Karl Emil Franzos
Leib Weihnachtskuchen und sein Kind
Karl Emil Franzos

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VI

Auf dem Bänkchen vor dem Hause saß er nieder und starrte vor sich hin. Kam ein Bauer vorbei, so bot er ihm unterwürfig den Gruß; vor dem Popen Hilarion, der ins Pfarrhaus ging, erhob er sich von seinem Sitze, aber er wußte kaum, daß er's tat. Alles, was Leben in ihm war, kehrte sich nach innen und lauschte und lauschte . . . Kein Zweifel, es war seine Stimme, und sie sprach: Nein! . . . Tief und immer tiefer sank sein Haupt auf die Brust; er konnte sich nicht helfen und nicht seinem Weibe; sein Wille mußte geschehen . . .

So saß er noch, als Miriam auf ihn zutrat. »Die Mutter schreibt eben einen Brief nach Halicz«, sagte sie, »du sollst ihn lesen, ehe sie ihn schließt.«

Er erhob sich und schlich in die Wohnstube. Die Frau blickte nicht auf. »Hör zu!« sagte sie finster und las ihm den Brief vor. Sie forderte darin tausend Gulden für Miriam, dreißig Gulden für die Aussteuer; über das andere wollten sie, wenn Reb David in der Hauptsache zustimme, am Sonntag vor der Verlobung mündlich verhandeln. »Und nun schaff einen Boten nach Halicz«, fügte sie bei.

Er stand unschlüssig. »Ich will's tun«, sagte er endlich. »Aber sollen wir dann Sonntag vor anderen . . .«

»Schweig!« rief sie heftig. »Heut kein Wort mehr. Meine Kraft ist zu Ende!«

Gebeugten Hauptes verließ er sie. Als er vors Haus trat, schlug die Kirchenuhr eben elf. Miriam kam ihm nachgeeilt. »Vater«, begann sie, »glaubst du, daß er heute kommt?«

Er fuhr zusammen. »Nein«, erwiderte er dann hastig. »Ich hoffe, nein . . .«

»Aber warum denn?« fragte sie. »So sag's mir doch! Seid ihr böse miteinander?«

»Nein . . . Ein andermal . . .«

Er riß sich los und ging. Er fehlt ihr, dachte er bebend . . . Aber das ist ja kein Wunder, tröstete er sich dann, auch ein Hund, der so lange Jahre täglich zu einer bestimmten Stunde gekommen wäre, würde ihr fehlen . . . Und doch! Wenn sie nur schon verheiratet wäre! mußte er wieder denken. Aber war dies ein Glück?! . . .

Und abermals umstrickten ihn seine traurigen Gedanken. Da hörte er lautes Peitschenknallen hinter sich her und sprang beiseite. Es war Hirschele Krakauer, diesmal allein und in einem leichten Wägelchen. »Ihr wollt gewiß nach Halicz?!« fragte er mit schlauem Lächeln und hielt an. »Na, steigt ein; es soll mir eine Ehr sein! Aber rasch! In aller Früh hab ich nach Jezupol müssen, und nachmittags soll ich schon wieder mit den Flößern auf den Dnestr.«

»Ich fahr nicht mit«, konnte Leib endlich dazwischenwerfen. »Aber wenn Ihr mir diesen Brief mitnehmen wollt . . . An Mendele Schadchen!«

Hirschele Krakauer lachte laut auf. »Ihr braucht nicht erst zu sagen, an wen. Soll besorgt werden! Maseltow!« (»Gutes Glück!«, der übliche hebräische Glückwunsch bei Verlobungen.) Und lachend fuhr er davon.

Bestürzt blickte ihm der Kleine nach. Nun kam ihm erst zu Sinn, was ihm sein Weib von den gestrigen Vermutungen des Mannes erzählt . . . In einer Stunde wußte es ganz Halicz, mit wem sich Reb David verloben sollte, und der Greis wollte ja das Geheimnis gewahrt wissen . . . Leib rang die Hände – um Himmels willen, was hatte er da angestellt! Aber nun war's zu spät – man sah nur noch das Staubwölkchen hinter dem Wagen und bald auch dies nicht mehr . . .

Ängstlich schlich er heim – was sollte er Chane sagen, wenn sie ihn nach dem Boten fragte? Und sie hatten heute schon Aufregung genug gehabt!

Als er in sein Haus treten wollte, kam der Pope Hilarion eben aus dem Pfarrhof und rief ihn an. »Höre, mein braver Leibko«, sagte er, »ich habe mit dir zu reden. Des Janko wegen.«

Sie traten in die Schenkstube, sie war leer. Als bei ihrem Eintritt die Klingel ging, ward Miriams Kopf in der Tür der Wohnstube sichtbar, doch zog sie sich sofort zurück.

»Es ist bald gesagt«, begann der junge Priester halblaut. »Du weißt, welchen verruchten Wahnsinn der Teufel dem Janko in den Kopf gesetzt hat?! Nun wohl, wie denkst du darüber?!«

»Ich?« sagte der Kleine. »Ich bin ein Jud, mein Kind eine Jüdin – was soll ich da erst sagen?!«

Hilarion nickte. »Das hab ich gedacht! Lieber möchtest du ihren Tod erleben als ihre Taufe – nicht wahr?«

Der Kleine fuhr zusammen. »Ihren Tod?!« murmelte er entsetzt und streckte die Hand abwehrend vor. »Mein – mein einzig Kind . . .«

»Ich wünsche ihr ja nichts Böses«, beruhigte der Priester. »Ich meinte nur, du würdest ihre Taufe nie zulassen?! Nun, das hab ich auch dem Janko gesagt, aber du mußt es ihm bestätigen. Und ferner: Ich hab ihn bewogen, nicht mehr herzukommen, aber nur, weil ich ihm gesagt habe: Das fordert der Jud von dir zum Dank für seine Guttaten gegen dich, also mußt du's tun! Aber er sagt, das will er von dir selbst hören. Also geh abends zu ihm, wenn er vom Feld heimkommt, denn, gottlob, er arbeitet heut wieder.«

Leib versprach's.

»Gut«, sagte Hilarion und erhob sich. »Aber du bleibst fest, nicht wahr? Er wird dir vielleicht drohen, mach dir nichts draus. Denn da hast du Gott den Herrn zur Seite und alle Heiligen . . .«

Leib sah ihn befremdet an, der Priester bemerkte es nicht.

»Nämlich, weil das ein gutes Werk ist«, fuhr er eifrig fort. »Ein Gott wohlgefälliges Werk. Eine Jüdin soll keines Christen Weib werden. Das will Gott nicht, sonst hätt er euch nicht verflucht und euch so schwarze Seelen gegeben . . . Also, mein braver Leibko, ich weiß, auf dein Wort kann man Häuser bauen, und so verlaß ich mich ganz auf dich!«

Der Kleine trat in die Wohnstube und nahm mit Weib und Kind das kärgliche Mahl ein. »Der Brief ist besorgt«, sagte er. Chane fragte zum Glück nicht, durch wen. Sie sah heut noch viel bleicher und verfallener aus als sonst; er bemerkte es mit tiefem Schmerz, mit nagender Sorge, aber bereuen konnte er seinen Widerstand nicht – sein Wille mußte geschehen.

Zaghaft erzählte er ihr, nachdem Miriam gegangen war, den Auftrag des Popen; er fürchtete, daß auch dies sie erregen würde. Doch nickte sie gleichmütig und meinte bloß: »Wir müssen uns nur etwas ausdenken, was sein Ausbleiben für Miriam erklärt. Sonst grübelt das Kind darüber, und es soll überhaupt nicht an ihn denken. Ich erzähle ihr heut irgend etwas Häßliches von ihm und daß wir ihm darum das Haus verboten haben.«

Leib wurde unruhig. Du sollst nicht falsches Zeugnis reden wider deinen Nächsten, dachte er. Laut aber meinte er: »Was könnte das sein? Sie ist klug, hat eine gute Meinung von ihm. Auch ist derlei – verzeih – eine Sünde . . .«

Sie wollte auffahren, da trat selben Augenblicks ein Mann in die Stube, der sich lange nicht mehr in der Schenke hatte sehen lassen: der alte Martin, der Großknecht des Herrn von Paterski. »Du sollst sofort zum Herrn kommen«, befahl er.

Leib wurde blaß; welch neue Pein hatte der Gebieter, der ihm zürnte, ausgedacht? Auch Chane war bestürzt, faßte sich aber sofort, lud den Großknecht zum Sitzen ein und brachte ihm ein Gläschen vom Besten. Und dann suchte sie ihn auszuholen.

»Weiß nichts!« sagte er, schnalzte aber behaglich mit der Zunge, nachdem er das Gläschen geleert, und schob es wieder vor sie hin. Sie verstand den Wink und füllte es. »Mir scheint, ein Geschäft!« meinte er nun; sie füllte das Gläschen zum zweiten Male. Und darauf erzählte er: »Der Herr war von gestern morgen bis heut mittag in Halicz und hat dort mit den Schreibern getrunken. Das kostet immer viel Geld; er tut's nur, wenn er was von ihnen will, aber was es diesmal für ein Geschäft war, weiß ich nicht. Jedenfalls hat er erreicht, was er wollte, denn er war bei der Heimkehr sehr vergnügt. Und dann gibt er mir gleich diesen Befehl. Die Gnädige ist darüber erstaunt, er aber sagt ihr: ›Ohne den kleinen dummen Hund kann ich's nicht machen . . .‹ Ja«, schloß er behaglich, »so hat er gesagt, Ihr könnt Euch also freuen!«

In der Tat empfing Herr von Paterski den Schenkwirt, als er unter tiefen Bücklingen vor ihn hintrat, sehr freundlich. »Komm näher, Hundsblut«, sagte er. »Ich will's noch einmal mit dir versuchen, weil ich glaube, daß du mehr dumm als schlecht bist. Du hast undankbar, habgierig, gemein, mit einem Wort, jüdisch gehandelt, als du den Janko bewogen hast, das Geld vom Solincer Popen zu leihen. Aber es war auch dumm, denn was war dir nützlicher, meine Güte oder die zehn Gulden Maklerlohn?«

»Ich hab nur zwei Gulden davon gehabt«, beteuerte Leib. »Die hat mir der Janko freiwillig gegeben. Vom Popen hab ich nichts verlangt und nichts bekommen.«

»Lüge!« rief der Edelmann. »Aber wenn es Wahrheit sein sollte, was dann? Dann hast du keinen Nutzen davon gehabt und der Janko und ich nur Schaden! Vielleicht kommst du mir wieder mit deinem Geschwätz von den geringeren Zinsen! Aber meinetwegen, zwanzig Prozent, war das ein guter Rat? So viel läßt sich vielleicht in guten Jahren herausschinden, aber die erste schlechte Ernte richtet deinen geliebten Janko zugrunde! Auch bleibt er ja ewig der Schuldner des Popen! Vernünftig wär's gewesen, wenn du ihm gesagt hättest: Verkauf ein Drittel deiner Äcker, dann bleibt dir das übrige fast schuldenfrei! Aber daran hast du Dummkopf gar nicht gedacht!«

»Doch!« versicherte Leib. »Aber er, Gnädigster, hat nichts davon hören wollen. Und wer hätte ihm einen halbwegs guten Preis . . .«

Er hielt bestürzt inne; er konnte dem Gnädigsten doch nicht ins Gesicht hinein sagen, daß dieser die Preise unerhört drücke und für Winkowce der einzige Güterschlächter sei. Seine Konkurrenten hatte er unschädlich gemacht, den Moses Erdkugel durch die Anzeige wegen Wuchers, den Armenier durch ein Abkommen, wonach dieser nichts in Winkowce kaufen sollte und er, Paterski, nichts in Halicz.

»Wer?« donnerte der Edelmann. »Ich! Du weißt doch, daß ich mich für die Laune, meinen Besitz abzurunden, geradezu zugrunde richte! Und weil wir gerade darauf gekommen sind: ich bin noch heute dazu bereit! Will mir der Janko den Obstgarten neben seinem Hause verkaufen, so zähl ich ihm das Geld morgen auf. Er grenzt an den Garten, den ich vom Wassili Bukowitsch gekauft habe; darum will ich ihn haben. Mit dem Preis soll er zufrieden sein. Der verdammte Kerl, der Pope von Solince – ein Pope, der Wucher treibt, Schimpf und Schande! – hat ja alles schätzen lassen. Du kennst die Schätzung – war sie zu niedrig?«

»Nein«, sagte Leib. »Ganz gerecht.«

»Nun also! Diesen Preis zahle ich und meinetwegen noch einige Gulden drüber. Du kennst mich ja, Leib, wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe, so bin ich wie ein Kind. Ich habe dich wegen einer andern Sache holen lassen: ich will dem Armenier die Wechsel des Onufrij abkaufen; aber das hat Zeit. Machen wir vorher dies Geschäft. Für dich zehn Gulden Maklerlohn! Und natürlich bleibst du dann in der Schenke. Aber rasch muß es sein; zieht sich die Sache in die Länge, so verlier ich die Lust daran und mache keine Dummheiten mehr! Also?«

Leib war fassungslos vor Staunen; ein solcher Preis, ein solcher Maklerlohn – was war da plötzlich in Paterski gefahren . . . Aber er war ja unausführbar!

»Gnädigster«, sagte er zögernd, »das tut der Janko nicht. Er hat sich's in den Kopf gesetzt, der Hof muß ganz bleiben. Und den Obstgarten, den er so pflegt, gibt er schon gar nicht her, eher noch einen Acker . . .«

»Hund!« schrie der Edelmann auf. »Ich biete dir Rettung, und du verweigerst mir deine Hilfe?! Der Janko tut, was du ihm sagst – willst du das leugnen, Frechling?! Weh dir, wenn du es mir nicht richtest . . . Übrigens, etwas Acker will ich ihm auch noch abkaufen«, fügte er ruhiger bei. »Aber der Obstgarten muß mein sein, nun gerade steife ich mich darauf! . . . Geh und sei vernünftig! Daß ich nicht mit mir spaßen lasse, weißt du!«

Bestürzt erzählte Leib seinem Weibe von dem seltsamen Auftrag. »Dahinter steckt was!« meinte er.

Sie schwieg lange, nachdem er geschlossen. Was dahinter steckte, war ihr sofort klar: Paterski hatte in Halicz erkundet, über welche Gründe die Bahn gelegt werden sollte; der Obstgarten des Janko gehörte mit dazu . . . Aber das durfte sie ihrem Manne nicht sagen, sonst riet er dem Janko davon ab . . . Sie mußte ihn vielmehr dazu bringen, daß er es unter allen Umständen bei dem Bauer durchsetze.

»Narr!« sagte sie, »was zerbrichst du dir Paterskis Kopf?! Wahrscheinlich will er eine große Obstpflanzung anlegen, und dafür ist's ihm das Geld wert. Uns rettest du dadurch aus dem Elend, und für den Janko ist's ja auch ein gutes Geschäft.«

»Aber er wird nicht wollen«, sagte er.

»Er muß wollen!« rief sie. »Sei einmal im Leben klug«, fuhr sie flehend fort. »Denk einmal auch an dich und mich! Reb David will uns Geld geben, du sagst nein! Paterski will dich in der Schenke lassen, du denkst daran, ob das häßliche Tier, das deinem Kinde nachstellt, nicht noch mehr Nutzen davon hat, wenn es den Garten behält . . . Du handelst immer nach Gottes Gebot, sagst du, hat Gott mein Elend gewollt?!«

Er ließ sein Haupt sinken. »Ich will's versuchen«, versprach er. »Was ich kann, soll geschehen.«

Mit diesem Vorsatz trat er in der Dämmerung den Weg zum Janko an. Der junge Bauer saß auf dem Bänkchen vor seiner Kammer und verzehrte sein Abendbrot, ein Stück Maiskuchen, und trank aus einem Tonkrug Wasser dazu. Als er den Juden gewahrte, überflog ein Zittern den sehnigen Leib, und in sein abgezehrtes, verhärmtes Gesicht schlugen die Flammen.

»Der Pope hat's mir schon gesagt . . .«, stieß er hervor. »Aber du kommst umsonst!«

»Willst du mich nicht erst anhören?« bat der Kleine.

Janko schüttelte finster den Kopf. »Wozu?« sagte er dumpf. »Wie dir zumut ist, weiß ich, und was du mir sagen willst, weiß ich, aber wie mir zumut ist, weißt du nicht . . . Ich vergehe nach ihr«, schrie er auf, »ich muß sie sehen, sonst werde ich verrückt! . . .«

»Aber so sieh doch ein . . . Es ist Unsinn! Du mußt es dir aus dem Kopfe schlagen!«

»Warum?!« rief der Bauer. »Ich bin ein Mann und sie ist ein Mädel, ich hab sie wahnsinnig gern, und sie war immer gut zu mir. Unsinn? Weil sie eine Jüdin ist? Ist etwa sie eine Kuh und ich ein Pferd? – Menschen sind wir beide! Und was ist denn Jüdisches an ihr? Das Gesicht nicht, die Sprache nicht, die Gewohnheit nicht, sie ist ein Dorfkind wie ich. Ich sage dir, Leibko, zu mir paßt sie besser als zu so einem dummen, blassen Bengel mit Wangenlöckchen! Warum sollte sie sich nicht taufen lassen, warum sollte ich sie nicht heiraten? Der Pope will es nicht, du willst es nicht – aber was geht das uns beide an, wenn es uns paßt? Der Pope sagt, ich werde deshalb im Dorf noch übler dran sein als jetzt! Drauf pfeif ich! Oder weil du es nicht leidest? Du wirst es leiden, wenn ich dir sage: mein Weib wird sie und keines anderen! Verlobst du sie, so töt ich sie und dann mich!«

»Janko!« schrie Leib auf. Er hatte ihn bisher vergeblich zu unterbrechen gesucht; ungestüm, wie aufgestaute Flut, wenn der Damm zerborsten, strömte die Rede, die sich der Mann in tagelangem Brüten zurechtgelegt. »Janko! Soll das dein Dank sein?«

»Ich tu's ja nur, wenn ich muß!« rief der Bauer. »Nach meinem Willen soll sie ja leben und glücklich sein! Ich nehme sie, wie sie ist, in Ehren als Eheweib; ich will sie mein Lebtag gut halten, und verdorren mag mir die Hand, wenn ich sie je schlage – ist das nicht auch für dich Dank genug?! Bin ich dran schuld, daß du das nicht willst?! Mir ist die Jüdin zum Weib gut genug, dir ist der Christ zum Eidam zu schlecht – kann ich was dafür?!«

»Nicht zu schlecht«, wehrte Leib hastig ab, »nur geht es eben nicht . . . Ich hab schon gehofft, du siehst das ein. Du hast ja dem Popen versprochen, nicht mehr zu kommen, wenn ich dich drum bitte!«

»Ja«, erwiderte er, »aber du solltest es nicht fordern! Denn was hast du davon? Glaubst du, daß ich sie vergesse? Es wird nur immer schlimmer! Ich – ich kann's ja nicht so sagen, aber das waren Tage, Nächte« – er biß die Zähne zusammen und knirschte dann: »In der Hölle kann's nicht schlimmer sein . . . Ihr seid Dummköpfe, daß ihr das von mir fordert, denn ich halt es nur, solang ich kann, und lang geht's nicht mehr . . .« Er legte die Hand auf die Stirne. »Lang nicht . . .«, stieß er verstört hervor, »und dann, dann komm ich und reiß sie in meine Arme und sage: Mein, mein! . . . ›Wahnsinn?‹ sagst du? Dann bin ich eben auch wahnsinnig – laß es nicht so weit kommen! Ich will nichts, als sie sehen, mit ihr sprechen, dann bleib ich bei Vernunft! So wahr mir Gott helfe, dann sag ich ihr nichts! Kein Wort, kein Blick – glaubst du mir?!«

Leib schwieg verschüchtert.

»Ja«, sagte er dann zögernd, »daß du es mit dem Versprechen ernst meinst, glaube ich, aber du würdest es ja nicht halten können . . . Man darf nicht Öl ins Feuer gießen, verstehst du? . . . Du mußt sie vergessen!«

»Niemals!« rief der Bauer leidenschaftlich. »Nie wird eine andere mein Weib, nie wird ein anderer ihr Mann . . . Und wollt Ihr nicht, daß wir zusammen leben, so werden wir zusammen sterben! . . .«

Er richtete sich hoch auf, das gelbliche Antlitz färbte sich, die scheuen Augen sprühten Flammen, die Rechte zuckte wie unwillkürlich empor, und er hob die Schwurfinger.

»Höre!« rief er. »Vor langen Jahren, fast noch ein Kind, hab ich vor Gott dem Herrn den Eidschwur abgelegt: mein bleibt dieser Hof; nicht ein Krümchen Erde soll je einem anderen gehören! Den Eid hab ich bis heute gehalten, obwohl ich deshalb härter arbeiten mußte als mein Zugtier und schlechter leben als mein Hund! Und heut schwör ich: mein wird die Miriam! Ob im Leben oder im Tod, das magst du wählen! . . . Und nun geh!

Geh!« wiederholte er heftig, als der Kleine reden wollte, und so schlich dieser betrübt heim.

Scheltend hörte Chane seinen Bericht an. Aber mitten in den bösen Reden hielt sie inne und blickte nachdenklich vor sich hin.

»Dabei darf es nicht bleiben«, sagte sie zögernd. »Sonst« – sie räusperte sich – »sonst geschieht wirklich ein Unglück! . . . Was diese Menschen ›Liebe‹ nennen – pfui! pfui! –, aber gleichviel, hat einer von ihnen die ›Liebe‹ bekommen, so ist es oft sehr gefährlich, wenn er plötzlich das Mädchen nicht mehr sehen kann . . . Vielleicht ist es besser, wir erlauben ihm, wiederzukommen . . . Du hältst ihn ja für einen ehrlichen Menschen. Dann wird er auch wohl sein Wort halten.«

Leib sah sie erstaunt an.

»Soweit er kann«, wandte er zaghaft ein. »In der ›Liebe‹ benehmen sie sich ja alle wie verrückt . . . Und dann, unser Miriamchen – Gott bewahre, daß ich etwas Schlimmes denke, aber sie fragt doch immer wieder nach ihm – es wäre doch auch darum besser – nun ja! sie soll sich entwöhnen, soll ihn vergessen . . .«

»Unsinn!« warf Chane gellend dazwischen.

Gebe der Himmel, daß es Unsinn ist, dachte Leib. Laut aber sagte er: »Gut. Also ihretwegen wär's gleichgültig. Aber wenn er täglich im Haus ist, so wittert er doch vielleicht etwas von der heimlichen Verlobung. Und wird sie gar in fünf oder sechs Wochen offenkundig, so erfährt er's sogleich, und wie willst du sie dann vor ihm schützen?!«

»Das findet sich!« meinte sie leichthin und fügte dann sehr entschieden bei: »Also, er soll von morgen ab wiederkommen!«

Aber Leib schüttelte den Kopf. »Ich bitt dich«, bat er flehend, »laß das sein! Denk an meinen Traum, ich hätt keinen ruhigen Augenblick mehr . . . Aber auch wenn keine Gefahr dabei ist . . .« Er stockte, das verrunzelte Gesicht färbte sich.

»Nun?« schrie sie auf ihn ein.

Aber er mußte erst tief Atem schöpfen, ehe er schamhaft, mit glühenden Wangen und niedergeschlagenen Augen fast stotternd hervorbringen konnte: »Jetzt, Chane . . . jetzt, wo wir wissen, was er will und wie er an sie denkt . . . Ich könnt's nicht ertragen, zuzusehen, wie er mein Kind so mit seinen Blicken . . . betastet . . .«

»Narr!« rief sie. »Blicke! . . . seit wann haben Blicke jemand besudeln können? . . . Also morgen früh redest du mit dem Janko . . . Oder noch besser, ich tu's selber . . .«

»Du?!« Er stieß es halblaut, fassungslos vor Erstaunen hervor. »Du!« wiederholte er langgedehnt, heiser, während alle Farbe aus seinem Antlitz wich und die Augen starr und immer starrer blickten. Ein ihm furchtbarer, ja entsetzensvoller Gedanke schien in ihm aufgestiegen zu sein.

»Du?« rief er zum dritten Male, diesmal fast schreiend, und faßte ihre Hand.

»Was soll das wieder heißen?« Sie wollte es zürnend rufen, aber es klang verzagt. »Warum nicht ich?«

Kreidebleich stand er vor ihr. »Das geschieht nicht«, sagte er langsam und laut. »Ich verbiete es dir – ich, dein Mann, ein armer Mann, der aber ihn fürchtet und sein Kind liebt! . . . Du willst dem Janko sagen: Ich erlaub dir, wieder zu uns zu kommen und mein Kind mit deinen Blicken zu umbuhlen, wenn du dem Herrn deinen Garten verkaufst!«

Sie wollte sprechen.

»Leugne nicht!« rief er; nie vorher, in all den langen, langen Jahren, da die beiden Menschen nebeneinander hergingen, hatte er diesen Ton gegen sie angeschlagen. »Das hast du tun wollen! Du hast eben darauf vertraut, daß er in seinem Wahnsinn das Geschäft mit dir macht. Die Rechnung war gut, aber ich lebe ja noch und sage: Nein! nein! nein!«

Chane war in heiße Tränen ausgebrochen. »Nun schimpfst du mich eine Kupplerin!« rief sie außer sich. »In deiner Narrheit, deiner Schwäche hast du uns in dies Elend ohne Grenzen gebracht! Durch deine Schuld muß dein einzig Kind einem Greise hingegeben werden, durch deine Schuld sind wir verloren, wenn sich dieser Greis nicht unser erbarmt! Und will ich etwas von diesem Jammer, dieser Schande abwehren und bewirken, daß wenigstens wir unser Brot auch ferner selbst verdienen können, so beschimpfst du mich!«

Auch ihm waren die Tränen in die Augen getreten.

»Chane«, bat er und suchte ihre Hand zu fassen, »laß uns zwei gebeugte Menschen Frieden halten und nicht einer des andern Haupt noch tiefer beugen . . . Oder, wenn du willst, wenn es dir das Herz erleichtert, klage mich an, gerecht oder ungerecht, gleichviel, ich will mich nicht verteidigen . . . Aber das Weh darfst du mir nicht mehr bereiten, daß ich so zu dir sprechen muß wie soeben . . . Ich weiß, du hast nichts Böses gedacht und stürbest lieber zehn Tode, als etwas zu tun, was dein Kind nach deiner Meinung beschimpft . . . Blicke, denkst du, was sind Blicke?! Ich aber sage dir, ein ehrlich jüdisch Weib darf ihr Kind auch solchen Blicken nicht preisgeben, um Vorteil davon zu haben . . .«

»Ich bin also kein ehrlich Weib?!«

»O ja!« rief er. »Steht einst meine Seele vor seinem Richterstuhl, so will ich ihm sagen: Vieles hast du deinem Knecht auf Erden auferlegt, aber unendlich größer war deine Gnade, denn dreierlei hast du ihm gegönnt: deinen Willen zu erkennen, und dies Weib und dies Kind! Du bist anders als ich, Chane, aber ich weiß, auch du bist gut. Eine Kupplerin?!« Er streckte abwehrend die Hände vor. »Um Himmels willen – nein! Aber die Armut, mein liebes Weib, die Armut und die Sorge, das sind Kupplerinnen, und er allein weiß, warum er sie dennoch so groß hat werden lassen unter den Menschen. Sie verführen, sie machen schlecht, wir aber wollen gut bleiben! Du hast nichts Böses gedacht – aber wir sind Juden, wir müssen mehr auf uns und auf die Reinheit unserer Kinder achten als die andern, denn wir sind sein Volk! Und zudem wäre es auch eine List gegen den Janko gewesen, und man darf niemanden überlisten, am wenigsten einen Betörten . . .«

»Geh!« murmelte sie in zorniger Scham, »wir verstehen uns ja doch nicht! . . . So hast du mir auch diesen Weg abgeschnitten!«

»Mit seiner Hilfe werden wir einen besseren finden!« sagte er feierlich und trat vors Haus.

Lange ging er in der dunklen Nacht auf und nieder. Es war ein Zwiespalt der Empfindungen in ihm; der Schmerz darüber, daß er seinem kranken, sorgenbeladenen Weibe so harte Worte hatte sagen müssen, und die Genugtuung, daß er stark geblieben. Aber auch in dieser Empfindung war keine Spur von Stolz, demütig beugte er auch da sein Haupt vor Gott. Wie war es nur möglich? dachte er, daß ich solche Worte gefunden habe? Die hat er mir eingegeben – gelobt sei sein Name!

Während er so gestillteren Herzens im tiefen Dunkel dastand, schlug plötzlich durch die nächtliche Stille ein Laut an sein Ohr: es klang wie ein fernes, leises Scharren. Er horchte auf: der Laut wuchs an und ward deutlicher; es war ein Mensch, der zögernden Schrittes, immer wieder anhaltend, die Straße entlang gegen das Wirtshaus geschlichen kam. Die Umrisse konnte Leib nicht unterscheiden, aber wie die Gestalt wieder anhielt, wohl nur zwanzig Schritte von ihm, und tief aufseufzte, da ahnte er, wer dies war . . . Angehaltenen Atems und auf den Fußspitzen schlich der Kleine ans Tor seines Hauses und wollte eintreten, den Flügel hinter sich schließen. Aber eine seltsame Empfindung, aus Mitleid und Grauen gemischt, hielt ihn im Torweg fest.

Der junge Bauer kam immer näher; nun stand er dicht vor dem Hause. »Sie schläft schon«, hörte ihn Leib sagen. »Alle schlafen . . . nur ich muß wachen.«

Den Lauscher überlief ein Schauer; wieder wollte er den Flügel zuziehen, wieder hielt ihn jene Empfindung fest. Dann wollte er auf den anderen zutreten, ihn ansprechen, aber auch dies konnte er lange nicht. Endlich murmelte er seinen Namen.

Janko fuhr zusammen. »Wer . . . wer da?« stieß er mit zitternder Stimme hervor. »Du, Leibko!«

Der Jude trat hervor. »Ja, ich«, sagte er. »Du solltest heimgehen, Janko«, fügte er sanft hinzu. »Du hast morgen schwere Arbeit und mußt früh aufs Feld . . .«

»Was nützt das?« sagte Janko dumpf. »Ich will ja nicht . . . ich muß . . .«

Dann aber begann er plötzlich zu schluchzen und tastete nach der Hand des Juden. »Leibko«, stieß er hervor, »mein lieber, alter Leibko, du warst ja immer zu mir wie ein Vater – erbarme dich doch meiner! . . . Erlaube mir, daß ich morgen komme, nur eine Minute lang will ich sie sehen . . .«

»Ich darf ja nicht«, sagte der Kleine. »Und es nützt dir ja auch nichts . . . Komm, Janko, ich will dich heimbegleiten, wir wollen vernünftig miteinander reden.«

Und er führte ihn sanft, seine Hand festhaltend, hinweg. Aber zum Reden kam es nicht. Schweigend gingen sie nebeneinander her, bis sie den Hof des Janko erreicht hatten.

»Also, du willst nicht?« fragte der Bauer, und seine Stimme zitterte noch immer. »So mag sich Gott unser aller erbarmen!«

»Das wird er!« erwiderte Leib stark und innig. »Gute Nacht, Janko!«

Und er eilte heim.

Am nächsten Morgen, dem des Freitag, als Chane und das Mädchen in der Küche für den Sabbat rüsteten und Leib allein in der Schenkstube saß, traten nacheinander nicht weniger als vier wichtige Botschaften an ihn heran.

Die erste, zugleich die einzige schlimme, erhielt er mündlich. Es war Herr von Paterski selbst, der schon in aller Frühe in die Schenke trat.

»Nun?« fragte er erwartungsvoll, »hab ich den Garten?«

Leib knickte demütig in sich zusammen. »Gnädigster«, sagte er zitternd, unter fortwährenden Verbeugungen, »ich kann da nichts machen. Ich bin nicht einmal dazu gekommen, mit ihm darüber zu sprechen . . .«

»Hund!« schrie der Edelmann wütend und hob die Reitpeitsche. »Und das wagst du mir zu sagen?!«

Leib wich zurück. »Nicht aus bösem Willen!« beteuerte er. »Aber er hat mich, noch eh ich dazu gekommen bin, vom Geschäft zu reden, an seinen Schwur erinnert, keine Scholle von seinem Gut zu verkaufen . . . Wie gesagt, schon während wir über eine ganz andere Sach gesprochen haben!«

»Was war das für eine Sache?« fragte Paterski und trat einen Schritt vor, noch immer die Peitsche hoch geschwungen.

Wieder wich Leib zurück. »Das kann ich nicht sagen. Aber, so wahr mir Gott helfe, sie hat nichts mit dem Garten zu tun gehabt!«

»Hundsblut, du lügst!« rief der Pole, und diesmal sauste die Peitsche hernieder. Nur ein Sprung in die Türe zum Nebenzimmer rettete den Juden vor der Mißhandlung.

Paterski atmete schwer.

»Mir scheint«, sagte er drohend, »du spielst da mit falschen Karten! Hat dir vielleicht ein anderer auch denselben Auftrag gegeben?«

»Nein«, beteuerte Leib. Und erstaunt fügte er bei: »Ein anderer auch? Warum sollten sich die Leut plötzlich um den Garten des Janko reißen?«

Der Edelmann biß sich auf die Lippen.

»Ich wüßte auch nicht warum«, sagte er dann. »Ich dachte nur – weil man einem Juden eben alle Hinterlist der Welt zumuten darf . . . Also du willst da nichts tun?«

»Ich kann nicht, Gnädigster! Er verkauft nicht.«

»Du mußt ihn aber dazu bringen!« brauste Paterski auf. »Hörst du, du mußt! Tu deine Ohren auf, Jude. Kannst du mir bis heut abend melden, daß der Garten mein ist, gleichviel um welchen Preis, und kann der Kauf Montag in Halicz abgeschlossen werden, so bleibst du in der Schenke und bekommst zwanzig, meinetwegen sogar dreißig Gulden Maklerlohn! Geschieht dies nicht, so hast du zu Neujahr die Kündigung und wirst im nächsten Sommer davongejagt, und wenn der Herrgott selber für dich um Gnade bitten wollte. Adieu!«

Er ging.

Ebenso betrübt wie erstaunt sah ihm Leib nach. Dreißig Gulden! – bis Montag! was ging da vor? Aber es hatte ja leider keinen Zweck, darüber zu grübeln. Soviel war jetzt entschieden – in Winkowce war nun nicht lange mehr seines Bleibens.

Während er noch erwog, ob er seinem Weibe das Gespräch erzählen oder verschweigen sollte, trat ein anderer Besucher ein, der vor den Kleinen kaum minder herrisch hintrat als der Edelmann, obwohl er in allem von diesem so verschieden war, daß keine Phantasie einen schrofferen Gegensatz hätte ersinnen können. Es war ein Schnorrer, einer jener jüdischen »fahrenden Leute«, die unablässig den Osten Europas durchziehen und oft genug auch nach Deutschland, ja nach Amerika und von dort wieder nach Galizien und Rußland pilgern, eine rechte Plage ihrer Glaubensgenossen. Viele wüstes Gesindel, andere nun eben Bettler, wieder andere nicht ungelehrt und unbegabt – man findet oft tüchtige Talmudisten, Musikanten, Wanderprediger unter ihnen –, aber alle hungrig, durstig und dreist.

»Scholem aleichem« (Friede mit Euch!), sagte der Mann beim Eintritt. »Seid Ihr Leib, der Schenker?« Der Dialekt verriet den Russen.

»Aleichem scholem«, gab dieser seufzend den Gruß zurück. »Ich bin's.«

Der Gast sah übel aus; in Fetzen hing ihm der schmutzstarrende Kaftan um den hageren, sehnigen Leib; der Filzhut bestand gleichfalls eigentlich nur aus lauter Löchern, und all sein Hab und Gut trug er in einem Taschentuch am Stock befestigt. Als das betrüblichste aber erschien dem Schenkwirt die rote Nase in dem durchfurchten, bartumstarrten Gesicht. Die fromme Sitte gebietet jedem Juden, einen solchen Schnorrer nicht unbegabt zu entlassen, und kommt er am Freitagvormittag, so muß man ihn, wenn er will, über den Ruhetag bis zum Sonntagmorgen im Hause behalten. Aber das ist meist kein Vergnügen, und am wenigsten, wenn der Gast eine solche Nase hat und der Wirt ein Schenker ist.

»Nehmt Platz«, sagte Leib. »Wollt Ihr einen Imbiß?«

Der Schnorrer sah ihn hochmütig an.

»Was schneidet Ihr für ein Gesicht?« fragte er. »Glaubt Ihr etwa, ich will über Sabbat bei Euch bleiben? Ich bin's, gottlob, besser gewohnt! Auch hat mich Reb Schlome in Jezupol für heut abend geladen – der reichste Mann im Städtchen –, da bleibt man doch nicht bei Leib Schenker! Auch Euer schimmelig Brot brauch ich nicht. Nur ein Glas Schnaps gebt mir, aber vom besten! Hört Ihr? Ich bin Reb Mordche Kremmenitzer und darf das verlangen!«

Leib hatte zwar den Namen nie gehört, tat aber, wie ihm befohlen.

Der Schnorrer leerte das Glas auf einen Zug und schnalzte mit der Zunge. »Das laß ich mir gefallen«, sagte er, »das ist doch Schnaps und nicht Wasser! Kein Wunder, daß Ihr dann ein so armer Teufel bleibt, Reb Leib . . . Noch ein Glas!«

Auch dies spendete der Kleine und versuchte sogar, ein vergnügtes Gesicht dazu zu machen; der Gast hatte versprochen, bald wieder aufzubrechen; das verdiente Belohnung.

Dem zweiten folgte ein drittes und viertes Glas. Dazwischen befahl der Fremde nun doch einen Imbiß: zwei hartgesottene Eier und Butterbrot. Gehorsam ging Leib in die Küche und brachte dann das Gewünschte herbei.

Nachdem der Schnorrer ein fünftes Glas geleert, erhob er sich; die Nase war nur noch ein wenig röter, aber er wankte nicht.

»Ihr seid ein braver Mensch, der seine Pflicht tut«, sagte er herablassend. »Das verdient Belohnung. Ich hab hier einen Brief für Euch von Reb Mosche, dem Halsabschneider. Der elende Kerl gibt mir zwei Kreuzer und sagt: ›Dafür müßt Ihr diesen Brief bestellen. Es steht was Gutes darin, Reb Leib wird Euch also gut aufnehmen.‹ Ich aber denke: Gut aufnehmen muß mich dieser Leib, weil ich ein Gast bin; knickert er, so geb ich ihm den Brief nicht, es ist ja was Gutes drin – soll ich Schlimmes mit Gutem belohnen? Nun – Ihr verdient es – hier ist der Wisch!«

Der Russe reichte ihm das Schreiben hin und ging. Mit bangem Herzen erbrach Leib das Siegel und las. Er traute seinen Augen nicht, aber da stand es wirklich und wahrhaftig in den verschnörkelten Zügen der hebräischen Kursivschrift:

»Lieber Freund! Hoffentlich habt Ihr nicht ernst genommen, was ich Euch am Montag gesagt hab! Ich war, wie Ihr wißt, schlechter Laune, aber etwas zu tun, was einem alten Freund unangenehm wäre, fällt mir natürlich nicht ein. Ich bitte, verzeiht mir den Ärger, den ich Euch vielleicht dadurch bereitet habe. Es soll mir ein Vergnügen sein, Euch den Wechsel für so lange zu verlängern, als Ihr nur irgend wollt. Euer Mosche.«

Leib starrte fassungslos vor freudigem Staunen auf das Blatt. Dann eilte er in die Küche. »Lies!« rief er und reichte den Brief seinem Weibe hin. Auch über ihr vergrämtes Antlitz flog ein Schimmer der Freude. Dann aber fragte auch sie: »Was geht da vor?! Mosche ist plötzlich dein Freund und hat's Montag nicht ernst gemeint?!«

»Es steht ja da«, sagte er fröhlich, »also muß es wahr sein.«

Sie schüttelte den Kopf. »Er wird von der Sach mit Reb David gehört haben«, erwiderte sie besorgt. »Und das ist nicht gut! Reb David möcht ja, daß es noch ein Geheimnis bleibt, will am Ende dann gar nichts mehr davon wissen . . . Aber wer kann's unter die Leut gebracht haben?!«

Der Kleine wurde bleich; ein Zittern überlief ihn. Sie sah ihn befremdet an. »Durch wen hast du gestern den Brief an Mendele geschickt?!« rief sie.

Die Reue und die Furcht überwältigten ihn so, daß er sich an die Wand lehnen mußte und unwillkürlich die Augen schloß. Mit bleichen Lippen gestand er: »Durch . . . durch Hirschele!«

»Schlemihl!« brach sie gellend los; so heißt im Jargon ein Mensch, der durch sein Ungeschick ins Unglück gerät. »Du hast uns alle zugrunde gerichtet!« Und ein Hagel von Vorwürfen sauste auf ihn nieder.

Gesenkten Hauptes ließ er ihn über sich ergehen, ohne ein Wort der Verteidigung zu wagen. Und es fiel ihm auch keines bei. Sie hatte recht, er war ein Schlemihl. Stumm schlich er, nachdem sie sich müde geschrien, hinaus und sank auf das Bänkchen vor dem Hause. Einen Trost fand er auch nun nicht; in dieser Not versagte sogar der Gedanke an ihn. Hatte er ihm befohlen, gerade Hirschele Krakauer zum Boten zu wählen?!

So saß er noch und starrte betrübt vor sich hin, als er plötzlich seinen Namen rufen hörte. Vor ihm stand ein seltsames Männchen in zerschlissenem Kaftan; an Wuchs und Zartheit der Glieder ein Knabe, aber das häßliche Gesichtchen wies tausend Furchen, und in das Fuchsrot des Bartes mischten sich weiße Fäden. Das war Meyerl Spazierstock, der Gehilfe und Botenläufer Mendeles, zugleich sein Ausspürer, der unablässig unterwegs war, um Namen und Verhältnisse der Heiratsbedürftigen auf zwanzig Meilen im Umkreis zu erkunden.

Leib sah das grinsende Gesicht des Männchens nur wie durch einen Nebel, so sehr flimmerte es ihm vor dem Blick. Nun läßt uns Mendele die Sach aufsagen, dachte er schaudernd.

Aber Meyerl bemühte sich im Gegenteil, eine möglichst freundliche Miene zu ziehen. »Wie geht's?« rief er. »Was macht unsere schöne, dicke Braut?«

»Danke!« stammelte Leib. »Was . . . was bringt Ihr?«

»Gutes natürlich!« Das Männchen warf sich in die Brust. »Wenn wir was in die Hand nehmen, so geht's glatt! Leicht habt Ihr's uns wahrhaftig nicht gemacht! Was reitet Euch der Teufel, es unter die Leut zu bringen? Reb David war auch sehr zornig drüber. Aber wir haben ihm gesagt: ›Wer kümmert sich um Geschwätz?! Fragt man Euch, so könnt Ihr antworten, Ihr wißt von nichts! Und das gleiche werden Reb Leib und sein Weib antworten. Dafür sorgen wir.‹ Da hat er sich wieder beruhigt. Also das läßt Euch Mendele sagen!«

Leib atmete tief auf. »Darum seid Ihr gekommen?« fragte er erleichtert. Aber so weltfremd, um dies zu glauben, war selbst er nicht. »Nur darum?«

»Natürlich«, erwiderte Meyerl. »Und dann – natürlich! – wegen der Bedingungen. Also – aber da muß wohl auch Euer Weib dabeisein?!«

Freudestrahlend holte Leib sie aus der Küche herbei. Sie aber, so sehr sie innerlich jubelte, konnte sich doch nicht enthalten, ihm zuzuflüstern: »Ein Schlemihl bleibst du deshalb doch! Und die Bedingungen mach ich aus!«

Er widersprach nicht und hörte still zu, während Chane die tausend Gulden Witwengeld für Miriam, ferner statt der dreißig nun fünfzig Gulden Aussteuer erkämpfte, weil sie Meyerls Erscheinen mit Recht als Beweis dafür deutete, wie sehr es dem greisen Bräutigam um eine rasche Ordnung der Angelegenheit zu tun sei. Aber unruhig wurde der Kleine, als nun Meyerl sagte: »Was aber verlangt Ihr für Euch? Ihr sagt, Ihr wollt erst Sonntag darüber reden. Warum erst da? Ist das gar so angenehm für Reb David und Euch? Ich mach Euch einen Vorschlag: Ihr bekommt vierhundert Gulden und gebt davon fünfzig für Mendele und zehn für mich. Aber nun sagt auch gleich ja und bedankt Euch schön!«

Das aber taten sie beide nicht. Mit dunkelgerötetem Gesicht schielte Leib nach seinem Weibe hin, und auch sie schwieg, weil sie sich erst die Sache zurechtlegen mußte. Darum also war Meyerl gekommen – die vierhundert Gulden waren offenbar schon dem Alten abgerungen. »Vierhundert!« begann sie dann, »aber davon nur vierzig für euch beide . . .«

»Nein!« rief Meyerl. »Lieber mag nichts aus der Sach werden! Wer armen Menschen den ehrlichen Lohn nicht gönnt . . .«

»Still!« unterbrach ihn Leib. »Ob wir was fordern, sagen wir Sonntag Reb David selbst!« Und als Chane losbrechen wollte, wiederholte er fast gebieterisch: »Still!«

Diesmal ließ sie sich nicht einschüchtern. »Wir gehen vorher zum Rabbi und lassen ihn entscheiden!« rief sie. »Wißt Ihr, was er will?!« wandte sie sich an Meyerl, als wollte sie ihn zu Hilfe rufen.

Aber Leib hatte auch davor kein Bangen; in dieser Frage gehorchte er ja seiner Stimme. »Nichts will ich«, sagte er. »Ihr könnt es jedem sagen!« Und er schritt aus der Stube.

Starr vor Staunen blickte ihm Meyerl nach. »Ist er verrückt?« fragte er dann. Sie zuckte die Achseln. »Das findet sich noch!« sagte sie, aber es klang etwas unsicher. Dann verabredeten sie, daß die Verlobungsakte schon am Vormittag des Sonntag bei Mendele unterschrieben werden sollten. Denn am Nachmittag mußten sie ja der vielen Gäste wegen wieder daheim sein.

Als Meyerl gegangen war und Leib wieder in die Stube kam, begann sie ihn abermals zu bestürmen. Ob er denn gar so viel auf Mosches Großmut baue?

»Nein«, erwiderte er, »aber auf ihn! Und da wird dir auch der Rabbi nichts nützen! Was er will, weiß ich selbst so gut, daß es mir nicht zehn Rabbiner besser ausdeuten können. Auch meine Seele ist vor dem Sinai gestanden und hat seine Stimm gehört!«

Sie schwieg. Mit Gründen des Glaubens ließ sich ja dagegen nicht ankämpfen. Die Macht des Rabbi ist unendlich groß, wenn es sich um die Einhaltung der Tausende und aber Tausende von Geboten und Verboten des Zeremonials handelt; in Gewissensfragen übt er geringere Macht als irgendein anderer Priester. Denn alle jüdischen Seelen sind »vor dem Sinai gestanden«; jeder einzelne fühlt sich seinem Gott nah und bedarf keines Mittlers zwischen sich und seinem Herrn.


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