot, daumdick mit Butter,« und schwieg und sah nach ihm hinüber.

Er meinte, daß sie nichts anderes wollte, als ihn mit seinem Hunger quälen und verhöhnen, sprang in wildem Zorn auf und lief auf sie zu. Sie wollte auf den übereinander liegenden Steinen entfliehen, glitschte dicht vor dem Boot aus und lag da, und hielt den mageren Arm um ihren Kopf, da sie nun wirklich harte Schläge erwartete, und sah mit der Qual verzweifelter Liebe zu ihm auf.

Da merkte er, daß es anders und so mit ihr stand, und sagte unsicher, während es ihm selig durch alle Glieder fuhr: »Du? ... Was willst du denn?«

Sie hatte sich sofort von ihrem großen Entsetzen erholt, sah ihn, von seinen Augen verwirrt und bittend an und sagte: »Ich kann es nicht ansehen, daß Sie nichts zu essen haben,« und griff, noch in den Knien, ins Boot, und griff das schlecht in Papier gewickelte Brot heraus, und sagte: »Ich habe Ihnen dies mitgebracht.«

Er wurde rot bis in sein rotblondes Haar hinein und stieß finster hervor: »Das kann ich nicht! Das kann ich doch nicht! Bist du unklug? Soll ich dir aus der Hand essen? Mach', daß du wegkommst! Steig ein!« und er warf den Anker ins Boot.

Sie ließ die Hand mit dem Brot sinken und sagte verstört: »Warum können Sie es nicht? Sie nehmen doch Freundschaft von der alten dicken Frau an, die nicht einmal sauber ist ... Warum denn nicht von mir?«

Er wollte erst nicht antworten. Er deutete nur aufs Boot, daß sie einsteigen sollte. Als sie aber noch so stand und ihn ansah, mit zuckendem Mund und die Augen voll von Tränen, fuhr er sie wild an und sagte mit funkelnden Augen und vor Scham und Schmach rasend: »Wenn du meine Frau werden sollst, kann ich mich dann von dir füttern lassen? Kann ich mich von dir füttern lassen wie eine flügellahme Krähe? Kann ich das, dumme Deern? Mach', daß du wegkommst!«

Da trat sie langsam und zitternd ins Boot, während sie auf ein seltsames, süßes Klingen und Singen in ihrem Herzen lauschte, und faßte nach den Rudern. Als sie sie erfaßt hatte und saß und abstoßen wollte, begehrte sie heiß, ihn anzusehen, aber Scham und Scheu ließen ihre Augen abirren. In wirrer, wunderlicher Seligkeit fuhr sie davon.

Er aber stand und sah ihr finster nach. Was so ein Mädchen für Einfälle und Art hatte! Das ging doch nicht! Das war doch kein rechter Anfang fürs Zusammenleben! Sich füttern lassen, wie 'ne Krähe, die einen Flügel verloren hatte? Oder wie ein kleiner gelber Kanarienvogel? Und er nickte ihr nach und sagte: »Ich will es ihr nachher zeigen, wie es sich gehört!«

Von nun an sprachen sie den ganzen Sommer kein Wort miteinander, sie sahen nur einer nach dem andern hinüber; aber nur dann, wenn sie wußten, daß der andere es nicht gewahrte. Sie spannen einer um den anderen wunderbare Gebilde von Glauben, Erwartung und Hoffnung, und gerieten immer tiefer in jene flammende phantastische Liebe, welcher diejenigen verfallen, die sich mit starker Sinnlichkeit lieben, aber durch ihre scheue Keuschheit und ihre Schwerlebigkeit gehindert werden, sie aneinander auszugeben.


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