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Zehntes Kapitel. Der Opfertod des Häuptlings.

Die wenigen Tage des Wartens auf den nächstfälligen Dampfer verstrichen mit dem Ordnen und Einpacken der Sammlung schnell genug. Dann kam ein wahres Ungetüm von Dampfer den Xingu heraufgekeucht, ging für einen Tag in Porto de Moz vor Anker und setzte für vierundzwanzig Stunden alle Federn in den sonst ziemlich verödeten dortigen Schreibstuben in fliegende Bewegung. Hierauf wandte er sich zur Rückfahrt nach Para, und von seinem Verdeck aus sandten Helmut und seine beiden unzertrennlichen Begleiter der unter so viel Gefahren durchquerten Wildnis den letzten Abschiedsblick zu. Die Fahrt auf dem komfortabel eingerichteten, von einem bunten Gewimmel der verschiedenartigsten Passagiere belebten Dampfer war freilich etwas ganz anderes als die in dem zerbrechlichen Rindenkanu und verstrich in jeder Weise auf das angenehmste. Nur zwei Tage hatte das schnelle Schiff nötig, um den Haupthandelsplatz des nördlichen Brasilien zu erreichen.

Hier herrschte das rege Leben und Treiben eines Weltmarktes, und fast kam es Helmut, der nur noch an die großartige Einsamkeit der Wildnis gewöhnt war, unheimlich vor. Die vornehme Eleganz Rio de Janeiros und die Unzahl prachtvoller öffentlicher Gebäude und großartiger Monumente fehlten freilich. Aber dafür reihte sich in den Hauptstraßen Magazin an Magazin, Laden an Laden, Bureau an Bureau. Im Hafen ragte Mast neben Mast, Schornstein neben Schornstein. Schiffe aus aller Herren Ländern waren hier verankert, und sehnsüchtig sagte sich Helmut, daß so manches derselben ihn in kürzester Frist nach dem heimatlichen Rio Grande do Sul tragen könne. Betäubender Lärm herrschte am Hafen, unausgesetzt rasselten die Ketten, der großen Maschinen, die mit riesenhaften eisernen Armen die Erzeugnisse der Tropen in den geräumigen Schiffsbäuchen verluden oder die Produkte europäischen Gewerbfleißes hier ans südamerikanische Gestade setzten, damit sie ihren Weg ins Innere nehmen könnten. Kohlenschipper und Lastträger von allen nur möglichen Hautfarben waren in beständiger Tätigkeit und suchten sich diese dadurch zu erleichtern, daß sie die Arbeit mit rauhem, taktmäßigem Gesang begleiteten. Helmut hatte sich in einer abgelegenen Gegend der Stadt in einem einfachen Gasthause einquartiert, da einerseits seine Reisekasse schon so stark zusammengeschmolzen war, daß er sich in seinen Ausgaben nach Möglichkeit einschränken mußte, anderseits, weil ihm bei der Unsicherheit seiner Lage daran liegen mußte, unnötiges Aufsehen zu vermeiden. Während der ersten Tage hielt er sich unter dem hier wenig auffallenden Vorwande, fieberkrank zu sein, vorsichtshalber sogar im Bett und schickte nur seine Begleiter auf Kundschaft in die Stadt, damit sie Nachrichten über die Gestaltung der politischen Verhältnisse einziehen sollten. Er erfuhr auf diese Weise, daß die meisten Provinzen und darunter auch Para selbst die Präsidentenwahl schon hinter sich hatten, daß aber manche Provinzen noch fehlten und daher das endgültige Ergebnis erst abgewartet werden müsse. Die Nachricht von diesem konnte jedoch jeden Tag eintreffen, und es unterlag kaum noch einem Zweifel, daß der verhaßte Peixoto, der sich durch sein übertrieben strenges Militärregiment überall unbeliebt gemacht hatte, glänzend durchfallen würde. Die große Frage war nur die, ob er sich der Abstimmung fügen und nicht vielleicht in seiner willkürlichen Art mit Waffengewalt seine Stellung zu behaupten versuchen würde. Die weitaus meisten Stimmen bei der Wahl hatte bisher ein Advokat aus Rio de Janeiro, Doktor Prudente de Maraes Barros erhalten. Diese Nachricht durchzuckte Helmut wie ein elektrischer Schlag, denn dieser Mann war ja der Vater seines lieben und unvergeßlichen Kameraden Manuel, dem er bei dem blutigen Straßenkampf von Nictheroy das Leben gerettet hatte. Oh, dann mußte ja alles bald wieder gut werden!

Bei diesen günstigen Aussichten glaubte Helmut sein freiwilliges Krankenlager ohne Gefahr verlassen zu dürfen. Zwar hielt er sich noch einige Tage im Zimmer und beschäftigte sich mit der Durchsicht seiner und Doktor Mangolds Tagebücher und mit dem Ordnen der Sammlungen, aber schließlich trieb es ihn doch hinaus, sich das bunte Leben und Treiben in der Stadt näher anzusehen. Daß ihn hier irgend jemand erkennen würde, erschien ja nahezu ausgeschlossen.

So verstrichen wieder einige Tage in Erwartung der politischen Nachrichten. Allerlei unheimliche Gerüchte liefen um, daß Peixoto die ihm ergebenen Truppen mobilisiere, um sich durch einen Staatsstreich zum Diktator des Landes zu machen. Die ganze Stadt erschien in zwei feindliche Lager gespalten. Offenbar kam es jeder Partei darauf an, die Hauptstädte der Provinzen für sich zu gewinnen, und so erschien denn das ganze gesellschaftliche Leben beeinflußt und unterwühlt von politischen Intriguen und Leidenschaften. Jeder aus Rio kommende Dampfer brachte Sendlinge der beiden Parteien, die die Bevölkerung bearbeiteten und für ihren Kandidaten Stimmung zu machen suchten. So wimmelten die sonst lediglich dem Merkur geweihten Straßen Paras plötzlich von politischen Sendlingen, unter denen sich vielfach recht verdächtige Individuen und Abenteurer zweifelhaftester Art befanden, die hier im Trüben zu fischen gedachten. Namentlich auch unter dem in solchen Fällen ja ausschlaggebenden Militär wurde fleißig agitiert, und es tauchten zu diesem Zwecke auch nicht wenige Offiziere sowohl des Landheeres wie der Seemacht in Para auf.

Unter diesen Umständen war Helmuts Lage nicht sehr geheuer, und fast bereute er es, die Entscheidung nicht lieber in dem stillen Porto de Moz abgewartet zu haben. Aber zu einer Rückkehr dorthin konnte er sich doch nicht entschließen, bewegte sich jedoch in den Straßen mit höchster Vorsicht, wenn er auch anderseits darauf brannte, die endliche Entscheidung möglichst frühzeitig zu vernehmen. Bisher hatte er nichts Verdächtiges wahrnehmen können. Von den noch ausstehenden Provinzen liefen nach und nach auch die Wahlergebnisse ein, und sie lauteten für den gewalttätigen Peixoto ausnahmslos ungünstig. Nur aus einer Provinz stand das Resultat noch aus. Sobald es durch den Telegraphen übermittelt war, konnte der neue Präsident ausgerufen werden, und damit war auch Helmuts Schicksal in voraussichtlich glücklichem Sinne entschieden. Aber nicht nur er wartete mit fieberhafter Spannung auf diese Nachricht, sondern ebenso ganz Para, dessen Einwohnerschaft sich ein förmlicher Taumel bemächtigt zu haben schien. In allen Kaffeehäusern war es gedrängt voll, und erregte politische Gespräche flogen von einem Tisch zum andern, endigten nicht selten auch mit Gewalttätigkeit und blutigen Raufereien. Die bisherigen, von Peixoto eingesetzten Beamten machten sich nachgerade mit dem Gedanken vertraut, demnächst von ihren fetten Pfründen scheiden zu müssen, und suchten in der Zwischenzeit noch so viel als möglich aus dem armen Volke herauszupressen oder umfangreiche Bestellungen für die Regierung aufzugeben, um dabei nach Landessitte oder vielmehr -unsitte einen letzten tüchtigen Profit zu machen. Umgekehrt rüsteten sich die Hauptvertreter der Gegenpartei, demnächst in diese behaglichen Sinekuren einzurücken, und machten auf das dadurch zu erwartende hohe Einkommen schon im voraus tüchtig Schulden, versprachen das Blaue vom Himmel herunter und dachten im Ernste doch gar nicht daran, es jemals zu halten.

Helmut ging jeden Tag an den Hafen hinaus, um die ankommenden Schiffe zu beobachten und zu sehen, ob ihm nicht von irgend einem der neu eintreffenden Offiziere oder Sendlinge Gefahr drohen könne. So hatte er auch wieder in einem verborgenen Winkel mit tief ins Gesicht gedrücktem Hut Aufstellung genommen und musterte mit scharfen Augen die über den Landungssteg eines soeben aus Pernambuco eingetroffenen Dampfers zum Kai Herüberschreitenden. Plötzlich stieß er einen Freudenruf aus, vergaß alle Vorsicht, sprang auf einen der neuen Ankömmlinge hinzu und lag ihm im nächsten Augenblicke am Halse. »Manuel!« stammelte er entzückt, und »Helmut« antwortete dieser mit dem Ausdrucke der höchsten Überraschung. Arm in Arm gingen sie zusammen in die Stadt als die alten unzertrennlichen Kameraden vom Aquidaban und konnten sich nicht genug tun mit gegenseitigem Erzählen.

»Die Frau, der du mich damals an dem fürchterlichen Tage von Nictheroy anvertraut hast,« sagte Manuel, »hat ihr Wort wacker gehalten. Sie und ihre Leute haben mich getreulich gepflegt und in ihrem Hause so vortrefflich versteckt gehalten, daß die Spürhunde Peixotos mich nicht ausfindig zu machen vermochten. Meine kräftige junge Natur ist über die schweren Verwundungen Sieger geblieben, und nur ehrenvolle Narben erinnern mich noch an die Beteiligung bei der unglücklichen Revolution und an unseren tapferen Admiral Mello. Mein Vater war natürlich von meinen Gastfreunden auch so bald als möglich benachrichtigt worden, hat mich öfters besucht und nach meiner Genesung durch Bestechung einiger Hafenbeamten dafür gesorgt, daß ich in einer Nacht, wohl versehen mit Geldern und einem falschen Paß, im Boote an Bord eines Schiffes gehen konnte, das mich nach Pernambuco brachte, wo ich seither in der Verborgenheit bei Verwandten gelebt und mich vollends erholt habe. Als dann der Umschwung der Verhältnisse einzutreten anfing und mein Vater für die höchste Stelle im Staate bestimmt zu sein schien, konnte ich schon freier hervortreten, zumal die Bewohner von Pernambuco dem Peixoto von jeher feindlich gesinnt waren. Nachdem die Niederlage Peixotos beim Wahlkampfe sicher zu sein schien, hat mich mein Vater telegraphisch gebeten, hierher nach Para zu gehen, um zusammen mit einigen seiner Freunde seine Interessen hier wahrzunehmen. Und da bin ich nun und freue mich unendlich, dich, meinen Lebensretter, hier so unvermutet zu sehen. Du mußt auch viel durchgemacht haben, denn du bist währenddem zum Manne gereift und schaust zwar braun und sehnig genug aus, aber doch etwas mitgenommen und nicht ganz gesund. Aber das mußt du mir alles genau in meinem Hotel erzählen, das wir jetzt vor allen Dingen aufsuchen wollen.«

Während Manuel in seinem Hotel auspackte, hatten sich die beiden Freunde nach der langen Trennung so viel zu erzählen, daß darüber die rasche Tropendämmerung hereinbrach. Der Brasilianer machte nun den Vorschlag, zusammen nach einem großen Kaffeehause zu gehen und dort in Gesellschaft seiner Freunde einen recht gemütlichen Abend zu verleben. Helmut sah wohl ein, daß das für ihn nicht unbedenklich sei, aber er mochte dem Freunde die Bitte nicht abschlagen, und seine lebenslustige Jugend sehnte sich ja selbst danach, nach den vielen Entbehrungen wieder einmal einige lustige Stunden in Gesellschaft gebildeter Menschen zu verbringen. So gab er nach einigem Bedenken schließlich doch gerne nach.

Das Kaffeehaus war gedrängt voll erregt schwatzender und politisierender Herren. Manuels Gesellschaft saß an einem reservierten Tische in einer Ecke, und bald wurde man äußerst vergnügt. Eine mächtige Ananasbowle wurde gebraut, die denn doch anders schmeckte, als die Algarrobobowlen im Chaco oder gar als das schauerliche Kaschirigetränk bei den Yurunas, und bald riß eine ausgelassene Stimmung unter den jungen Leuten ein. Man trank auf die Niederlage Peixotos, feierte Manuel als den Sohn des künftigen Präsidenten, mehr oder minder glückliche Witze wurden erzählt, Scherzworte flogen hin und her, und bereits stimmte der eine oder der andere auch schon ein Schelmenliedchen an, in dessen Refrain die ganze Gesellschaft einfiel. So konnte es nicht fehlen, daß sie die Aufmerksamkeit der andern Gäste im Lokal auf sich zogen, und Helmut fühlte sich darob ein wenig ungemütlich. Aber auch er war jung und lebenslustig und konnte sich der allgemeinen Stimmung nicht entziehen. Er fühlte sich hier nur zu behaglich und nach den traurigen Erlebnissen der letzten Wochen zum ersten Male wieder in einer wahrhaft glücklichen Stimmung. So machte er keineswegs den Spielverderber, sondern hielt lustig mit den andern mit und verscheuchte alle Sorgen und Bedenken. Plötzlich fühlte er aber instinktiv, daß jemand aus dem Publikum ihn scharf musterte. Betroffen sah er auf und blickte gerade in die schadenfrohen Züge seines Feindes Dom Alvarez, der mit einigen Landoffizieren an einem Tische in der andern Ecke Platz genommen hatte. Er trug bereits Hauptmannsuniform, war also für seinen Verrat von Peixoto entsprechend belohnt worden. Offenbar gehörte er auch zu den von Peixoto zur Aufwiegelung des Militärs nach Para entsendeten Parteigängern.

War Helmut die ungewohnte Bowle vielleicht schon ein wenig zu Kopf gestiegen, jetzt wurde er doch vor Schreck sofort wieder vollständig nüchtern und überschaute mit klaren Blicken seine gefährliche Lage. Voller Geistesgegenwart tat er so, als ob er den Hauptmann überhaupt nicht gesehen oder wenigstens nicht erkannt hätte, und fuhr ruhig fort, sich mit seinen Tischnachbarn in harmloser Weise zu unterhalten. Zwischendurch aber beobachtete er seinen Feind scharf und sah mit wachsender Besorgnis, wie dieser sich von seiner Gesellschaft verabschiedete, ohne sein Glas ausgetrunken zu haben, und sich eilig aus dem Lokal entfernte. Jetzt war es auch für ihn Zeit zum Handeln. Rasch verständigte er im Flüstertone Manuel von seiner unliebsamen Wahrnehmung. Auch der Brasilianer erkannte sofort die drohende Gefahr und begriff die Sachlage. Unter einem Vorwande und mit dem Versprechen, gleich wiederzukehren, machten sie sich von der lustigen Gesellschaft los und eilten so rasch als möglich nach Helmuts Quartier. Aber schon unterwegs war es ihnen, als ob sie von einigen verdächtigen Gestalten verfolgt würden.

Glücklicherweise trafen sie in Helmuts Gasthaus den Chiriguano und den Neger an, die sich schon über Helmuts ungewöhnlich langes Ausbleiben geängstigt hatten. Rasch bezahlte Helmut seine Rechnung und packte dann mit Manuels Hilfe seine Sachen zusammen, während die beiden Farbigen in verschlossenem Vorzimmer Wache hielten. Vielleicht gelang es, den Gasthof zu verlassen, ehe die Späher des Dom Alvarez ihn ausfindig gemacht hatten, und für die wenigen Tage bis zur Entscheidung über die Präsidentenwahl irgend wo anders einen Unterschlupf zu finden, vielleicht auf einem der fremden, im Hafen liegenden Schiffe. Dann würde Manuel schon alles befriedigend ordnen.

Aber es war leider bereits zu spät. Eben waren die beiden mit dem Packen fertig geworden und schöpften einen Augenblick Atem, als zahlreiche Schritte sich auf der knarrenden Treppe hören ließen und es gleich darauf barsch an die Tür des Vorzimmers klopfte. Helmuts erster Gedanke war, durch einen Sprung aus dem Fenster zu entkommen. Aber ein Blick aus diesem hinaus zeigte ihm, daß es doch zu hoch lag, und daß außerdem auch im Hofe bereits Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett zum Empfange des etwa Flüchtenden bereit standen. So wollte er sich denn mit Würde und Ruhe in das Unvermeidliche fügen, in der Hoffnung, daß es dem Einflüsse seines Freundes gelingen werde, ihn nach dem erhofften Umschwung der politischen Verhältnisse wieder frei zu bekommen.

Das ungeduldige Klopfen an der Vorzimmertür wiederholte sich. Auf einen Wink Helmuts, der sich selbst mit Manuel wieder ins Schlafzimmer zurückzog, öffnete Tumayaua, aber nur ein wenig, und trat dem überraschten Soldaten im vollen Kriegsschmuck eines Chiriguanohäuptlings entgegen, die nervige Rechte um den schweren, mit Schlangenhaut überzogenen Steintomahawk geklammert. Überrascht fuhren die Soldaten zurück, nicht recht wissend, was sie aus dieser unvermuteten und bei aller Wildheit Ehrfurcht gebietenden Erscheinung machen sollten. Gleich darauf aber ertönte die ungeduldige Stimme des Tom Alvarez: »Ich wünsche den Seekadetten Helmut Förster zu sprechen.« »Hier gibt es keinen Seekadetten und keinen Herrn Förster,« versetzte Tumayaua ruhig, »und mein Herr ist für fremde Leute überhaupt nicht zu sprechen.« Damit schlug er den Soldaten die Tür vor der Nase wieder zu, verriegelte sie und stemmte sich dann mit seinem mächtigen Körper dagegen.

»Im Namen des Gesetzes öffnet uns,« schrie Don Alvarez heiser vor Aufregung. »Wir kommen im Auftrage der Regierung.«

Tumayana rührte sich nicht, und als schließlich Beilhiebe die Tür erschütterten, erhob er drohend den Tomahawk, und auch Zampa eilte jetzt mit einem Dolchmesser an die Seite des mutigen Häuptlings. Aber Helmut und Manuel sahen wohl ein, daß hier jeder Widerstand vergeblich sei und ihr Schicksal nur verschlimmern könne. Ersterer befahl deshalb dem Häuptling in entschiedenem Tone, keinen Widerstand zu leisten und die Tür zu öffnen, wenn anders ihm seine Freundschaft teuer sei. Nur höchst widerwillig und murrend gehorchte Tumayaua und trat zurück, einen trotzigen und finsteren Ausdruck in den ehernen, bronzefarbigen Zügen. Die schwache Tür splitterte unter den wuchtig gegen sie geführten Beilhieben bald vollends auseinander, und herein trat hohnlächelnd Hauptmann Alvarez, ein Dutzend wohlbewaffneter Soldaten hinter sich. Ohne weiteres schritt er auf Helmut zu und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Im Namen der Republik, Kadett Förster, erkläre ich Sie wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt für verhaftet und muß Sie daher ersuchen, mir unverzüglich zu folgen.«

Schon wollte sich Helmut ohne weiteres fügen, als Manuel dazwischentrat.

»Wie können Sie sich unterstehen,« rief er dem Hauptmann entrüstet zu, »jetzt noch Verhaftungen wegen Teilnahme an dem Aufstande der Admirale Mello und Gama vorzunehmen! Wenn auch vielleicht ein alter Haftbefehl Peixotos gegen Herrn Förster vorliegen mag, so wissen Sie doch jedenfalls ebensogut wie wir, daß die Machtbefugnisse des seitherigen Präsidenten in wenigen Tagen ihr Ende erreicht haben werden, und daß dann eine sofortige und vollständige Amnestie für alle Parteigänger der Revolution sicher ist. Wozu also jetzt noch für wenige Tage harmlose Leute verhaften? Das heißt nur unnützerweise neue Beunruhigung in die Bevölkerung tragen und ist wahrhaftig nicht patriotisch gehandelt. Im übrigen bürge ich Ihnen in jeder Beziehung für Herrn Förster.«

»Bürgen Sie, für wen Sie Lust haben,« erwiderte Dom Alvarez kalt, »das geht mich gar nichts an. Ich habe mich nur an die Befehle meiner Vorgesetzten zu halten, und diese gehen dahin, den Seekadetten Förster wegen hervorragender Teilnahme an dem Marineaufstande zu verhaften, wo immer ich ihn treffe. Daß dies erst so spät geschieht, ist nicht meine Schuld, da Herr Förster sich durch die Flucht zu den Indianern seiner Verhaftung bisher zu entziehen gewußt hatte. Mir wäre es selbst lieber, wenn ich ihn schon früher erwischt hätte. Sie, mein Herr, kann ich nur auffordern, eine Amtshandlung nicht zu stören und sich schleunigst von hier zu entfernen, falls Sie nicht das Schicksal Ihres Freundes teilen wollen. Ich kenne Sie nicht, und Sie gehen mich nichts an, aber fast will es mir scheinen, als ob auch Sie die Gerechtigkeit der Republik zu fürchten hätten, und ich werde deshalb dafür sorgen, daß man Sie genügend im Auge behält. Über Patriotismus brauchen Sie einem brasilianischen Offizier keine Belehrungen zu geben. Herrn Förster erkläre ich aber nochmals für verhaftet.«

»Aber Mensch, bedenken Sie doch, was Sie tun!« rief Manuel abermals erregt. »Was soll denn das für einen Zweck und Sinn haben, einen sonst unbescholtenen Mann noch für die paar Tage einzusperren, wo er nachher doch wieder freigelassen werden muß?«

»Sie könnten sich doch täuschen, mein Herr,« versetzte Tom Alvarez spöttisch. »Noch ist Marschall Peixoto im Amte, und noch arbeiten die von ihm eingesetzten Kriegsgerichte. Diese aber machen glücklicherweise kurzen Prozeß. Wer heute verhaftet wird, kann schon morgen sein Urteil erhalten und übermorgen die wohlverdiente Kugel. Also vorwärts, machen Sie keine längeren Umstände, wenn Sie mich nicht zwingen wollen, Gewalt anzuwenden.«

Helmut winkte dem Freunde beschwichtigend zu und schickte sich an, seinem unerbittlichen Feinde zu folgen, aber dieser meinte verächtlich: »Nein, einen so losen Vogel, der in den Chaco und über den Xingu fliegt, können wir nicht so ohne weiteres über die Straße führen. Er muß es sich schon gefallen lassen, daß man ihm die Flügel ein wenig beschneidet.«

Damit winkte er zwei Soldaten heran, die dem Deutschen schwere, eiserne Fesseln um Hände und Füße legen wollten. Entrüstet stieß Helmut sie mit solcher Kraft zurück, daß sie sich auf dem Boden wälzten. Flammenden Auges wendete er sich an seinen Peiniger:

»Solche Niederträchtigkeiten gehen denn doch zu weit, mein Herr! Ich habe bewiesen, daß ich bereit war und noch bin, Ihnen freiwillig zu folgen, vertrauend auf die Gerechtigkeit meiner Sache. Aber ich habe nur meine Schuldigkeit als Soldat getan und nichts Ehrenrühriges begangen, und ich habe es infolgedessen auch nicht nötig, mich wie einen gemeinen Verbrecher in schimpfliche Fesseln schlagen zu lassen. Dazu haben Sie kein Recht, und das verbitte ich mir auf das entschiedenste. Lassen Sie das, und ich gebe Ihnen als Angehöriger der brasilianischen Marine und ehemaliger Kamerad mein Ehrenwort, Ihnen ohne jeden Widerstand zu folgen.«

»Sie sind nicht mehr Angehöriger der brasilianischen Marine,« lautete die bissige Antwort, »und haben daher auch nicht das Ehrenwort eines solchen zu vergeben. Für Ihre Kameradschaft danke ich, und Ihr sonstiges Ehrenwort ist für mich keinen Pfifferling wert. Ich habe hier lediglich meine Schuldigkeit zu tun.«

»Nun,« meinte Helmut, nun auch seinerseits erbittert, »vielleicht ist das Ehrenwort eines braven Deutschen doch noch mehr wert als das von Ihresgleichen, der Sie Ihre ehemaligen Kameraden so schnöde verraten haben.«

Giftiger Haß entstellte bei diesen Worten die gelblichen Züge des Hauptmanns, aber er gab keine Antwort mehr, sondern befahl nur nochmals seinen Soldaten, den Verhafteten in Fesseln zu schlagen und das Zimmer zu räumen. Unschlüssig stand Helmut einen Augenblick. Sein Verstand sagte ihm, daß jeder Widerstand Torheit sei, und sein Gefühl sträubte sich doch mächtig gegen die schimpflichen Eisenketten, und vor seinem geistigen Auge tauchte das in Ehren grau gewordene Haupt seines Vaters auf, was der wohl sagen würde, wenn er sähe, daß man seinen Sohn in Ketten wie einen Raubmörder durch die volksreichen Straßen einer großen Stadt schleppen würde. Schon hatten die Soldaten Helmut ergriffen, aber in diesem Augenblick geschah etwas völlig Unerwartetes.

Tumayana, der bis dahin schweigend und unbeachtet in einem Winkel des Zimmers gelehnt hatte, schnellte plötzlich mit funkelnden Augen in einem tigerartigen Satz hervor, schleuderte die Soldaten zurück und sprang auf den eines solchen Angriffs nicht gewärtigen Don Alvarez los. Wie eine eiserne Klammer legte sich die linke Hand des Häuptlings um den Hals des Hauptmanns, während der Tomahawk in seiner Rechten Kreise beschrieb, die die Soldaten zurückscheuchten. Don Alvarez zog rasch den Revolver und feuerte, aber die Kugel schlug unschädlich in die Zimmerwand, und im nächsten Augenblick sauste auch schon der Tomahawk mit furchtbarer Wucht nieder und spaltete dem Hauptmann den Schädel mit lautem Krach mitten durch. Einen Augenblick standen alle erstarrt vor Entsetzen. So blitzschnell und unvermutet hatte sich das alles abgespielt, daß die Soldaten noch gar nicht zur Besinnung gekommen waren und noch gar nicht daran gedacht hatten, von ihren Gewehren Gebrauch zu machen. Jetzt erst ermannten sie sich, indem ein alter Unteroffizier den Befehl übernahm.

Mit vorgestreckten Bajonetten stürzten sie sich auf Tumayaua, aber der schleuderte den Tomahawk in eine Ecke, kreuzte ruhig die muskulösen Arme über der breiten Brust und sagte einfach: »Das war Tumayauas letzte Kriegstat. Er hat damit nur eine Dankesschuld abgetragen.«

Dann ließ er sich widerstandslos fesseln. Manuel hatte mit dem alten Unteroffizier, der vernünftigen Erwägungen zugänglicher erschien als sein so jäh aus dem Leben geschiedener Vorgesetzter, eine hastige Unterredung, und deren Ergebnis war, daß Helmut von den Soldaten ungefesselt in ihre Mitte genommen wurde. So bewegte sich der kleine Zug nach dem Staatsgefängnis durch die jetzt in der Nacht glücklicherweise schon völlig menschenleer gewordenen Straßen. Andere Soldaten folgten mit dem verhüllten Leichnam des Don Alvarez auf einer Bahre.

Es war für Helmut doch ein eigentümliches und tief niederdrückendes Gefühl, als sich die schweren, eisenbeschlagenen Flügeltüren des Gefängnisses krachend hinter ihm schlossen und er von rohen Fäusten in eine dumpfige, finstere Kerkerzelle gestoßen wurde, die kaum Luft genug zum Atmen hatte und außer einem Wasserkruge nichts als eine harte Lager-Pritsche enthielt. Noch einsamer und verlassener kam er sich jetzt vor als in den Wildnissen des Xingu, wo Freund Mangold ruhte, der doch wohl das bessere Los gezogen hatte. Von Tumayaua war Helmut sofort getrennt worden und hatte auch nicht einen Blick mehr mit dem finster vor sich hinstarrenden Häuptling wechseln können. Manuel hatte ungehindert nach Hause gehen dürfen, und Zampa war im Gasthause zur Bewachung von Helmuts Habseligkeiten zurückgeblieben.

Schlaflos und mit schmerzenden Gliedern wälzte sich Helmut die ganze Nacht auf seiner harten Pritsche und suchte sich über alle Möglichkeiten der Zukunft klar zu werden. Mehr fast noch als sein eigenes Schicksal bekümmerte ihn das des heißblütigen Häuptlings, denn er kannte die brasilianischen Gesetze gut genug, um zu wissen, daß der letzte Chiriguano dem Tode verfallen war, falls nicht ein Wunder ihn rettete. Kaum war unser Freund imstande, ein paar Löffel der eklen, lauwarmen Morgensuppe hinunterzuwürgen, die ihm der mürrische Gefängniswärter ohne Gruß durch eine Klappe der Tür hereinschob. In düsteren Gedanken saß er so noch manche Stunde, und es mochte wohl schon Mittag sein, als plötzlich zunehmender Lärm auf der Straße seine Aufmerksamkeit erregte. Man hörte das Tosen und Schreien eines großen Volkshaufens, das wie die Brandung eines erregten Meeres an die dicken Gefängnismauern anprallte. Anfangs war nichts zu verstehen in dem wüsten Gelärm, aber dann unterschied Helmut doch deutlich den sich immer erneuernden Ruf: »Hoch lebe der neue Präsident Brasiliens, Doktor Prudente de Maraes Borros!« Freudiger Schreck durchzuckte ihn. Das bedeutete ja die Rettung! Offenbar war das Telegramm mit der Entscheidung über die stattgehabte Präsidentenwahl soeben in Para eingetroffen, und das Volk jubelte dem neuen Staatsoberhaupte zu. Bald genug sollte Helmut darüber Gewißheit erhalten. Die Türschlösser klirrten, und mit bedeutend höflicherer Miene als bisher erschien der Gefängniswärter und forderte seinen Pflegebefohlenen auf, ihm unverzüglich zum Präsidenten des Gerichtshofes zu folgen. Freudig verließ Helmut die Stickluft des düsteren Kerkers, wurde durch lange und finstere Gänge geführt, kam dann in wohnlicher eingerichtete Teile des riesigen Hauses und durfte nach kurzem Harren in das Sprechzimmer des Gewaltigen eintreten. Es war ein alter, graubärtiger Oberst mit ernsten, aber nicht unfreundlichen Gesichtszügen, der da vor seinem mit Aktenstößen bedeckten Schreibtische saß, und neben ihm hatte zu Helmuts freudiger Überraschung Manuel in einem Klubsessel Platz genommen und nickte strahlenden Auges dem Freunde Ermutigung zu.

»Viel habe ich Ihnen nicht mitzuteilen, Herr Förster,« begann der alte Oberst, »aber ich freue mich aufrichtig, daß diese Mitteilungen für Sie günstig lauten. Durch Ihren Freund Manuel, den Sohn unseres neu gewählten Präsidenten, bin ich über Ihre Schicksale so weit unterrichtet, daß Sie mir nichts zu erzählen brauchen. Der neue Präsident Brasiliens hat die ihm vom Volke anvertraute Herrschaft mit einem Akte der Großmut begonnen und eine umfassende Amnestie für alle Teilnehmer am Marineaufstand erlassen. Darin sind selbstverständlich auch Sie inbegriffen, und es steht Ihnen frei, dieses ungastliche Gebäude jeden Augenblick zu verlassen. Ich beglückwünsche Sie dazu und kann nur meinem Bedauern darüber Ausdruck geben, daß Sie durch den Übereifer eines Anhängers des alten Regimes noch zu guter Letzt in eine so unliebsame Lage gebracht worden sind. Ich weiß wohl, wie wacker Sie sich in den schwierigsten Lagen benommen haben, und ich schüttle Ihnen deshalb herzlich die Hand. Gehen Sie mit Gott, und reisen Sie in Frieden heim zu den Ihrigen, die gewiß schon mit banger Sehnsucht des verlorenen Sohnes harren. Ich bin entzückt, daß auch die erste Handlung meines ernsten Amtes unter der neuen Präsidentschaft eine solche der Menschenliebe sein darf.«

»Tausend Dank, Herr Oberst, für Ihre rasche Erledigung meiner Angelegenheit, und tausend Dank auch dir, lieber Manuel, für dein tatkräftiges Eintreten, denn ohne dieses hätte ich doch wohl noch manchen Tag hier zubringen können.«

»Oh,« versetzt Manuel mit etwas verlegenem Lächeln, »die alte Schuld von Nictheroy ist dadurch noch lange nicht wett gemacht, denn es war nur Weniges und Selbstverständliches, was ich hier für dich tun konnte.«

»Auch unser seitheriger Präsident Peixoto,« nahm der Oberst würdevoll wieder das Wort, »hat ein Beispiel erhabener Vaterlandsliebe gegeben, indem er sofort nach dem Bekanntwerden des Wahlergebnisses den Regierungspalast räumte und die Geschäfte seinem nach Recht und Verfassung gesetzmäßig erwählten Nachfolger übertrug. Die Feinde und Neider Brasiliens hatten ja insgeheim gehofft, daß er nicht freiwillig die Macht wieder aus den Händen geben, sondern sich vielleicht durch einen Gewaltstreich zum allmächtigen Diktator des Landes machen werde. Sie haben sich glücklicherweise verrechnet, denn auch bei Peixoto siegte die bessere Einsicht und die glühende Vaterlandsliebe über etwa vorhandene persönliche Machtgelüste und die Anforderungen des Ehrgeizes. So hat dieser zweifellos hochbegabte und tatkräftige Mann durch die Art seines Rücktrittes seinem Lande einen großen Dienst erwiesen, einen neuen Bürgerkrieg vermieden und ruhiger Aufwärtsentwicklung den Weg gebahnt. Dafür schuldet ihm Brasilien großen Dank, und er hat dadurch vieles wieder wett gemacht, was er vielleicht aus übergroßer Strenge verschuldet hat, wobei aber sicherlich immer die Sorge um das Wohl des Vaterlandes und nicht persönliche Rachsucht die Triebfeder gewesen ist.«

Damit machte der Oberst den beiden jungen Leuten eine freundlich entlassende Handbewegung und wandte sich den Arbeiten auf seinem Schreibtische wieder zu. Die Freunde verbeugten sich dankend und schritten der Türe zu, als Helmut plötzlich zögernd stehen blieb. »Und was wird aus Tumayaua?« fragte er halblaut.

»Kann ich Ihnen noch mit etwas dienen, Herr Förster?« sagte der Oberst wohlwollend, aber doch mit dem leisen Unterton von Ungeduld in der Stimme, wie er vielbeschäftigten Leuten eigen zu sein pflegt.

»Mein Freund wollte sich nur nach dem Schicksal seines wackeren Reisebegleiters, des Chiriguanohäuptlings, erkundigen,« fiel Manuel ein, »und wir beide möchten ein warmes Wort der Fürbitte einlegen für diesen edlen Wilden, den gerechte Entrüstung und eine mißverständliche Auffassung der Sachlage zu einer unüberlegten Tat hingerissen haben.«

»In dieser Beziehung bedaure ich, Ihnen nicht dienen zu können, meine Herren,« versetzte der Oberst verbindlich, aber kalt. »Der Indianer ist dabei betroffen worden, wie er, ohne selbst angegriffen zu sein, einen in Ausübung seiner Amtspflicht begriffenen brasilianischen Offizier niederschlug. An dieser unzweifelhaften Tatsache ist nichts zu rütteln und nichts zu mäkeln, auch nichts zu beschönigen, mögen die Beweggründe zu dem Meuchelmord vielleicht auch edler Natur gewesen sein. Unsere Gesetze sind in dieser Beziehung streng und unerbittlich. Und mit Recht. Wo bliebe sonst das Ansehen des Staates? Die lateinischen Republiken Südamerikas bedürfen eines festen Gefüges, wenn sie nicht zugrunde gehen oder von der großen nordamerikanischen Republik so nach und nach verschluckt werden sollen. Und gerade den wilden und unbotmäßigen Eingeborenen gegenüber muß streng darauf gesehen werden, daß die Gesetze ohne Abweichung und Ausnahme unerbittlich durchgeführt werden. Solchen hochwichtigen Staatsgrundsätzen gegenüber darf und kann ein armseliges Indianerleben keine Rolle spielen. Recht muß Recht bleiben, und das Gesetz muß gerade hier unbeirrt seinen Lauf nehmen. Ich kann daher nichts für Ihren Schützling tun, meine Herren, auch wenn ich es wollte. Doch werde ich dafür Sorge tragen, daß er anständig behandelt wird.«

Niedergeschlagen wandten sich die beiden Freunde abermals zum Gehen. Helmut wollte aus gequältem Herzen heraus noch etwas erwidern, aber Manuel zog ihn fast gewaltsam mit sich fort. Und auch der Deutsche mußte sich sagen, daß von dem alten Oberst in dieser Sache nichts zu erhoffen sei, denn dazu war er offenbar viel zu sehr eingefleischter Jurist und Brasilianer mit allen Vorurteilen seiner Landsleute gegen die farbige Rasse. Das galt bis zu einem gewissen Grade selbst für den sonst so gutmütigen Manuel, der es bei aller Freundschaft für seinen ehemaligen Kameraden und bei aller Dankbarkeit gegen den Lebensretter vom Standpunkte seiner Auffassung aus doch nicht recht begreifen konnte, daß Helmut wegen eines halbnackten Indianers so viele Umstände machte. Daß ein Indianer inmitten einer bevölkerten Hafenstadt und im tiefsten Frieden es gewagt hatte, einen brasilianischen Offizier zu töten, erschien auch in seinen Augen als ein so ungeheuerliches Verbrechen, daß es nur durch den Tod gesühnt werden konnte. Und was lag denn an so einem einzelnen Indianer? Es gab ihrer doch wahrlich noch mehr als genug in den Urwäldern. Am liebsten hätte Manuel es gesehen, wenn Helmut diesen unglückseligen Häuptling ruhig seinem wohlverdienten Schicksale überlassen hätte und mit erster Gelegenheit mit ihm zusammen nach Rio zurückgelehrt wäre. Aber dazu war Helmut nicht zu bewegen, sondern erklärte mit Festigkeit, daß er Para nicht eher verlassen werde, als bis die Würfel über Tumayauas Schicksal gefallen wären, und daß er in der Zwischenzeit alles aufbieten werde, die Lage des armen Häuptlings zu erleichtern. Als Manuel sah, wie unerschütterlich ernst es dem Freunde mit diesem Vorsatz sei, fügte er sich und bemühte sich ehrlich, nun auch seine weitreichenden Verbindungen für Tumayaua nutzbar zu machen. Aber so sehr man auch sonst überall dem hübschen und liebenswürdigen Sohne des neuen Präsidenten entgegenkam, in dieser Beziehung stieß er doch überall auf taube Ohren oder auf volle Verständnislosigkeit. Der ganze Hochmut der brasilianischen Rasse kam da zum Vorschein. Für eine armselige Rothaut konnte und wollte sich niemand erwärmen. Alles, was sich erreichen ließ, war, daß der Chiriguano im Gefängnis gut und anständig behandelt wurde, obgleich die Wärter darüber murrten und nur durch fortgesetzte reichliche Trinkgelder dazu zu bewegen waren. Befreit von schweren Sorgen und doch voll Kummer um das Schicksal Tumayauas, war Helmut in seine Behausung zurückgekehrt, wo ihn der getreue Zampa mit Ausbrüchen ungeheuchelter Freude empfing. Aber auch bei ihm verwandelte sich der Jubel bald in Traurigkeit, als er hörte, daß der Chiriguano voraussichtlich nicht wiederkehren werde. Einige Tage später erhielt Helmut durch Verwendung Manuels die Erlaubnis, dem Häuptling im Gefängnis einen Besuch abzustatten. Mit tiefer Erschütterung betrat er die niedrige Zelle, mit ruhiger Gelassenheit empfing ihn Tumayaua, so freudig es auch bei dem unvermuteten Eintritt des Deutschen in seinen dunklen Augen aufgeblitzt hatte. Er war verschlossen und wortkarg wie immer, verriet durch nichts auch nur die geringste Erregung und schien seine traurige Lage und das bevorstehende Ende als eine selbstverständliche Fügung des Schicksals zu betrachten und hinzunehmen. Tröstungsversuche wies er fast schroff von sich. Bei den Verhören hatte er nicht den geringsten Versuch gemacht, seine Tat zu beschönigen oder in milderem Lichte erscheinen zu lassen. »Ich habe meinen weißen Bruder und Wohltäter an seinem ärgsten Feinde gerächt,« hatte er fast triumphierend vor dem Untersuchungsrichter ausgerufen, »wie es die Sitte der Chiriguanos und das Gesetz des Urwaldes ist. Ich bin ein Kind des Urwaldes und vom alten Stamme der Chiriguanos. Demgemäß habe ich gelebt und demgemäß will ich sterben.« Für diese freimütige Sprache hatten die Aktenmenschen im Gerichtsgebäude von Para freilich kein Verständnis. Unbefriedigt mußte Helmut das Gefängnis wieder verlassen.

Trotzdem erlahmte er nicht in seinen Anstrengungen zum Besten der Rothaut. Gemeinsam mit Manuel sprach er noch bei manchem einflußreichen Manne vor, aber stets erhielten sie dieselbe höflich ablehnende Antwort wie bei dem alten Obersten, stets begegneten sie demselben gleichgültigen Achselzucken. Keiner dieser äußerlich so liebenswürdigen Brasilianer hatte auch nur das leiseste Verständnis für Helmuts Auffassung und Denkungsart. Ihnen allen erschien der Indianer da unten irgendwoher aus den Urwäldern als ein Wesen so niedriger und untergeordneter Art, daß es doch wahrlich nicht lohne, sich seinethalben den Kopf zu zerbrechen. Er habe einen brasilianischen Offizier aus einer der angesehensten Familien des Landes ermordet, und dafür müsse er mit Fug und Recht am Galgen büßen. »Man würde seine Begnadigung im Volke auch gar nicht verstehen und es höchstens die Richter entgelten lassen, überdies die Rothaut beim Verlassen des Gefängnisses lynchen.« Das mußte Helmut immer und immer wieder hören. So brach der gefürchtete Tag der entscheidenden Gerichtsverhandlung an. Auch Helmut, Manuel und Zampa waren unter den geladenen Zeugen, ebenso die bei der Schreckenstat anwesend gewesenen Soldaten. Diese sagten natürlich ungünstig für den verhaßten Indianer aus, doch gab namentlich der Unteroffizier zu, daß der Ermordete sich sehr herausfordernd benommen habe, und daß dadurch der Indianer möglicherweise stark gereizt worden sei, da er mit großer Treue an seinem Herrn zu hängen scheine.

»Ein Chiriguano kennt keinen Herrn,« warf Tumayaua hier stolz ein, während er sich sonst bei der ganzen Zeugenvernehmung in undurchdringliches Schweigen hüllte. »Die Chiriguanos sind frei wie die Hirsche des Waldes. Nur freiwillig bin ich meinem weißen Bruder gefolgt, weil er mich vor dem Marterpfahle der Bugres gerettet hat.«

Helmut beeilte sich, das zu bestätigen. Natürlich suchte er den Angeklagten so viel als möglich zu entlasten und erzählte ausführlich, wie wacker sich der Häuptling während der abenteuerlichen Reise benommen, wie sehr er sich um das Wohlergehen der kleinen Expedition verdient gemacht hatte. Die strengen Richter erschienen durch diese warmherzige und offenbar von ehrlicher Überzeugung getragene Verteidigung doch ein wenig gerührt, wenn sie es auch nicht recht begreifen konnten, daß ein gebildeter Weißer wegen einer Rothaut so viel Geschichten machte, wodurch Helmut in ihren Augen einen bedauerlichen Mangel an Rassebewußtsein erkennen ließ. Aber Tumayaua selbst verdarb wieder die gute Wirkung von Helmuts Rede und den vorteilhaften Eindruck, den auch das Zeugnis Manuels hervorgerufen hatte, während auf die Aussage eines Niggers wie Zampa natürlich von vornherein überhaupt kein Wert gelegt wurde.

Statt der von den Richtern erwarteten Zerknirschung trug der Häuptling einen stolzen, in diesem Saale und vor diesen harten Männern wenig angebrachten Hochmut zur Schau und begegnete allen forschenden Fragen nach den inneren Beweggründen zu seiner Tat mit trotziger Kürze oder finsterm Schweigen. Vergebens suchte Helmut einen Blick von ihm abzufangen, um ihm wenigstens mit den Augen ein klügeres Verhalten anzuraten. Vielmehr erklärte der Chiriguano, daß er seine Tat nicht im geringsten bereue, da der Kapitano ein böser Mensch gewesen sei, und daß er im Wiederholungsfalle genau ebenso handeln würde. Das mußte ihm verhängnisvoll werden, daran konnte auch der Umstand nichts mehr ändern, daß die über Dom Alvarez selbst vernommenen Leumundszeugen sich fast ausnahmslos höchst ungünstig über seinen Charakter aussprachen. Es stellte sich heraus, daß der Getötete in der Tat ein boshafter Mensch, ein hämischer Intrigant gewesen war, stets nur auf seine Bereicherung bedacht und mit der brutalen Rücksichtslosigkeit des Strebers über andere hinwegschreitend, dabei auch Wortbruch und Verrat nicht scheuend.

Endlich zog sich der Gerichtshof zur Beratung zurück. Sie dauerte über Erwarten lange, obwohl doch jeder im Saal Anwesende wußte, daß bei der klaren Lage des Falls nur ein Todesurteil ausgesprochen werden konnte. Es mußten sich doch wohl verschiedene Auffassungen unter den Richtern geltend machen und auf einander stoßen. Endlich erschienen sie mit ernsten Mienen wieder, und der Vorsitzende verkündigte das allgemein erwartete Todesurteil. Da aber der Angeklagte aus edlen Beweggründen gehandelt habe, liege kein gemeiner Meuchelmord vor, und deshalb solle er nicht am Galgen sterben, sondern durch Pulver und Blei. Ein Schimmer von Freude huschte bei diesen Worten wie Sonnenschein über Tumayauas düstere Züge. Gefragt, ob er sich bei dem Urteil beruhigen oder Revision vor einer höheren Instanz beantragen wolle, erklärte er freimütig: »Tumayaua weiß, daß der große Geist die Haare auf seinem Haupte gezählt hat. Tumayaua geht gern zum Tode, denn er hat recht gehandelt. Tumayaua weiß Dank dem Rate der Weißen, daß sie ihn nicht durch den Strick am großen Holze sterben lassen wollen. Tumayauas Herz ist erfreut, daß er den Tod des Kriegers sterben darf. So kann sein Geist ungehindert eingehen zu seinen Vätern, die den Jaguar und den Tapir in den Urwäldern gejagt haben« Die Indianer glauben nämlich, daß die Seele eines Gehenkten wegen der Einschnürung des Halses den Körper nicht verlassen könne und ruhelos umherirren müsse, weshalb sie das Gehenktwerden für den schimpflichsten und entsetzlichsten Tod halten.

In stolzer, ungebrochener Haltung schritt der Häuptling zwischen den Gefängniswärtern zu seiner Kerkerzelle zurück, während Helmut die Tränen nahe waren. Also das sollte das traurige Ende dieser wackeren Rothaut sein, die ihm immer gewissermaßen als eine letzte Verkörperung indianischen Heldentums und indianischer Ritterlichkeit erschienen war! Aber für solche Männer gab es wohl keinen Platz mehr innerhalb der Zivilisation, die alles gleich machte und keine eigenwilligen Persönlichkeiten mit dem Gepräge vergangener Zeiten mehr dulden wollte. Für denselben Abend noch verschaffte er sich eine abermalige Unterredung mit dem Verurteilten und machte ihm sanfte Vorwürfe wegen seines halsstarrigen Verhaltens.

»Hättest du,« sagte er zu Tumayaua, »doch wenigstens Reue zu erkennen gegeben und um Gnade gebeten, es hätte alles ganz anders kommen können, denn die Richter waren unparteiisch genug und dir nicht übel gesinnt. Vielleicht hätte man es bei zehn oder fünfzehn Jahren Zwangsarbeit bewenden lassen. Die wären schließlich auch zu überstehen gewesen, oder es hätte sich früher oder später für deinen Scharfsinn einmal eine Gelegenheit zum Entkommen geboten, oder, wenn du dich gut geführt hättest und erst etwas Gras über die Geschichte gewachsen wäre, hätten wir es durch Manuels Verbindungen sehr wohl erreichen können, daß du bedeutend früher begnadigt worden wärest.«

Aber der stolze Chiriguano lächelte nur verächtlich: »Tumayaua ist ein Mann. Er will tausendmal lieber sterben, als in euren dumpfen Kerkern bei lebendigem Leibe vermodern. Er braucht den Wald und das Wild und den Krieg, um leben zu können. Er wäre ja auch gestorben vor Sehnsucht nach dem Rauschen der Bäume und dem Brunstruf der Hirsche. Es ist besser so. Möge mein weißer Bruder mich jetzt verlassen, damit Tumayaua sich schmücken kann für das Wiedersehen mit seinen roten Vorfahren.«

Schweren Herzens entfernte sich Helmut, und vergeblich zermarterte er sein Hirn darüber, wie der Häuptling vielleicht noch im letzten Augenblicke zu retten sei. Ein Begnadigungsgesuch an den Präsidenten versprach bei der ganzen Lage der Sache wenig Erfolg, und nach dem, was er soeben von dem Chiriguano gehört hatte, war auch mit Sicherheit anzunehmen, daß dieser seine Einwilligung dazu verweigern würde, und ohne die ging es doch überhaupt nicht. Nur eine Möglichkeit schien es noch zu geben, nämlich den Häuptling mit List oder Bestechung aus dem Gefängnis zu befreien und ihm so Gelegenheit zu bieten, wieder in seinen geliebten Wäldern zu verschwinden. Für den Sohn der Wildnis war es gewiß möglich, sich wieder bis zu den Bakairis durchzuschlagen, und die würden den berühmten Krieger zweifellos mit offenen Augen als ihren Häuptling aufnehmen, wie sie es ihm ja schon angeboten hatten. Nachdem Helmut einmal diesen verzweifelten Plan gefaßt hatte, ging er auch sofort mit aller Tatkraft an seine Vorbereitung und Durchführung. Er mußte sich dazu mit Manuel verständigen, denn allein fehlten ihm ja die unbedingt nötigen Mittel. So zog er denn den gutmütigen Brasilianer ins Vertrauen, bauend auf seine Hochherzigkeit und Dankbarkeit, sicher, daß er ihn zum mindesten nicht verraten würde. Mit tiefem Ernste hörte Manuel seine Auseinandersetzung an. Dann sagte er:

»Offen gestanden, verstehe ich dich nicht mehr recht, Helmut. Du bist da im Begriffe, eine große Unbesonnenheit zu begehen, denn was du vorhast, ist eine offenbare Auflehnung gegen die rechtsgültigen Landesgesetze, die dir im Falle des Mißlingens selbst teuer zu stehen kommen kann. Und das alles einer solchen Rothaut wegen! Aber ein deutsches Herz mag darin anders denken als ein brasilianisches, und ich will nicht versuchen, dich umzustimmen, so sehr es mich auch freuen würde, wenn du von selbst zu einer besseren Einsicht kämest. Dein Vertrauen ehrt mich; ich werde es nicht täuschen und auf alle Fälle verschwiegen sein wie das Grab. Verlange aber nicht von mir, daß ich mich persönlich an einem Unternehmen beteilige, das ich von meinem Standpunkte aus entschieden mißbilligen muß. Es würde dem Sohne des Präsidenten schlecht anstehen, wenn er sich an einer solchen Gesetzlosigkeit beteiligen wollte, und es könnte meinem Vater im Falle des Bekanntwerdens seine Stellung kosten. Eigentlich tue ich ja schon schweres Unrecht, wenn ich über deine Mitteilungen schweige, und keinem andern zuliebe würde ich das tun. Wenn du aber etwa für deine persönlichen Bedürfnisse Geld brauchst, so steht dir meine Kasse natürlich gern zur Verfügung. Wozu du es verwendest, geht mich ja schließlich nichts an. Ich denke mir eben, daß du dich nach den vielen ausgestandenen Entbehrungen und vor der Rückkehr auf eure Farm erst mal gründlich hier in der Großstadt amüsieren willst.«

Helmut merkte natürlich wohl, worauf sein gutherziger Freund eigentlich hinaus wollte, und im stillen mußte er dessen vernünftige Haltung bewundern und konnte sie nur billigen. Ja, Geld, das leidige, elende Geld war es, das ihm fehlte, das er dringender als alles andere benötigte, wenn er die Gefängniswärter bestechen und auf diese freilich ungesetzliche Weise ein edles Menschenleben retten wollte. Zögernd nannte er die beträchtliche Summe, die er für den guten Zweck nötig zu haben glaubte, und ohne Bedenken zog Manuel seine Brieftasche und füllte einen entsprechenden Scheck aus. Schleunigst machte Helmut diesen auf der Bank zu barem Gelde und ging dann an die Ausführung seines waghalsigen Vorhabens. Der Gefängniswärter war ihm von allem Anfange an als ein gemeiner und habgieriger Mensch erschienen; der würde dem verlockenden Klang der Goldfüchse gewiß keinen großen Widerstand leisten. Noch am selben Abend mußte ihn Zampa, der sich für solche Aufgaben vortrefflich eignete, in seiner schmutzigen Stammkneipe im Hafenviertel aufsuchen, denn viel Zeit war nicht mehr zu verlieren, da das Urteil am dritten Tage nach seiner Fällung vollstreckt werden sollte.

Es verlief auch alles ganz programmäßig. Zampa hatte das Glück, in der Hafenspelunke zwei Wärter anzutreffen, darunter denjenigen, dem speziell die Bewachung Tumayauas anvertraut war, während der andere, wie der Neger bald herausbekam, in der nächsten Nacht die Torwache und demgemäß auch den Torschlüssel hatte. Die beiden Kerle waren schon halb betrunken, lümmelten mit aufgestützten Ellenbogen an ihrem Tische vor sich hin und schienen schlechter Laune, weil ihnen das Bargeld ausgegangen war und der Wirt, der seine Pappenheimer zu kennen schien, ihnen keinen weiteren Kredit mehr bewilligen wollte. Beide Wärter waren zwar Mulatten, aber trotzdem hätten sie sich in ihrem Rassendünkel kaum mit einem Vollblutneger an einen Tisch gesetzt, wenn nicht Zampa sofort eine Runde Whisky hätte auffahren lassen, dessen verlockendem Duft die beiden Trunkenbolde nicht widerstehen konnten. So folgte eine Runde der andern, und bald glaubte Zampa mit seinem Vorschlage herausrücken zu können, wobei er gleichzeitig einige Goldstücke in die gierig geöffneten Hände der Ehrenmänner gleiten ließ. Es erforderte nicht allzuviel Überredungskunst, sie für den Plan zu gewinnen, zumal Zampa ihnen für den Fall des Gelingens eine recht beträchtliche Belohnung in Aussicht stellen konnte.

Helmut hatte derweil andere Vorbereitungen getroffen. So hatte er ein Mönchskostüm besorgt, in das sich der Häuptling bei seiner Flucht hüllen sollte. Gerade diese Verkleidung erschien am geeignetsten, weil sie die ganze Gestalt verhüllte und bei herabgezogener Kapuze auch das Gesicht ziemlich verdeckte, und weil außerdem die Patres als Seelentröster ständig im Gefängnisse aus- und eingingen, das Erscheinen einer solchen Gestalt also am wenigsten auffallen konnte.

So war also alles bestens vorbereitet, und mit fieberhafter Spannung erwartete Helmut den Einbruch der Dunkelheit. Eine finstere und stürmische Nacht schien sein kühnes Vorhaben noch besonders zu begünstigen. Endlich war es so weit. Entschlossen steckte er zwei geladene Revolver zu sich und machte sich mit dem das Mönchskostüm tragenden Zampa auf den Weg nach dem wie ausgestorben daliegenden Gefängnis. Auf ein verabredetes Klopfzeichen hin ließ sie der bestochene Wärter durch das Tor, und der andere führte sie zur Zelle Tumayauas. Beim Eintreten fanden sie den Häuptling aus seiner Pritsche bereits in tiefem, ruhigem Schlummer. Aber mit den scharfen Sinnen des Wilden fühlte er doch instinktiv die Anwesenheit von Menschen in dem kleinen Räume und richtete sich langsam auf. Der Wärter löste ihm die Fußfessel, mit der er an die Wand geschmiedet war, und verließ dann die Zelle, um draußen im Gange Wache zu halten, falls etwa eine unvermutete Revision erfolgen sollte. Die drei Reisegefährten waren allein.

Strahlenden Blickes sah Helmut dem rothäutigen Freund ins Auge. »Ich bringe dir die Freiheit, Tumayaua,« sagte er dann mit Nachdruck.

»Haben die Richter der Weißen sich eines Besseren besonnen und das Urteil abgeändert?« fragte Tumayaua dagegen.

»Das nicht, denn das Urteil läßt sich nicht mehr ändern, nachdem du keine Revision eingelegt hast. Aber treue Freundeshand öffnet dem Häuptling der Chiriguanos die Kerkertür, damit er in seine geliebten Wälder zurückkehren kann als ein freier Mann.«

Und nun entwickelte Helmut mit aller ihm zur Verfügung stehenden Beredsamkeit seinen Plan, setzte auseinander, welche Maßregeln er für eine glückliche Durchführung desselben getroffen habe, breitete das Mönchskostüm aus und lud die Rothaut ein, sich für einige Stunden in einen frommen Pater zu verwandeln.

Aber ernst schüttelte Tumayaua das Haupt. »Der letzte Häuptling der Chiriguanos kann nicht wie ein Fuchs feige vor seinen Feinden davonschleichen. Er weiß zu sterben und möchte beim großen Geist die Friedenspfeife mit seinen Vätern rauchen. Tumayaua ist ein Krieger und verschmäht es, sich in das Kleid der falschen Priester zu hüllen, die er sein ganzes Leben hindurch gehaßt und verachtet hat, die so viel Unglück über die roten Männer gebracht haben.«

Vergeblich versuchte Helmut, den harten Sinn des trotzigen Häuptlings umzustimmen. Fast huschte ein leises Lächeln über die finsteren Züge Tumayauas, als er sagte: »Und wenn Tumayaua wirklich entkommen würde, was sollte dann aus seinem weißen Bruder werden? Tumayaua kennt die Gesetze der Weißen gut genug. Er weiß, daß sein weißer Bruder für Tumayauas Flucht zur Verantwortung gezogen und hart bestraft werden würde. Mein weißer Bruder ist eben erst selbst einer großen Gefahr entgangen, warum will er sich einer Rothaut wegen in eine neue stürzen? Hat er ganz vergessen, daß daheim die alten Eltern und die weiße Blume des Waldes aus ihn warten? Tumayaua dankt ihm, kann aber seinen Vorschlag nicht annehmen. Tumayaua sehnt sich danach, den Tod des Kriegers zu sterben und bei seinen Vätern zu weilen.«

Nichts vermochte den Häuptling umzustimmen. Unerschütterlich beharrte er auf seinem Entschlusse, und an seinem ehernen Willen prallten alle Überredungskünste Helmuts ab. Dieser war in Verzweiflung darüber, daß das so glücklich begonnene Befreiungswerk in letzter Stunde an dem Eigensinn des Häuptlings selbst scheitern sollte. Er bat und flehte, beschwor und drohte, aber alles umsonst.

Der Wärter klopfte schon ungeduldig an die Tür, und Tumayaua sagte schließlich: »Darf ich eine Bitte an meinen weißen Bruder richten?«

»Sie ist dir von vornherein gewährt, Häuptling.«

»So lasse mein weißer Bruder den letzten Häuptling der Chiriguanos mit Würde zum Tode gehen und mache ihm das Herz nicht schwer. Denn auch der rote Krieger des Waldes hat ein Herz. Tumayaua darf nicht schwach werden, und wenn mein weißer Bruder ihn nicht verläßt, müßte er selbst Lärm machen und die Wache herbeirufen.«

Tief erschüttert stand Helmut vor solcher Seelengröße. Er sah nun wohl ein, daß alle weiteren Bemühungen vergeblich sein würden. Tränen umflorten sein Auge, er konnte sich nicht halten, gab der Regung seines Herzens nach, vergaß allen Rassenhochmut, umarmte innig den Indianer und drückte ihm einen herzlichen Kuß zum Abschied auf den Mund, zum grenzenlosen Staunen Zampas, der ein solches Schauspiel wohl nie für möglich gehalten hätte. In den tiefdunklen Augen Tumayauas aber flammte und zuckte es dabei gar seltsam auf, und jetzt bebte auch seine Stimme vor Rührung, als er sagte:

»Dafür dankt Tumayaua seinem weißen Bruder, denn damit hat dieser sein Herz stark gemacht und ihm den Abschied erleichtert. Tumayaua haßte die Weißen, die seinen roten Brüdern ihre Jagdgründe weggenommen und sie mit Pulver und Gift und Feuerwasser vom Erdboden vertilgt haben. Tumayauas Herz hat sich verhärtet, als er sah, wie die roten Männer dahinschmolzen im Kampfe, wie die Weißen Wortbruch und Verrat übten und Krankheiten in die Dörfer des roten Mannes trugen. Bestände der Stamm der alten Chiriguanos noch, Tumayaua hätte den Kriegstomahawk ausgegraben und gegen die Weißen gekämpft bis zum letzten Atemzuge. Er verachtete die falschen Brasilianer, aber er lernte dann, daß es auch gute Menschen unter den Weißen gebe; namentlich unter euch Deutschen. Und diese durfte Tumayaua nicht die Untaten anderer entgelten lassen, denn der große Geist hat ihm den Sinn für Gerechtigkeit ins Herz gepflanzt. Tumayaua lernte deine Eltern kennen, und er sah, daß diese den roten Mann seiner Hautfarbe wegen nicht verachteten, sondern wie einen Bruder in ihrem Hause aufnahmen. Tumayaua hatte keine Heimat mehr, sein Stamm war erloschen, aber wenn er müde war von der Jagd, durfte er sein Haupt im Hause deines Vaters stets zur Ruhe legen. Und da haben Zweifel sein Herz ergriffen. Tumayaua ist dann mit dir zu seinen Stammesgenossen im Chaco gewandert, und er mußte dort sehen, daß das keine echten Chiriguanos mehr sind, daß sie dem Glauben und den Sitten ihrer Väter untreu wurden und schon fast die Gewohnheiten der Weißen angenommen haben. Tumayaua hat sich überzeugt, daß in diesem Lande kein Platz mehr ist für die Kinder des roten Mannes. Derer, die sich der Herrschaft der Weißen nicht beugen wollen, sind nur noch sehr wenige, und sie sind arm, und ihre Pfeile können nichts ausrichten gegen eure weittragenden Donnerbüchsen. Die anderen aber sind verkommen und verdienen nicht mehr, Indianer zu heißen. Da ist es auch für den letzten Häuptling der Chiriguanos an der Zeit, zu scheiden. Sein weißer Bruder hat ihm durch den Freundeskuß den Abschied leicht gemacht, und Tumayaua weiß, wofür und warum er stirbt. Und wegen dieses Kusses darf er beim Abschiede seinem weißen Bruder auch noch eines sagen, was sonst nie über seine Lippen gekommen wäre. Der lebende Tumayaua durfte wegen seiner roten Farbe sein Auge nicht erheben zu der weißen Blume des Waldes, aber der sterbende darf ihr jetzt seinen letzten Gruß senden, und das macht ihn glücklich. Lebe wohl, mein weißer Bruder, und sage deiner schönen Schwester, daß der letzte Häuptling der Chiriguanos als ein furchtloser Krieger gestorben ist.«

Ein furchtbarer Seelenschmerz schnürte Helmuts Hals fast bis zum Ersticken zusammen. Nun fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, nun erst wurde ihm so manches Rätselhafte und Widerspruchsvolle an dem verschlossenen Häuptling klar. So hatte ihn selbst das langsame Sterben Doktor Mangolds kaum erschüttert. Seiner Sinne kaum noch mächtig, verließ er nach einer nochmaligen Umarmung in Begleitung Zampas die elende Gefängniszelle, und wie ein Trunkener taumelte er wenige Minuten später wieder durch das sich mit leisem Knarren öffnende Tor, nachdem er vorher noch den beiden, ihn habgierig daran erinnernden Wärtern wortlos die versprochene Belohnung in die Hand gedrückt hatte. Diese beiden Ehrenmänner sahen sich mit unverhohlenem Erstaunen an, daß wieder nur zwei Männer das düstere Gebäude verließen, und als sie sich durch einen Blick in Tumayauas Zelle davon überzeugt hatten, daß der Gefangene wirklich zurückgeblieben war, kannte ihre Verblüffung keine Grenzen. Das war etwas, was über ihren Horizont ging. Nun, ihnen konnte es auf jeden Fall recht sein. Ihren Judaslohn hielten sie in Gestalt blinkender Goldstücke in Händen, und wenn der Verurteilte trotzdem so dumm war, dazubleiben, um so besser; dann brauchten sie keinerlei Entdeckung des Anschlages zu fürchten und konnten ihre mit mancherlei hübschen Nebeneinnahmen verbundenen Stellen behalten.

Als Helmut in sein Gasthauszimmer zurückkehrte, fand er dort zu seiner Überraschung Manuel sitzen, der Zigaretten rauchend den Freund erwartete, denn es hatte dem braven Brasilianer doch keine Ruhe gelassen; er wollte so rasch als möglich in Erfahrung bringen, ob der Anschlag geglückt oder mißlungen sei, um danach etwaige weitere Maßregeln im Interesse seines Lebensretters ungesäumt treffen zu können. Helmuts tieftraurige Miene schien nichts Gutes zu weissagen.

»Also mißglückt?« fragte Don Manuel ängstlich.

»Ja und nein! Es wäre alles glatt und gut gegangen, aber der stolze Häuptling wollte nicht wie ein Fuchs aus dem Loche fliehen, sondern die Verantwortung für seine rasche Tat voll tragen. Und vor allem wollte er auch meinetwegen nichts von heimlicher Flucht wissen.«

»Er hat vollkommen recht gehandelt,« versetzte Manuel zustimmend.

Und nun erzählte Helmut dem treuen, teilnehmend zuhörenden Freunde ausführlich die erschütternden Vorgänge der letzten Stunden. Auch der weichherzige Manuel war tief gerührt. »Wahrlich,« sagte er, »diese Rothaut ist ein edler Mensch, und jetzt kann ich es auch verstehen, daß du alles aufbieten wolltest und mußtest, um ihn zu retten.«

»Er erscheint mir,« schloß Helmut, »als die letzte Verkörperung der vielbesungenen Indianerpoesie und indianischen Heldenmuts auf amerikanischem Boden. Er mag wohl recht haben, daß für beides kein Platz mehr ist in der neuen Welt. Aber die Erinnerung an ihn wird in meinem Herzen nie verlöschen und mich gerechter und duldsamer gegen Menschen von anderer Hautfarbe machen. Wie lange noch, und es wird auch in unserem Lande keine wirklichen Indianer mehr geben, sondern nur noch ein halbzivilisiertes Lumpengesindel von roter Hautfarbe. Es war wohl wirklich für den letzten Häuptling der edlen Chiriguanos an der Zeit zu gehen.«

Am nächsten Tage war die halbe Stadt auf den Beinen, um die Hinrichtung des wilden Indianers mit anzusehen, der es gewagt hatte, in einer der grüßten Städte des Landes einem brasilianischen Offizier mit seinem Tomahawk den Schädel zu spalten, als befände er sich mitten im Urwalde. So gern Helmut auch noch einen letzten Blick auf den rothäutigen Freund geworfen hätte, er fühlte sich doch ganz außer stände, dem für ihn fa entsetzlichen Schauspiel beizuwohnen. Auf seine Bitte aber ging Manuel hin, um ihm nachher Bericht abzustatten. Sehr ernst kam der lebenslustige Brasilianer zurück und erzählte dann dem gespannt aufhorchenden Helmut:

»Tumayaua ist gestorben, wie es von ihm zu erwarten war: als ein indianischer Held und als ein ganzer Mann. Selbst den Soldaten, die wahrlich nicht an Weichherzigkeit leiden, hat er die höchste Achtung abgenötigt. Stolz und aufrecht, mit der unnachahmlichen Würde dieser Naturkinder schritt er zwischen ihnen seinen letzten Gang, ohne einen Blick zu haben für die gaffende Menge, die den Weg umsäumte. Auf seinen Wunsch – und du weißt ja, daß man jedem zum Tode Verurteilten einen letzten Wunsch zu erfüllen pflegt – hatte man ihm gestattet, den vollen Kriegsschmuck des Chiriguanos anzulegen. Er sah prächtig darin aus in seiner urwüchsigen Wildheit und in seinem unbeugsamen Trotz, und ich hörte manches bewundernde Wort über ihn von den Lippen schöner Damen. Am Richtplatz angekommen, wollte man ihm die Augen verbinden, aber entrüstet wies er das zurück, denn die Chiriguanos seien gewohnt, dem Tode offen ins Antlitz zu sehen. Der befehligende Offizier, dem die wackere Rothaut wohl selbst leid tat, ließ ihm auch diesen Willen, obwohl es eigentlich gegen die Instruktion ist. Frei und offen bot Tumayaua seine Brust den tödlichen Kugeln dar und rief: ›So stirbt der letzte Häuptling der Chiriguanos unter den Kugeln der Bleichgesichter!‹ Dann knatterte die verhängnisvolle Salve, und alles war vorüber. Ich habe dafür gesorgt, daß dem Unglücklichen wenigstens ein ehrliches Begräbnis zuteil wird.«

Tränenumflorten Auges hatte Helmut zugehört, und stumm drückte er dem Freunde die Hand. Am nächsten Tage pilgerte er hinaus zu dem frischen Grabhügel und legte zwei Kränze aus Waldblumen darauf nieder, einen für sich und einen für die Schwester, die wohl nichts davon ahnen mochte, daß hier ein edles Herz ausgelitten, das so treu für sie geschlagen hatte.


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