Karl Emil Franzos
Leib Weihnachtskuchen und sein Kind
Karl Emil Franzos

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VIII

Während am nächsten Vormittag die drei in der Wohnstube saßen und beteten, füllte sich, wie an jedem Sonnabend, die Schenkstube mit Gästen. Das war in Winkowce nächst dem Sonntag der beste Geschäftstag für den Wirt, und zwar aus zwei Gründen. Einmal deshalb, weil viele Hausväter des Dorfes gründliche Leute waren, die gern die beiden Zwecke des Sonntags voll erfüllten. Der Tag ist zur Erbauung und zur Erholung bestimmt, aber ist es nicht eitel Stückwerk, wenn man diesen Zwecken eben nur dadurch entspricht, daß man des Vormittags zur Kirche geht und dann vom Mittag bis in die Nacht hinein trinkt, solange die Hand das Glas zum Munde führen kann?! Mindestens der Erholung sollte ein ganzer Tag gewidmet sein, und darum beginnen viele am Sonnabend, so daß es anderthalb Tage werden, und bei einigen besonders gewissenhaften Menschen werden's gar dritthalb, weil sie auch noch am Montag in der Schenke liegen. Ferner aber waltete am Sonnabend die Kasia in der Stube, und welchen Zauber ihre Unterhaltungsgabe übte, ist bereits gesagt.

Nie jedoch hatte sich diese Gabe so glänzend bewährt wie an diesem Sonnabend. Schon daß die »Kommissyja«, die den Weg für das »eiserne Pferd« abstecken sollte, bereits am nächsten Dienstag zu erwarten war, bedeutete allen eine wichtige Neuigkeit. Aber allzuviel wurde darüber nicht mehr geredet; man war sich über die Sache seit dem Mittwochabend einig, wo der Richter von Winkowce, der alte Harasim, aus Halicz heimgekehrt war. Und dieser würdige Greis gab denn auch heute der allgemeinen Überzeugung Ausdruck, indem er nun sagte: »Wollen uns die Schreiber wirklich mit dem Unsinn kommen, daß wir den Boden billig abgeben, so antworten wir einfach: Bitte, leget den Weg durch ein anderes Dorf! Wir sind bisher in Winkowce ohne stinkende Teufel, die in eiserne Käfige eingesperrt sind, ausgekommen und werden auch künftig ohne sie gesund bleiben. Oder lasset das Pferd über unser Dorf weg durch die Luft sausen – auf eine Zauberei mehr oder weniger kann es euch doch nicht ankommen! Ja, so will ich für unser Dorf antworten, und ihr rufet: Der Richter hat recht!, und dann – gebt acht, ihr Leute, dann kommen sie mit den Gulden herausgerückt. Ja! Ja!« Er sagte es ruhig und heiter, weil er noch kaum beim zweiten Gläschen war; seine wehmütige Stimmung fing erst bei dem zwanzigsten an.

»So wollen wir's machen!« riefen alle, und nur der dicke Schmied meinte: »Ich will nicht dagegen sein, weil ich treu zum Dorfe stehe. Aber ich kann nur wiederholen: Zu welchem Preis ich den Grund neben meinem Hause abtrete, kann mir gleich sein. Je billiger sie mir den Grund berechnen, um so teurer berechne ich ihnen meine Arbeit. Ja, wir in Winkowce sind noch lang so klug wie die Haliczer Schreiber!«

Die Scheherezade von Winkowce verstand sich auf ihre Kunst. Erst nachdem diese Neuigkeit gründlich abgetan war, ließ sie ihre zweite und ungleich pikantere folgen. Aber als ehrliches Weib, das seine Schwüre zu halten pflegte, schwatzte sie auch beileibe nichts aus, sondern fragte nur. Da trat sie also an den Tisch, an dem die beiden gewichtigsten Männer des Dorfes saßen: Harasim, der Richter, und Onufrij, der Schmied, und warf leichthin, aber mit einem geheimnisvollen Lächeln, das sofort Besonderes erwarten ließ, hin:

»Wer, meint ihr wohl, hat sich diese Woche in Halicz verlobt? Ratet! Von wem würdet ihr's am wenigsten glauben?!«

Sie ergriff das leere Glas des Richters und ging hinter die Barre, es zu füllen. Und zwar ging sie sehr langsam und brauchte auch zum Füllen viel Zeit. Darum konnten die beiden ihre Vermutungen austauschen. Gewiß war eben zunächst nur eins; es war sicherlich ein sehr altes Männlein oder Weiblein.

Als Kasia zum zweiten Male gekommen und gegangen war, wußten sie, daß es ein Mann sei, beim dritten Male: ein Jude, beim vierten: ein reicher Jude.

Aber weiter konnten sie nun freilich nicht, denn in den Augen der Bauern waren die meisten Juden von Halicz reich. Und als Kasia ihnen dadurch auf die rechte Spur zu helfen suchte, daß sie den Schmied fragte: »Du solltest es doch wissen?!«, da führte dies zunächst zu keinem Ergebnis. »Ich?« fragte der Schmied und kratzte sich nachdenklich hinter dem Ohr. »Der Mosche Erdkugel? Aber der hat ja ein Weib! Oder der alte Srulko Dubs? Ist auch verheiratet! Oder der Mortche? Oder der Schmulko! Oder der Jankel?« Die meisten Juden von Halicz waren seine Gläubiger, und daß ihn David Münzer zuweilen in Nahrung setzte, weil die Fuhrleute des reichen Unternehmers manchmal in der Schmiede die Pferde beschlagen ließen, daran dachte Onufrij nicht; er dachte überhaupt selten an die Arbeit. Es währte lange, bis die Bauern von Winkowce erfuhren, daß der reiche Greis in der Dampfsäge der glückliche Bräutigam sei.

Und noch länger währte es, bis sie wußten, wer die Erkorene sei, obwohl ihnen Kasia sagte: »Den Namen kann ich euch nicht nennen, aber ratet einmal, wen ihr alle kennt!« Denn daß die Miriam gemeint sein könnte, fiel ihnen gar nicht bei. Und als Onufrij endlich auch ihren Namen nannte und Kasia es bestätigte: »Um Himmels willen, ihr seid mir alle Zeugen, daß ich's nicht gesagt habe!«, da wollten sie's noch immer nicht glauben. »Unmöglich! – das Kind!« riefen einige.

»Ein Kind ist sie nun gerade nicht mehr«, lachte der Schmied und bewies dies durch einige kräftige Sätze. »Und ich kenn einen im Dorf . . .« Da hielt er aber auch inne. Das Mahnwort seines Popen kam ihm in den Sinn und lähmte ihm die Zunge.

Um so flinker ließen die anderen die ihre spielen. »Schimpf und Schande!« riefen die meisten, »ein Kind so zu verhandeln!« Nur wenige verteidigten den Vater. »Der arme, dumme Leibko hat sich eben nicht anders helfen können! Und bei den Juden ist es nun einmal so! Wenn er nur nicht so viel Geld bekommen hat, daß er die Pacht aufgibt – dann bekommen wir keinen ungewässerten Schnaps mehr!«

»Bei den Juden ist es nun einmal so!« – das war auch das Urteil des Popen Hilarion. Der junge Priester donnerte stets gegen den Wirtshausbesuch am Wochentag, war aber doch fast jeden Sonnabend im Schenkzimmer zu finden. Hier traf er seine Leute beisammen und konnte unter Umständen ein kräftig Wörtlein mit ihnen reden. Das war hier viel wirksamer, als wenn er sie zu sich entbot oder in ihren Hütten aufsuchte. »Meine Predigten am Sonnabend helfen mehr als die am Sonntag«, pflegte er seinen Amtsbrüdern mit einigem Selbstgefühl zu sagen und hatte Grund dazu.

In ihm also fand Leibko den wärmsten Verteidiger. Und nicht bloß, weil er den armen kleinen Menschen schätzte, sondern auch, weil ihn die Nachricht um des Janko willen freute; das vertrieb wohl den »verruchten Wahnsinn«, den der Teufel dem jungen Bauer in den Kopf gesetzt. »Diesen gottverdammten Juden, ihr Leute«, setzte er seinen Hörern auseinander, »ist eben auch die Ehe nur ein Geschäft. Diese Juden . . .«

»Freilich!« fiel ihm der Richter Harasim ins Wort. Er hatte seine einzige Tochter und Erbin, nachdem ihn ein junger Knecht auf seinem Hofe zweimal Großvaterfreuden hatte erleben lassen, mit einem alten reichen Bauer verheiratet, der auch die Kinder ruhig mit in Kauf genommen. »Die Juden . . .«

»Halten aber auch Zucht und Ehrbarkeit«, schnitt ihm der Pope die Rede ab. »Dort könnte, wenn die Verfluchten überhaupt so schöne Bräuche hätten, jedes Mädchen mit dem Kränzlein im Haar vor den Altar treten. Nur das ist leider unter euch anders! Denn auf Geld steht auch ihr, und reich gesellt sich immer zu reich und arm zu arm.«

In dieser Tonart ging's noch lange fort; an saftigen Beispielen fehlte es nicht, zur Freude aller Unbeteiligten, zum Verdruß der Betroffenen. Aber fast noch mehr als diese ärgerte sich die Kasia. Denn solang der Pope in der Schenke war, konnte sie nicht halb soviel reden als sonst. Und darum rief sie ihm, als er freudig schloß: »Das ist einmal eine Nachricht, die ich mir gefallen lasse!«, schadenfroh zu: »Aber, Hochwürdiger, es wird ja wahrscheinlich doch nichts draus! . . . Kann man denn ein Mädchen verhandeln wie eine Kuh?!«

»Sie wird sich nicht sträuben«, erwiderte der Pope. »Das kommt bei den Juden nicht vor. Da gehorchen die Kinder den Eltern!«

»Aber wenn sie besondere Gründe hätte . . .« Sie stockte.

»Du meinst, weil der Bräutigam zu alt . . .«

»Oder ein anderer zu jung ist«, fiel Harasim ein. Denn er war nun gegen die Sache, weil der Pope dafür war. Aber er dachte sich nichts weiter dabei und war sehr erstaunt, als ihm die Kasia scheinbar tief erschreckt zurief: »Schweigt! . . . Um Himmels willen, Richter, verratet das Geheimnis nicht . . . Wie Ihr dahintergekommen seid, mag Gott wissen, von mir habt Ihr's nicht erfahren, das kann ich beeiden . . .« Sie begann zu schluchzen. »Oh, ich schweige . . . Das arme Kind ist ohnehin unglücklich genug . . .« Die Tränen waren vorläufig noch nicht zu sehen, sie steckten wohl in der Kehle, denn sie erstickten ihr die Stimme.

»Wie?« klang es aus dreißig Kehlen; die einen lachten, die andern waren ernst, aber alle gleich verblüfft. Eine Jüdin . . . sie trauten ihren Ohren nicht. Und einer rief: »Unsinn, welcher junge Moschko soll denn der Glückliche sein?«

»Kein Moschko!« jammerte die Kasia. »Ach, wenn es ein Jude wäre, dann wäre ja das Unglück nicht gar so groß . . . Aber es ist ja . . .« Und wieder konnte sie vor Weinen nicht weiter.

Der dicke Onufrij schnellte vor Erregung von der Bank empor, und seine Augen richteten sich triumphierend auf den Pfarrer. Aber dieser hatte sich gleichfalls erhoben und trat zürnend auf die Kasia zu. Auch sie sollte in dieser Stunde erleben, daß das Kapitol und der Tarpejische Fels nahe beieinander liegen; die Stunde ihres höchsten Triumphes als Dichterin sollte auch die ihrer schlimmsten Niederlage werden.

»Schweig, du Klatschbase!« rief er heftig und faßte sie am Arm. »Daß du die Tochter deiner Brotgeber in Verruf bringst, ist häßlich genug, und nun willst du's gar noch mit ehrlichen Christenleuten tun?!«

»Ich?!« schrie die Kasia auf. »Hochwürdiger, das verzeih Euch Gott . . . Ihr Leute, Ihr seid mir Zeugen . . .« Und sie tat, als ob sie in Ohnmacht fallen müßte.

Aber das rührte den Popen nicht. »Komm!« befahl er und schleifte sie hinter sich her zur Schenkstube hinaus. »Ich will dir schon den Mund stopfen!«

»Hochwürdiger«, jammerte sie, »die Jüdin jagt mich davon!«

»Da geschähe dir recht«, erwiderte er und trat, die Magd noch immer hinter sich herschleifend, in die Wohnstube. Das Bild, das sich ihm da bot, berührte ihn seltsam. An einem der Fenster stand der Kleine, das Antlitz gegen Osten gewendet, den Leib hin- und herwiegend, auf den Zügen den Ausdruck innigster Versunkenheit; die Lippen murmelten die gewohnten Gebete, nur zuweilen suchte der Blick die Stelle in dem vergriffenen Büchlein, das vor ihm aufgeschlagen lag. Am anderen Fenster standen Chane und die Tochter, auch sie in ihrem besten Gewande, wie der Vater, auch sie betend, nur daß sie den Blick auf ihr »Weiberbuch« geheftet hielten und jedes Wort der frommen, jüdisch-deutschen Betrachtung halblaut vor sich hin sprachen: »Den Sabbat mußt du heiligen durch Ruhe und Gebet, aber am besten tust du ihn heiligen durch ein gut Werk, denn wie Bruder und Schwester sollen dir alle Menschen sein.«

Die letzten Worte unterbrach der Eintritt des Pfarrers, aber er hatte sie gehört . . . Ihm ward eigen ums Herz. Das waren sonst in seinen Augen nur eben Geschöpfe, die Gott in seinem Zorn geschaffen, und doch war's ihm, als wäre er da in reinere Luft getreten, und wahrlich nicht bloß deshalb, weil die Fenster weit offenstanden. »Verzeiht . . .«, sagte er fast verlegen. »Ich habe was Dringendes zu fragen.«

Leib richtete die Augen in Angst und Staunen auf ihn, schlug sie aber sofort nieder und fuhr in seinem leisen Murmeln fort; er war eben an einer Stelle des Gebetes, wo man sich niemals unterbrechen darf. Chane jedoch trat vor; aber noch ehe sie fragen konnte, hatte sich Kasia heulend zwischen sie und den Popen geworfen. Knieend, die zitternden Hände erhoben, stöhnte sie: »Erbarmen! . . . Ich kann ja nichts dafür, wenn die Leute alles erraten! . . . Und ich muß ja mit ihnen reden, sonst trinken sie nichts! . . .«

»Schweig!« herrschte sie der Pope an und wandte sich dann an die Frau: »Ich höre zu meiner Freude, daß Eure Tochter mit dem David Münzer in Halicz verlobt ist . . .«

Über Miriams Gesicht flog ein mühsam unterdrücktes Lächeln, der Kleine aber zuckte zusammen, und auch Chane erschrak. Doch faßte sie sich sofort und sagte: »Es ist nicht wahr, Hochwürdiger . . . Wenn meine Tochter Braut wär«, fügte sie hastig hinzu, »so müßt ich's doch wissen.«

»Ich habe ja gesagt, daß es nicht wahr ist«, jammerte die Kasia.

»Du hast gesagt, daß das Mädchen sich weigert. Und warum? – erzähle doch auch dies!«

»Ich hab gesagt«, schluchzte die Magd, »daß es da doch auch auf das Mädchen ankommt . . . Alles andere haben sie erraten . . .«

»Lüge!« donnerte der Priester. »Und ich will dir dein Handwerk legen! Sofort wirst du drin vor allen Leuten gestehen, daß du gelogen hast. Und wiederholst du je deine Verleumdung gegen deinen Bruder in Christo, dann wehe dir!« Er riß das große vergoldete Kreuz von der Brust, das er nach der Sitte der griechisch-katholischen Geistlichen jener Gegend an einer stählernen Halskette trug, und hielt es ihr vor: »Du schwörst, daß du den Namen des Verleumdeten niemals nennst – ich will nicht wissen, an wem du dich so versündigt hast, aber welcher Christ es auch sei – schwöre!«

Das tat die Sünderin. Während sie die Schwurfinger aufs Kreuz legte, wandten sich Chane und Miriam scheu ab, und Leib beugte sich noch tiefer auf sein Gebetbuch nieder.

»Und nun – komm!« befahl der Priester.

Aber die Magd blieb auf dem Boden kauern und suchte seine Knie zu umfassen. »Erbarmen, Hochwürdiger!« Und als er sie hinwegstieß, rutschte sie auf den Knien vor Chane hin. »Frau, erspart es mir . . . Ich habe ja nur fürs Geschäft gelogen . . . Wenn ich immer . . . die Wahrheit sagen würde . . . so würden sie nicht kommen und trinken . . . Und wenn ich es ihnen jetzt sagen muß . . . so ist Euer Geschäft verdorben!«

Aber Chane schüttelte finster den Kopf: »Das ist ohnehin der letzte Sabbat, wo du sie bedient hast!« Und zum Priester: »Ich dank Euch, Hochwürdiger! Sie soll nur vor allen widerrufen!«

Aber die Kasia fuhr fort zu flehen, und es währte lange, bis sie sich endlich erhob und dem Priester folgte.

Inzwischen hatten sich die Bauern die Zeit durch allerlei Vermutungen darüber gekürzt, wer wohl der christliche Liebhaber der Miriam sei. Fast jeder Junggeselle im Dorfe wurde genannt, nur auf den Janko verfiel keiner. Daß ein Mädchen sich in ihn verliebt haben könnte, fiel niemand bei. Onufrij aber lächelte nur schlau vor sich hin. Mit dem Popen band er nicht gerne an.

Das Geständnis der Kasia gestaltete sich zu einer minder ernsten Szene, als der Pope es gewünscht. Kaum, daß sie dies Geständnis zu stottern begann, lachten die Bauern, und endlich widerhallte die Stube vom Wiehern aus dreißig Kehlen, daß man ihr Geschluchze gar nicht mehr hörte. Der Pope mußte es den Bauern erst nochmals wiederholen. »Schade!« meinten sie dann, »das wäre doch einmal eine hübsche Neuigkeit gewesen. Aber freilich – eine Jüdin und ein Bauer – wann hätte die Welt je schon derlei gesehen?«

Um die Mittagsstunde war die Stube fast leer; einige gingen zum Essen heim, die meisten wurden von ihren Weibern oder Knechten fortgeschleppt. Nur einige wenige hielten aus, darunter der Schmied. Er lächelte noch immer vergnügt vor sich hin, und als ihm die Kasia mit verweinten Augen wieder einmal das Gläschen füllte, flüsterte er ihr zu: »Dir ist Unrecht geschehen! Du hast nicht gelogen!«

»Weiß Gott, Meister!« schluchzte sie. »Wenn ich nicht auf das Kreuz geschworen hätte – was könnte ich erzählen!«

»Wirklich?« fragte der Schmied in aufrichtigem Staunen. »Ich hab's ja längst erraten, daß der Tölpel hinter dem Mädchen her ist und sie sogar heiraten will, aber daß sie sich mit ihm eingelassen, hätt ich nicht geglaubt. Sieh, sieh, da ist ja der Affe eigentlich zu beneiden. Nur eine Jüdin, aber dieses Gesicht, diese Hüften« – er schnalzte mit der Zunge. »Also du hast's gesehen?«

Sie streckte abwehrend beide Hände vor.

»Nichts«, schluchzte sie, »nichts sage ich, denn ich habe geschworen! Oh, wenn ich reden könnte! . . . Meister, was haben meine Augen gesehen! . . . Aber ich halte meinen Schwur! Nur eins tue ich! Ich gehe, weil ich's nicht länger mit ansehen mag!«

»Wirklich?« fragte der Schmied. »Schade! Aber du wirst dir's noch überlegen!«

»Nein!« rief sie entschlossen. »So etwas läßt ein tugendhaftes Weib wie ich nicht länger geschehen! Das ist der letzte Sabbat, wo ich hier bediene!«

Sie ging, die Schürze an die Augen gedrückt, auf ihren Platz hinter der Barre. Die Geste hatte nur gewissermaßen symbolische Bedeutung, denn ihre Augen waren trocken. Aber als sie nun still dasaß und alles erwog, da begann sie zu weinen; es war ein Gewirre der seltsamsten Empfindungen, das sich in Tränen Luft machte, vor allem die Scham und dann der Zorn, und endlich auch die Reue. Wie schlecht bin ich! dachte sie. Da sag ich dem braven, gutmütigen Ding, das ja noch gar nicht weiß, wozu wir Weiber auf der Welt sind, so Häßliches nach! . . . Aber das ist nicht meine Schuld! tröstete sie sich dann bald. Ihre Mutter, die hat alles auf der Seele. Zuerst will sie mich täuschen, und dann stiftet sie den Popen an, daß er mich so beschämt, und schließlich jagt sie mich gar davon! Oh, diese Juden! . . . Jahrelang hält mich das elende Weib zum Lügen an, damit sie auch am Sabbat ein gutes Geschäft macht, und weil ich's mir ihr zuliebe angewöhne, setzt sie mich auf die Straße . . . Ja, ja, das ist so die jüdische Art. Es ist eigentlich alles noch viel zu wenig, was man über sie sagt!

Zur selben Stunde aber – es war nach der Mahlzeit, und das Ehepaar saß auf dem Bänkchen im Hofe, während Miriam unfern auf einem Fäßchen kauerte und in ihrem »Weiberbuch« eine Geschichte aus »Tausendundeiner Nacht« las – erwogen erst Chane und Leib gründlich, ob sie die Magd wirklich weggeben sollten.

Leib, so milde er sonst war, bestand darauf. »Sie hätt sonst alles Böse tun können«, meinte er, »und ich hätt ihr verziehen. Fünfzehn Jahr ist sie bei uns – da bleibt man gern schon bis zum Ende zusammen. Wie oft hab ich dir das gesagt und für sie gebeten, wenn sie gegen dich oder mich ungehörige Reden geführt hat. Sie hat ja immer vor Augen, wie andere gegen uns arme Juden sind, und sie ist nun einmal eine Christin, da vergißt sie eben, daß wir doch ihre Brotgeber sind. Aber nun hat sie unser Kind verleumdet, und das verzeihe ich ihr nie. Denn wer unserem Miriamchen was Böses nachsagen kann und es in den Augen der Leute zugrunde richten will, muß sehr schlecht sein, so schlecht, daß ich's mir gar nicht denken kann. Und ein schlechtes Weib soll nicht länger in meinem Hause sein!«

Natürlich widersprach Chane, zunächst nur deshalb, weil er seine Meinung so entschieden äußerte. »So bist du immer!« grollte sie. »Zuerst zu nachgiebig und dann zu scharf! Hättest du sie nicht all die Jahre in Schutz genommen, es war nie soweit gekommen.«

»Aber du hast doch«, wandte er zaghaft ein, »dem Popen selbst . . .«

»Aber nur, weil es sich so geschickt hat!« rief sie. »Hätt ich etwa noch bestätigen sollen: Es ist mir recht, daß sie lügt?! – Im Ernst hab ich nicht dran gedacht.« Das war nun freilich nicht richtig, aber sie hatte sich's eben anders überlegt. »Wir müssen sie behalten, wenigstens so lange, bis unser Kind verheiratet ist, denn dann wird sie wahrscheinlich schweigen, weil sie der Pope hat schwören lassen; jagen wir sie davon, so ist die Rachsucht stärker als der Schwur. Bedenk, welches Unglück es wäre, wenn etwa Reb David von diesen Lügen erfährt!«

Er fügte sich, wenn auch schweren Herzens. Am Abend, nachdem der Ausgang des Sabbats in gewohnter Weise begangen war, erhielt Kasia die Verzeihung angekündigt. Sie tat auch dabei, als ob sie weine, und hatte schließlich nach harten Mühen wirklich nasse Augen, schon aus Mitleid mit sich selber. Denn nun war sie vollends überzeugt, wie schweres Unrecht ihr geschehen, und so war es nicht Heuchelei, sondern ganz ehrlich gemeint, als sie in ihrem hebräisch-slawischen Kauderwelsch schluchzte: »Glaubt doch nicht, daß ihr an eurer treuen Schabbesgoje eine Miz-wa (hebr. Guttat) übt, wenn ihr ihr mochel seid (ihr verzeihet). Sie tut eine Mizwa an euch, indem sie euch mochel ist!«

Als die Dämmerung dicht hereingebrochen war und bereits drei Sterne am Himmel blinkten, das Zeichen, daß ein neuer Tag, der Werkeltag, begonnen – nach der jüdischen Satzung gehört bekanntlich die Nacht zum folgenden Tage, so daß jeder Tag mit der Abenddämmerung beginnt und schließt –, betrat Leib erst wieder die Schenke, die er seit vierundzwanzig Stunden gemieden. Nicht jeder Schenkwirt im Osten hält den Sabbat so streng; Leib tat es auch nicht der geschriebenen Satzung zuliebe, sondern einer ungeschriebenen, die er im Herzen trug. Ohne es klar zu denken, empfand er doch dunkel, daß er unter den Lasten seines Daseins längst hätte zusammenbrechen müssen, wenn ihm nicht nach sechs Tagen des Elends, wo er den Bauern und dem Gutsherrn und seinen Sorgen gehörte, immer ein siebenter gegönnt wäre, wo er ihm zu eigen war, nur ihm, mit jedem Gedanken.

Scheu begrüßte er seine Gäste; er fürchtete, daß die Worte der Kasia doch Wurzel gefaßt. Aber es kam besser, als er gedacht; sie glaubten dem Wort des Popen, und es war nur harmlose Neckerei, wenn ihn einige fragten: »Ist das wahr, daß du deine Tochter dem Alten in Halicz nach dem Gewicht verkauft hast, das Kilo um zehn Gulden?!« Er brauchte sich's sogar nicht zu Herzen zu nehmen, als ihm Harasim schluchzend – denn nun war er längst in der wehmütigen Stimmung – sagte: »Nun geht es dir wie mir; ja, ja, mein armer Leibko, eine einzige Tochter ist schwerer zu hüten als ein Sack Flöhe!« –, der Alte wußte eben nicht, was er sagte, und als ihm ein anderer die Rede verwies und mahnte: »Es ist ja alles nicht wahr, unser Väterchen hat's berichtigt!«, stimmte er sofort gutmütig zu: »Freilich muß das ein nüchterner Pope besser wissen als ein besoffener Richter – komm, mein armer Leibko, umarme mich und verzeih mir!«

Erst lange nach Mitternacht leerte sich die Schenke; endlich waren nur noch zwei Gäste da, aber die lagen unter dem Tisch, weil man sie nicht heimgeholt hatte. Und so ließ sie Leib, wo sie waren, nur daß er jedem von ihnen noch ein Bündel Heu unter den Kopf schob. Nun löschte er die Lichter und beriet mit Chane, wie sie morgen vor der Kasia den gemeinsamen Gang zu Mendele Schadchen verbergen sollten. Leib war in derlei Dingen hilflos, aber Chane wußte Rat.

»Ganz einfach«, sagte sie. »Wir sagen der Goje, daß sie bis zum Mittag dableiben muß, weil ich dem Mosche in Halicz die Zinsen zu bringen habe und du in Jezupol einem Geschäft nachgehst. Du brichst früher auf, auf der Straße nach Jezupol machst du dann den Umweg um das Dorf herum und holst mich am Wäldchen ein.«

Er war einverstanden. Aber als Chane am nächsten Morgen dies Kasia und der Tochter gesagt hatte und er nun, wie verabredet, seinen Weg antreten sollte, zögerte er.

»Sollen wir nicht unser Miriamchen mitnehmen?« flüsterte er seinem Weibe zu. »Sie geht mit dir, und wir lassen sie in Halicz bei einer Bekannten, bis wir die Verlobung vereinbart haben. Mir ist so bang, sie hier allein zu lassen. Bedenke, wie leicht der Janko von den andern Bauern etwas hören kann. Und er wird es für keine Lüge halten! Ich habe ihm ja selbst am vorigen Montag gesagt, daß ich nach Halicz gehe, einen Bräutigam für unser Kind zu suchen.«

»Ja, so klug warst du leider«, erwiderte sie. »Aber mitnehmen können wir das Kind nicht, denn in Halicz erfährt es gewiß die Wahrheit, und das wollen wir ja nicht. Wie lange wir nun damit durchkommen, ist eine andere Frage, aber dann müßte sie doch vorbereitet werden. Und fressen wird sie der Tölpel doch nicht!«

»Aber vielleicht erschrecken!« sagte Leib. Indes, er sah ein, daß sie es daraufhin wagen mußten, und ging.

Obwohl er den großen Umweg ums Dorf machen mußte, hatte er doch am Ausgang des Wäldchens lange zu harren, bis er endlich sein Weib daherschleichen sah. Er wußte ja nun längst, wie krank sie sei, aber wie er sie so mühsam, wankenden Schrittes nahen sah, erschreckte ihn der Anblick doch wieder von neuem. Er eilte ihr entgegen. »Stütze dich auf meinen Arm«, bat er und spähte ihr bang ins hagere, fahle Antlitz, auf dem nur dicht unter den Augen zwei Flecke auf den Wangen in unheimlicher, scharf abgegrenzter Röte standen.

Sie wehrte schweigend ab. »Nein, setzen wir uns«, keuchte sie dann.

Lange saßen sie darauf schweigend unter einem Baum am Wege. Sie starrte finster vor sich hin, auch er hing traurigen, ach, wie traurigen Gedanken nach. Die beste, höchste Stunde, die ihm das Leben noch zu bieten hatte, war nun da: er sollte sein einziges Kind verloben – und wie erfüllte sie sich ihm! Aber an sich selbst dachte er kaum einen Augenblick, um so länger an sein Kind. Miriam ahnte noch nicht, daß sich ihr Los heute erfüllte, ahnte nicht, welches Los dies war – und doch sollte sie es dann lange, lange tragen, und jedenfalls bestimmte es ihr ganzes Leben . . . Ist das recht? rief es in ihm . . . Und die arme Mutter! Er wußte, sie hatte von dieser Stunde geträumt; seit langen, langen Jahren, vielleicht seit jenem Augenblick, wo sie ihr Töchterchen zum erstenmal in den Armen gehalten und sein kleines Antlitz mit Küssen und Tränen bedeckt; von dieser Stunde hatte sie alles erhofft, was ihr noch auf Erden werden konnte; nur das Glück der Tochter konnte ihr noch eine Ausgleichung all des Jammers sein, den das Leben auf sie gehäuft – ach, war dies ein Glück?! . . . Unwillkürlich tastete er nach ihrer kalten, feuchten Hand und nahm sie zwischen seine beiden.

Aber sie zog die ihre zurück. »Tu nicht so!« sagte sie hart. »Hättest du wirklich Mitleid mit mir, du wärest nicht taub gegen all mein Flehen . . .«

Er wandte sich gepeinigt ab.

»Leib«, sagte sie dumpf, »hör mich wohl an, denn es könnte sein, daß dich diese Stunde schon nach wenigen Wochen mehr reuen wird als alles, was du im Leben gefehlt hast . . . Leib, eine Sterbende bittet dich: gönne mir einige ruhige Monate, ehe ich von dir und dem Kinde gehen muß. Was harrt unser, wenn du das Geld ablehnst?!«

»Mosche schreibt ja . . .«, begann er zaghaft.

»Was ist darauf zu geben?« fiel sie ihm ins Wort. »Er hofft, daß dein Eidam für dich bezahlen wird; bekommt er sein Geld nicht, so ist die Freundschaft zu Ende. Und Paterski?! Hast du ihm etwa den Obstgarten verschafft?! Und es war ihm viel daran gelegen, denn ich kann dir sagen, warum er sich plötzlich so danach gesehnt hat: weil die Eisenbahn durch diesen Garten gehen wird . . .«

Er sah sie betroffen an. »Möglich . . .«, murmelte er.

»Nein! Gewiß!« erwiderte sie. »Und ebenso gewiß ist, daß wir in einigen Monaten als Bettler auf der Straße liegen. Unsere Tochter wird uns aufnehmen, meinst du, unser Eidam Almosen reichen? Möglich! Aber erscheint dir das besser? Kränkt es deinen Stolz mehr, dir heute vierhundert Gulden auszubedingen, als dir vierzig schenken zu lassen?!«

Er blickte sie mild, aber fest an. »Hat mich seine Hilfe bisher davor bewahrt«, sagte er, »so werde ich auch ferner kein Almosen brauchen . . . Ich will arbeiten.«

»Und darauf soll ich mich verlassen?!« rief sie verzweiflungsvoll.

»Chane«, bat er, »laß davon ab! Ich kann nicht! Denn ich höre seine Stimme zu mir reden und sagen: Leib, das darfst du nicht tun! . . .«

»Ich fürchte«, erwiderte sie, »seine Stimm wird auch an meiner Bahre zu dir reden! . . . Aber genug! . . . Komm!«

Und von da ab sprach sie auf dem langen Wege von mehr als zwei Stunden kein Wort mehr, und da sie auf seine Fragen nicht erwiderte, verstummte auch er und schlich nur dicht neben oder hinter ihr einher, um sie stützen zu können, wenn sie wankte. Aber auch dies duldete sie nur, wenn sie fühlte, daß sie sonst umsinken müsse.

Erst als sie dicht vor dem Hause Mendeles standen, wagte Leib wieder eine Frage: »Bist du einverstanden, daß ich das Geld für Miriam verlange und vierzehnhundert Gulden Witwengeld für sie fordere?«

»Nein!« erwiderte sie scharf. »Denn er soll uns, wenn wir einst an seine Tür pochen, nicht hinwegweisen dürfen und sagen: Seht, die Schlauen wollten's doppelt haben . . . Verstehst du?«

Er erwiderte nichts und trat demütig hinter ihr in die Stube des Schadchens.

Mendele empfing sie mit einer so finsteren Miene, als er sie seinem runden Gesicht nur immer abgewinnen konnte. »Da haben wir die Bescherung«, sagte er. »Meyerl war eben bei Reb David, um ihn zu fragen, wann er sich herbemühen will, und was läßt er mir antworten? Er möcht sich's erst noch überlegen! Ein Wunder wär's nicht, wenn er zurückgetreten wäre; selbst ein so feiner Kopf wie ich kann nichts ausrichten, wenn sich die Leut, mit denen er sich leider aus Güte eingelassen hat, gar so dumm anstellen! Vierzehnhundert und fünfzig Gulden verlangen, das könnt Ihr, aber den Mund halten nicht!«

Leib schrak zusammen. Chane aber ließ sich auf dem Sofa nieder und sagte dann, auf die Uhr blickend: »Es ist halb zehn. Wenn Reb David bis zehn nicht hier ist, so gehen wir heim. Und dann haben wir's uns auch schon für immer überlegt!«

Mendele drehte ihr den Rücken zu und trommelte auf die Fensterscheibe. Da Leib ängstlich schwieg, so war dies auch der einzige Laut, der im Zimmer hörbar wurde, bis Meyerl Spazierstock hereingestürzt kam. Er war scheinbar sehr verstört; der fuchsrote Bart schien sich ordentlich in dem häßlichen, verknitterten Gesichtchen zu sträuben.

»Eben war ich wieder bei ihm«, berichtete er jammernd. »Er will nicht mehr! ›Mit diesen Schwatzmäulern laß ich mich nicht ein!‹ . . . Ja« – er konnte es nur noch schluchzen – »so sagt er . . .«

»Dann komm!« sagte Chane zu ihrem Manne, den bei der Hiobspost ein heftiges Zittern befallen, und erhob sich.

Bis zur Türe ließ sie Mendele kommen. Da stellte er das Trommeln ein und wandte sich zu seinem Gehilfen: »Meyerl, was meinst du? Soll ich's selbst versuchen? Oder ist alles unnütz?«

Der Zwerg zuckte die spitzen Schultern. »Das ist schwer zu sagen! Denn jedes Kind in ganz Polen weiß, daß für Euch vieles möglich ist, was sonst niemand zustande bringt. Aber mir scheint, er will wirklich nicht mehr . . .«

»Dann bemüht Euch nicht«, sagte Chane und ging ins Vorzimmer, Leib gebeugten Hauptes hinter ihr her. Die Ruhe seines Weibes war ihm ordentlich unheimlich.

»Und wer bezahlt mich dann für meine Mühe?!« rief Mendele und griff nach seinem Hut. »Versuchen muß ich's doch, obwohl Ihr es nicht verdient. Aber vorher will ich wissen, wofür ich diese neue Mühe auf mich nehme.«

Da wandte sie sich um. »Daß Ihr mich noch immer nicht kennt!« sagte sie lächelnd. »Da geht's mir mit Euch besser, ich kenn Euch. Ihr habt mit Reb David, dem an der Verlobung mindestens ebensoviel liegt wie uns, ausgemacht, daß er benachrichtigt werden soll, wenn wir kommen. Und das benutzt Ihr, um noch einige Gulden für Euch herauszuschlagen. Aber es nützt Euch nichts, Ihr bekommt doch nicht mehr als die zehn Gulden!«

»Wieso?« rief er, nun wirklich zornig. »Fünfzig habt Ihr mir selbst versprochen, zehn Gulden von Anbeginn und von den vierhundert vierzig!«

»Richtig! aber da wir auf die vierhundert selbst verzichten . . .«

»Verzichten!« Mendeles Gesicht färbte sich dunkelrot. »Frau«, rief er drohend, »mich betrügt man nicht! Dahinter steckt eine Finte.«

»Nichts steckt dahinter«, erwiderte sie ruhig. »Wir verzichten eben darauf.«

»Aber warum – warum? Leib Schenker aus Winkowce verzichtet auf dreihundertsechzig Gulden, die er haben kann? . . . Auf dreihundertsechzig Gulden?« wiederholte er schreiend.

»Ja«, erwiderte sie kaltblütig.

Leib aber fühlte sich verpflichtet, eine Erklärung zu geben. »Für unser Kind . . .«, begann er.

»Laß sein«, unterbrach sie ihn scharfen Tons. Aber er wäre wohl ohnehin nicht viel weiter gekommen, schon aus Verblüffung über Mendeles Gebaren. Denn der dicke Vermittler drehte sich ein-, zwei-, dreimal um sich selbst herum, so daß er in seinem schwarzen Kaftan und mit dem hochroten Gesicht anzusehen war, als wäre eine Doppelkugel, eine große dunkle und eine kleine rote obenauf, in rotierende Bewegung geraten, faßte dann den Kleinen, drehte ihn einige Male um sich herum, wie ein mächtiger Fixstern einen kleinen, dürftigen, blassen Mond, und stellte ihn endlich vor Meyerl Spazierstock hin.

»Sieh her!« keuchte er. »Das ist der größte Narr auf Gottes Erde! So schaut ein Mensch aus, der Geld haben könnte und es nicht mag!«

Dem Kleinen war der Atem vergangen. »Ich – ich –« begann er.

Aber sein Weib trat für ihn ein. »Noch ein solches Wort«, sagte sie, »und wir gehen!«

»So geht!« rief der Vermittler. »Ich kann für Reb David ein ander Mädel schaffen, das noch jünger und noch schwerer ist und außerdem Geld hat. Eines? Zwei, zehn, hundert, so viel ich will! Da steht in meinem Buch« – er wies auf sein Pult – »eine Fünfzehnjährige eingeschrieben, die schon heut zwei Zentner wiegt! Zweitausend Gulden Mitgift.«

»Um so besser! Dann braucht Reb David nicht lange zu warten . . . Komm, Leib!«

»Komm, Leib!« äffte ihr der Dicke verzweiflungsvoll nach. »Und wo bleibt dann mein Lohn? Und was fang ich mit Reb David an, der sich's nun einmal in den Kopf gesetzt hat: Grad Eure Tochter muß ihn ins Grab bringen und keine andere! . . . Er wartet ja schon, bis ihn Meyerl holt! Und die Tnoim sind schon geschrieben! Und der Wechsel über fünfzig Gulden, den Ihr mir ausstellen sollt, liegt auch schon bereit.«

»Dann muß eben alles umgeschrieben werden«, erwiderte sie ruhig.

»Umgeschrieben! . . . Aber wozu? Es kann ja alles so bleiben! Ihr könnt ja die vierhundert Gulden dann Eurer Tochter schenken, wenn Ihr schon so närrisch seid, sie nicht für Euch selber zu behalten.«

»Tausend Gulden Witwengeld«, erwiderte sie, »fünfzig Gulden Aussteuer, zehn Gulden für Euch. Dabei bleibt's, entscheidet Euch!«

Mendele faßte sich mit beiden Händen an die Stirne. »Meyerl«, stöhnte er, »tu mir den Gefallen und kneip mich in den Arm, damit ich weiß, ob ich wach oder vielleicht nur so verrückt träumen tu . . . Eine Verlobung, die zurückgeht, weil der eine Teil zuwenig verlangt! – wenn je so was schon auf der Welt da war, so will ich, Mendele Schadchen, Seiltänzer werden . . . Aber es war noch nicht da! . . . Mich trifft der Schlag . . . ich platz . . . ich fahr aus der Haut!«

Aber dann geschah doch von all dem Schrecklichen nichts, sondern die Verlobungsakte und der Wechsel wurden nur eben umgeschrieben. Und dann eilte Meyerl, den Bräutigam zu holen.

Eine halbe Stunde später fuhr David Münzer in seiner Britschka bei der »Akentschaft« vor. Mühsam kletterte der Greis vom Wagen, aber nur seiner Beleibtheit wegen. Als er vor dem Ehepaar stand, mußten sie sich sagen, daß er rüstiger sei als die meisten seiner Altersgenossen. Eine hohe, breitschultrige Gestalt von mächtiger Körperfülle; der Rücken war gekrümmt, das Haupt geneigt, die Augen blickten aus den halbgeschlossenen, geröteten Lidern müde in die Welt, aber er stand fest auf den Beinen, und die Hand, die er seinen künftigen Schwiegereltern mit freundlicher Herablassung bot, zitterte nicht.

So lang sich das Vorspiel zu dieser merkwürdigen Verlobung gestaltet, so kurz spann sich diese selbst ab.

»Ich hab nicht viel Zeit«, sagte der Greis. »Auch kenn ich Euch, und Ihr kennt mich, was sollen wir da viel reden?! Meyerl sagt mir, daß Ihr auf die vierhundert Gulden verzichten wollt. Bei jedem andern wär ich mißtrauisch, aber ich weiß ja, was Ihr für ein Mensch seid, Leib! Also – ich dräng Euch natürlich das Geld nicht auf – aber ich versprecht Euch: Ihr könnt das Geld immer haben, auch wenn es Euch nicht verschrieben ist!«

Er sagte es in freundlicher Überlegenheit, etwa in demselben Ton, in dem er sonst mit einem armen Mann ein Geschäft vereinbarte.

Chane nickte befriedigt. »Wir danken Euch!« erwiderte sie, gleichfalls möglichst gemessen. »Was sind Eure Wünsche bezüglich der Hochzeit? Mendele meint: Mitte November?«

Der Kleine war bisher stumm in der Ecke hinter dem Tisch gestanden, auf dem die Akte zur Unterschrift bereitlagen, die Hände fest auf die Tischkante gepreßt; seine Beine zitterten, sein Herz pochte wie ein Hammer; auf dem verwitterten Gesicht, das nun noch kleiner, wie unter dem Druck der Herzensnot zusammengepreßt, erschien, wechselten glühende Röte und fahle Blässe. »Reb David«, begann er murmelnd, flehenden Tons, »es ist . . .« Der Greis überhörte es. »Die Verzögerung hat nun keinen Sinn mehr«, erwiderte er auf Chanes Frage. »Ich wollt warten, bis mein Nathan verheiratet ist und hätt gern die dreizehn Wochen Trauer nach meiner Malke – sie ruhe in Frieden – eingehalten. Aber da es nun unter die Leut gekommen ist« – er lächelte –, »ich weiß nicht, durch wen, es ist auch gleichgültig – so wär's kindisch, es länger zu verbergen. Ich mein, wir können die Trauung auf nächsten Sonntag ansetzen, heut in einer Woche . . .«

»Schon – nächsten – Sonntag?!« stieß Leib hervor; er wollte es laut rufen, aber die Kehle war ihm so zusammengepreßt, daß es nur wie ein heiseres, unverständliches Keuchen klang.

Auch Chane war sichtlich betroffen. »So bald?« fragte sie. »Das Kind . . .« muß erst vorbereitet werden, wollte sie sagen, aber das brauchte Reb David nicht zu wissen, » . . . hat noch keine Aussteuer«, ergänzte sie nun hastig.

»Aber das ist doch kein Grund!« rief Mendele. »In einer Woch kann man in einem Ort wie Halicz zehn Bräute ausstatten, oder hundert, oder tausend Bräute! Hunderttausend Bräute kann man in einer Woche in Halicz ausstatten! Und die fünfzig Gulden gibt euch Reb David, wie ich ihn kenn, auf der Stell, wenn Ihr ihn nur darum bittet!«

»Das ist ihr gutes Recht«, verwies ihn der Greis. »Die fünfzig Gulden hab ich sofort nach Unterzeichnung der Tnoim zu bezahlen. Wenn's also nur das ist«, wandte er sich an Chane, »so lassen wir's beim nächsten Sonntag. Denn dann, tiefer im Oktober, häuft sich die Arbeit für mich so, daß ich mich wirklich schwer für einen ganzen Tag freimachen kann . . .«

Da trat Leib vor. »Es ist – nicht bloß – die Aussteuer«, stammelte er flehenden Tones und heftete die Augen angstvoll auf das strenge Antlitz des Greises. »Seht – unsere Miriam ist ja noch ein Kind – man muß sie erst – langsam – vorbereiten!«

Mendele lachte zynisch auf. – »Überlaßt das Eurem Eidam!« rief er und klopfte dem Bebenden auf die Schulter.

Auch Reb David konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Vorbereiten?« fragte er. »Sie ist sechzehn Jahr . . .«

»Er meint nur, weil wir ihr natürlich noch nichts gesagt haben«, fiel ihm Chane ins Wort. »Aber dazu reichen sieben Minuten, und wir haben ja ebensoviel Tage dazu. Und was wär da auch viel zu reden?! . . .«

»Oh, doch!« murmelte Leib, sie aber fuhr laut und fest fort: »Also gut, nächsten Sonntag. Wir können unterschreiben!«

Reb David erhob sich schwerfällig, trat an den Tisch und griff zur Feder. Da legte sich die zitternde Hand seines künftigen Schwiegervaters auf die seine.

»Reb David«, flehte der Kleine mit erblaßten Lippen, »noch eins! . . . Ein einzig Wort . . . Seht, mein Kind ist mein ein und alles . . . Und sie ist so schön, so gut . . . und so bitter unsere Armut war, ist sie doch bisher heiter gewesen . . . licht wie ein Sonnenstrahl, Reb David . . . Nicht wahr, Ihr versprecht es mir« – seine Stimme brach sich, aber die Hand krampfte sich immer fester um die des Greises –, »sie . . . sie wird es gut bei Euch haben?!«

»Unsinn!« rief Mendele und suchte den Kleinen beiseite zu drängen. »Ihr verdient Eurer Glück nicht! Wißt Ihr nicht, mit wem Ihr redet?!«

Ein strenger Blick des Greises ließ den Vermittler zurückweichen. Aber der Blick, den Reb David nun auf Leib Weihnachtskuchens erregtes Gesicht heftete, war kaum minder verweisend.

»Reb Leib«, sagte er dann ernst, »jedem andern würde ich die Frage sehr verübeln. Euch soll sie verziehen sein, denn . . .«, er räusperte sich. »Ich aber bin gegen alles überflüssige Reden. Wozu fragt Ihr? Hättet Ihr wirklich Bedenken, so wäret Ihr doch nicht hergekommen! Und was soll ich antworten? Daß ich sie gut kleiden und nähren werde! Daß ich nicht gewohnt bin, mein Weib zu prügeln?! Sie wird es bei mir so gut haben, wie es ein junges Weib bei einem alten Mann haben kann, das versprech ich Euch . . .«

»Ich dank Euch«, sagte Chane. »Verzeiht meinem Mann – uns«, verbesserte sie sich hastig, »es ist eben unser einzig Kind . . . Daß sie so jung ist«, fuhr sie bittend fort, »und bisher nur unser Haus gekannt hat und sonst nichts, werdet Ihr gewiß nicht vergessen. Ihr seid ja klug und gut . . . Ihr wißt, sie wird erst allmählich lernen, was eine Frau in einem solchen Haushalt . . .?«

»Natürlich!« unterbrach sie der Greis. »Meine Schwester Rachel, die Witwe, führt die Wirtschaft weiter wie seit der Zeit, wo meine Malke – sie ruhe in Frieden – es nicht mehr konnte; sie war ja schon seit vier Jahren krank.« Und er wollte abermals zur Feder greifen.

Aber Leibs Hand rührte wieder an die seine. »Zürnt mir nicht«, flehte er, »aber auch wegen Eurer Schwester hätt ich ein Wort auf dem Herzen . . . Man sagt, sie ist mit Eurer verstorbenen Frau nicht gut ausgekommen . . . Und Eure Kinder – sind sie – ich meine –, werden sie gegen mein Miriamchen . . .«

In das Antlitz des Greises schlug eine Glutwelle des Zornes, und er warf die Feder hin. Dann aber bezwang er sich.

»Ihr seid Leib, der Schlemihl«, sagte er in einem Tone, der zwischen Hohn und Mitleid schwankte, »mit Euch darf man nicht über jedes Wort rechten . . . Aber weil Ihr davon begonnen habt, so will ich Euch die Antwort nicht schuldig bleiben, und Ihr sollt mir nicht nachsagen dürfen, daß ich Euch die Wahrheit verschwiegen habe. Meine Schwester Rachel und die Verstorbene – sie ruhe in Frieden – haben wirklich jede der anderen und beide zusammen mir das Leben vergällt. Aber warum? Weil Malke die Wirtschaft nicht führen konnte und doch nicht abgeben wollte, und weil sie hochmütig war wegen ihrer Familie und ihrer Mitgift und meine Schwester Rachel sich nichts gefallen ließ, denn nur aus Liebe zu mir ist sie in meinem Hause, und auch unsere Familie kann sich sehen lassen. Wie aber wird das bei Eurer Tochter sein?! Wird sie die Wirtschaft führen wollen, wird auch sie hochmütig sein wegen ihrer Familie und ihrer Mitgift?! . . . Was aber meine Kinder betrifft, so sind sie eben jüdische Kinder, und was ihr Vater will, ist ihnen Gesetz, und dem Weib, das er heimführt, werden sie die gebührende Ehre erweisen. Natürlich sind sie im Herzen gegen diese Heirat – ich wär's auch, wenn ich an ihrer Stelle wäre –, schon weil jeder Mensch lieber mehr als weniger erbt. Denn meine Söhne wissen« – er richtete sich stolz auf –, »daß ich trotz meiner Siebenzig ein kräftiger Mann bin, dem ein junges, gesundes Weib noch einen Benjamin gebären wird und, so Gott will, ein Töchterchen dazu. Aber sie fügen sich, weil ich's so will, und ich will's, weil es nicht bloß mein gutes Recht ist, sondern auch das Rechte; ich brauche deshalb vor niemand die Augen niederzuschlagen.« Und wieder reckte sich der sonst gebeugte Nacken kraftvoll empor. »Wer mich darum schelten will, melde sich!«

»Das fällt niemand bei!« riefen Chane und Mendele wie aus einem Munde. Auch Leib murmelte etwas wie eine Verwahrung gegen ein solches Unterfangen. Im stillen aber dachte er: »Ach, wenn es nur nicht eben mein Miriamchen wär!«

Der Greis nickte: »Was auch wär dagegen zu sagen?!« sagte er wieder so ruhigen Tons, als erörtere er ein Geschäft oder eine Talmudstelle. »Nichts! Vielleicht nicht einmal dann, wenn ich so alt wär wie König David, da sie ihm die Abisag zuführten. Denn das Weib blüht dazu auf, den Mann zu erfreuen. Aber ich bin nicht wie König David, da sie ihm das Mädchen von Sunem brachten, und erfülle Gottes Gebot, indem ich wieder heirate, denn die Vermehrung seines Volkes ist ihm wohlgefällig. Ein Christ oder ein ›Deutsch‹ (aufgeklärter Jude) täte es freilich wahrscheinlich nicht mehr, er würde das Gespött seiner Leute scheuen und sich lieber eine Geliebte halten, denn das ist bei ihnen für einen Greis keine Schande, aber noch heiraten ist schmählich. Ich aber bin gottlob ein Jude, habe nie ein anderes Weib berührt als mein angetrautes und will's bis ans Ende so halten. Ich nehme Eure Tochter, weil sie jung und schön ist, ich leugne es nicht. Und viel zärtliche Reden wird sie nicht von mir hören – dazu hab ich nicht die Zeit, und es ist auch nicht meine Gewohnheit. Aber was ein Mann wie ich, den so viel Arbeit und so viele Jahre belasten, tun kann, damit das Weib an seiner Seite sich glücklich fühle, soll geschehen . . . Und nun – Ihr hättet es früher überlegen sollen, Reb Leib, aber ich stell's Euch noch jetzt frei – entscheidet Euch!«

»Es ist entschieden«, erwiderte Chane, und auch Leib widersprach nicht.

So wurde der Verlobungsvertrag unterschrieben. Nachdem dies geschehen, zog der Bräutigam seine Brieftasche hervor und legte eine Fünfzigguldennote vor die Mutter hin. »Reicht es nicht«, sagte er, »so soll es mir auf einige Gulden mehr nicht ankommen. Aber ich meine, sie wird auch als mein Weib noch Hemden und Kleider bekommen können . . .« Und weil er wohlgelaunt war und das Geheimnis nun nicht mehr bewahrt zu werden brauchte, so ließ er sich durch Meyerl einen anderen Wagen aus der Dampfsäge holen und überließ den Schwiegereltern den seinen für die Heimfahrt. Sie nahmen dankend an und rollten leichteren Herzens, als sie gekommen, ihrem Hause zu.


 << zurück weiter >>