Karl Emil Franzos
Aus Halb-Asien – Zweiter Band
Karl Emil Franzos

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Die »Leute vom wahren Glauben«.

(1875.)

. . . So haben wir diese biederen, fleißigen Narren verloren. Kaum weiß man, wohin sie sich gewendet – nach Oesterreich, hört man, doch fehlt jede genaue Kunde. Schade! Aber das ist nun so in unserem heiligen Rußland: man darf nicht einmal nach eigener Façon verrückt sein.
    Alexander Herzen.

Auf dem kleinen Bahnhofe zu Czerepkouz war es – im Herzen der Bukowina liegt das ärmliche Dörflein, nahe den vielberufenen Mihuczeni-Dämmen. Es war wieder sehr still geworden im Stationshäuschen, nachdem der Zug langsam weitergedampft, über die Serethbrücke, nach Süden. Nur der Pfiff der Locomotive hallte gedämpft durch die heiße, schwere Luft zu uns herüber und das schmutzige rumänische Bauernbübchen, das vorhin mit Glas und Wasserkrug den Zug auf und ab gelaufen und die mühsam erlernten drei deutschen Silben: »Frisch Wasser«! geschrien, zählte auf dem Perron die erworbenen Kreuzer. Sonst kein Laut und keine Seele. Und da standen wir drei wanderlustigen Menschen und schauten uns und unser Handgepäck rathlos an, zuerst auf dem Perron, dann im Wartesaal und endlich besonders ausgiebig auf dem freien Felde hinter dem Bahnhofe. Aber dadurch ward die Sache nicht besser: ein Gefährt ließ sich nicht blicken.

Da rauschte es im Kukurutzfelde, ein Cylinder glänzte im Sonnenschein, und vor uns stand jählings ein deutscher Volksschullehrer. Denn das war das hagere Männlein mit dem schwarz bekleideten, dürftig gerathenen Oberkörper; auf seinem Antlitz war der Stand zu lesen, wie auf einer Visitenkarte. Bitterster Kampf steht auf solchem Antlitz geschrieben; der Kampf mit dem eigenen Magen, ferner die verdrießliche Beschäftigung mit fremder Rangen Hirn und Hinterbacken, aber auch ein Schimmer jener Flamme, durch welche unser deutsches Volk groß geworden ist vor allen Völkern der Erde, der Begeisterung für die Ideale . . . Dann noch ein Blick auf diesen Cylinder – ja, das konnte nur ein deutscher Schulmeister sein!

»Herr Lehrer«, trat ich an das Männlein heran, welches sich den Schweiß von der Stirne wischte, »Sie sind ja wohl aus der Umgegend; wo gäb's hier einen Miethwagen?«

Der Kleine lächelte freundlich. »Aus der Gegend bin ich wohl«; er deutete mit dem Daumen nach rückwärts und nannte den echt tatarischen Namen eines Dorfes, wo heute deutsche Kolonisten sitzen, »aber – und hier überfluthete sein Dialekt allen Damm des Hochdeutschen – »wo's hier ein Miethwägele gebe thät, wüßt' ich bei Gott net. Wisset, hier ischt so: d'Edelleut', d'Bojare und d'Pope hawe eigene Pferd, wir andere Menschenkinder awer« – hier tauchte das Hochdeutsche wieder siegreich hervor – »reiten eben auf unseres Schusters Rappen. Awer wo wolle Sie hin?«

»Nach Fontina Alba, zu den »Leuten vom wahren Glauben«, den Popowzen . . .«

»Aepfele kaufe?«

Wir lachten. »Nein – in's Kloster . . .«

»Ei du mei lieb's Hergöttle!« Das Männlein stand starr vor Erstaunen. »Was suche Sie dort?«

»Das Kloster ist ja höchst interessant – das einzige, welches diese merkwürdige Secte überhaupt auf Erden besitzt.«

»Awer das sind ja wüschte Pfaffe. Den ganze Tag fresse sie Caviar und singe dazu! Und dann: es nützt Ihnen ja nichts! Die Fanatiker lassen ja doch keinen Andersgläubigen in's Kloster. So können Sie höchstens die Gemeinde anseh'n, die Lippowaner,»Lippowaner« nennen sich die Anhänger dieser Secte nach ihrem einstigen Führer, dem Bauer Philipp Pustowiat; ferner auch »Starowerski« (Altgläubige), am liebsten aber bezeichnen sie sich stolz als die »Leute vom wahren Glauben«. und die sehen Sie ja ohnehin auf allen Straßen, bei jedem Wochenmarkt und in den Obstkellern von Czernowitz . . . Ei du mei Jesu!« unterbrach sich der gute Mann erschreckt und eilte zur Kasse. Der Zug nach Norden fuhr eben in die Station ein.

Da standen wir drei Wanderer wieder im Sonnenbrande am Rande des Kukurutzfeldes und sahen uns wieder an, noch rathloser als früher. Wohl trugen wir wohlverwahrt ein moskowitisches Empfehlungsschreiben an den hochwürdigen Olympi Miloradow, Archimandriten und Abt zu Fontina Alba, bei uns, aber es war doch problematisch, ob die »wüschte Pfaffe« darauf reagiren würden. Und um den Anblick gewöhnlicher Lippowaner konnte es uns allerdings nicht zu thun sein.

Denn man kann den seltsamen Leuten wirklich allüberall im Lande begegnen. Sie sind die Nachkommen jener hartnäckigen, unbeugsamen Altrussen, an denen der kühne, gewaltsame Mensch, Czar Peter der Große, vergeblich seine Scheere, Seife und – Knute geübt. Sie wollten ihren Kaftan und Bart nicht stutzen, sie wollten vom Patriarchen von Konstantinopel nicht lassen, und auch ihre einhundertsechsundachtzig Fasttage im Jahre galten ihnen als unantastbares Heiligthum. Aber der Czar ließ lustig darauf losscheeren und den leidenschaftlichen Fastern Fleisch in den Mund stopfen. Da fügte sich der größte Theil und übte nur heimlich den alten, starren Glauben; die frömmsten »Starowerski« aber flohen über die Grenze in die Türkei, nach der Krim und Moldau. Dort lebten sie achtzig Jahre still und friedlich, mit Obstbau beschäftigt, von Scheere und Fleischtopf unbedroht und immer eifriger und absonderlicher weiterer Gottgefälligkeit nachstrebend. Hier erst wurden sie eine seltsame, von allen übrigen Christen schärfstens geschiedene Secte, mit eigenen, theilweise schier unglaublichen Bräuchen. Dann fiel es einer Gemeinde ein, sie bedürfe keines Mittlers zwischen sich und Gott; sie entledigte sich unsanft ihres Popen, und die Bezpopowzen (Bezpopowczyki) traten in Gegensatz zu Jenen, denen der Pope ein unentbehrliches Bedürfniß blieb, den Popowzen (Popowczyki). Uebrigens vertrugen sich beide Secten, einige Verwünschungen als »ketzerische Hunde« abgerechnet, ganz gut.

Da fegte wilder Kriegssturm dies friedliche Stilleben hinweg; die Russen besetzten die Krim. Und wieder einmal hielten die Lippowaner ihr geistlich Heil höher, als ihr weltlich Gut, und wanderten mit Kind und Kegel aus – eine Erscheinung, imponirend auf den ersten Blick, aber immer kläglicher zusammenschrumpfend, je näher man ihr tritt, und fast lächerlich, erfährt man zuletzt, daß diese Menschen eigentlich nur vor Assentplatz und Impflanzette geflohen! . . . In der eben von Oesterreich erworbenen menschenleeren Bukowina fanden sie im Spätherbst 1785 Aufnahme; auch Joseph II. gestattete, gleich seinem großen Zeitgenossen, seinen Unterthanen, in jeder ihnen beliebigen Façon selig zu werden. Und da leben denn Popowzen und Bezpopowzen – fleißige, sittliche, nüchterne Bürger – bis heute mitten unter den andersgläubigen Bewohnern des Landes, aber nicht mit ihnen. Es ist eine seltsame, unheimliche Erscheinung: um diese Menschen hat ihr Glaube (und dieser allein!) einen Bann so tiefer Vereinsamung, so unsäglichen Fremdseins, so entsetzlicher Abgeschlossenheit gezogen, daß selbst alltäglicher, tausendfältiger Geschäftsverkehr keinen Hauch rein menschlicher Annäherung gebracht! Der Lippowaner gräbt dir deinen Teich, miethet dir deinen Obstgarten ab und verkauft dir seine Aepfel; im Uebrigen kümmert er sich nicht um dich, und es würde dir wenig frommen, wolltest du dich um ihn kümmern. Auf jede nicht rein geschäftliche Frage hat er nur ein stummes Kopfschütteln oder er starrt vor sich hin, als wäre da blaue Luft, nicht ein neugieriger oder teilnehmender Mitmensch. So geht er fremd, von abenteuerlichem Gerücht umgeben, unter den Uebrigen einher, auch schon in Tracht und Erscheinung scharf von ihnen geschieden. Doch ist die Bekleidung nicht absonderlich, sie unterscheidet sich wenig von der moskowitischen Nationaltracht. Ueber dem Linnenhemd und dem Tuchbeinkleid trägt der Mann ein Oberhemd aus gestreiftem Zwilch, in der Mitte gegürtet, bis auf die hohen Stiefel hinabreichend, darüber einen langen und breiten, in der Mitte roth gegürteten Kaftan aus blauem Tuch, auf dem Haupte aber, um welches Bart und Haupthaar, ein nie durchforsteter Urwald, üppig wuchern, einen sonderbaren Filzkegel oder eine Pelzkappe. Ueberaus plump ist das Kleid der Weiber, gewöhnlich aus buntem großgeblümtem Stoffe: eng den Hals umschließend, dicht unter dem Busen gegürtet und in langen, unförmlichen Falten auf die Knöchel herabfallend. So sind sie Alle, reich und arm, gleichförmig uniformirt, aber von ihrer geistigen Drillung, von ihrer innern schier märchenhaften Uniformität weiß kaum Jemand – auch im Lande selbst – Genaueres.

Und so dürfen wir drei Wanderer: Historicus, Archäolog und Schriftsteller, uns fast etwas darauf einbilden, daß wir den seltsamen Menschen näher treten, daß wir sogar in ihrem Allerheiligsten verweilen durften, in ihrem Kloster. Und daß wir – Hallelujah! und mirabile dictu! – vom Caviar kosten durften, vom dreimal heiligen Caviar! . . .

Aber halt! – da greif ich vor. Wir stehen ja noch rathlos auf dem Kukurutzfeld und schauen die staubige Straße auf und ab und harren, daß uns der Himmel einen Wagen sende oder sonst ein Zeichen seiner Huld.

Und er sendete es. Von fern wirbelte eine Staubwolke auf, und eine Kibitka kam lässigen Trabs heran. Drinnen saß ein lippowanisches Ehepaar mit seinen beiden Töchtern. Sehr üppige Schönheiten, beide zusammen kaum unter drei Centner Liebreiz.

»Halt!« riefen wir und stürzten auf das Gefährt zu.

Der bärtige Pater familias hielt; er mußte wohl, wollte er uns nicht überfahren.

»Hört mich an, Väterchen«, bat russinisch Adalbert, der Historiker. »Wir müssen in Euer Kloster. Wollt Ihr uns für gutes Geld mitnehmen, Väterchen?«

»Der Teufel ist Euer Väterchen«, sagte der Alte dumpf, ohne Erregung. »Geht beiseite oder –«

»Aber wir haben hier einen Brief an den hochwürdigen Olympius –«

»Der hochwürdige Kaluger braucht weder Euch, noch Euren Brief.

»Vielleicht doch«, schmeichelte Adalbert. »Der Brief ist von meinem Vater Andreas M.«. Es war der Name eines greisen Ehrenmannes, den Jeder im Lande, selbst der Bauer im ödesten Bergthale, kennt und achtet.

Auch der grimme Altgläubige kannte ihn. »Wenn der Brief wirklich vom alten Herrn Andreas ist«, erwiderte er, »so wird ihn der hochwürdige Vater gerne lesen. Aber mitnehmen kann ich Euch nicht, weil ich etwas im Wagen führe, was –«

»Oh«, lachte Jaroslaw, der Archäolog, »wenn Ihr Eure Töchter meint, da könnt Ihr ruhig sein . . .«

»Hoho!« grollte der Starowerze. »Wer sagt, daß ich meine Töchterchen meine?! Was könnten Ihr meine Täubchen angehn? (»Das wär' auch gräßlich!« brummte der unverbesserliche Alterthumsmensch.) Aber ich führe hier heiliges Oel für die heiligen Väter im Kloster. Und da kann ich auf denselben Wagen keine Ungläubigen aufladen! Hist – he!«

Und die Kibitka setzte sich trotz der beiden schweren Täubchen in rasche Bewegung. Aber nach wenigen Secunden hielt sie abermals, und das bärtige Haupt wendete sich uns wieder zu. »Wenn der Brief wirklich vom alten Herrn Andreas ist«, scholl es herüber, »so will ich Euch einen Rath geben. Geht dieser Straße nach, dann kommt ihr in das Dorf Czerepkouz. Gleich in der zweiten Hütte wohnt Wassilj Tudak; wenn er nicht betrunken ist, so wird er Euch fahren . . .« Und eine Staubwolke verschlang die heilige Familie.

Laut lachend folgten wir dem Rathe, trotz Sonnenbrand und Handgepäck. Aber schon nach zehn Minuten senkte sich die Straße in eine sanfte Thalmulde und nahm ein Bad; seicht, aber fünfzig Schritte breit floß da unten der Sereth. Freilich tauchte sie just gegenüber schimmernd wie reingewaschen wieder auf und schlängelte sich zum Dorfe empor – aber wie kommt man über das Wasser, so es keine Balken hat? . . .

Die Wellen kamen und gingen und spannen sich im Sonnenschein wie ein tausendfarbig Netz über die runden Kiesel, und mit tausend Stimmlein plätscherte und gurgelte es uns daraus entgegen, aber eine vernünftige Aufklärung, warum man hier keine Brücke gebaut, war nicht daraus zu entnehmen. Da faßten wir uns und einen Entschluß und zogen Stiefel und Hose aus und hingen beides über den Rücken und wateten hindurch. Aber wie schön das aussah, kann ich nicht sagen –

Hier verstummt das arme Menschenwort . . .

Eine halbe Stunde später standen wir vor der zweiten Hütte von Czerepkouz, und Wassilj Tudak war nicht betrunken, und bald fuhren wir in seinem Leiterwäglein über Stock und Stein, gepufft und gebeutelt, über fruchtbares Hügelland und öde Haide gegen Südwest dem Kloster zu.

Wassilj Tudak war nicht betrunken, sagte ich. Aber sanft gerührt war er, und seine Aeuglein glänzten und schluchzend sang er in langgezogenen Tönen den Pferden sein Leid zu.

»Ach, ihr Bräunlein«, gröhlte der Russine, »ach, ihr meine Lieben, wohin müßt ihr traben? In das Kloster müßt ihr, weil mich diese verrückten Deutschen dazu gemiethet haben, zu den bärtigen Pfaffen, zu den Selbstverbrennern, zu den Fischfressern, welche so sehr . . . (folgt eine Bemerkung über Klosterduft.) Ach! ihr Bräunlein, ihr kriegt dort keinen Hafer und ich keinen Schnaps, und diese Herren wird man hinauswerfen, hist, he! obwohl es Herren sind, hist, he!«

So umklang uns düster und schnapsduftig Wassilj's Schicksalslied. Wir verrückten Deutschen aber lachten und sangen in den blauen Sommertag hinein, bis fern am Horizonte zwei blitzende Thurmknäuflein emportauchten. Da wurden wir still und sahen zu, wie uns das Kloster mächtig entgegenwuchs.

Aber jählings war es wieder verschwunden: in eine enge Sattelung stürzte sich der Weg und stieg dann wieder einen Bergrücken empor. Oben, wo sich die Markung der Lippowaner von der ihrer Nachbarn scheidet, ließen wir halten. Wahrlich! – die rastlos fleißige Hand dieser seltsamen Menschen hat dafür gesorgt, daß man die Markung deutlich erkenne: größerer Gegensatz zweier Landschaften ließe sich kaum ersinnen. Dort, woher wir kamen, fahles Haideland, spärliche Aecker, armselige Hütten, vor uns aber fruchtbares, gesegnetes Gelände, herrliche Nutzgärten, goldwogende Weizenfelder, dazwischen, kaum eine Viertelstunde von einander entfernt, zwei mächtige Obstwälder, zwischen deren Aesten stattliche Hütten hervorlugten: die Dörfer Klimouz und Fontina Alba. Vielleicht hat unser Wassilj unwillkürlich die richtige Ursache dieses Gegensatzes gefunden, als er, die Bräunlein wieder antreibend, tief aufseufzte: »Und in zwei so schönen Dörfern gibt's keine einzige Schänke!« . . .

Ueber Klimouz, dem Dorfe der Bezpopowzen, schimmert selbstverständlich auch kein Kirchendach, aber dafür glänzten uns deren drei von Fontina Alba her entgegen. Mitten im herrlichen Obstwald liegen die reinlichen wohlgepflegten Hütten, und lustig trabten die Bräunlein die schattige Bergstraße hinab und an der mächtigen, grün und weiß bemalten, vielkuppeligen Dorfkirche vorüber. Die Straße lag still und todt, nur ein altes dickes Weib begegnete uns, und das machte schleunigst Kehrt und schlug ein Kreuz. Ihre Lippen bewegten sich hastig: ein Segensspruch war es schwerlich.

An einer ewig langen Holzplanke fuhren wir dahin. Endlich ein weitgeöffnetes Holzthor mit seltsamer, buntbemalter, kreuzgeschmückter Wölbung: das Klosterthor. Wassilj zögerte. »Rasch hinein!« befahlen wir. »Und noch rascher hinaus!« murmelte der Trunkenbold.

Aber dazu hatte es mindestens vorläufig keinen Anschein. Wir durchfuhren den ersten, den zweiten Hof, an Obstbäumen, Scheunen und verfallenen Hüttlein vorüber, jedoch keine Menschenseele ließ sich blicken. Endlich eine dritte Mauer, ein drittes, fest geschlossenes Thor und darin ein kleines Pförtlein. Da ließen wir Wassilj zurück und traten durch das Pförtlein gebückt in den innern Klosterhof.

Die Sonne schien, die Vögel sangen, und der Himmel spannte sich so tiefblau und glänzend über diesen Steinhof und das graue Gebäu ringsum, wie draußen über das lachende Gefilde, aber doch war's uns zu Muthe; als wäre es plötzlich kalt und düster um uns geworden. Um dies Kirchlein, um dies langgestreckte Zellenhaus mit den grauen Holz-Erkern und Dächlein lag ein Hauch unsäglicher Oede und dumpfer, verdumpfter Trauer. Aber mehr als die grauen Wände, diese erblindeten Fenster, diese graubraune Moderdecke griff uns die entsetzliche Stille erkältend ans Herz. Wir standen still, wir jungen fröhlichen Menschen, und blickten um uns und verstummten.

Kein Tritt erklang, keine Stimme scholl, die Stille währte fort.

Da brach sie sich – jäh, plötzlich, schreckhaft: in der linden Luft schwamm ein gellender Ton und schlug zweimal an unser Ohr. Und nun noch einmal. Wie ein schriller Aufschrei klangs, wie ein Hilferuf. Wir lauschten. Und die Stimme fuhr fort und schrie, stoßweise, bald laut, bald leise, bald näselnd, bald voll, nach einer Melodie, die schnurrig geklungen hätte, wäre sie nicht so schauerlich gewesen.

Wir folgten dieser Stimme und traten an eine halbgeöffnete Thür. Drinnen war ein großer, niedriger, wüster Raum, die Mauern grünlich von Moder, lange Holztische und Bänke standen da: wohl das Refectorium. Ein ekler Dunst, halb von Schimmel, halb von ranzigem Oel, erfüllte den Raum. In einer Ecke war ein angedunkeltes Heiligenbild, davor schwankte und knixte seltsam eine dunkle Gestalt und schrie jene Töne. Es war ein Gebet gewesen, was wir gehört . . .

»Was sucht Ihr hier, Herren?«

Wir wendeten uns hastig um. Vor uns stand ein schöner kräftiger Mann im schwarzen enganliegenden Mönchsgewande, ein rothverbrämtes Mäntelchen darüber, auf dem haarumstarrten Haupte ein Käppchen. Sein Blick war nicht allzu freundlich.

»Dem hochwürdigen Olympius«, erwiderte Adalbert und übergab sein Schreiben.

»Ich will's bestellen«, erwiderte der junge Mönch kurz. »Aber wartet draußen.« Und als wir ihn erstaunt ansahen, fuhr etwas wie ein Lächeln der Entschuldigung über sein Antlitz. »Verzeiht – die Regel will's so. Wir suchen ja nichts in der Welt, was hätte die Welt bei uns zu suchen?«

Wir standen im Freien; das Pförtlein klirrte hinter uns zu. Wassilj fuhr aus seinem Dusel empor. »Schnell genug!« gröhlte er halblaut.

Aber kaum zwei Minuten später klirrte das Pförtlein wieder. Derselbe Mönch erschien, das Antlitz merkwürdig ins Freundliche verzogen. »Kommt nur!« rief er uns entgegen, »der hochwürdige Vater freut sich sehr.«

Wieder durchschritten wir den Steinhof, über den noch immer die Töne des seltsamen Gebetes hinzitterten, dann die Gänge des Zellenhauses. Es lag todtenstill. »Die Mönche sind in ihren Zellen«, erklärte unser Führer, »es ist die Stunde der stillen Betrachtung.« Nur Einer betrachtete laut. Aus einer Zelle hervor tönte ein Schnarchen, brausend, tactfest, als würde ein Urwaldsbaum mit tausend Knollen von einer Dampfsäge zerschnitten.

Am Fuße eines Treppchens blieb der Führer zurück.

»Da oben wohnt der Abt«, sagte er. »Aber da müßt Ihr allein hinaufgehen. Wir treten nur vor sein Angesicht, wenn es unumgänglich ist. So will's die Regel.«

Zögernd blieben wir am Fuße des Treppchens stehen, nachdem uns der Mönch verlassen. Fast wollte es uns unheimlich werden in der tiefen Stille und dem sonderbaren Zwielicht. Langsam, sehr langsam stiegen wir die engen Stufen zu des Abtes Klause empor.

Aber es kam besser, als wir gehofft. Schon auf den Klang unserer Schritte kam droben ein freundlicher kleiner Greis in verschossenem Mönchsgewande aus einer niedrigen Thür hervor und winkte uns, näher zu treten.

Das war der Abt der »Leute vom wahren Glauben«, Olympi Miloradow. Nur an den tiefen Fältlein des blassen Gesichtes konnte man sehen, daß der Mann sehr alt sein mußte. Aber die braunen Augen blickten scharf und klug, und in das dunkle Haar mischten sich kaum einige Silberfäden.

»Seid mir willkommen«, rief er uns freundlich entgegen. »Euch schickt ein guter Mann. Kommt nur« – er öffnete die Thür, wir traten ein – »setzt Euch.« Es ging etwas schwer in der engen Zelle mit dem geringen Geräth, aber es ging doch. »Ja«, lächelte der Greis, »auf Besuche bin ich freilich nicht eingerichtet. Nun – lacht mich nur nicht aus! Aber bewirthen will ich Euch doch, so gut ich kann. Ihr werdet ja hungrig sein. Wartet nur – bald bin ich wieder da!« Und rasch eilte der Greis hinaus.

Wir blickten uns im kleinen Räume um. Da war nur dürftiges Geräth zu sehen, in einer Ecke ein Hausaltar in russischer Art: das große Heiligenbild mit Messingbeschlag bedeckt, der nur des Heiligen Haupt im Ausschnitt sehen läßt, endlich Bilder und Urkunden an den Wänden. Da hingen die Verfügungen seliger k. k. Kreishauptmänner in schweren Rahmen unter Glas neben den Edicten lebendiger k. k. Bezirkshauptleute. Staunend besahen wir uns dies merkwürdige Archiv.

»Was wundert Ihr Euch?« klang hinter uns die Stimme des Greises. »Daß ich so sorgfältig bewahre, was uns des Kaisers Schreiber schicken?! Ach, Ihr vergeßt, daß wir Fremde sind in Eurem Lande. Neunzig Jahre leben wir da und sind noch Fremde und werden es immer, immer bleiben. Und in der Fremde ist man wie auf dem Wasser und muß Balken haben, um schwimmen zu können. Diese Privilegien und Gesetze sind eben unsere Balken. Aber«, fuhr er fort und deckte den Tisch, »nun setzt Euch – die Eier sind schon fertig, und auch sonst bringe ich Alles, was ich habe. Ja, ich selbst, ich, der Abt, will Euch bedienen. Denn warum? Weil Ihr meine Gäste seid. Und dann, weil es bei uns nicht so zugeht, wie bei den Katholiken oder bei den verruchten Neugläubigen: bei uns hat auch der Abt keinen Diener, sondern Alle dienen nur Gott. Nun aber – greift zu.«

Und das Mahl begann, und es war das allerseltsamste, das ich bisher in aller Herren Ländern hinter die Cravatte zu bringen gezwungen war. Da war köstlicher Caviar – feinerer und frischerer hat nie eines Fürsten Tisch geziert – aber das Oel, mit dem es uns der freundliche Wirth anrichtete, war von einem Ge–ruch, den ich, fürcht' ich, nie wieder aus der Nase bringe. Da war herrliches Obst – das edelste Tafelobst des Ostens – aber das Messerlein, mit dem es der Abt schälte, hatte sich offenbar kurz vorher mit der Verkleinerung von Talglicht beschäftigt. Und mit demselben Messer wurden die frischen, appetitlichen Eier zerschnitten, und unser leises Remonstriren half nichts. »Ihr lieben Gäste«, sagte der gute Alte, »ich muß Euch ja bedienen.« Dann prächtiges, eigenartig conservirtes Fischfleisch aus der Wolga und schimmeliges Brot dazu, und als Getränk ein Apfelmost, auf dessen blaßroter Flut zahllose weiße Pünktlein schwammen: Madenhäuflein. . . .

»Nun – wohl bekomm's, wohl bekomm's!« lächelte der alte Herr und stellte noch vor Jeden ein Schälchen dampfenden Thee's. »Daß ich Euch nicht mit Fleisch bewirthe, müßt Ihr verzeihen – unter allen Klöstern der Erde herrscht in diesem die strengste Regel. Wir essen niemals Fleisch, wir leben von Fisch und Eiern und an den strengsten Fasttagen von Brot und Obst. Unsere Gläubigen draußen im Dorfe haben es besser, die dürfen an mehr als hundert Tagen des Jahres Fleisch essen. Ja, ja – welchen Geruch Fleisch hat, weiß ich wohl noch, denn die Nase hat das beste Gedächtniß, aber welchen Geschmack es hat, hab' ich vergessen – sind's doch mehr als fünfzig Jahre her, seit ich's zuletzt verkostete. Das war im Jahre 1825 und ich ein blutjunger, reicher Kaufherr zu Cherson, der viel Geld verdiente und Tag und Nacht fraß und trank und den Schürzen nachlief. Da kam ich einst Nachts heim von einem tollen Gelage, und wie es stille um mich war und ich nicht schlafen konnte, da erweckte Gott mein verludertes Herz, und Welt und Weiber erschienen mir als das, was sie sind: als ein Sündenpfuhl und Misthaufen. Ein Mönch beschloß ich zu werden in selbiger Nacht; aber die neugläubigen Mönche in unseres Czaren Land sind auch Lumpe und die Klöster dort Schweineställe der Sünde. Da lenkte Gott mein Herz zur Altgläubigkeit, und ich fand durch seine Gnade das enge Pförtlein, durch welches man sich in den Himmel hineinzwängen kann. Am nächsten Morgen raffte ich mein Geld zusammen und floh hieher. Was half's dem Czar Nikolaj Pawlowitsch, daß er seine Häscher hinter mir hersendete, was half's ihm, daß er mein liegend Gut einzog, was half's ihm, daß er beim Wiener Kaiser um meine Auslieferung bettelte?! Die ganze Welt hat sich vor Nikolaj Pawlowitsch gebeugt – ich nicht, ihm zum Trotz bin ich hier geblieben! . . .«

Stolz hatte sich der Greis emporgerichtet, seine Augen blitzten.

»Und es war gut, Ihr jungen Leute, es war gut, daß ich hier blieb. Denn was hätte sonst das Häuflein der Rechtgläubigen gethan, führerlos im fremden Lande, arme, unwissende Obstgärtner und Deichgräber?! Ich aber ward ihr Führer und Berather, ich habe ihr Recht erhalten und gemehrt. Vor Allem habe ich ihnen das Recht erwirkt, daß hier ein Kloster sein darf – immer wieder bin ich nach Wien gefahren, und 1844 hab' ich's endlich erhalten.« Er wies stolz auf die betreffende Urkunde an der Wand. »Eine eigene Schule wird uns da verbrieft und ein Kloster mit achtzig Mönchen nach der strengen, unverfälschten Regel des heiligen Basilius. Wohl sind jetzt nur fünfundfünfzig Mönche im Kloster, aber ich gebe die Hoffnung nicht auf: wie Gott mich aus dem Staub hervorzog, wird er noch Andere begnadigen und ich erlebe noch, daß die Zahl voll wird. Aber dieses Kloster ist nicht blos heilsam und unser Duft dem Herrn angenehm, sondern es ist auch nothwendig, weil wir sonst keinen Geistlichen mehr weihen könnten. Denn Geistliche kann nur ein Bischof weihen, und nur ein Mönch kann bei uns, wie bei allen orientalischen Christen, Bischof werden. So mußten wir uns zuerst von dem Patriarchen von Konstantinopel, der zwar auch nicht ganz beim wahren Glauben ist, aber doch so beiläufig, einen Bischof weihen lassen, und der weihte dann Weltgeistliche und Mönche und aus den Mönchen wieder Bischöfe, so daß wir jetzt gar nicht mehr in Verlegenheit kommen können. Ich selbst bin nur Igumen (Abt), aber unter meinen Mönchen sind mehrere Bischöfe, und einer, Kiril Timofijow, ist unser Erzbischof und Metropolit. Drüben im Erker ist seine Zelle.«

»Und könnten wir nicht auch dem Herrn Erzbischof unsere Aufwartung machen?«

»Nein, das könnt Ihr nicht. Denn erstens ist Kiril ein einfacher Mann, der nicht mit Gästen zu reden versteht, und zweitens seid Ihr Ungläubige, die nicht werth sind, mit dem höchsten Priester derjenigen zu reden, die allein auf Erden den wahren Glauben haben.«

»Sehr verbunden!« dankte ich gerührt. »Aber so viel ich gehört habe, unterscheidet sich dieser Glaube doch nur durch Kleinigkeiten von dem der anderen orientalischen Christen?«

»Durch Kleinigkeiten?« kreischte der alte Herr und wurde krebsroth. »O Herr, das haben Dir gewiß die Moldauer Pfaffen gesagt, die Gottverdammten! Durch Kleinigkeiten – hoho! Was haben wir denn gemeinsam? Die Dogmen – das ist wahr! und den Tauf-Ritus und die Priester-Ordination und die Anrufung der Heiligen und die Verehrung der Bilder. Dann sind auch die gottesdienstlichen Gebräuche dieselben, sowie die Feiertage. Aber deßhalb sind wir doch von ihnen geschieden, wie Heilige von Säuen. Denn erstens sind sie lau und fressen und trinken mit Juden und Papisten zusammen und setzen sich auf denselben Stuhl, den so ein ketzerischer Hund warm gesessen hat. Da ist's bei uns anders: was so ein Hund berührt hat, ist unrein und muß erst wieder blank gescheuert werden . . .«

»O hochwürdiger Vater«, sagte Adalbert sanft, »welche Mühe werden Sie hinter uns her haben?«

»Ja!« erwiderte der Greis gleichmüthig, »es wird ein gut Stück Arbeit sein. Aber ich muß Euch den Unterschied weiter erklären. Wißt Ihr, unter welchen Worten diese Neugläubigen, welche sich in ihrer Frechheit Orthodoxe nennen, das Kreuz schlagen? Sie sagen – o mögen sie Alle daran ersticken – : »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes!« Ja, frage ich, war denn etwa die ganze Dreifaltigkeit am Kreuze?! Nein! – nur Gott Sohn war es. Und darum handeln wir allein recht, weil wir allein beim Kreuzschlagen sagen: ›Höre, Jesu Christ, Sohn Gottes, erbarme dich unser!‹ Ist das ein Unterschied wie zwischen Himmel und Hölle? – sagt selbst – ja oder nein?«

Wir blickten uns an. Dann thaten wir dem Mann den Gefallen und nickten.

»Drittens«, fuhr er fort, »tanzen diese »Orthodoxen« – nicht blos die Laien, auch die Priester tanzen – Männer mit Weibern! O mögen sie dabei die Beine brechen! Bei uns tanzt Niemand – weh' dem Bauer, dem das einfiele! Denn nicht zur Fröhlichkeit ist man auf Erden, sondern um sich für den Himmel zu bereiten. Viertens rauchen diese Kerle! Von unseren Gläubigen raucht Niemand, und wir dulden auch nicht, daß ein Fremder in unserer Stube rauche, ja nicht einmal in der Einfriedung unseres Ackers. Denn im heiligen Testamente steht nur vom Weihrauch geschrieben, nicht vom weltlichen Rauchen, und vom Tabak steht nichts d'rin.« . . .

Wir bissen uns krampfhaft in die Lippen. »Sancta simplicitas«, rief halblaut der Archäolog. »Wie meinst Du?« frug der Abt.

»Ich habe die Schutzpatronin der Mönche angerufen.«

»Fünftens«, demonstrirte der Abt weiter, »leisten sie den Eid auf das Crucifix und vor brennenden Lichtern. Wir schwören nie; uns gilt als höchste Betheuerung unser Handschlag und dazu die Worte: »Jey Bohu.« Anfangs wollten die Gerichtsschreiber des Kaisers das nicht gelten lassen. Jetzt haben sie sich schon überzeugt, daß ein Lippowaner nie falsch aussagt. Auch haben wir nur als Zeugen mit dem Gerichte zu thun, als Angeklagte fast nie. Fraget in den Städten nach, man wird es Euch bestätigen.«

Wir haben nachgefragt, der Mann hat wahr gesprochen.

»Sechstens«, fuhr der Abt fort, »lassen diese Menschen ihre Kinder impfen!! . . . Das schreit zum Himmel! Steht etwas vom Impfen in der Bibel? Kann es Gottes und seines heiligen Sohnes Wille sein, daß der Mensch etwas von einer Kuh aufgepfropft bekommt? Nein – dreimal nein! Und dann – auf Erden geschieht nur, was Gott will. Jede Krankheit kommt von ihm – wie sollten wir Menschen wagen, uns gegen Gott zu schützen?! Noch nie hat eine Impflanzette den Arm eines Lippowaner Kindes berührt – eher mag es sterben, ehe solcher Frevel geschieht! Die Regierung hat Impfärzte geschickt – wir haben sie bestochen! Dann andere, unbestechliche Commissionen – zu denen haben wir gesagt: »Tödtet uns, aber wir thun's nicht!« Da hat man uns mit großen Geldbußen gestraft – wir haben sie geleistet! Und dann zürnte uns Gott und eine Blatternseuche kam über uns. Die Hälfte unserer Kinder starb, ganze Familien starben, kaum gab es Hände genug, die Todten zu begraben. Aber als im nächsten Jahre die Commission kam, da sagten wir wieder: »Tödtet uns, aber wir thun's nicht!«

»Entsetzlich!« rief ich. »Dann ist es wohl auch gegen Euer Gewissen, den Arzt zu holen und die Kranken zu pflegen?«

»So ist es«, nickte der Greis. »Noch nie hat ein Arzt unsere Schwelle betreten. Und sollten wir die Kranken pflegen?! Von wem kommt die Krankheit? Von Gott! Was ist sie? Eine Strafe! Wen straft Gott? Dem er zürnt! Und wir sollten uns dessen erbarmen, dem Gott zürnt?«

Stumm wendete ich mich ab. Draußen blickte vom Capellenfirst goldig das Kreuzeszeichen herab. O Rabbi von Nazareth, du lichtester, größter, gütigster Mensch, was haben sie aus deinem Wort der Liebe gemacht?! Und dennoch wagen sie es, sich nach deinem Namen zu nennen . . .

»Ihr wundert Euch wohl?« fragte der Greis. »Was würdet Ihr erst zu unseren Nachbarn in Klimouz sagen, zu den Bezpopowzen! Bei denen ist Jeder selbst Geistlicher, und die Gemeinde-Aeltesten, die »Stariks«, sind die Vorbeter. Wenn dort zwei einander heirathen wollen, so brauchen sie dies nur mit Zustimmung ihrer Eltern auszusprechen. Aber Ehebruch gilt als schwerstes Verbrechen, und Geschiedene dürfen nie wieder heirathen. Unverehelicht zu leben, gilt ihnen und uns als löblich, sich für Gott zu opfern, als höchstes Verdienst; aber wenn man uns deshalb nachsagt, daß Entmannung, Entweihung und Selbstverbrennung unter uns vorkommt, so« – er stockte und ein unheimliches, halb schlaues, halb scheues Lächeln überflog seine Züge – »so hat man uns dies noch nie nachweisen können. Wir thun nichts gegen die Gesetze«, fügte er hastig hinzu.

»Aber dafür«, fuhr er fort, »sollte der Kaiser auch nichts von uns fordern, was gegen unsere Gesetze ist. Wir können und wir werden nie Soldaten werden, nie! Wer Soldat wird, kann kein Altgläubiger mehr sein, denn er kann Gott nicht mehr so dienen, wie ihm dies allein wohlgefällig. Und dann streitet es gegen unsere Privilegien.« Er holte aus einer Truhe ein Päckchen hervor, schälte aus Tüchern und Papieren eine alte Urkunde heraus und hielt sie hoch empor. »Höret«, sagte er finster und feierlich, »höret, wie sie uns bedrücken und schädigen wollen! Höret Alles. In unsere Colonie in der Krim, im Jahre des Heils 1782, kam eines Tages ein halbtodter Mann, ein Flüchtling, den die Türken bis zu unseren Hütten gehetzt. Er war nicht unseres Glaubens, aber doch ein Christ, und die ihn hetzten, waren Türkenhunde, darum bargen wir ihn vor seinen Verfolgern. Da erzählte er uns, wie er ein vornehmer Mann sei aus des Wiener Czaren Gefolge, und wie ihn die Türken aufgegriffen, und wie er ihnen an unserem Strande entronnen. Wir aber erzählten ihm, wie große Noth und Sorge uns bedrücke, wenn der Moskowiter Herr würde über die Krim. Da sprach der vornehme Mann: »Unser Czar Josephus ist groß und gut; es ist ihm gleich, was seine Unterthanen glauben. Er hat viel ödes Land; kommet in sein Reich; er wird Euch Wohnsitze geben und Euren Glauben schützen.« Und er versprach uns, vor seinem Czaren für uns zu reden, sofern er nur wieder zu Hause wäre. Da geleiteten wir ihn mitten durch das Bessarabien an die Grenze. Ein Jahr verfloß, wir hörten nichts von ihm. Da kam eines Tages ein Brief an unsere Häupter: sie möchten nach Wien kommen und dort aus des Czaren eigener Hand die Freibriefe erhalten. So thaten sie und standen vor dem großen Josephus, und zu seiner Linken stand der General, dem sie das Leben gerettet, und Josephus lächelte mild über ihr seltsames Kleid und gab ihnen diesen Brief hier. Leset!«

Und wir lasen aus dem kaiserlichen Privilegienbriefe, gegeben zu Wien, 10. October 1783: »Gestatten Wir ihnen 1. das vollkommen freie Religions-Exercitium für sie Alle, ihre Kinder und Kindeskinder nebst ihren Geistlichen. 2. Gestehen Wir ihnen die Befreiung vom Militärstande ein.«

»Der große Josephus selbst«, fuhr der Greis fort, las dies vor. Und dann ließ er es unseren Häuptern übersetzen und fragte sie, ob sie damit zufrieden wären. »Ja!« erwiderten sie freudig. »Dann soll es gelten für ewige Zeiten«, sagte er. »Für ewige Zeiten«, sagten unsere Häupter. Und auf diesen Brief und Spruch gestützt, verließen wir unsere Heimat und zogen hierher in Urwald und Oede und rodeten und pflanzten und gründeten fünf blühende Dörfer: Fontina Alba, Klimouz, Sokolince, Mihidra, Lukawetz, jetzt zusammen 5000 Seelen. Und wir erfüllten unsere Steuer, genau und rasch, wie Niemand im Lande, und gedachten hier zu bleiben »für ewige Zeiten!« Ich fürchte, es wird anders kommen . . .«

»Wie?« riefen wir erstaunt.

»Man hat das Gelöbniß gebrochen«, sagte der Greis finster, »das Gelöbniß des großen Josephus ist dem heute lebenden Geschlechte nicht heilig gewesen. Im Jahre 1868 ist das Gesetz gekommen, daß Jeder Soldat werden muß, auch der Lippowaner. Da brachen sie über uns herein und wollten unsere Jünglinge zum Assentplatz schleppen. Aber sie zerstoben: in die Moldau, in die Berge, unter die Erde. Nur Zwei fing man. Wir eilten nach Wien, wir flehten um unser verbrieftes Recht. Es hat nichts genützt. Alljährlich erneut sich die Jagd und die Flucht, die Noth und die Bedrängniß . . .«

»Und wie wird's enden?« frug ich. »Die Regierung darf nicht nachgeben, sie darf nicht Euch allein von der allgemeinen Wehrpflicht ausnehmen.«

»Nun wohlan«, sagte der Abt mit dumpfer, bebender Stimme, »dann werden wir thun, was wir vor neunzig Jahren gethan. Lieber irdisch Gut verlieren, als den Himmel.« . . .Der Conflict hat sich seither friedlich gelöst. Die Lippowaner unterziehen sich der Assentirung, aber – es werden ihrer nur sehr wenige tauglich befunden. So können beide Theile zufrieden sein und sind es auch. Anm. zur 3. Aufl.

Darauf war es eine Weile sehr still in der Zelle, die ganz vom Abendsonnengold erfüllt war. Dann klang der Ton des Vesperglöckleins herüber, der Abt trat an den Hausaltar und betete. Als er sich wieder aufrichtete, traten wir auf ihn zu und verabschiedeten uns herzlich. Aber er ließ es sich nicht nehmen, uns noch seine Kirche zu zeigen. Es ist nichts darüber zu berichten: ein Kirchlein, wie man es allüberall in Rußland findet.

Als wir, noch immer von dem Abte geleitet, unsern Wagen bestiegen, kam eben der Zug der Mönche über den Hof geschritten. Meist greise, sieche Gestalten, stumpfe, ausdruckslose Gesichter, nur auf Einiger Antlitz das Leuchten unheimlicher, fanatischer Schwärmerei.

»Es sind so Viele krank!« sagte ich.

»Weit über die Hälfte!«

»Und dennoch kein Arzt?!«

»Merke Dir's, Herr«, erwiderte der Abt, »lieber Gut und Geld, lieber Leib und Leben verlieren, als – den Himmel!«

Stumm fuhren wir davon und in den dämmerigen Abend hinein . . . Vieles, was wir gesehen und gehört, war komisch gewesen, aber kein Scherzwort kam über unsere Lippen, noch minder ein Gelächter.

Vielleicht fühlst du, mein Leser, nach, was uns damals das Herz belastet, wenn du das Leben und Wähnen dieser armen, entsetzlich armen Leute überdenkst, der »Leute vom wahren Glauben«! . . .


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