Karl Emil Franzos
Leib Weihnachtskuchen und sein Kind
Karl Emil Franzos

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V

Der nächste Tag schien ihr recht zu geben; es war zum ersten Mal seit langen Jahren, daß Janko nicht mit dem Schlag der elften Stunde eintrat. Mit klopfendem Herzen saß Leib hinter der Barre; bei jedem Schritt, der draußen klang, fuhr er zusammen.

Für Miriam hatte die Mutter im Keller Arbeit geschafft. Aber nach einer Weile guckte doch ihr Rotkopf in die Schenkstube. Als sie den gewohnten Platz leer sah, machte sie große Augen.

»Was geht da vor?« fragte sie besorgt. »Gestern soll er betrunken gewesen sein, und heut kommt er nicht?«

»Miriam!« gellte hinter ihr die Stimme der Mutter aus der Küche.

»Gleich«, erwiderte sie, blieb aber noch. »Vater«, bat sie, »du solltest nach ihm sehen. Er ist gewiß krank!«

»Nein . . .«, murmelte er. »Aber wenn du meinst . . .«

»Miriam!«

»Tu's!« bat sie und verschwand. Ihm aber wälzte sich eine neue Last auf die Brust. Wie besorgt sie um ihn ist, dachte er. Dann aber tröstete er sich: Oh, ich Narr! Sie ist so an ihn gewöhnt und sollt nicht nach ihm fragen?! Und wieder horchte er hinaus.

Endlich schlug es zwölf; Janko war nicht gekommen. Die Dorfstraße belebte sich – die Leute, die zum Mittagessen heimgekommen, zogen nun wieder auf die Felder – auch unter ihnen war Janko nicht. Leib trat vors Haustor; das Herz wollte ihm nicht leichter werden. Fast hätte er sich wirklich zum Janko aufgemacht; nur die Furcht vor seinem Weibe hielt ihn zurück. Es ist ja nicht Mitleid, dachte er, aber vielleicht wär's klug zu erfahren, was er nun eigentlich vorhat. Da belog der Kleine, der keinen anderen belügen konnte, freilich wieder einmal sich selber. Trotz allen Grauens vor dem »Tier« war doch auch Mitleid in dieser Empfindung, ein ehrliches Mitleid. Eben ein Bauer! Hat diese »Liebe« bekommen, als ob's eine Christin wäre, will sie heiraten! Ein dummer Bauer! Aber wie schrecklich ihm das gestern gewesen sein muß, und heut ist er vielleicht noch verzweifelter. Und hatte er nicht seit Jahren für diesen Menschen gesorgt?! Er war's nun einmal gewohnt, um des Janko willen Kummer und Sorge zu haben! Im nächsten Augenblick schalt er sich freilich ob seiner Schwäche. Nein, Unsinn! Aber klug wär's, klug! . . .

Da kam als einer der letzten, die auf das Feld zurückkehrten, ein Knecht des Janko vorbei, der rote Saverko. Als er den Schenkwirt gewahrte, trat er auf ihn zu.

»Du, Jud«, sagte er, »du weißt ja alles vom Herrn, was hat's denn mit ihm gegeben?! Wird er vom Hof gejagt? Nämlich, seit gestern sitzt er in seiner Stube eingeriegelt und läßt die Wirtschaft gehen, wie sie will. Ißt nichts, starrt vor sich hin, spricht mit sich selber. Mir scheint . . .«, er deutete auf die Stirn.

»Und da läßt du ihn allein?« rief Leib vorwurfsvoll.

»Was soll ich denn tun? Vor der verriegelten Tür sitzen und ihn in seinem Stall bewachen? Gottlob, den stiehlt ohnehin niemand! Ich sag's dir, weil du sein Freund bist!«

Er ging. Eine Sekunde noch stand der Jude unentschieden, dann lief er die Dorfstraße hinab, dem Hause des Janko zu; die kleinen krummen Beine strampelten so hastig im tiefen Staub der Straße, daß er ihn wie ein Wölkchen umhüllte. Er tut sich sonst was an! – mochte Chane schimpfen und toben, Gott wollte, daß er zum Janko ging . . .

Endlich hatte er den Hof erreicht und lief um das Häuschen, wo Hilarion wohnte, dem Stalle zu, von dem sich Janko ein Kämmerchen als Schlafraum abgegrenzt hatte . . . Die Tür stand halb offen. Gottlob, es war jemand bei ihm – und nun erkannte er die Stimme des jungen Priesters.

»Und ich sage dir«, rief Hilarion eben eifervoll, »sie wird sich nicht taufen lassen. Da kennst du dies gottverdammte Volk schlecht – in der Blindheit sind sie geboren und wollen darin verharren, bis sie zur Hölle fahren – das ist der Fluch, den unser Herr auf sie gelegt hat! Und wenn sie sich taufen ließe – Gott schütze dich vor dem jüdischen Blut! Rachsüchtig sind sie alle und habgierig und verlogen; eher mag ein Stein Mitleid fühlen, als ein Judenherz . . .«

Er sprach so laut, daß Leib jedes Wort verstehen konnte. Aber was nun Janko murmelte, konnte er nicht erlauschen. Hingegen klang nun wieder die Stimme des Priesters:

»Nein, das Mädel ist nicht besser als ihresgleichen. Und wenn sie's wäre, werden's dir die Leute im Dorf glauben wollen? Sie werden dich noch mehr hassen und meiden als jetzt, und dann mit Recht; du wirst deinen Hof aufgeben müssen, an dem dein Herz hängt, und wirst ins Elend kommen mit deinem jüdischen Weib und deinen jüdischen Kindern . . .«

So weit hatte der Kleine gelauscht; nun schlich er sich sacht hinweg, er fürchtete, entdeckt zu werden . . . Erleichterten Herzens ging er seinem Hause zu. Die bösen Worte, die Hilarion über seinen Stamm, sein Kind gesprochen, verwundeten ihn nicht; eben ein Christ, wie sollte der anders reden? Aber gut war, daß er dem Janko so kräftig abriet, und vor allem: nun tat sich der Mensch gewiß nichts an . . . Auch war Chanes Angst, daß Hilarion Lärm schlagen würde, sicherlich unbegründet; da er dem Janko wohlwollte, so mußte er schon um seinetwillen schweigen.

Auf der Bank vor der Schenke saß die Miriam und flickte an einem Kleid der Mutter. Als sie den Vater nahen sah, legte sie die Arbeit hin und ging ihm entgegen.

»Nun?« fragte sie, und die großen braunen Augen blickten ihn angstvoll an.

»Gesund . . .«, erwiderte er. »Hat nur – zuviel zu tun«, wollte er sagen, aber das wäre ja eine Lüge gewesen – »mit dem Popen zu sprechen . . .«

»Gerade um Mittag?« fragte sie erstaunt. »Ist es wegen seines Streits mit dem Onufrij? . . . Aber morgen kommt er doch?«

Wieder stieg jenes heiße, dunkle Angstgefühl in ihm auf. »Wahrscheinlich«, sagte er stockend, und seine Augen bohrten sich in das frische, derbe Antlitz. »Aber wenn nicht – müssen wir da sehr traurig sein?«

Sie blickte ihn bestürzt an. »Was geht da vor?« fragte sie und faßte seine Hand. »Warum will er nicht mehr kommen?! . . . Natürlich würde ich traurig sein, du doch auch? Wir haben ihn ja beide gern!«

Er zog sacht seine Hand zurück. »Es ist ja auch nichts geschehen«, erwiderte er unsicher und ging ins Haus. »Eben die Gewohnheit«, suchte er sich auch diesmal zu trösten, aber es wollte ihm nicht recht gelingen. Für diesen Nachmittag hatte Chane gestern den Weg nach Halicz angesetzt. Er hatte sich vorgenommen, ihr nicht entgegen zu sein, sie aber auch beileibe nicht daran zu erinnern. Ein Greis wie Reb David . . . es war doch sehr bitter . . . Nun aber, unter diesem letzten Eindruck, begann er schüchtern: »Du hast gemeint, wir sollten heute zu Mendele . . .«

»Gottlob, daß du mich daran erinnerst«, erwiderte sie höhnisch. »Ich hätt sonst nicht an die Kleinigkeit gedacht . . . Natürlich gehen wir . . . Miriam, hast du den Riß zugenäht?!«

Das Mädchen brachte das Kleid und war der Mutter beim Ankleiden behilflich. Leib stand unschlüssig in der Ecke. »So mach dich fertig«, herrschte ihn Chane an. Aber er blieb, bis die Tochter gegangen war.

»Sollen wir sie allein lassen?« begann er zaghaft.

»Natürlich! Ist's das erste Mal? . . . Du siehst ja, er traut sich nicht mehr her. Und jetzt arbeitet er wohl auch mit draußen . . .«

»Er arbeitet nicht«, erwiderte er. Dann richtete er sich auf und sagte mit einer Entschlossenheit, zu der er sich seit Jahren nicht mehr aufgerafft: »Es darf nicht sein, Chane . . . Geh du allein!«

Sie blickte ihn an und lenkte sofort in ihrer Art ein. Denn sie erkannte, daß er diesmal nicht nachgeben würde; auch mochte er ja wohl recht haben . . . »So bist du immer«, zeterte sie. »Erkennst du endlich, daß du Unsinn gewollt hast, so schreist du mich doch vorher an, als wolltst du mich fressen! Natürlich geh am besten ich allein, aber wie sollt ich mich trauen, darauf zu bestehen? Du wirfst mir ja immer vor, daß ich das Wichtigste ohne dich tue . . .«

Er atmete auf. »Ich werd's dir diesmal nicht vorwerfen«, beteuerte er demütig. »Auch mußt du hin, weil du ja den Arzt fragen mußt. Und wenn du schon in Halicz bist«, fuhr er fort, »so sprichst du vielleicht auch mit Mosche . . . In acht Tagen ist ja schon der erste Oktober . . . Er soll doch wenigstens den Wechsel für so lange verlängern, bis entschieden ist, ob mir Paterski kündigt.«

»Ich hab's sogar als ersten Gang vorgehabt«, erwiderte sie. »Aber was soll ich ihm sagen? . . . Mit guten Worten ist Mosche nicht zufrieden . . . Und das alles – hast du uns – eingebrockt – du – für deinen – lieben . . .«

Wieder einmal befiel sie der Krampfhusten, daß sie zu ersticken drohte. Es währte lange, bis sie den Weg antreten konnte. Nur die Kraft der Seele hielt den armen Körper aufrecht, als sie sich so Schritt für Schritt im Staub der Straße dahinschleppte. Es währte wohl eine Stunde, bis sie auch nur das Wäldchen erreicht hatte, und da mußte sie sich zur Rast niederlassen. Ich komm nicht hin, dachte sie verzweifelt, und wie erst zurück?!

Da kam ihr Hilfe in der Not. Eine lange Reihe von Lastkarren zog vorbei, jeder mit einem riesigen Baumstamm beladen; die Kutscher, jüdische Fuhrknechte, gingen peitschenknallend nebenher. Auf dem letzten Karren saß der Aufseher des Zuges, Hirschele Krakauer, ein Angestellter der Dampfsäge. Frau Chane kannte ihn wohl und rief ihn an.

Er ließ sofort halten und machte ihr einen Sitz neben sich zurecht. »Das trifft sich gut«, sagte der freundliche, schwatzhafte Mann. »Man verlernt ja sonst ordentlich das Reden . . . Also nach Halicz wollt Ihr? Am End gar . . .« Er kniff die Augen zusammen und blinzelte sie schelmisch an.

»Was meint Ihr?« fragte sie.

»Nun, es könnt ja wirklich auf Euch gehen. Euer Rosele ist ja ein Prachtmädel« – er schnalzte mit der Zunge – »und Euer Mann ist ja ein Rendar (Pächter einer Dorfschenke, das korrumpierte Wort für Arrendator). Freilich – wie lang er's noch bleibt . . .«

»Sprecht deutsch, Reb Hirschele«, sagte sie scharf. »Größere Sorg sollt Ihr im Leben nicht haben, als wie lang mein Leib noch seine Pachtung behält, und meine Tochter heißt Miriam. Aber wo wollt Ihr hinaus?«

Er blickte sie prüfend an; sie verzog keine Miene. »Nun, dann geht's eben auf eine andere«, meinte er. »Gegönnt hätt ich's Euch ja, aber es war mir gleich unwahrscheinlich: ein schön Mädele wär dem Alten schon recht, aber hier müßt er ja auch euch zwei mit heiraten.« Und dann erzählte er, daß Mendele Schadchen jetzt sehr oft zu seinem Herrn, Reb David, komme; das gestrige Gespräch der beiden habe ein anderer Bediensteter belauscht und ihm vor seiner Abfahrt erzählt; es habe sich um die Tochter eines Rendars gehandelt. »Und wie ich Euch so am Weg treff, denk ich: sie läuft zu Mendele, das Glück nicht zu versäumen!«

»Was Ihr klug seid!« sagte sie spöttisch. »Wer ein Kind hat wie ich, kann ruhig warten, bis der Schadchen kommt . . . Übrigens ist die ganze Geschichte Unsinn; ein Mann wie Ihr, Reb Hirschele, sollt sie gar nicht nachschwatzen. Möglich, daß Mendele bei Eurem Herrn war – der rennt jedem die Tür ein, wo er ein Geschäft wittert –, aber dann hat ihn Reb David hinausgeworfen. Ein siebzigjähriger Mann, der vor sechs Wochen sein drittes Weib begraben hat . . . «

»Hoho!« rief Krakauer überlegen. »Mein Freund hat jedes Wort gehört. ›Das paßt mir sehr‹, hat unser Herr gesagt, ›ich kenn das Mädele. Bringt die Sache ins reine‹, hat er gesagt, ›auf hundert Gulden für die Alten soll's mir auch nicht ankommen!‹ Und warum hätt er auch nicht so reden sollen?! Meint Ihr, mit Siebzig hat man Zeit zu warten? Und sollt er sich da als letzte Freud auf Erden eine Alte wünschen?«

Das Herz der Frau pochte zum Zerspringen. »Meinetwegen«, sagte sie dann möglichst gleichmütig. »Aber was geht's uns an?«

Von da ab bestritt nur Reb Hirschele die Kosten der Unterhaltung. Obwohl er von dem Reichtum seines Herrn erzählte und welches große Geschäft Reb David mit der Lieferung der Bahnschwellen mache, für welche auch diese Stämme bestimmt seien, hörte sie ihm doch kaum zu. Welches Glück! jubelte ihr Herz. Nun ist alles, alles gut . . .

Bei den ersten Häusern von Halicz verabschiedete sie sich von Reb Hirschele; die Wagen mußten ja an der »Akentschaft« vorbei, aber weder brauchte er zu wissen, wohin sie ging, noch Mendele, in wessen Gesellschaft sie den Weg zurückgelegt. Zu ihm mußte sie nun; das ersparte ihr hoffentlich auch den Besuch bei Moses Erdkugel.

Als Chane das Wartezimmer des Vermittlers betrat, wurde sie von Frau Beile Pulverblitz ähnlich empfangen wie zwei Tage zuvor ihr Mann. Nur kam das dicke, hochmütige Weib diesmal übel damit an.

»Warten soll ich«, fragte Chane, »bis Euer Mann für eine so kleine Sach Zeit hat? Nun, so wird er sich die Zeit nehmen müssen, morgen zu mir zu kommen.« Und sie schritt, an der Verblüfften vorbei, stolz zur Türe hinaus und kehrte erst um, als Mendele das Fenster öffnete und ihr nachrief.

»Verzeiht«, sagte er dann, »aber mein Weib hat gewußt, daß ich Euch ohnehin noch nichts sagen kann. Ich hab jetzt so viel mit großen Sachen zu tun – dreißig Meilen weit her kommen ja jetzt die Leut zu mir –, daß ich . . .«

»Daß Ihr«, fiel sie ihm ins Wort, »gestern schon in aller Früh mit Reb David darüber gesprochen habt! Noch eh Ihr wußtet, daß es uns paßt!«

Aber Mendele Pulverblitz war nicht leicht zu verblüffen. Der wulstige Mund spitzte sich und ließ einen leisen Pfiff hören.

»Es scheint, es paßt Euch nicht«, höhnte er. »Nur so aus Neugierde habt Ihr ausgespäht, ob ich schon dort war. Aber Mendele Schadchen lügt niemals. Ich war dort, nur eben wegen einer anderen Partie, die mir mehr trägt als zehn Gulden. Mir scheint, er geht drauf ein, aber wenn sich die Sach vielleicht doch zerschlägt, dann will ich mit ihm von Eurer Tochter reden.«

»Nicht nötig«, erwiderte sie und erhob sich. »Reb David kennt unser Kind und wünscht sich keine andere als sie, da brauchen wir also Euch nicht. Es spricht eben ein anderer mit ihm, der nichts dafür verlangt, und wir können die hundert Gulden, die er uns geben will, ganz behalten. Wer durch Lügen mehr erpressen will, als abgemacht ist, der verdient die Straf, daß er nichts bekommt. Gott befohlen!«

Diesmal ereignete sich etwas, was noch die wenigsten Menschen gesehen hatten: Mendele schlug wirklich und wahrhaftig den Blick nieder. Aber nur einen Augenblick. Ehe Chane noch die Hand auf die Türklinke legen konnte, hatte er sie erreicht.

»Hat das einen Sinn?« fragte er lächelnd. »Weil ich alles in Ordnung gebracht hab, wollt Ihr die Sach nun durch einen anderen zu End bringen lassen? Ist das gerecht? . . . Nehmt Platz, Chane, Ihr seid klug und ich nicht dumm, wir werden uns leicht verständigen. Also: Reb David ist einverstanden, die Tnoim (Verlöbnisakte) können geschrieben werden, wann Ihr wollt, auch morgen schon; nur bleib die Sach zunächst noch unter uns. Glaubt Ihr, daß Euer Miriamchen schweigen kann, so könnt Ihr es ihr ja sagen; aber fürchtet Ihr, daß sie damit prahlen wird, so erfährt auch sie es besser erst später.«

»Warum?« fragte die Frau mißtrauisch.

»Erstens will er vorher seinen Nathan verheiraten; die Partie mit der Hussiatynerin – Euer Mann hat Euch doch davon erzählt? – hab ich nun auch in Ordnung gebracht; die Hochzeit ist in fünf Wochen, Ende Oktober. Daß er die Verlobung bis dahin geheimhalten will, werdet Ihr doch verstehen? Der siebzigjährige Vater zu gleicher Zeit Bräutigam wie der siebzehnjährige Sohn, und beide unter einem Dach – es wär ein bißchen lächerlich. Dann aber verlobt man sich doch, selbst wenn man so alt ist und es daher eilig hat, nicht sechs Wochen nach seines dritten Weibes Tod mit einer vierten! Also, Eure schriftliche Sicherheit sollt Ihr sofort haben, aber die Verlobung wird erst einige Tage vor der Hochzeit kundgetan . . .«

»Und wann soll die sein?« fragte sie.

»Mitte November. Dann hat er volle dreizehn Wochen Trauer gehalten; mehr kann von einem Siebzigjährigen kein Mensch verlangen.«

Die Frau dachte nach. »Ich bin einverstanden«, sagte sie dann kurz. »Und nun die Bedingungen. Was sichert Reb David meiner Tochter zu, wenn sie – ich meine, wenn er vor ihr sterben sollte?!«

Mendele wollte erstaunt, dann entrüstet tun. »Soll ich mit einem Bräutigam von seinem Tod reden?!« rief er. Aber im nächsten Atemzug besann er sich eines Besseren. »Ich bin überzeugt«, sagte er, »er lebt noch lange, und die Ehe wird mit Kindern gesegnet. Aber Ihr habt recht, auch für das Gegenteil muß vorgesorgt werden. Wißt Ihr schon, was Ihr fordern wollt?«

Wieder blickte sie sinnend vor sich nieder. »Ich sag's Euch doch lieber erst nächstens«, meinte sie dann. »Mein Mann will doch auch gehört sein. Aber das mögt Ihr schon heut wissen, wenig wird's nicht sein. Sie hat nichts als ihr bißchen Schönheit und Jugend, die opfert sie dem Greis; von uns erbt sie ja nichts; sie soll, wenn sie allein zurückbleibt, versorgt sein.«

Der Vermittler nickte. »Wenn Ihr Vernünftiges fordert, so wird er's gewähren. Aber an dem, was Ihr für Euch verlangt, kann leicht alles scheitern.« Er sah sie lauernd an. »Wie ich Euch kenne«, fuhr er im Ton ehrlicher Entrüstung fort, »verlangt Ihr mindestens dreihundert Gulden, und doch werden wahrscheinlich nur hundert zu erreichen sein, und um jeden Heller darüber werde ich mit dem alten Geizhals raufen müssen.«

Sie sah ihn erstaunt an, dann aber ging ihr der Sinn der Rede auf. »Wieviel«, sagte sie, »sollen wir nach Eurer Meinung verlangen, und was sind Eure Bedingungen?!«

»Dreihundert Gulden«, erwiderte er mit ruhigem Lächeln. »Für mich zehn Prozent, also dreißig Gulden, so daß ich im ganzen vierzig von Euch bekomme . . . Chane, was seid Ihr für ein fein Köpfchen! Wenn Euer Mann . . .«

»Schweigt!« rief sie heftig. Sie durfte ihrem Leib Vorwürfe machen, sie allein, sonst niemand! »Was wißt Ihr von meinem Mann!« Sie war so erzürnt, daß er Mühe hatte, sie zu beruhigen. Bevor sie ging, verabredeten sie noch, daß sie ihm am nächsten Tage, Donnerstag, Botschaft senden und seine Antwort am Sonntagmorgen erhalten sollte. Ging alles glatt, so sollten die Verlobungsakte am Sonntagnachmittag in seiner Stube unterzeichnet werden.

Erhobenen Haupts trat sie auf die Straße. Nun konnte sie getrost heimkehren; den Arzt wollte sie ein nächstes Mal fragen; das hatte Zeit, und ein Besuch bei Mosche Erdkugel war nun überhaupt nicht mehr nötig; diese Angelegenheit ordnete sich nach der Verlobung gleichsam von selbst.

Die freudige Erregung gab dem siechen Körper Kraft; rasch schritt sie durch den Flecken. Aber es war doch gut, daß sie bei den letzten Häusern von einem Wagen aus Winkowce überholt wurde. Drinnen saß ein kleiner, dürrer Greis, dessen Äuglein in verdächtigem Glanze schimmerten; auch die Hand, die das Leitseil hielt, zitterte. Das war der Richter von Winkowce, Harasim Kozarczuk; die Frau rief ihn an; es war nicht sein Wille, daß er sein Pferd erst nach einer Strecke zum Stehen bringen konnte; es war, als wüßte der kluge Schimmel in solchen Fällen, daß die Last der Verantwortung für die ungefährdete Heimkehr vor allem auf ihm liege, er kümmerte sich nicht viel um Reden und Taten seines Herrn.

»Da siehst du«, jammerte der Alte die Frau an, als sie ihn endlich keuchend erreicht hatte; »nicht einmal mein Pferd gehorcht mir mehr! . . . Nun, nimm Platz!« Er rückte beiseite. »Mit einer alten Jüdin fahren ist grad auch kein Vergnügen, aber was muß sich ein armer, morscher Mann nicht gefallen lassen! Hst ho!« Der Schimmel griff aus. »Ja, Chane, ich hab's schlecht auf der Welt! Und warum?« Er begann zu schluchzen. »Weil ich der Richter bin!«

Die Frau wußte, wie man ihn in diesem Zustand behandeln mußte. »Ja, Harasim«, sagte sie mitleidig, »Ihr habt's bitter auf der Welt! Aber was ist Euch heut Besonderes begegnet?«

»Frag nicht!« jammerte er. »Es ist zu hart! . . . Da bekomm ich neulich einen Brief vom kaiserlichen Schreiber in Halicz – dieser Mensch schreibt mir nämlich fortwährend, obwohl er doch weiß, daß ich nicht lesen kann, nur um mich armen, alten Mann zu ärgern – und der hochwürdige Hilarion sagt mir: ›Richter‹, sagte er, ›da steht, daß Ihr am Mittwoch nach Halicz müßt, Ihr und die Richter der anderen Dörfer, durch welche das eiserne Pferd laufen wird – wegen der Bahn.‹ Da bin ich Esel ganz fröhlich, daß es nichts Schlimmeres ist, und auch die Ältesten, mit denen ich berate, sind fröhlich, und wir denken: jedes Dorf soll eine Entschädigung bekommen, damit es die Zauberei und den Gestank duldet. ›Verlange nur für Winkowce tausend Gulden‹, sagen sie, ›oder zehntausend, kurz, so viel wie die anderen Dörfer!‹ Gut, heut um zehn stehen wir also alle vor dem Schreiber, und er fängt an zu reden. ›Das eiserne Pferd ist kein Zauber‹, sagt er, ›sondern eine Maschine, und kein Teufel steckt drin‹, sagt er, ›auch keine arme Seele, sondern ein Kessel‹, und solchen Unsinn mehr, und das, will er, sollen wir allen sagen! Nun, denken wir, red nur zu, Bruder, den Gefallen werden wir dir zwar nicht tun, weil uns sonst jedes Kind im Dorfe auslachen würde, aber jetzt, Bruder, jetzt kommst du wohl mit den Gulden herausgerückt! Richtig scheint es so, denn nun fängt er an, uns zu erzählen: ›Das eiserne Pferd ist ein Segen für jedes Land und bringt allen Vorteil und keinen Schaden, und darum – –‹, nun, was meinst du wohl? Ach, diese Enttäuschung war zu bitter!« Und der Trunkene begann wieder zu schluchzen.

»Nun?« fragte die Frau.

Aber es währte lange, bis er erzählen konnte. »›Darum soll jeder dafür sein‹, sagt er, ›und keine Schwierigkeiten machen‹, sagt er, ›und besonders soll sich keiner, über dessen Acker das Pferd laufen wird, einfallen lassen, für das Stückchen Grund mehr zu verlangen als den üblichen Preis. Und wenn er mehr verlangt‹, sagt er, ›so betrübt er dadurch nur den Herrn Kaiser, der das eiserne Pferd sehr gern hat, aber nützen tut's ihm nicht, denn dann schätzt das Gericht das Stück Land ab und spricht ihm nur zu, was ihm gebührt . . .‹ Und dazu, Chane, dazu läßt man einen armen, alten Mann eigens nach Halicz kommen . . . ›Bereitet eure Leute vor!‹ sagt er – ›bald kommen wir hinaus, alles zu ordnen‹ – oh! oh!«

»Ja, es ist hart«, meinte sie, um nur etwas zu sagen. Ihre Gedanken weilten fern, in der Zukunft: sie sah ihr Kind als Herrin in dem reichen Hause walten, zwar eines greisen Mannes Weib, aber sorgenlos, zufrieden, von allen beneidet . . .

In anderem Licht sah zur selben Stunde der kleine Schenkwirt die Zukunft seiner Tochter vor sich liegen, während er so am Fenster der Schenkstube saß und in die Dämmerung hinausstarrte. Janko hatte sich nicht blicken lassen, vielleicht kam er überhaupt nie mehr, aus Furcht vor dem Donnerwort seines Priesters. Vielleicht! – aber recht wagte es Leib nicht zu hoffen. Dieser Janko, dachte er, hat ja einen eisernen Kopf; was er will, setzt er durch! Das läuft nicht im Guten ab . . . Und dann sah er wieder das Beil blinken, wie in seinem Traum. Er hatte sich getröstet, dieser Traum sei nur eine Vorbedeutung des Auftritts gewesen, der sich dann zwischen Janko und dem Schmied abgespielt, aber es war doch wohl anders . . .

Da trat der Mann ein, den seine Gedanken eben gestreift: der dicke Onufrij, mit ihm einige Hausväter der Gemeinde. Der Kleine mußte die Öllaterne an der Decke anzünden und Schnaps bringen; die Männer wollten hier die Rückkunft des Richters erwarten. Bald füllte sich die Stube immer mehr, so daß auch Miriam bei der Bedienung aushelfen mußte; als sie eintrat, zuckte es im Gesicht des Schmieds von verhaltenem Lachen, doch sagte er nichts. Und als er dann rief: »Na, Leibko, wann verlobst du deine Tochter? Dir ist wohl kein Jud für sie gut genug?!« – da verstand ja nur der Kleine die Anspielung und fuhr zusammen. Doch blieb es bei diesem einen Wort. »Schnaps her!« rief der Schmied, »heut wird vertrunken, was uns der Herr Kaiser schickt!« und die anderen fielen jubelnd ein. Als mit Einbruch der Nacht der Wagen des Richters vor der Schenke hielt, da war Leib Weihnachtskuchen der einzige nüchterne und betrübte Mann in der Stube.

Das änderte sich freilich, als der alte Harasim unter bitteren Tränen hereingewankt kam, Chane hinter ihm. Ein Blick auf sie richtete den Kleinen auf; sie hatte bei Moses Erdkugel eine weitere Frist erwirkt, vielleicht auch von Mendele Gutes erfahren; jedenfalls brachte sie frohe Botschaft. Ihre Augen blickten sicherer, ihr Haupt war erhobener, als er es seit lange, lange an der kranken, vergrämten Frau gesehen.

Was es sei, konnte er sie freilich nicht fragen; er hatte zunächst, obwohl auch sie sofort helfend eingriff, alle Hände voll zu tun. Denn beim Anblick ihres Oberhauptes jauchzten alle Bauern auf und verlangten ihre Gläser gefüllt; daß er mit beträntem Antlitz vor sie trat, konnte ihnen unmöglich als böses Vorzeichen erscheinen; wenn jemand aus Winkowce nach Halicz kam, so betrank er sich eben dort, und wenn Harasim sich betrank, so weinte er immer. Es währte lange, bis sie aus seinen schluchzenden Worten erkannt hatten, daß er diesmal wirklich eine schmerzliche Enttäuschung für alle heimbrachte. Aber traurig wurden auch dann die wenigsten, die meisten nur eben zornig. »Der Schreiber ist ein Schwindler!« riefen einige. »Das sieht man doch auch an seinen Redereien vom Kessel und der Maschine; es ist eben alles freche Lüge!« Und andere meinten: »Wer will mich zwingen, meinen Acker zu verkaufen, wenn ich nicht will? Dahinter steckt eine Lumperei der Schreiber und der Polen, die ja in letzter Zeit immer hinter einem Busch stecken. Wir gehen zum Herrn Kaiser, und der schafft uns unser Recht!« Am zuversichtlichsten war der Schmied. »Ich habe keinen Schaden davon«, lachte er, »selbst wenn sie mich zwingen können, ihnen den Grund neben meinem Haus billig zu verkaufen. Denn billig zu arbeiten können sie mich nicht zwingen – und was nützt ihnen die Schmiede ohne Schmied?! Oh, die Dummköpfe!« und jauchzend stimmte er den Rundgesang an, in den die anderen einfielen:

»Der Schnaps ist süß, der Schnaps ist gut,
Der Schnaps gibt Kraft und frohen Mut!
Und wenn das letzte Schnapsfaß leer,
Dann kommt auch gleich der Teufel her!«

Es ging auf Mitternacht, als sich die Reihen zu lichten begannen. Da zog sich auch Chane, welche die Tochter längst zur Ruhe geschickt, in die Schlafstube zurück. »Ich kann nicht mehr«, flüsterte sie ihrem Mann zu. »Morgen erzähl ich dir von Halicz. Es ist nur Gutes!«

Der Kleine nickte selig; die Bestätigung seiner frohen Ahnung gab ihm ungewohnte Kraft. Das fiel selbst seinen Gästen auf. »Seht nur«, meinte einer, »wie munter der Leibko heute umherhüpft. Auch er glaubt dem Schreiber nicht! Und er ist doch ein Jud!«

»Bah!« meinte Onufrij verächtlich, »aber ein dummer! Da ist ja jeder Bauer klüger! Und nun gar ich! Und ich sage euch . . .«

Und er sagte ihnen zum zehnten Male, wie sie die Komissyja (Kommission) heimschicken müßten, wenn sie wirklich im Dorf erschiene, um ihnen solche Unbill zuzumuten. »Wir lachen sie aus, bis sie davonlaufen!«

Es ging auf zwei, als Leibko endlich seine Lagerstätte aufsuchen konnte. Aber als die Septembersonne vier Stunden später in die Kammer schien, da fand sie den Kleinen bereits an seinem gewohnten Platz, die Betriemen um Stirne und Arm geschlungen. Es tat ihm wohl, daß heut ein Donnerstag war, für den, wie für den Montag, andere und längere Gebete vorgeschrieben sind als für die vier anderen Wochentage. Voll freudiger Zuversicht sah er den rotglühenden Ball sich aus den Nebeln lösen und goldstrahlend emporsteigen. »Bei dir ist Heil! Ich habe auf dich vertraut, und du hast mich erhört!«

Als er nach dem Frühmahl in der Schenkstube neben seinem Weibe saß und erfuhr, was Gutes sie heimgebracht, da wich freilich die Freude aus seinem Gemüt und das Leuchten aus den kleinen geröteten Augen. Er verbarg sein Antlitz, daß sie es nicht sehe, und blieb stumm, als sie die gnädige Fügung pries, daß Reb David Miriam schon gekannt und Hirschele Krakauer gerade im rechten Augenblick mit seinem Wagen vorbeigekommen. Er hatte sich ja in diese Heirat gefunden, es mußte ja sein, und auch Gott der Herr hatte wohl seine Zustimmung dazu gegeben, weil er sonst den Zufall nicht so wunderbar hätte spielen lassen, aber freuen – nein, freuen konnte er sich nicht darüber . . .

»Nun, was sagst du?« fragte sie endlich ungeduldig. »Du sitzest ja da, als hätt dir all das Unglück die Red verschlagen?!«

»Nein, nein!« sagte er ängstlich. »Ein Unglück ist's nicht, aber . . . kein Glück . . .« Und nun, dachte er, nun werden die Scheltworte und Vorwürfe auf mich niederprasseln.

Aber sie blieb still, nur ihr Atem ging schwer. Und als er sie anblickte, da sah er zwei Tränen jäh aus ihren Augen brechen und ihre hageren Wangen herabrollen.

»Chane«, murmelte er und ergriff ihre Hand; er wollte sprechen und konnte nicht, aber eine Welt von Liebe und Reue lag in dem einen zitternden Laut . . .

Sie hatte ihn verstanden. »Sprich nicht«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Es ist nicht unsere Schuld, daß uns kein anderes Mittel übrigbleibt, sie zu versorgen . . .«

»Deine Schuld nicht . . .«, murmelte er demütig, »aber meine?!«

»Klag auch dich nicht an«, sagte sie abwehrend. »Wir brauchen unsere Kraft, laß uns ruhig bleiben. Also, darüber sind wir einig, daß wir sie Reb David geben?«

»Ja«, sagte er fest . . . »Aber natürlich müssen wir Miriam vorher fragen . . .«, setzte er zaghafter hinzu.

Sie sah ihn so voll starren Staunens an, als zweifelte sie an seinem Verstande.

»Vorher fragen?« wiederholte sie langsam, gedehnt. »Ob sie will?«

»Ich hab nur gemeint!«

»Das ist Wahnsinn«, sagte sie herb. »Mein Vater hat mich nicht gefragt, und dein Vater dich nicht – und niemand fragt – höchstens die Deutschen (die unfrommen Juden) in Lemberg oder Czernowitz. Und deshalb sind unsere Ehen doch glücklicher als ihre. Ist das wahr oder nicht?«

»Es ist wahr«, antwortete er.

»Und was weiß das Kind vom Leben? Sie wird nein sagen, schon weil sie noch länger bei uns bleiben will, und noch mehr, weil sie das Alter des Mannes schreckt. Aber weiß sie auch genau, so genau wie wir, welches Schicksal sie sich durch ein Nein bereitet?«

Er senkte das Haupt. Er hatte den Gedanken ausgesprochen, weil er mußte . . . Aber sein Weib hatte recht, und noch viel anderes ließ sich dagegen sagen. Und dennoch! – ihm war's, als wären zwei verschiedene Wesen in ihm, das eine hatte gerufen: Sie muß selbst entscheiden! und rief es noch, und das andere mahnte: Es ist gegen Herkommen und Vernunft! Das erste rief lauter, aber das andere sprach eindringlicher.

»Nun?« rief sie ungeduldig.

»Ich hab nur gemeint: eben weil er so alt ist . . .«

»Also bestehst du darauf?« fragte sie zitternd vor Zorn. »Ich hab's dir vorhin von der Seele nehmen wollen, daß unser Leben und unsere Armut und all die Sorge, in der wir nun stecken, deine Schuld sind . . . Aber bestehst du nun auf deinen Wahnsinn, so ist das Unglück deines Kindes deine Schuld – und die nimmt dir auch nicht Gott der Herr von der Seele . . .«

»Ruf ihn nicht an!« rief er flehend. »Was er will . . . Ich weiß nicht, was er da will!« stieß er in qualvoller Angst hervor. »Ich hab nur geglaubt . . . ich besteh nicht darauf!«

Sie wollte noch ein zorniges Wort sagen, doch unterdrückte sie es, als sie sah, wie totenbleich er war.

»Nun wohl«, sagte sie. »Dann wird sie erst in vier Wochen erfahren, daß sie Braut ist. Hast du etwas dagegen?«

»Nein.« Denn nun hörte er in seinem Innern nicht mehr die beiden Stimmen, die so herb miteinander gestritten, sondern wieder nur eine, und sie sagte: »Mag sie wenigstens noch vier Wochen das harmlose, fröhliche Wesen bleiben wie bisher.«

»Nun die Bedingungen. Was soll er ihr zusichern? Es ist nicht leicht zu entscheiden. Er ist reich, hat aber viele Kinder. Ich denke, tausend Gulden können wir fordern. Mehr nicht, aber dabei bleiben wir auch.«

»Wie du meinst«, sagte er demütig.

»Dann die Aussteuer . . . Wir können ihr ja nichts mitgeben.« Ihre Stimme zitterte schmerzlich. »Nur das Notwendigste; ist er der brave Mann, für den wir ihn halten, so wird er dann sein Weib besser bedenken . . . Dreißig Gulden vielleicht für ein Kleid und einige Hemden . . .«

Auch ihm zuckte es schmerzlich um den Mund. »Es muß ja sein«, sagte er leise.

»Und endlich: was sollen wir für uns fordern?«

»Für uns?« rief er, und eine glühende Röte überflammte sein Antlitz.

»Ja!« erwiderte sie. »Was wundert dich daran? Wenn ein alter reicher Mann die schöne blühende Tochter armer Leute heiratet, so pflegt er seine Schwiegereltern zu bedenken. Mendele meint, wenn wir ihm den zehnten Teil abgeben, so wirkt er dreihundert Gulden für uns aus . . .«

»Chane!« schrie er mit heiserer Stimme und schnellte empor. Nun war sein Antlitz totenfahl. »Chane! – und das willst du annehmen?!«

»Warum nicht?« fragte sie. »Es ist ja so allgemein gebräuchlich, daß er selbst gleich hundert Gulden angeboten hat!«

Leib Weihnachtskuchen rang die Hände. »Chane«, rief er flehend, »das ist ja nicht dein Ernst, kann nicht dein Ernst sein. Weißt du denn nicht, was dies Geld wäre? . . . Der« – die Stimme versagte ihm – »der Preis für dein Fleisch und Blut!« schrie er auf.

»Unsinn!« rief sie gellend.

Aber noch lauter, in höchster Verzweiflung: »Mein Kind verkauf ich nicht! . . . Ich nicht . . . ich nicht . . .« Ein krampfhaftes Schluchzen erstickte seine Stimme; er schlug die Hände vors Gesicht und sank auf die Bank zurück.

Einen Augenblick schwieg die Frau; eine so wilde, laute Leidenschaftlichkeit des Schmerzes war ihr an dem demütigen Dulder ungewohnt. Auch regte sich in einem Winkel ihres Herzens die dunkle Empfindung, als ob das doch nicht Unsinn wäre . . . Aber diese Regung ging rasch vorbei: was sollten sie besser und klüger sein als alle Welt? Und was würde aus ihnen beiden, wenn sie da nachgab? . . .

Sie richtete sich auf. »Schrei nicht wie ein Verrückter«, sagte sie scharf, »und wein nicht wie ein Kind. Hör mich an!« Dann wies sie ihm nach, daß sie nur einem allgemeinen Brauch folge, nannte ihm die Namen einiger Leute, die ebenso gehandelt. »Willst du Reb David das Geld schenken?« schloß sie. »Und wie willst du dann den Mosche bezahlen, wie uns neues Brot schaffen?«

Er hatte sie angehört, ohne sich zu regen. Nun, da er die Hände vom Antlitz sinken ließ, konnte sie sehen, wie fahl es noch immer war, selbst die Lippen waren blutlos. Aber die Stimme bebte nicht, als er sagte:

»Ich tu's nicht, ich duld's nicht. Früher schon hab ich geglaubt, er spricht: Ihr müßt sie fragen! Das war vielleicht ein Irrtum, und wenn es doch so war, so muß er mir verzeihen . . . Aber was er mir jetzt sagt, hör ich so deutlich wie deine Stimm, und ich hör seine Worte: Das darf nicht geschehen, Leib, dazu hab ich euch nicht mit einem solchen Kind gesegnet, das wär Sünd und Schmach! Und darum wird's nicht geschehen!«

Er hob die Stimme nicht, aber fest und feierlich wie ein Gelöbnis lösten sich die Worte von den erblaßten Lippen.

Wieder fand die Frau zunächst kein Wort; der Zorn über seine Störrigkeit, das Entsetzen über ihre Folgen hielt ihr die Kehle zusammengepreßt. Und als sie sich endlich mit der Kraft der Verzweiflung dagegen aufbäumen wollte, da übermannte sie der Feind, der in dem siechen Leibe hauste.

»Und Mosche?« rief sie. »Und ich? . . . Ich hab durch dich ein elend Leben gehabt . . . aber ich fordere ein Sterbelager . . . Ich will nicht . . . hinter der Hecke . . .«

Der Krampf erstickte das letzte Wort; das Gesicht verzerrte sich; auf die Lippen, die sich wie in Todesangst weit nach Luft öffneten, trat blutiger Schaum.

Aber vielleicht noch furchtbarer lag derselbe Zug der Todesangst auf dem Antlitz des Mannes. Er schwankte wie ein Trunkener; die eine Hand umkrallte die Tischkante, um Halt zu gewinnen, die andere reckte sich zitternd empor.

»Ich kann nicht . . .«, stöhnte er, »ich kann nicht!«

Miriam hatte die Mutter husten hören; besorgt kam sie hereingestürzt und umfaßte sie. So entging ihr die Bewegung des Vaters. Erst als Chane, nachdem sie Atem gewonnen, den Blick finster auf ihn richtete, erkannte sie, daß es zwischen den beiden wieder einen Auftritt gegeben wie so oft: die Mutter schalt, der Vater suchte zu begütigen oder nahm die Schelte in demütigem Schweigen hin. Das war so, seit sie denken konnte; es gehörte mit zum Leben, wie daß auf den Montag der Dienstag folgte; sie machte sich keine Gedanken darüber. Höchstens, daß ihr der Vater immer ein wenig leid tat, etwas mehr, als sie sich selber leid tat, wenn sie das gleiche Los traf, aber wahrlich nicht allzusehr . . . Heute, wo sie ihn so verstört dastehen sah wie nie zuvor, überkam sie zum erstenmal im Leben der Gedanke: er ist so gut, so nachgiebig, denkt nie an sich selbst; warum ist die Mutter immer so hart gegen ihn? . . . Unwillkürlich zuckte der Arm zurück, den sie um Chane geschlungen hatte, und die großen, braunen Augen richten sich voll Liebe und Mitleid auf den Vater . . .

Er sah den Blick, und seltsam, der Mann, der sich sonst nur auf den Verkehr mit ihm verstand, aber mit Kinderaugen in die Welt blickte, erkannte blitzschnell, was in der Seele seines Kindes vorging . . .

»Nein! nein!« schrie er auf, als wollte er das Mitleid abwehren, sein Weib entschuldigen. Dann seufzte er tief auf, schüttelte den Kopf und schlich aus der Stube.


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