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Drittes Kapitel. Auf einer deutschen Farm.

Allmählich wurde die Gegend stiller und einsamer, die Ansiedlungen seltener, der Wald ausgedehnter. Durstigen Auges überflog Helmut die Schönheit dieser größtenteils noch urwüchsigen Tropenlandschaft: nun mußte er ja bald daheim sein, denn die Farm seines Vaters war eine der letzten und am weitesten vorgeschobenen. Am Abend des zweiten Reittages, als schon die kurze Tropendämmerung hereinbrechen wollte, machte der Weg eine plötzliche Biegung, gastlicher Rauch kräuselte sich über den ragenden Wipfeln der Urwaldbäume, und gleich darauf lag das Vaterhaus in seiner ganzen behaglichen Breite vor Helmuts entzückten Augen. Im Galopp sprengte er darauf zu, mit wildem Satz über ein paar erschreckt auseinander fahrende Schweine hinweg, war im Nu aus dem Sattel und klopfte mit dem schweren Knopf seiner Reitpeitsche dröhnend gegen die balkenverwahrte, mächtige Haustür. Es dauerte seiner Ungeduld viel zu lange, bis sich drinnen langsam schlürfende Schritte hören ließen und endlich der schwere Riegel zurückgeschoben wurde. Der Oberknecht Gottlieb war es, der ihm zuerst entgegentrat und bei dem unerwarteten Anblick des jungen Herrn ein erstauntes, echt schwäbisches: »Da guck a mol na!« in den stillen Tropenabend hinausrief. Daraufhin kam auch eilends seine Gattin, die dralle Viehmagd Luisle, herbeigewatschelt, den sauberen Melkeimer noch in der Hand, und begnügte sich, da sie sich immer zusammennahm und in Gegenwart der Herrschaft vornehm Hochdeutsch zu reden sich bemühte, mit einem erstaunten: »Aber so was!« Helmut drückte dem wackeren Ehepaar rasch die Hand und stürmte weiter zum Nähzimmer, wo er wenige Sekunden später in den Armen seines lieben Mütterleins lag. Nachdem der erste Sturm der Begrüßung vorübergerauscht war, wurde natürlich aufgetragen, was Küche und Keller zu bieten vermochten, um den erschöpften Reitersmann zu erquicken, und dieser mußte dann unter den liebevoll sorgenden Blicken der Mutter und der Schwester von seinen Erlebnissen erzählen, wobei diese aus dem Erstaunen und aus einem nachträglichen Angstgefühl gar nicht herauskamen. Die Männer waren noch draußen auf dem Anstände, um die Küche mit Hirschfleisch zu versehen, und kamen erst spät heim. Dann finden wir die ganze Familie mit dem neuen Ankömmling in der gemütlichen Diele bei einem guten Trunk und regem Meinungsaustausch versammelt.

Da war zunächst Vater Förster selbst mit seiner straffen, emporgereckten Gestalt, den scharf geschnittenen, von unzähligen Fältchen durchzogenen, glattrasierten Gesichtszügen und den kleinen, durchdringend unter gewölbten Brauen hervorblickenden Augen, der Typus des niedersächsischen Landmanns. Er war einer jener großen Bauern in der Lüneburger Heide gewesen, die viele hundert Morgen Land ihr eigen nennen und seit mehr als einem halben Jahrtausend auf ererbter Scholle sitzen. Es ist ein bäuerliches Aristokratengeschlecht, das sich da im Laufe der Generationen auf solchen einsamen Heidehöfen herausbildet, zäh und tüchtig, aber auch unbeugsam, trotzig und selbstbewußt. Dem angestammten Königshause hingen diese Heidebauern mit rührender Treue an, und deshalb vermochten sich viele von ihnen nicht in die großen Umwälzungen des Jahres 1866 zu finden. Zu ihnen hatte auch der alte Förster gehört, und lieber wanderte der knorrige Mann mit seinem jungen Weibe aus, als daß er sich in die neuen Verhältnisse gefügt und sich als preußischer Untertan betrachtet hätte. Schwer genug war es ihm anfangs geworden, in dem wildfremden Brasilien festen Fuß zu fassen, aber seine und seiner Frau angestammte Zähigkeit hielten durch und meisterten alle Schwierigkeiten.

Harte Arbeit hatte es in den ersten Jahren gegeben, als der Urwald mit Axt und Feuer gerodet werden mußte und man dabei die geladene Büchse nicht von sich legen durfte, um die Überfälle wilder Raubtiere und noch wilderer Indianer abwehren zu können. Und eigen war es dem wortkargen Mann wohl zumute geworden, als Zeitungen, die sich in seine Einsamkeit verirrten, Kunde gaben von den großen deutschen Siegen gegen Napoleon und die französische Republik, vom Einzuge in Paris und von der Wiedererrichtung des alten herrlichen deutschen Kaiserreiches. Manchmal hatte es ihn da wohl gemahnt, doch wieder zurückzukehren in die verlassene, immer noch heiß geliebte Heimat. Aber inzwischen hatte er doch schon Wurzel geschlagen im neuen Lande, und wenn auch sein Herz immer dem deutschen Vaterlande gehörte, die schwer errungene neue Existenz, die seinen Nachkommen eine glänzendere Zukunft verhieß, als es unter deutschen Verhältnissen möglich gewesen wäre, mochte er doch nicht wieder aufgeben. Konnte sich doch der freiheitliebende Mann hier auf seinem weiten Besitztum wie ein kleiner König fühlen. Kleine Kinder waren inzwischen ins Haus gekommen, deren zartes Alter die weite Reise nicht rätlich erscheinen ließ. Und mit den Kindern kam allmählich auch der wachsende Wohlstand, wenn auch erst nach mancherlei Fehl- und Rückschlägen.

Jetzt schmauchte der alte Förster gemächlich sein Pfeifchen und lauschte aufmerksam den Erzählungen seines Sohnes. Er äußerte sich mit keinem Wort über dessen Erlebnisse, aber sein liebevoller Blick verriet, daß er mit der Haltung seines Jungen zufrieden war. Mutter Förster trippelte beständig um den jungen Helden herum und wußte gar nicht, was sie ihm alles Liebes und Gutes antun solle, um ihn für die vielen ausgestandenen Strapazen und Entbehrungen zu entschädigen. Immer wieder strich ihre arbeitsharte Hand liebkosend über den blonden Scheitel ihres Sorgenkindes. Der knorrigen Riesengestalt des Vaters gegenüber erschien sie klein und zierlich, aber fest ruhten die Zügel des weitverzweigten Haushaltes in ihrer Hand, und alles lief wie am Schnürchen. In einer solchen Ansiedlung muß ja fast alles, was zu des Lebens Notdurft und Nahrung gehört, selbst hergestellt werden, denn nur selten verirrt sich ein Händler mit seinem fahrenden Warenlager zu diesen äußersten Niederlassungen, und auch die Ansiedler selbst finden nur selten Gelegenheit und Muße, dem nächsten Städtchen einen flüchtigen Besuch abzustatten, dürfen auch ihr einsames Heim nicht allein lassen. Die etwas plump gearbeiteten Tische, Stühle, Bänke und Schränke waren alle eigenes Erzeugnis, aus selbst gefällten Bäumen gezimmert. Der Tabak, den man rauchte, der Kaffee, den man trank, der Zucker, mit dem man ihn süßte, die Orangen, die die Frauensleute schnabulierten, waren auf eigenem Grund und Boden gewachsen.

Außer Helmut waren noch drei Söhne da, zwei ältere, Günter und Siegfried, hochgewachsene, wettergestählte Männer, tüchtige Landwirte, mit offenen und sympathischen, wenn auch nicht übermäßig geistreichen Gesichtszügen. Rolf, der Jüngste, dagegen war ein schmächtiger, fast zierlicher Knabe mit weichem Lockenhaar, aber seine tief gebräunten Gesichtszüge bewiesen, daß auch er sich fleißig draußen in Wind und Sonnenschein zu tummeln pflegte, und mit seiner leichten Büchse schoß er schon so sicher wie der erfahrenste Jäger. Die einzige Tochter Lieselotte war ein sanftes, gutmütiges Mädchen, ging aber der Mutter in der Wirtschaft tüchtig und unverdrossen zur Hand. Ihr aschblondes Haar und ihr strahlend blaues, in unbewachten Augenblicken träumerisch in die Ferne schweifendes Auge verrieten unverkennbar die niedersächsische Abstammung. Nach guter, alter deutscher Sitte teilten auch Knechte und Mägde den Aufenthalt in der Diele mit ihrer Herrschaft, verhielten sich aber still und bescheiden und wagten nicht, sich ins Gespräch zu mischen, ohne direkt gefragt zu werden. In leisem Flüstertone führten sie in einem Winkel der geräumigen Halle unter Kichern und unterdrücktem Lachen ihre Unterhaltung. Wurden sie einmal ein wenig zu laut, so genügte ein einziger Blick des gestrengen Hausherrn, ihre übermäßige Heiterkeit zu dämpfen. Meist hatte ihre Wiege zwischen den Weizenfeldern Mecklenburgs oder den Buchenwäldern Pommerns gestanden. Nur der uns schon bekannte Oberknecht Gottlieb und seine würdige Ehehälfte, die beide aus dem schönen Schwabenlande stammten, durften sich größere Vertraulichkeiten erlauben und wurden eigentlich unmittelbar zur Familie gerechnet. So war in der mit Waffen, Hirschgeweihen und Tierfellen geschmückten Diele des stattlichen Farmerhauses in den Tropen ein buntes Gemisch aus allen Gauen des deutschen Vaterlandes in friedlicher Eintracht und unter patriarchalischem Szepter vereint.

Heute war sogar noch ein Fremder hinzugekommen, der unter all diesen Landleuten als waschechter Berliner das großstädtische Element vertrat. Günter und Siegfried hatten nämlich bei ihrem heutigen Jagdzuge am Rande des Urwaldes eine absonderliche Begegnung gehabt. War da zu ihrem größten Erstaunen plötzlich ein bebrillter Europäer mit einem Schmetterlingnetz in der Hand aufgetaucht, der über der Jagd nach den bunten Riesenfaltern des brasilianischen Urwaldes die ganze Welt um sich herum vergessen zu haben schien. Sein weithin leuchtender Tropenhelm war schon ganz mit aufgespießten Schmetterlingen bedeckt gewesen, und an der Seite trug er eine riesenhafte, grünlackierte Botanisiertrommel, die er mit Pflanzen und Käfern gefüllt hatte. Als Günter und Siegfried ihn anriefen, fuhr er erschrocken herum und kramte lange in seinen unzähligen, mit Schachteln und Gläsern vollgepfropften Taschen, bis er endlich aus einer derselben einen kleinen Revolver zum Vorschein brachte und mit diesem so lange drohend in der Luft herumfuchtelte, bis die beiden ihm lachend erklärten, daß sie weder beutelüsterne Wegelagerer, noch skalpgierige Indianer seien, sondern friedliche deutsche Ansiedler. Ein Wort hatte dann das andere gegeben, schließlich hatte das kleine, drollige und dickbäuchige Männchen sich höflich als Doktor Mangold vorgestellt, Assistent am naturhistorischen Museum in Berlin und zur Zeit auf Forschungsreisen in Brasilien begriffen. Auf die Einladung der beiden hin, doch die Gastfreundschaft ihres väterlichen Hauses in Anspruch zu nehmen, hatte er dann aus einem Versteck im Gestrüpp sein von einem schlafenden Negerjungen bewachtes Maultier hervorgezogen, sich ächzend und mühsam in den Sattel geschwungen und war so mit ihnen nach Hause gekommen.

Jetzt schien er sich in dem gemütlichen deutschen Kreise recht wohl zu fühlen und hatte bald mit der Ungeniertheit des Berliners das Gespräch ganz an sich gerissen. Das Gesinde lachte verstohlen über seine Späße und Witze, und selbst über das ernste Antlitz des alten Förster huschte bisweilen ein leichtes Lächeln. Dabei war der gute Doktor überaus wissensdurstig, fragte alle nach allem aus und machte sich eifrig Aufzeichnungen in sein umfangreiches Notizbuch. Sie würden das alles später schön gedruckt in deutschen Zeitungen zu lesen bekommen, meinte er selbstbewußt. Die älteren Söhne machten sich einen Spaß daraus, ihm allerlei Bären aufzubinden, und auch Gottlieb unterstützte sie dabei wacker, so daß das Luisle ein paarmal vor Vergnügen laut aufquietschte. Als sie aber erzählten, daß die Jaguare allnächtlich mit furchtbarem Gebrüll das Haus umtobten und sich regelmäßig ein Stück Vieh holten, daß die Brüllaffen junge Mädchen entführten und die Vampire den Kühen die Milch aus dem Euter saugten, merkte der Doktor, woher der Wind wehte, und schließlich wurde der Spaß auch dem alten Förster, der bis dahin schmunzelnd zugehört hatte, doch zu bunt, und er übernahm nun selbst geduldig die Beantwortung der zahlreichen, bald aus Wissensdurst, bald aus Neugier gestellten Fragen, indem er seinen Gast zunächst dahin aufklärte, daß der Jaguar ein sehr menschenscheues Tier sei und überhaupt nicht brülle wie ein Löwe, sondern nur fauche, miaue und knurre wie eine große Katze.

»Sagen Sie mal, Herr Landsmann,« begann nach einer kurzen Pause des Nachdenkens der Gelehrte von neuem, »wieviel verdienen Sie so eigentlich im Jahr? Wenn man Ihr behäbiges Heim anschaut, sieht man doch, daß es den deutschen Ansiedlern in Brasilien ganz ausgezeichnet gehen muß.«

»Na, so großartig ist es gerade nicht, Herr Doktor,« versetzte der Hausherr. »Gewiß haben wir jetzt unser anständiges, wenn auch keineswegs sorgenfreies Auskommen, und unsere Kinder können auf festen Füßen ins Leben treten, aber auf Rückschläge muß man hier immer gefaßt sein. Bald zerstört ein Heuschreckenfraß die Ernte des ganzen Jahres, bald räumt eine böse Seuche unter den Viehbeständen auf, bald machen Überschwemmungen die Arbeit vieler Jahre zunichte, bald verwüsten die Bugres, wie wir hier die wilden Indianer nennen, die Pflanzungen, und daß die Revolutionen, die seit dem Sturze des Kaisertums an der Tagesordnung sind, der friedlichen Weiterentwicklung des Landes nicht gerade günstig sind, werden Sie sich wohl selbst sagen können. Und das dürfen Sie mir glauben: harte, sehr harte Arbeit hat's gekostet, bis wir überhaupt auf fester Grundlage standen und auch nur aus dem Gröbsten heraus waren. Wenn man drüben in Deutschland oft glaubt, daß einem hier in dem gesegneten Brasilien die gebratenen Tauben nur so in den Mund fliegen, und man nur herüberzukommen brauche, um ein reicher Mann zu werden, so ist man gründlich auf dem Holzwege. Brasilien ist nur ein Land für Leute mit arbeitsgewöhnten Fäusten, die auch vor den niedrigsten Verrichtungen nicht zurückschrecken. Eiserne Gesundheit und etwas Kapital muß man auch haben, denn fehlt die erstere, so wird man durch das Fieber bald mürbe gemacht, und ohne Geld kann sich auch hier niemand selbständig machen. Muß er aber als Landarbeiter in die Dienste der hochmütigen brasilianischen Großgrundbesitzer treten, so wird er rücksichtslos ausgenutzt bis zum letzten Atemzug und hat's tausendmal schlechter als der niedrigste Schweinejunge auf einem unserer Rittergüter. Die Einwanderungsbehörden haben auch nicht immer ihre Schuldigkeit getan, und es sind da sogar recht schlimme Dinge vorgekommen, die den vertrauensseligen Einwanderern schwere Enttäuschungen bereitet und oft ihr ganzes Leben vergiftet und zerstört haben. Leider hat es auch deutsche Grundstückspekulanten gegeben, die durch Betrug ihrer einwandernden Landsleute zu reichen Männern geworden sind. Immerhin kann hier der Bauer, wenn er seine Sache versteht, sich den neuen Verhältnissen anzuschmiegen weiß, Gesundheit, etwas Geld und in der eigenen Familie tüchtige Arbeitskräfte besitzt, schon vorwärts kommen. Aber für die sogenannten gebildeten Stände ist in Brasilien nur ausnahmsweise Platz, und im Handwerk nur für besondere Arten desselben, zum Beispiel für Sattler, die stets vollauf Beschäftigung finden, da hier ja alles reitet. Die meisten unserer Handwerker können aber mit den Südländern nicht in Wettbewerb treten, da diese bei ihrer großen Anspruchslosigkeit billiger zu liefern in der Lage sind. Auf diesem Gebiet sowie als Erdarbeiter haben uns die Italiener längst den Rang abgelaufen. Auch der deutsche Kaufmann sollte nicht nach Brasilien kommen, wenn er nicht von vornherein eine feste Stellung in einem guten Hause hat; er könnte sonst böse Erfahrungen machen. Gleiches gilt von den Dienstboten, namentlich von den weiblichen. Sie als Naturforscher freilich, der Sie sich nur vorübergehend im Lande aufhalten wollen, werden hier reiche Befriedigung und vielfache Anregung finden. Denn herrlich und großartig ist unsere Tropennatur gewiß, wenn auch manchmal mich alten Mann inmitten der bunten Pracht das Heimweh nach der stillen niederdeutschen Heide mit unwiderstehlicher Sehnsucht erfaßt.«

»Aber man liest doch allenthalben in deutschen Zeitungen und Reisebeschreibungen, daß die deutsch-brasilianischen Kolonien im schönsten Aufblühen begriffen sind,« wandte der Doktor etwas kleinlauter ein.

»Das hatte früher auch seine Richtigkeit,« lautete die Antwort. »Sehen Sie, die Sache verhält sich so. Früher, als der Einwanderungsstrom aus Deutschland ununterbrochen anhielt, fanden die bereits hier ansässigen Kolonisten guten Absatz für alle ihre ländlichen Produkte an die neuen Ankömmlinge, die noch nicht auf deren Selbsterzeugung eingerichtet waren. Wie Sie wissen werden, hat aber die Einwanderung aus Deutschland dann aus den verschiedensten Gründen sehr nachgelassen, was man ja als Vaterlandsfreund schließlich nur mit Genugtuung begrüßen kann. Aber für die Kolonisten gingen dadurch die bisherigen Absatzquellen verloren, und neue wollten sich trotz aller Bemühungen nicht erschließen. Die Ansiedlungen liegen zu weit weg von den großen Verkehrsadern. Eisenbahnen gibt's erst ganz wenige, und unsere Flüsse sind vielfach nur unter den größten Schwierigkeiten zu befahren. Namentlich die Verbindung nach den Hafenstädten, die doch die erste Bedingung für eine gedeihliche Entwicklung der Kolonien wäre, ist außerordentlich schlecht. Dabei sind die Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse in den letzten Jahren so tief gesunken, und der leidige Zwischenhandel hat so unangenehme Auswüchse gezeitigt, daß wir für das erhaltene Geld kaum noch die kolossalen Fuhr- und Frachtspesen decken können. Was nützen uns die schönsten Ernten, das prächtige Obst, das herrliche Gemüse, was das viele Vieh, die Ströme von Milch, die Berge von Butter und Käse, wenn wir alle diese guten Gottesgaben nicht verwerten können, sie verkommen lassen müssen und froh sind, wenn wir sie halb verschenken dürfen? Es fehlt daher an barem Gelde in den Kolonien, und keiner kann sich recht rühren, keiner ist zu weiteren Unternehmungen fähig. Selbst das früher so blühende Blumenau in unserm Nachbarstaat Santa Catharina ist stark zurückgegangen. Von der brasilianischen Regierung ist wenig zu hoffen, denn das wichtigste Wort in Brasilien, das Sie auch noch zur Genüge kennen lernen werden, heißt »Paciencia«, zu deutsch Geduld. Auch das Nötigste wird hier immer wieder hinausgeschoben und, wenn es doch endlich einmal in Angriff genommen wird, halbvollendet liegen gelassen. Daran sind allerdings vielfach auch die nordamerikanischen Schwindelgesellschaften schuld, die sich hier leider breit machen und den Staatssäckel gründlich zu leeren wissen, ohne etwas dafür zu leisten. Sie brauchen gar nicht weit von hier zu reisen, und Sie können ein hübsches Beispiel dafür sehen. Mitten im Urwalde werden Sie zu Ihrer Überraschung plötzlich auf einen halb verrosteten und schon wieder von Unkraut überwucherten Schienenstrang stoßen und irgendwo sogar ein paar halb zerstörte Lokomotiven stehen sehen oder einen Eisenbahnwagen, der entweder den Ameisen oder irgend einem brasilianischen Desperado zur Wohnung dient.«

»Ja, da müßten eben die Ansiedler selbst für Abhilfe sorgen,« sagte Doktor Mangold. »Es sind doch so viel Deutsche hier in der Provinz, daß es ihnen leicht fallen müßte, bei den Wahlen ihre eigenen Abgeordneten durchzudrücken und diese ins Parlament zu entsenden, damit durch ihr Auftreten dem deutschen Element diejenige Fürsorge zugewendet würde, die es seiner Zahl, seinem Bildungsgrade und seinen Leistungen nach verdient.«

»Darin haben Sie nicht ganz unrecht, aber Sie beurteilen die Verhältnisse eben doch zu sehr vom europäischen Standpunkte aus. Unsere Ansiedler hier sind immer gut deutsch geblieben und nicht im Lande aufgegangen. Das muß man ihnen nachrühmen, und es gereicht ihnen sehr zur Ehre gegenüber den deutschen Einwanderern in Nordamerika, die in der Regel nichts Eiligeres zu tun haben, als zu verengländern und ihr Deutschtum zu verwischen. Wir haben unsere eigenen Schulen und halten zäh an unserer Sprache fest. Aber wir sind auf diese Weise Fremdlinge im Land geblieben und haben gar keine nähere Berührung mit dem portugiesischen Element, dessen Sprache viele von uns nicht einmal verstehen. Für die verworrenen Parteiverhältnisse Brasiliens gibt es unter uns so gut wie gar kein Interesse. Das können Sie am besten daraus ersehen, daß bei den Wahlen kaum der zwanzigste oder fünfundzwanzigste Teil der deutschen Ansiedler zur Urne schreitet. Und selbst wenn wir ein paar deutsche Abgeordnete ins Parlament schicken würden, es würde uns wenig oder gar nichts nützen. Das weiß hier jeder, und deshalb macht man erst gar nicht den Versuch dazu. Können doch auch die portugiesischen Abgeordneten der Provinzen nicht das Geringste durchsetzen. Alle Verfügbaren Mittel werden vielmehr zur Ausschmückung der Hauptstadt verwendet, die dadurch allerdings, schon von Natur so begünstigt, zu einem der prächtigsten Plätze auf Erden geworden ist und über öffentliche Gebäude verfügt, die zu den vorhandenen Mitteln und zum Grad ihrer Benutzung in schreiendem Gegensatz stehen. Die Provinzen aber müssen derweil bitter darben, denn für sie bleibt nichts übrig. Nun, wir wollen den Mut nicht sinken lassen, denn hoffentlich kommen auch wieder einmal bessere Zeiten, wenn erst die Revolutionsstürme vorübergerauscht und wieder geordnetere Verhältnisse eingetreten sind. Man darf es der jungen Republik wohl zutrauen, daß sie die richtigen Männer herausfinden wird, die die Geschicke des großen und von der Natur so bevorzugten Landes in die richtigen Bahnen leiten und eine gedeihliche Entwicklung herbeiführen werden. Sie wollen ja noch weiter ins Innere, Herr Doktor, und Sie werden staunen, welch unkultivierte Verhältnisse da noch herrschen, und welch reiche und ungeahnte Schätze noch der Erschließung harren. Was man eigentlich von Brasilien kennt und unter Kultur genommen hat, ist ja eigentlich nichts weiter als der Rand des ungeheuren Landes, dessen ganzes Inneres dagegen noch vollständig Wildnis und, wenn ich recht unterrichtet bin, weniger erforscht und bekannt ist als die dunkelsten Teile Innerafrikas.«

Alles fühlte die Richtigkeit dieser Worte und versank in nachdenkliches Schweigen. »Ich habe noch gar nicht gefragt,« mischte sich jetzt Helmut ins Gespräch, »wie es hier eigentlich mit der Revolution aussieht, und ob ihr auch schon darunter zu leiden hattet.«

»Nun,« erwiderte der Vater, »gar so schlimm ist es bis jetzt nicht gewesen. Wohl haben die Insurgenten in der Provinz ein Heer gesammelt und sind mit diesem nordwärts durch Santa Catharina nach Parana gezogen, aber es ist noch glimpflich abgelaufen. Als wir dieses zerlumpte Gesindel sahen, haben wir rasch eine berittene Miliz gebildet, um etwaigen Ausschreitungen entgegenzutreten. Die Soldaten haben denn auch nur an ganz abgelegenen Orten Plünderungen verübt, denn sie hatten doch zu viel Respekt vor uns Deutschen, und wir hätten sie auch gründlich auf die Finger geklopft, wenn sie sich mausig gemacht hätten. Wie es später werden wird, wenn die Entscheidung gefallen ist, kann heute freilich niemand sagen, und man wird immer gut tun, sich auf Schlimmes gefaßt zu machen. Das Unheimliche bei der ganzen Sache ist, daß die Bugres sich wieder zu rühren anfangen und gern im Trüben fischen möchten, während die Weißen untereinander raufen. Sie sollen sogar der Regierung ihre Dienste angetragen haben, um unter dem Deckmantel einer Kriegspartei in üblicher Weise sengen und brennen zu können. Hoffentlich ist man in Rio so vernünftig, sich nicht mit den Rothäuten einzulassen, denn sonst könnte es uns Ansiedlern übel ergehen. Schon sollen einige besonders entlegene Farmen ausgeplündert und ihre Bewohner ermordet worden sein.«

In die wieder eingetretene Stille dröhnte plötzlich ein furchtbares Gebrüll vom nahen Urwalde herein. »Sehen Sie,« rief der Doktor, indem er erschrocken aufsprang, »daß der Jaguar doch zu brüllen vermag, und zwar ganz gehörig! Sicherlich schleicht die Bestie ums Haus herum, um sich eine Beute zu holen.«

»Da hört doch alles auf, da hält nu der Schulmoischter en Affen gar noch für en Tiger,« platzte Gottlieb unvermittelt dazwischen und wollte sich samt seinem Luisle schier ausschütten vor Lachen. »Sie können wirklich ganz beruhigt sein, Herr Doktor,« meinte auch Günter begütigend zwischen der allgemeinen Heiterkeit. »Das sind wirklich nur Brüllaffen, die fast allnächtlich ihre Konzerte zum besten geben. Und wenn's auch ein Jaguar oder, wie wir hier sagen, ein Tiger wäre, brauchten Sie sich doch nicht zu fürchten, denn Haus und Hof sind wohl verwahrt, und es ist ganz ausgeschlossen, daß ein Raubtier durch die Palisaden und über den hohen Zaun kommt.«

»Angst habe ich auch gar nicht,« erklärte der Doktor stolz, der rasch seine großstädtische Überlegenheit wiedergefunden hatte. »Ich bin ja doch Fachmann und weiß, daß der Jaguar überhaupt nicht so schlimm ist, wie er vielfach hingestellt wird. Das sind alles Übertreibungen und Märchen und Jägerlatein. In Wirklichkeit geht der Jaguar dem Menschen ängstlich aus dem Wege und vermeidet es überhaupt, an die Ansiedlungen heranzukommen, denn er ist wie alle Katzen im Grunde genommen ein sehr feiges Geschöpf. Namentlich vor dem Feuer hat er eine heillose Scheu und selbst der unbewaffnete Mensch ist vollkommen vor ihm sicher, wenn er sich nur nicht ins Bockshorn jagen laßt.«

Der alte Herr Förster lächelte eigentümlich. »Da kann ich Ihnen doch nicht ganz beipflichten,« sagte er, »kann Ihnen vielmehr versichern, daß der in die Enge getriebene Jaguar durchaus kein zu verachtender Gegner ist und sich ebenso grimmig wehrt wie ein Löwe oder Tiger. Im allgemeinen mögen Sie ja wohl recht haben. Aber es gibt doch manche Jaguare, die sich ganz zwischen die Ansiedlungen gezogen haben, gar keine Jagd auf das Wild des Waldes mehr machen, sondern sich fast ausschließlich von Vieh nähren und ein Zusammentreffen mit dem Menschen durchaus nicht scheuen. Schon die gedrungene Gestalt der Bestie verrät ihre ungeheure Kraft, wenn sie auch an Gewandtheit oder Geschmeidigkeit dem Tiger oder Panther nachsteht. Eine besondere Vorliebe scheinen solche Jaguare für Hundefleisch zu haben, und es gibt wohl kaum einen Ansiedler hier in der Umgegend, dem im Laufe der Jahre nicht schon einmal ein wertvoller Hund durch die blutdürstige Katze gestohlen worden wäre. Ich kenne sogar Fälle, wo dies unmittelbar am Lagerfeuer geschah, ein Beweis, daß der Jaguar auch nicht immer vor dem Flammenschein zurückschreckt. Eigentümlich ist es, daß er beim Angriff auf einen Menschen sich vorher aufrichtet wie ein Bär, was die eingeborenen Jäger dazu benutzen, ihm in diesem Augenblicke einen Spieß durch den Leib zu rennen. Dabei kann der Jaguar ebenso gut schwimmen wie klettern. Übrigens, wenn Sie einen Jaguar schießen und sein prächtig geflecktes Fell Ihrer Trophäensammlung einverleiben wollen, so glaube ich, daß ich Ihnen dazu hier wohl Gelegenheit bieten kann. Es ist mir nämlich gemeldet worden, daß heute auf einem meiner entfernten Corrals – so nennen wir hier die Stacheldrahtumzäunungen, innerhalb deren das Weidevieh sich aufhält – ein Kalb vom Jaguar geschlagen wurde. Es gilt nun, den Räuber ins Jenseits zu befördern, ehe er noch weiteren Schaden anrichtet, und das wäre eine hübsche Aufgabe für Sie und Helmut, der ja nach Mutters Wunsch hier vorläufig auf der Bärenhaut liegen soll. Einstweilen würde ich Ihnen aber raten, sich mal die Brüllaffen näher anzusehen, durch die Sie sich vorhin doch ein wenig ins Bockshorn jagen ließen. Eine interessante Gesellschaft sind diese possierlichen Kerle doch, und der helle Mondschein wird es Ihnen ermöglichen, genaue Beobachtungen zu machen. Helmut, der sich ja morgen ausschlafen kann, mag Sie begleiten. Nehmen Sie aber zwei ordentliche Flinten mit für alle Fälle, denn Ihr Spielzeug von Taschenrevolver ist nichts für den nächtlichen Urwald Brasiliens. Im übrigen seien Sie nochmals unter meinem schlichten Dach willkommen. Bleiben Sie hier, solange es Ihnen gefällt, und machen Sie meine Farm zum Ausgangspunkt Ihrer wissenschaftlichen Streifzüge. Fangen Sie Schmetterlinge und Käfer, soviel Sie wollen, und schießen Sie Jaguare, soviel Sie zu treffen vermögen. Wir andern wollen uns aber jetzt zur Ruhe begeben, denn morgen früh heißt es beizeiten an das schwere Tagewerk eines deutschen Ansiedlers in Brasilien gehen.«

Während die andern ihre Schlafkammern aufsuchten, machten Helmut und Doktor Mangold sich zu ihrem nächtlichen Ausfluge fertig und schritten im hellen Mondschein rasch dem Saume des nahen Urwaldes zu. Schauerlich dröhnte von dort noch immer das Geheul der Affen herüber, und in den kurzen Pausen dazwischen hörte man das Schwirren unzähliger Zikaden, das Quarren und Quaken Tausender von Fröschen, das Rufen verschiedener Eulen und das Schnurren der Nachtschwalben, die mit ihren langen Schleppschwänzen wie Gespenster vorüberhuschten. Die ganze nächtliche Musik des Urwaldes war erwacht, aber die führende Stimme behielten doch immer die Brüllaffen, deren schauerliches Konzert gewissermaßen alle Stimmen in sich vereinigte und ganz taktmäßig mit Pausen, Solovorträgen und Chorgesängen vor sich ging. Es klang, als ob sämtliche Tiere des Urwaldes im Kampfe miteinander lägen, und bald glaubte man das Grunzen eines Schweines, dann wieder das unheimliche Knurren eines großen Raubtieres herauszuhören. Vorsichtig schlichen die beiden der Stelle näher, und endlich konnten sie die langbärtigen Konzertgeber in ihren fuchsroten und schwarzbraunen Pelzen vor sich sitzen sehen. Ein besonders altes Männchen schien den Vorsänger zu machen und den Takt anzugeben. Dieser alte Bursche saß ganz oben und hatte seinen muskulösen Wickelschwanz um einen starken Ast geschlungen, während die übrigen Sänger in den verschiedensten Stellungen und in malerischer Gruppierung im Baumwipfel herumsaßen. Nach einer längeren Pause stieß der Alte wieder ein entsetzlich röchelndes »Rochu, rochu« aus, wiederholte es fünf- bis sechsmal und ging dann in ein fürchterliches Gebrüll über, in das alle andern mit einer wahren Begeisterung einstimmten, so daß die beiden Menschenkinder unten am Stamme sich die Ohren zuhalten mußten, weil sie befürchteten, sonst taub zu werden. In der nächsten Pause aber hob Helmut zielend seine Flinte, der Schuß krachte, und mit entsetztem Kreischen stob der ganze Schwarm der nächtlichen Sänger auseinander, dabei fabelhafte Sätze vollführend. Man hörte nur das Rauschen der Blätter, das Knacken dürrer Zweige, und dann war alles still und leer. Nur der alte Vorsänger oben hing tödlich getroffen auf seinem Aste, aber so fest hatte er diesen mit seinem kräftigen Wickelschwanze umschlungen, daß er nicht herabfiel, sondern es eines zweiten Schusses bedurfte, um ihn herunterzuholen.

»Fell und Schädel sind für Ihre Sammlung,« sagte Helmut zu seinem Gefährten, »aber das Fleisch wollen wir unsern Schwarzen lassen, die es leidenschaftlich gerne essen. Es gibt in der Tat eine sehr kräftige Brühe, aber wir Deutsche mögen doch keine Affen verzehren; man hat so einen gewissen Widerwillen dagegen, und ich muß immer daran denken, daß wir nach Darwin einen gemeinsamen Stammbaum mit diesen Tieren haben sollen. Und wirklich sieht ein unzerteilt am Spieß gebratener Affe fast aus wie ein kleines Kind. Ganz scheußlich! Ich möchte keinen Bissen davon essen.«

Währenddessen packte er den Affen in seinen Rucksack, und beide machten sich wieder auf den Heimweg. Es war jetzt nach den Schüssen ganz still geworden im Urwalde und zugleich unheimlich finster, da der Mond sich hinter einer vorüberziehenden schwarzen Wolke versteckt hatte. Schweigend schritten die beiden so rasch als möglich dem Waldesrande zu, als plötzlich ein unheimliches Knurren sie stutzen und für einen Augenblick anhalten ließ. Ohne daß ein Wort gewechselt worden wäre, wußten doch beide sofort, daß diese drohenden, aus tiefster Brust kommenden Töne nur dem Jaguar angehören konnten. Aus dem Rascheln der Blätter war zu schließen, daß die Bestie kaum zehn Schritte entfernt war, aber zu sehen war in der Finsternis und in dem verwachsenen Gestrüpp absolut nichts. Wohl hatte man die Flinten schußbereit in den Händen, aber nirgends bot sich ein Ziel, und schutzlos schien der Mensch dem Angriffe des gewaltigen Raubtieres preisgegeben. Wie auf Verabredung schritten beide Männer Schulter an Schulter so rasch als möglich vorwärts. Ein unbestimmtes Angstgefühl schnürte ihnen fast den Hals zusammen und ließ das Herz rascher schlagen. Kalter Schweiß trat auf die Stirn, und sehnsüchtig schaute das Auge nach dem Waldesrande aus, wo es ja heller werden mußte. Ununterbrochen folgte der Jaguar den beiden, sich immer in gleicher Entfernung haltend; man hörte das Rascheln im Buschwerk und das drohende Fauchen und Knurren des Raubtieres. Endlich war der Waldesrand erreicht, und die beiden Gefährten atmeten nun erleichtert auf. Wie Helmut vorausgesehen hatte, folgte der Jaguar ihnen nun nicht weiter nach, sondern blieb im Waldesdunkel zurück. Unheimlich war dieses nächtliche Erlebnis aber doch in hohem Grade gewesen, und beide hatten das lebhafte Gefühl, daß sie diese qualvollen Minuten nicht ein zweites Mal durchmachen möchten.

Am nächsten Morgen ging Helmut daran, nun auch bei Tageslicht die väterliche Farm eingehend zu besichtigen. Auf so manches Neue traf sein Auge, das Zeugnis gab für den unermüdlichen Fleiß der Farmbewohner und für ihren wachsenden Wohlstand, aber auch auf manch Altgewohntes, das ihm von Kindheit her lieb und vertraut war. Welcher Genuß war es für ihn, Mutter und Schwester auf den reich besetzten Geflügelhof zu begleiten, wo Hühner, Enten und Tauben aller Arten ihr lustiges Wesen trieben. Obst- und Gemüsegarten, die in üppiger Fülle prangten, mußten natürlich auch eingehend besichtigt werden, und dann ging's nach den Ställen, wo Helmut sein Lieblingspferd wiederfand, das ihn als Knaben so oft zur Schule getragen, ihn, der inzwischen schon so frühzeitig den vollen Ernst des Lebens und sogar das eiserne Würfelspiel eines blutigen Krieges kennen gelernt hatte. Auch den Wohnungen der eingeborenen Dienerschaft wurde ein Besuch abgestattet. Da gab's Neger und Mulatten in allen Farbenschattierungen, und auch von den eingeborenen Rinderhirten, den sogenannten Gauchos, waren einige zugegen, um ihre Meldungen zu machen. Alle diese Leute begrüßten den Sohn ihres Herrn nach seiner langen Abwesenheit mit aufrichtiger Freude und kindlicher Vertraulichkeit, denn die Familie Förster war wegen ihrer Gutherzigkeit und Gerechtigkeitsliebe bei allen Eingeborenen gut angeschrieben.

Für eine volle Stunde aber nahm das Luisle unsern jungen Freund in Beschlag, denn sie mußte ihm doch ganz genau all das »Viehzeug« vorführen, das ihre »Menagerie« gegenwärtig enthielt. Das gutmütige Luisle war nämlich eine große Tierfreundin, und es gab kein noch so abenteuerlich gestaltetes Lebewesen, das die Schwarzen von ihren Feld- und Waldarbeiten mitbrachten, das nicht beim Luisle gastliche Aufnahme und sorgfältige Pflege gefunden hätte. Da gab es einige zahme Affen, die mit Ketten an den Bäumen angebunden waren, und unter denen sich sogar ein großer Spinnenaffe befand, der mit seinen übermäßig langen Gliedmaßen die unglaublichsten Turnerstücke vollführte. Eine Anzahl Papageien erfreuten sich eines mehr oder minder ungebundenen Daseins, und Luisle war besonders stolz darauf, daß einige davon echt schwäbisch »schwätzen« konnten. Ihren größten Stolz aber bildete ein riesiger, himmelblau und dottergelb gefiederter Arrara, der trotz seines ungeheuren, gefährlich aussehenden Schnabels ein höchst gutmütiges Tier zu sein schien und sich von seiner Herrin mit sichtlichem Wohlgefallen im Gefieder krauen ließ. Innerhalb eines besonderen Geheges tummelten sich zahme Tinamus und Hokkohühner, und die Meerschweinchenkolonie hatte sich ganz unheimlich vermehrt. Auch ein Aguti oder Goldhase war dazu gekommen, und selbst ein junger Ameisenbär, der mühsam mit einem Brei aus Milch und Maismehl und Eidotter ernährt wurde, fristete sein beschauliches Dasein. Ganz abgesehen von den vielen Schildkröten und farbenschimmernden Eidechsen, die in einigen primitiv angefertigten Terrarien untergebracht waren.

Den Nachmittag benutzte Helmut dazu, zu Pferde in der Begleitung des Doktor Mangold einen Ausflug nach dem Corral zu machen, aus dem der Jaguar ein Kalb geraubt hatte, um sich über die Sache zu vergewissern. Er fand denn auch bald die Spuren des mächtigen Raubtiers, die aus dem Campo nach dem Urwalde wiesen; vielleicht war es gar derselbe Jaguar, der ihm in der Nacht einen solchen Schrecken eingejagt hatte. Der Berliner kam bei diesem Ausflüge besonders auf seine Rechnung, denn neben dem Corral und teilweise in diesen noch hineinreichend befand sich ein wasserreicher Sumpf, der von allerlei interessanten Vögeln wimmelte. Einen prachtvollen Anblick boten namentlich die langen Ketten der rosenroten Flamingos und der ebenso gefärbten Löffelreiher, von denen die weißschimmernden, eleganten Silberreiher geradezu entzückend abstachen. Große Schwärme starartiger Vögel mit gelber oder rosenroter Vorderseite flogen zwitschernd hin und her, auf dem Wasserspiegel schwammen zahlreiche Enten, im Uferschlamm stocherten kreischende Kiebitze und allerlei Schnepfenvögel nach Nahrung, und auf den kahlen Ästen der höheren Bäume hielten die plumpen, schwarzen Urubus ihre Verdauungsruhe ab, eine Art Aasgeier, die in Südamerika als Sanitätspolizei geschätzt werden, da sie all den vielen Unrat wegräumen, um den sich kein Mensch kümmert, und der sonst die Luft verpesten würde. Da konnte der Doktor freilich reiche Beute machen für seine Sammlung, und Helmut half ihm dabei wacker mit, so daß bald eine lustige kleine Jagd im Gange war.

Als sie in der Abenddämmerung heimkehrten, fanden sie einen neuen Besuch vor, der das besondere Interesse Doktor Mangolds auf sich zog, denn es war ein Vollblutindianer, namens Tumayaua, zu deutsch der zischende Pfeil, der da in der Diele ganz ungeniert Platz genommen hatte. Ernst und würdevoll saß er da, ein hoher, stattlicher Mann mit fast bronzefarbener Haut, edelgeschnittenen scharfen Zügen, die Federn der Harpye, einer Adlerart, als Zeichen der Häuptlingswürde im Haar, den sonst fast nackten Körper in einen riesigen Poncho gehüllt, d.h. eine Wolldecke, durch deren Loch man den Kopf steckt und dann den Stoff malerisch um den Leib herumschlingt. Der Doktor wunderte sich nicht wenig über diesen friedlichen Besuch, aber Helmut klärte ihn dahin auf, daß Tumayaua schon seit Jahren ein treuer Freund des Hauses sei und der Familie bereits viele wichtige Dienste erwiesen habe. Er sei auch gar kein Bugre, sondern gehöre zum Stamme der Chiriguanos, die mit den Bugres von alters her in tödlicher Feindschaft lebten. Früher seien die Chiriguanos unumschränkte Herren des ganzen Landes gewesen, aber dann von den Portugiesen in der grauenvollsten Weise fast gänzlich ausgerottet worden, so daß nur noch ganz wenige übrig seien, die sich unstät in den Wäldern herumtrieben und ausschließlich von der Jagd lebten, in der sie es zu großer Meisterschaft gebracht hätten. Zu ihnen gehöre auch Freund Tumayaua, der wohl der Letzte aus seiner Horde sein möge, da er stets nur allein gesehen werde. Von Zeit zu Zeit tauche er in der Farm auf, um seine erbeuteten Tierfelle gegen allerlei Lebensmittel einzutauschen, und verschwinde dann wieder spurlos, wie er gekommen. Niemand wisse, woher er komme und wohin er gehe. Aber zu Zeiten der Gefahr sei er immer zur Stelle, überhaupt ein so zuverlässiger Freund, daß alle die höchste Achtung vor ihm empfänden, obwohl er allen Versuchen des Pastors, ihn zum Christentum zu bekehren, hartnäckigen Widerstand entgegensetzte, sich auch nicht dazu entschließen könne, europäische Kleidung anzulegen. Übrigens stehe seine wilde Nacktheit seinem prächtig gebauten Körper auch viel besser. Im Gegensatze zu den heimtückischen und räuberischen Bugres seien die Chiriguanos ein edles Volk, im Kriege tapfer und mutig, sonst aber gutmütig, zuverlässig und gastfrei. Sie hätten, als die Europäer das Land eroberten, schon eine verhältnismäßig hoch entwickelte Kultur besessen, die aber dann in den unablässigen Kämpfen zugrunde gegangen sei. Jetzt seien nur noch ganz geringe Überreste dieses edlen Indianerstammes vorhanden, der sich gegenüber den lärmenden und redseligen Bugres auch dadurch auszeichne, daß er ernst, würdig und verschlossen sich benehme, ähnlich wie die Indianer Nordamerikas.

Doktor Mangold hatte sich's inzwischen auch bequem gemacht und seine kurze Jagdpfeife in Brand gesetzt. Kaum aber hatte er einige Züge getan, als sich der Indianer erhob, gravitätisch auf ihn zuschritt und, ohne ein Wort zu sagen, ihm die Pfeife aus dem Mund nahm und ruhig selber weiter rauchte. Im ersten Augenblicke war der gute Doktor vor Überraschung und Erstaunen über diese Frechheit so verblüfft, daß er keines Wortes mächtig war, dann aber wollte er entrüstet aufspringen und dem Häuptling die Pfeife wieder aus dem Munde reißen. Die jungen Försters hielten ihn aber lachend zurück. »Um Gotteswillen, lassen Sie den Mann nur ruhig rauchen. Sie würden ihn sonst tödlich beleidigen und zu Ihrem Feinde machen. Sie kennen eben die Landessitten noch zu wenig. Dadurch, daß Tumayaua aus Ihrer Pfeife raucht, gibt er Ihnen ja gerade zu erkennen, daß er Ihr Freund sein will. Aus den Indianergeschichten im »Lederstrumpf«, die wir alle in unserer Jugend so gierig gelesen haben, werden Sie doch noch wissen, was eine Friedenspfeife ist. Und um nichts anderes handelt es sich hier. Überhaupt huldigen alle südamerikanischen Indianer einem weitgehenden Kommunismus, und auch das müssen Sie sich merken, wenn Sie auf Ihren Forschungsreisen mit den Eingeborenen gut auskommen wollen. Die Sippen, in denen die Indianer beisammenwohnen, sind ja eigentlich nichts als große Familien. Gleichheit und Brüderlichkeit heißt da die Losung, alles ist gemeinsamer Besitz des Stammes, keiner genießt besondere Vorrechte, sondern teilt willig seine Jagdbeute mit den andern Stammesgenossen, und selbst der Häuptling ist lediglich ein Anführer im Kriege oder bei größeren Treibjagden und Fischfängen.«

Tumayaua hatte inzwischen bedächtig einige Züge getan, stieß nochmals eine dicke Dampfwolke zwischen seinen Lippen hervor und gab nun stumm die Pfeife ihrem Besitzer zurück. Mit etwas süßsaurem Lächeln nahm Doktor Mangold sein Eigentum wieder in Empfang und konnte sich doch nicht enthalten, die Spitze verstohlen mit seinem Taschentuche abzuwischen, ehe er sie wieder zum Mund führte. Er sah aber dabei ängstlich um sich, ob der noch immer schweigend dasitzende Indianer nichts davon bemerke und sich etwa dadurch beleidigt fühlen könnte. Denn es schien ihm selbst, als sei mit diesem schweigsamen Burschen nicht gut Kirschen essen.

Der alte Herr Förster wandte sich nun aber selbst mit einer direkten Frage an den rothäutigen Gast. »Was hat Tumayaua in den Wäldern Neues gesehen?« erkundigte er sich. »War die Jagd gut? Und hat mein roter Bruder viel Fleisch getrocknet für schlechte Zeiten?« Diese Worte waren in dem eigentümlichen Gemisch gesprochen, das aus den Dialekten der verschiedensten Indianerstämme und unter Beifügung zahlreicher portugiesischer und deutscher Brocken gebildet ist und sich nach und nach zur Verkehrssprache zwischen den Eingebornen und den Ansiedlern entwickelt hat.

Tumayaua antwortete im gleichen Dialekt: »Wild gibt's noch genug in den Wäldern, und das Glück ist Tumayaua auf seinen Jagden hold gewesen. Die Bugres sitzen an ihren Lagerfeuern und haben ihre Leiber rot bemalt.«

»Das bedeutet also den Krieg,« seufzte Herr Förster. »Wir müssen auf der Hut sein, denn es ist leicht möglich, daß die Bugres ihre Streifzüge nach unsrer Gegend richten. Hoffentlich geht es glimpflich ab.«

»Tumayaua wird Wache halten und wieder Nachricht geben,« sagte der Indianer einfach, wickelte sich dichter in seinen Poncho und legte sich dann in einem Winkel des Zimmers zum Schlafen nieder, nachdem er vorher noch einen eigentümlichen Blick auf Lieselotte geworfen hatte.

»Auf seine Treue dürfen wir uns verlassen,« sagte Günter zu Doktor Mangold, »und solange dieser findige Bursche in der Nähe der Farm herumstreicht, wird kein Bugre sich ihr unbemerkt nähern können. Es ist unglaublich, über welch scharfe Sinne und welch kluge Kombinationsgabe diese Leute verfügen. In der Beziehung könnten wir Europäer, deren Sinne alle mehr oder weniger stumpf geworden sind, sehr viel von ihnen lernen, übrigens hätten Sie an Tumayaua den denkbar besten Gehilfen für die geplante Jagd auf den Jaguar. Ich würde Ihnen dringend raten, ihn mitzunehmen.«

»Selbstverständlich tun wir das,« pflichtete Helmut eifrig bei. »Gleich morgen früh muß er mit, denn wenn der Jaguar überhaupt zu treffen ist, dann findet ihn Tumayaua sicher.«

Die Sonne war am nächsten Morgen kaum aufgegangen, als Helmut, Doktor Mangold und Tumayaua, denen sich noch der alte Gottlieb angeschlossen hatte, auszogen, um den Jaguar aufzusuchen. Zwei Neger kamen auch mit, um beim Durchbrechen des Urwaldes sowie beim Tragen etwa erlegter Beutetiere behilflich zu sein. Hauptsächlich wurde der Waldrand abgestreift, um irgendwo die Fährte des Raubtieres zu finden. Aber eine Stunde nach der andern verfloß, ohne daß irgend etwas Besonderes sich bemerklich gemacht hätte. Endlich blieb Tumayaua stehen und deutete schweigend auf einen großen Baum. Doktor Mangold sah neugierig hin und erblickte nichts, aber auch Gottlieb und Helmut vermochten nichts zu entdecken. Sie schüttelten die Köpfe und blickten fragend auf den Indianer.

»Die Augen meines weißen Bruders sind trüb geworden auf dem großen Salzwasser,« sagte dieser mit leichtem Tadel zu Helmut, »daß er die Zeichen des Urwaldes nicht mehr versteht. Sieht mein weißer Bruder nicht diese Kratzer hier in der Stammesrinde? Hier hat sich der Jaguar die Krallen gewetzt in der rauhen Rinde und sich dabei am Stamme emporgerichtet. Es muß ein tüchtiger Bursche sein, denn die Kratzer sind sehr hoch und stehen weit auseinander. Alt sind sie noch nicht, und der Jaguar kann nicht weit sein, wenn er auch hier auf dem steinbedeckten Boden keine Fährte hinterlassen hat.« Mit doppelter Vorsicht und Aufmerksamkeit ging es weiter, und nach einem Viertelstündchen kam man an das Ufer eines Sees. Tumayaua, der an der Spitze des kleinen Zuges schritt, deutete schweigend auf einen rätselhaften Punkt im Wasser. Helmut und der Doktor sahen mit ihren Gläsern genauer hin und: »Wahrhaftig, es ist der Jaguar,« rief Helmut erfreut aus, »der da ganz gemütlich über den See geschwommen kommt, und der Punkt da im Wasser ist sein Kopf.« – Des Fischfanges wegen lag ein Boot am Ufer bereit, und Doktor Mangold, der plötzlich vom Jagdeifer erfaßt wurde und einen Mut zeigte, den ihm Helmut kaum zugetraut hätte, schlug vor, im Boote dem Jaguar nachzusetzen oder ihm den Weg abzuschneiden und ihn so im Wasser zu erschießen. Auch Gottlieb war Feuer und Flamme für diesen Plan, und beide mit den die Ruder ergreifenden Negern sprangen schleunigst ins Boot, obwohl ihnen der Indianer abwinkte und erklärte, daß diese Jagdart keinen Erfolg verspreche. Helmut fügte sich der größeren Erfahrung des Häuptlings, die beiden andern ließen sich aber nicht abhalten, sondern stießen alsbald vom Lande ab, während Tumayaua und Helmut zurückblieben und an verschiedenen Punkten des Ufers möglichst gedeckt sich aufstellten, um die Freunde im Notfall zu unterstützen oder dem etwa ans Land schwimmenden Jaguar einen heißen Empfang zu bereiten. – Das von den kräftigen Negern mit großer Geschwindigkeit geruderte Boot schnitt dem Jaguar tatsächlich den Weg zum Lande ab und kam schließlich auf wenige Meter an das langsam schwimmende Tier heran. Der Doktor und Gottlieb zielten so genau, als es in dem schwankenden Kahne möglich war, und drückten gleichzeitig ihre Flinten ab. Aber die Kugeln verfehlten ihr Ziel und brachten der Bestie nur leichte Verletzungen im Rücken bei. Daß durch den Schmerz wütend gewordene Tier ging aber nun seinerseits zum Angriff über, erreichte den Kahn, schlug seine gewaltigen Pranken über dessen Rand und stieg nun fauchend und zähnefletschend an Bord, obwohl die beiden Europäer mit ihren Flintenkolben und die beiden Neger mit den Rudern nach Kräften auf ihn loshieben. Es nützte aber alles nichts, und als die kraftvolle, schön gefleckte Riefenkatze schließlich doch ins Boot sprang, ergriff ein heilloser Schrecken dessen Insassen. Sie sprangen nun unter Zurücklassung ihrer Waffen wie die Frösche selbst über Bord, suchten ihr Heil im Schwimmen und erreichten nach dem unfreiwilligen Bade schließlich auch an den verschiedensten Stellen glücklich das Ufer. Als stolzer Sieger saß der Jaguar im Boot, leckte sich seine Wunden, blickte grimmig um sich und ließ sich von Wind und Strömung treiben.

Beide lenkten das Fahrzeug gerade auf den Indianer zu, der längst seinen großen Bogen gespannt und einen langen Bambuspfeil mit scharfen Widerhaken an der Spitze auf die Sehne gelegt hatte. Zischend durchfuhr der Pfeil die Luft und bohrte sich zwischen die Rippen des Jaguars, der ein wütendes Schmerzgeheul ausstieß und ins Wasser sprang, gleich darauf das Ufer erreichte und auf den Häuptling zueilte. Ein Duell auf Leben und Tod zwischen Indianer und Großkatze schien unvermeidlich, und besorgt eilte Helmut herbei, um seine Büchse mitsprechen zu lassen. Aber stolz winkte ihm der Indianer ab. Den Bogen hatte er weggeworfen, dafür seinen linken Arm mit dem Poncho umwickelt und stand nun in seiner schönen Nacktheit da, ein Bild urwüchsiger Kraft, in der erhobenen Rechten den schweren Tomahawk, dessen Schneide aus scharfem Feuerstein gebildet war. Wenige Schritte vor dem Häuptling richtete sich der Jaguar mit dumpfem Knurren auf und stürzte sich dann ingrimmig auf seinen Gegner. Der stieß ihm aber den mit dem Poncho umwickelten Arm in den Rachen, dessen furchtbare Fangzähne vergeblich durch die mehrfachen Lagen des dicken Stoffes zu dringen suchten. Zugleich sauste der Tomahawk mit fürchterlicher Wucht zwei-, dreimal auf den Schädel des Raubtieres nieder, bis dieser barst und die große Katze verendend sich zu den Füßen des stolz um sich blickenden Indianers krümmte. Bald war die ganze kleine Gesellschaft auf der Walstatt versammelt, und in fast scheuer Bewunderung drückte einer nach dem andern dem hünenhaften Indianer die Hand, der aber den ganzen Vorgang als etwas ganz Selbstverständliches zu betrachten schien.

»Das sind doch Hauptkerle, diese Roten,« äußerte sogar Gottlieb anerkennend, und auch Doktor Mangold war voller Bewunderung über die Tapferkeit des Indianers. Die Neger luden die Beute auf ein rasch aus dünnen Baumstämmen angefertigtes Gestell und trugen sie auf dem kürzesten Wege nach Hause, gefolgt von Doktor Mangold und Gottlieb, die sich in ihren nassen Kleidern wenig behaglich fühlten. Helmut und Tumayaua aber wollten auf einem weiteren Wege zurückkehren, um womöglich noch etwas zu schießen, da in der Küche Wildbret gebraucht wurde.

Nach längerer Wanderung sahen sie einen starken Waldhirsch, ein einsiedlerisch lebendes Tier, das nur wenig schwerer wird als ein Reh, dabei sehr schlau und scheu ist und ein außerordentlich feines und wohlschmeckendes Fleisch hat. Da der Wind nicht günstig stand, umlief Helmut den Hirsch im Halbkreis im schärfsten Tempo, aber er kam dabei derart außer Atem, daß er übereilt feuerte und seine erste Kugel glatt daneben ging. Da er aber glücklicherweise ein Magazingewehr hatte, konnte er gleich eine zweite Kugel folgen lassen, die besser traf und den flüchtenden Hirsch ins Gras warf, worauf ihn eine dritte vollends verenden ließ. Das zierliche Tier wurde sofort ausgeweidet, zwischen den Gabelästen eines Baumes aufgehängt und die Stelle bezeichnet, damit die Neger sie dann finden konnten.

Lange wollte sich nun gar nichts mehr zeigen, aber plötzlich sah Helmut im hohen Gras vor sich eine Bewegung, die nur von einem Tier herrühren konnte. Vorsichtig schlich er sich näher, und nun entpuppte sich das rätselhafte Wesen als ein mächtiger Rotwolf. Der Bursche vertrieb sich die Zeit mit Rattenjagd und hatte wohl keine Ahnung von der Anwesenheit eines interessiert zusehenden Menschenkindes. In hohen Sätzen verfolgte er die kleinen Nager, wie es wohl unsere Haushunde tun, wenn sie zwischen Halmen und Rispen Mäuse zu ergattern trachten. Der Wolf schien seinen Sport lebhaft zu genießen; er kläffte aufgeregt und trollte in geradezu graziösen Sprüngen durch sein Revier. Dabei sträubte sich seine schwarze Mähne, was seiner Gestalt fast etwas Majestätisches verlieh. Endlich hatte er eine Ratte erwischt und legte sich nieder, um seine Beute in aller Bequemlichkeit verschlingen zu können. Helmut vermochte nur noch die vergnügt wedelnde Schwanzspitze zwischen den hohen Halmen zu erkennen. Plötzlich stand der Wolf aber wieder auf. Er hatte offenbar von dem nahen Menschen Witterung bekommen und ergriff nun eilends die Flucht. Im Knall des Schusses schlug er ein Rad, schnappte und knurrte dann aber fürchterlich. Die Kugel hatte ihn etwas zu tief getroffen und nur den einen Vorderlauf knapp unter dem Rumpfe abgerissen. Trotzdem kam das lebenszähe Tier wieder auf die Beine und versuchte nun auf drei Läufen eilends davonzuhinken. Weit kam es aber nicht mehr, denn Helmuts zweite Kugel warf es alsbald endgültig nieder.

Auf dem Heimwege stießen die beiden dann zu ihrer Überraschung ganz unvermutet wieder auf den Doktor, den sie längst daheim und in trockenen Kleidern glaubten. Er saß auf einem Baumstamme und stierte unverwandt auf den Boden, wo ihn irgend etwas ganz besonders zu interessieren schien.

»Etwas Famoses habe ich hier gefunden,« rief er seinem neuen Freunde schon von weitem zu. »Sehen Sie nur einmal, richtige Blattschneiderameisen in ganzen Heereszügen.«

»Nun,« versetzt Helmut lachend, »das ist hier nichts Besonderes, und Ameisen sieht man mehr als einem lieb ist. Ja es will mir manchmal so vorkommen, als ob nicht der grimmige Jaguar und auch nicht der kluge Mensch die eigentlichen Beherrscher des Urwalds seien, sondern diese winzigen Insekten, die bei ihrer unglaublichen Menge und bei ihrem festen Zusammenhalten alles überwältigen, was ihnen in den Weg kommt. Deshalb fürchtet sie auch jedes Tier und geht ihnen beizeiten aus dem Wege, ja sogar der Mensch kann kaum etwas Besseres tun. Aber das will ich gern glauben, daß das Studium dieser Tiere äußerst interessant sein muß. Oft habe ich mir schon den Kopf darüber zerbrochen, warum wohl die Blattschneiderameisen immer ein kleines Blattstück über ihren Kopf halten. Tun sie das vielleicht, um sich vor den Sonnenstrahlen zu schützen, und benützen sie so das Blatt als eine Art Sonnenschirm? Sie können uns gewiß nähere Auskunft darüber geben, Herr Doktor. Wir haben ja noch Zeit und können hier ein wenig rasten, denn der gute Gottlieb hat, wie mir scheint, ohnedies nicht lange bei Ihren Ameisen ausgehalten und ist Ihnen schnöde davongelaufen.«

»Stimmt, stimmt,« pflichtete Doktor Mangold bei und begann dann mit behaglichem Eifer seinen wissenschaftlichen Vortrag:

»Sie haben gar nicht unrecht, wenn Sie die Ameisen als die eigentlichen Beherrscher des Urwaldes bezeichnen. Überall sind sie zu finden, und die Blattschneiderameise ist nicht nur eine der häufigsten, sondern auch ihrer Lebensweise nach eine der eigentümlichsten Arten. Sehen Sie sich einmal diesen Wandelzug näher an. Er sieht aus wie ein breites grünes Band, das sich am Boden entlang zieht, und dessen einzelne Teile sich in fortwährender Bewegung befinden wie die Wellen eines Baches. Die grüne Farbe wird vorgetäuscht durch die abgeschnittenen Blattstückchen, die die Tiere zwischen den Kiefern ihres großen, herzförmigen Kopfes halten, und die ihren ganzen Körper bedecken. So fest halten sie die Blattstückchen, daß man sie daran aufheben kann, ohne daß sie loslassen. Als Sonnenschirme dienen die etwa groschengroßen Blattstückchen nicht, obwohl die Ameisen allerdings keine Freundinnen der Sonnenstrahlen sind und sich deshalb an sonnigen Stellen lieber Tunnel im Erdreich anlegen; auch auf die Baumstämme steigen sie nur dadurch empor, daß sie sich mit unendlicher Mühe aus feiner Erde Tunnel den Stamm entlang bis hinauf zur Laubkrone errichten. Dort schneiden die hellbraunen Tierchen mit ihren scharfen Kiefern, die wie eine Schere arbeiten, die Blattstücke heraus und zerstören so die Blätter bis auf die Mittelrippe, so daß der Baum nach und nach gänzlich entlaubt wird. Mit einem derart ausgeschnittenen Blattstück eilen sie dann zu ihrem Neste, das oft mehrere hundert Meter weit entfernt ist. Dahin bauen sie sich richtige Straßen, die von Gras und sonstigen niedrigen Pflanzen befreit und peinlich sauber gehalten werden. Oft sehen sie den Waldpfaden der Eingeborenen täuschend ähnlich, sind auch ebenso breit wie diese. Stets wird der kürzeste Weg eingehalten, und die Ameisen schrecken dabei vor keinem Hindernis zurück. Selbst über belebte Fahrstraßen wandern sie bisweilen, mögen dabei auch Tausende und aber Tausende von ihnen das Leben einbüßen. Das Erdreich auf diesen Ameisenstraßen sieht aus, als wäre es künstlich festgestampft. Stets sind sie von hastigem Leben erfüllt, und ich habe vorhin mit der Uhr in der Hand festgestellt, daß die Marschgeschwindigkeit einer beladenen Ameise etwa 150 Meter in der Stunde beträgt. Bei näherem Hinsehen werden Sie bemerken, daß vielfach noch kleinere Ameisen auf den beladenen Arbeiterinnen sitzen und sich gewöhnlich am oberen Blattrande festhalten. Es sieht aus, als ritten sie spazieren, und in der Tat handelt es sich dabei um junge Ameisen, die von alten spazieren geführt werden. Aber Sie wollten ja wissen, was die Ameisen mit den Blattstückchen anfangen, und das ist nun das Merkwürdigste bei der ganzen Sache. Da es mit den Sonnenschirmen nichts ist, werden Sie gewiß glauben, daß die Blätter als Nahrung dienen oder vielleicht auch beim Bau des Nestes Verwendung finden. Aber beides ist nicht der Fall. Im Neste angekommen, werden die Blattstücke vielmehr von den Tieren mit Kinnbacken und Vorderfüßen zu einer Art Kompost verarbeitet und mit diesem dann förmliche Gartenbeete angelegt. Auf diese Beete bringen die Ameisen die Fäden eines Pilzes, der in dem Kompost lustig fortwuchert, und von dessen kugelförmigen Anschwellungen sie sich ernähren. Diese Pilzkugeln sind also das Ameisenbrot, um dessentwillen die Ameisen so rastlos und emsig arbeiten. Nicht einmal nachts wird die Arbeit unterbrochen. Es ist demnach kaum zu viel gesagt, wenn man behauptet, daß die Blattschneiderameisen Ackerbau treiben, so wunderbar und märchenhaft diese Tatsache zunächst auch anmuten mag. Leider bevorzugen die Ameisen die Blätter von allerlei Kulturgewächsen, wie Kaffee, Orangen, Mango usw., und sie richten deshalb furchtbaren Schaden an, da ein von ihnen befallener Baum in der Regel zum Absterben gebracht wird. Vergegenwärtigt man sich, in welch ungeheurer Menge diese Ameisen auftreten, und wie unablässig sie mit dem Zerschneiden der Blätter beschäftigt sind, so muß man sich überhaupt wundern, daß sie noch nicht den ganzen Wald zerstört haben. Nur die unerschöpfliche Triebkraft der Tropennatur kann solchen Angriffen standhalten. Auch sind die Bäume, auf denen andere Ameisen wohnen, vor der Vernichtungstätigkeit der Blattschneiderameisen sicher, denn die baumbewohnenden Ameisen verteidigen ihr Reich mit Ingrimm gegen die fremden Eindringlinge und schlagen deren Angriffe siegreich zurück.«

Doktor Mangold sollte Gelegenheit haben, am selben Tage noch eine zweite sehr gefürchtete Ameisenart kennen zu lernen, die sogenannte Wanderameise. Als sich nämlich die drei der Farm näherten, wiesen allerlei Anzeichen darauf hin, daß hier etwas Besonderes vorgefallen sein müsse. Aufgeregt schwatzend und gestikulierend standen die Schwarzen und auch das europäische Gesinde im Hof herum, aus mehreren Zimmern waren alle Möbel ausgeräumt, und das Luisle bemühte sich, allerlei Eingemachtes aus der Speisekammer zu retten. Ein schwarzer, ununterbrochener Strom dicht gedrängter Ameisen aber zog zur Haustür herein, durch Diele, Eßzimmer, Küche und Speisezimmer hindurch und dann zur Küchenveranda hinaus wieder ins Freie. Händeringend stand Frau Förster daneben.

»Da haben wir wieder einmal die Wanderameisen im Haus,« rief sie den Ankömmlingen entgegen. »Eine schöne Bescherung! Was ihnen in den Weg kommt, ist verloren, und man tut am gescheitesten, lieber gleich alles auszuräumen und den Tieren ihren Willen zu lassen. Aufkommen kann man gegen diese ägyptische Plage ja doch nicht. Wie mögen diese eigensinnigen Tiere nur auf den dummen Gedanken verfallen sein, gerade mitten durch unser Haus hindurch zu marschieren, als ob es nicht noch andere Wege genug gäbe! Na, hoffentlich dauert die Sache nicht so lange, damit wir bis zum Abend wieder einziehen können, falls es die Herren Ameisen gütigst gestatten.« Während Frau Förster die Sache ziemlich gelassen hinnahm, war das Luisle wütend und erschlug Ameisen, soviel sie nur konnte. Dabei schimpfte sie wie ein Rohrspatz, aber diesmal auf gut Schwäbisch, denn die Wut hatte sie ihr schönes Hochdeutsch ganz vergessen lassen.

»Isch des einmal ein Saucorps, a dreckets! Die wüschte Gesellschaft hätt au wo anders bleibe könne. I möcht doch den Herrgott frage, zu welchem Deixel er au solche Viecher in die Welt gesetzt hat!«

Helmut mußte ob der tragikomischen Situation unwillkürlich lachen, so leid es ihm auch tat, daß seiner geliebten Mutter durch den Ameiseneinfall so viel unnütze Arbeit erwuchs. Er bemühte sich, das Luisle zu trösten.

»Es hat alles auch sein Gutes! Bringt man nur vor den Ameisen alles in Sicherheit, so vermögen sie ja weiter nicht zu schaden, aber dafür fressen sie ratzekahl alles sonstige Ungeziefer im Hause auf. Wir haben ja, wie überall hier zu Lande, eine Unmenge riesenhafter Küchenschaben im Hause, von den Grillen, Mäusen, Tausendfüßlern, Skorpionen, Fliegen, Moskitos usw. gar nicht zu reden. Das alles wird mit Stumpf und Stiel von den Ameisen so im Vorbeigehen ausgerottet, und wir werden lange Zeit Ruhe davor haben.«

So war es auch in der Tat, und die Ameisen waren freundlich genug, ihren Durchmarsch bis Sonnenuntergang zu beendigen; nicht eine einzige blieb zurück, und so konnte man am Abend wieder beruhigt einziehen. Die Unterhaltung am Abend drehte sich wieder um die gefürchteten Bugres und um ihre bevorstehenden Einfälle. Namentlich Gottlieb konnte sich gar nicht genugtun in Schilderung und Ausmalung ihrer Greueltaten, so daß seinen Zuhörern die Haare zu Berge standen. Kein gutes Haar ließ er an den Rothäuten, stellte sie vielmehr als wahre Teufel und Ausgeburten der Hölle hin. »Es sind freilich wilde Kerle, und sie kennen keine Schonung,« warf Helmut dagegen ein. »Aber wenn man gerecht urteilen will, muß man doch eigentlich auch bedenken, daß wir Weißen ihnen ohne weiteres ihr Land weggenommen und sie in die unzugänglichsten Urwälder verscheucht haben. Daß sie sich nun zu rächen suchen und uns Europäer mit glühendem Hasse verfolgen, ist da doch eigentlich ziemlich begreiflich. Und da sie uns im offenen Kampfe mit ihren primitiven Waffen nicht gewachsen sind, so müssen sie eben ihre Zuflucht zu heimtückischen Überfällen nehmen. Auch läßt sich wohl kaum leugnen, daß bei diesen fortgesetzten erbitterten Kämpfen auch auf seiten der Weißen vielfach Wortbruch und Verrat, Grausamkeiten und Scheußlichkeiten aller Art vorgekommen sind. Wenn dann diese wilden Menschen Gleiches mit Gleichem vergelten, so ist das nicht zu verwundern, denn Aug' um Aug', Zahn um Zahn, Leben um Leben, das ist das oberste Gesetz im Urwald.«

Tumayaua nickte zustimmend, und sein dunkles Auge glühte einen Augenblick in wildem Feuer auf, besänftigte sich aber sofort wieder, als Lieselotte ihn begütigend ansah. So begnügte er sich damit, zu sagen: »Die deutschen Ansiedler sind gut, aber die andern Weißen sind grausamer als der Jaguar, heimtückischer als die Schlange. Sie haben den roten Mann nicht mit den Waffen besiegt, sondern sie haben ihn vergiftet und gehetzt wie die wilden Tiere.«

»Worauf bezieht sich denn das?« erkundigte sich Doktor Mangold.

»Leider hat der Häuptling recht,« sagte der alte Förster ernst. »Es sind in dem Vernichtungskriege gegen die Eingeborenen tatsächlich Dinge vorgekommen, bei deren bloßer Nennung jeder anständig denkende Mensch in tiefer Scham erröten muß. Es ist wahr, daß die ersten Ansiedler förmliche Treibjagden auf die Eingeborenen veranstaltet haben, oft genug aus bloßer Langeweile. Die armen Rothäute wurden bei solchen Gelegenheiten massenhaft niedergeschossen wie die Hasen. Das scheußlichste ist wohl, daß man an den Lagerplätzen oft absichtlich Lebensmittel zurückließ und diese mit Strychnin vergiftete. Wenn dann die hungrigen Wilden darüber herfielen, starben sie massenhaft eines qualvollen Todes. Die Erinnerung an diese Untaten ist bei den Indianern nicht ausgestorben, und sie suchen sich in ihrer Weise dafür zu rächen, wobei natürlich die Unschuldigen für die Schuldigen büßen müssen. Es ist aller Ehren wert, daß Tumayaua im Gegensatze zu den Bugres da einen Unterschied macht und den Haß gegen die weiße Rasse, der auch ihn sicherlich insgeheim beseelt, nicht die friedliebenden deutschen Pflanzer entgelten läßt, vielmehr bestrebt ist, das diesen durch die Bugres jederzeit drohende Unheil nach Kräften abzuwehren.«

»Bugres schlimm, Chiriguanos gut,« bestätigte Tumayaua, indem er die Hand beteuernd ans Herz legte.

Die nächsten beiden Wochen verstrichen auf der Försterschen Farm ohne besondere Aufregung, aber unter fleißiger Arbeit und in stiller Ruhe. Helmut begleitete, so oft es ihm möglich war, den Doktor auf seinen Streifzügen und gewann dabei der Beschäftigung mit den Naturwissenschaften immer mehr Geschmack und Interesse ab. Als Farmerssohn und Jäger wußte er ja im Urwalde selbst besser Bescheid als sein studierter Begleiter, der nur zu oft den unbehilflichen Gelehrten verriet. Helmut kannte aus freier Natur die verschiedenen Tiere und Pflanzen sowie ihre Lebensgewohnheiten oft besser als der Doktor aus seinen Büchern, aber er lernte von dem Naturforscher die richtige Art und Weise des Beobachtens, das Wesentliche vom Unwesentlichen unterscheiden, den inneren Zusammenhang der Dinge begreifen und allen bei ihrer Betrachtung sich aufdrängenden Fragen systematisch auf den Grund gehen. Auch der Doktor seinerseits hatte von diesem Zusammenarbeiten, das die beiden jungen Leute bald in treuer Freundschaft verband, nur Vorteile. Er lernte sich im Urwalde zurechtfinden, lernte die besten Fundstellen kennen und die Lebensweise der Tiere und Pflanzen besser verstehen. Gern hatte er seinen Aufenthalt verlängert und sich seine ganze Ausrüstung nachkommen lassen, denn er konnte ja kaum einen bequemeren Ausgangspunkt für lohnende Streifzüge finden, als die am Rande des Kulturlandes dicht neben dem Urwalde gelegene Farm. Und das innige Zusammenleben mit deren einfachen, arbeitsamen und gutherzigen Bewohnern übte auf seine ganze Persönlichkeit offenbar einen sehr vorteilhaften Einfluß aus. Den anfänglichen überlegenen Ton des Berliners sowie allen Gelehrtendünkel hatte er längst abgelegt und gab sich ganz natürlich, so wie er im Grunde seines Wesens war, als ein für seine Wissenschaft begeisterter und für sie zu jedem Opfer fähiger Mann, dem es weder an Scharfblick und Menschenkenntnis, noch an Mut und Unternehmungslust gebrach. Auch mit dem Gewehr lernte er gut umgehen, und so wuchsen seine Sammlungen rasch an, zumal auch die Kinder der Farmbediensteten ihm allerhand Kleingetier in überreichlicher Menge zuschleppten, um dafür mit Glasperlen, bunten Bändern oder Süßigkeiten entlohnt zu werden.

Unvergeßlich schöne und lehrreiche Stunden verlebten die beiden neuen Freunde im unermeßlichen Urwald, dessen Anblick sie immer von neuem wieder durch seine überwältigende Großartigkeit und durch seine entzückende Schönheit fesselte. Das rauschende Wipfelmeer der riesigen Bäume glich von weitem wohl einem deutschen Walde, aber wenn man näher kam, sah man sofort den Unterschied, der hauptsächlich darin bestand, daß in unsern Wäldern nur ganz wenige Baumarten vertreten und eine davon absolut vorherrschend ist, während der brasilianische Urwald sich durch die unendliche Mannigfaltigkeit seiner Bäume auszeichnet. Man konnte oft einen halben Kilometer und mehr gehen, bis man dieselbe Baumart wiederfand. Tiefe Verschiedenartigkeit des Baumwuchses bedingte zugleich dessen Dichtigkeit, denn verschiedenartige Gewächse machen sich im Kampfe um Licht, Luft und Nahrung natürlich nicht so scharfe Konkurrenz, können infolgedessen auch näher beisammen stehen als gleichartige Bäume, die alle die gleichen Ansprüche stellen. Weiter war kennzeichnend für den Urwald dessen ausgesprochen etagenförmiger Aufbau. Zu unterst das dichte Unterholz, darüber die sich massenhaft um die Baumäste windenden Schlingpflanzen und ganz oben das Meer der Baumwipfel, noch überragt von den zierlichen Kronen der höchsten Palmen. So baute sich hier immer Etage über Etage auf, gewissermaßen ein Wald über dem Walde. Wo nicht Schneisen durch den Urwald gehauen waren, bildete er eine dichte, undurchdringliche Mauer, die mit ihren wie dicke Seile nach allen Richtungen verlaufenden Lianen und mit ihren zahllosen Stacheln und Dornen jedes Eindringen unmöglich machte, wenn man sich nicht mit dem breiten Waldmesser, dem sogenannten Machete, gewaltsam Bahn brach oder durch einen Neger brechen ließ, wobei freilich jeder Schritt vorwärts mit unzähligen Schweißtropfen erkauft werden mußte. Und eigentlich lohnte sich das gar nicht, denn das düstere Innere des Urwaldes, wo die feuchtwarme Atmosphäre eines Treibhauses herrschte und vermodernde, von Pilzen überzogene Baumstämme den vordringenden Menschen oft fast bis an die Knie versinken ließen, war im allgemeinen totenstill und auffallend tierarm. Ungleich regeres Leben herrschte an den Waldrändern, an den Schneisen und namentlich an den vielen kleinen Bächen, die als natürliche Straßen schäumend und brausend, häufig kleine Wasserfälle bildend, durch das geheimnisvolle Grün zogen. Es war viel lohnender für die beiden jungen Naturforscher, sich am Rande solcher Bäche aufzuhalten und von da aus das Tierleben zu beobachten, das sich dann in überraschender Fülle vor ihnen zu entfalten pflegte.

Ein fast heiliges Gefühl, ein gewissermaßen feierlicher Schauer befiel sie jedesmal, wenn sie das Innere des Urwaldes betraten. Da starrten sie fast ratlos hinein in das jede Aussicht versperrende Gewirr von Schlingpflanzen und das unsägliche Labyrinth von hohen, schlanken Stämmen, die wie Riesensäulen allenthalben neben ihnen aufstiegen. Und blickten sie dann nach oben, so erhob sich hoch über ihnen das dichte und doch wieder leichte Laubdach aus graziösem Blätterwerk, das den Himmel nur noch wie einen blauen Flor hie und da undeutlich durchscheinen ließ. Helmut kannte ja die Herrlichkeit des Urwaldes von Kindheit an und hatte sie immer als etwas Selbstverständliches hingenommen, ohne sich darüber näher Rechenschaft zu geben. Der Doktor aber hatte sich den Urwald schon daheim mit der glühendsten Phantasie ausgemalt, und doch sah er jetzt seine kühnsten Erwartungen übertroffen; es war alles so ganz anders, als er es sich vorgestellt hatte. Alles erschien hier kolossal, alles mutete so urweltlich an. Man wurde sich der eigenen Winzigkeit so sehr bewußt und empfand in einer fast niederdrückenden Weise den ungeheuren Abstand zwischen der Großartigkeit der unerschöpflichen Natur und dem kleinen, hilflosen Menschlein, das sich da in ihre erhabenste Schöpfung hineinwagte. Zuerst war es der ungeheure Maßstab der Riesenstämme, der den Doktor in Erstaunen setzte. Sodann die gänzliche Verschiedenheit der Pflanzenwelt dieser Wälder von der Europas. Wo wir in der deutschen Heimat einen blühenden Strauch oder einen Obstbaum in anmutiger Farbenpracht sehen, da fanden sich hier blühende Baumkolosse, deren Höhe die der heimatlichen um das drei-, ja um das vierfache überragte, während ihre Blüten den größten Prachtblumen unserer Gewächshäuser an die Seite gestellt werden konnten. Dazu sprossen sie in einer so unendlichen Fülle hervor, daß der ganze Baum sich in ihre Farben gekleidet zu haben schien. So waren es besonders Bäume mit wundervollen großen lila Blüten und andere mit schneeweißen, die sich entzückend abhoben von dem mannigfachen Grün der andern Laubbäume, und die so dem Urwalde zur größten Zierde gereichten. Jeder Baum hatte seinen eigentümlichen Wuchs, sein eigenartiges Laubwerk und sein von den benachbarten Bäumen verschiedenes Grün. Riesige Gewächse, den verschiedensten Arten angehörig, verschlangen ihre Zweige aufs innigste mit einander und erzeugten so ein märchenhaftes Gemisch des mannigfachsten Laubes. Gleich gewaltigen Säulen erhoben sich die meisten Bäume kerzengerade zu schwindelnder Höhe, oft geschmückt mit den glänzendsten und glühendsten Blumenkronen.

Jedoch nicht alle Gewächse des Urwaldes entsprossen dem Boden. Dort, wo die kleineren Äste sich von den größeren abzweigen, oder da, wo diese einen Auswuchs haben, nisten gern andere Kinder der Pflanzenwelt und schauen von schwindelnder Höhe neugierig herab auf den staunenden Wanderer. Zu ihnen gesellen sich die Flechten, die gleich Lockenperücken und Roßschweifen herabhängen oder in Form von langhaarigen Bärten den Riesen der Urwälder das Ansehen ehrwürdiger Greise geben, die selbst ein tausendjähriges Alter nicht zu beugen vermochte. Und um diese wunderbare Natur noch mannigfaltiger zu machen, schlangen sich Tausende von Lianen und andern Kletterpflanzen in den sonderbarsten Figuren und Windungen bald von den Ästen der Riesenbäume herab, bald zu denen anderer Bäume hinüber, dabei Äste und Stämme oder auch sich untereinander umfangend, oft von der Stärke eines kräftigen Taues, nicht selten aber auch von der eines Menschenschenkels. Es erschien ganz unmöglich, mit dem Auge dieses Gewirr zu durchdringen und die unzähligen, ans Fabelhafte streifenden Verschlingungen zu verfolgen. Bald kamen die Lianen gleich geraden Stangen herab und wurzelten in der Erde, so daß man sie für Bäume zu halten versucht war; bald bildeten sie Schleifen und Ringe von drei bis sechs Meter Durchmesser; bald schlangen sie sich so um einander, daß sie Ankertauen glichen. Zuweilen schnürten sie einen Baum abschnittsweise völlig ein, erstickten ihn oft ganz, so daß er alles Laubwerk verlor und seine abgestorbenen Riesenarme gleich ungeheuren weißen Korallenzweigen starr in das frische Grün des Waldes hineinragten. So macht sich der Tod oft schauerlich inmitten blühenden Lebens geltend.

Aber den höchsten Reiz verliehen dem Urwalde die leichten, zierlichen Palmen, die unter dem Hauche des leisesten Windes ihre großblättrigen Wipfel hin und her wiegten. Ihre dünnen, geschmeidigen Stämme waren nicht selten fast mit der Hand zu umspannen, und doch erreichten sie eine Höhe von zwanzig bis dreißig Meter. Einem Büschel herabhängender Federn nicht unähnlich, wölbte sich hoch oben die aus den wunderbar zart gefiederten Blattwedeln gebildete ganz kleine Krone, überragt von einer scharfen, hellgrünen Spitze, die diesen reizenden Palmen oft das Ansehen einer Lanze oder eines schwankenden Rohres gab. Im Gegensatze zu den andern Urwaldbäumen schienen die Palmen die Geselligkeit zu lieben, denn wo sie einmal auftraten, konnte man stundenlang unter ihnen hinreiten, während sie anderseits oft wieder auf weite Strecken hin fehlten. Immer aber wirkte ihr Anblick überaus malerisch; jedes Lüftchen schaukelt sie, und sanft schütteln sie das liebliche Haupt, als wollten sie voller Huld und Anmut herabgrüßen. An Schönheit und Mannigfaltigkeit vermochten mit den lieblichen Palmen nur noch die prachtvollen baumartigen Farnkräuter zu wetteifern. Sie ähnelten den schlanken Palmen gar sehr, nur war ihr leichtes, biegsames Blätterdach flacher und weniger buschig als das der Palmenkrone. Geradezu entzückend sah es aus, wenn diese drei bis fünf Meter hohen und fast zwei Meter breiten Farnkräuter, von den leisen Lüftchen angehaucht, bei ihrer Leichtigkeit sich anmutig wiegten und diese sanften Schwingungen ins unendliche fortsetzten.

Nicht minder ausgezeichnet als die Pflanzenwelt war auch die Tierwelt, die jene Urwälder bewohnte. Doktor Mangold, der sich zum erstenmal mitten in all diese Formen- und Farbenfülle versetzt sah, wußte gar nicht, was er von dieser verwirrenden Mannigfaltigkeit zuerst bewundern und näher untersuchen sollte. Nur mittags war es einigermaßen ruhig im Urwald, denn während der Stunden, wo die Sonne am unbarmherzigsten herniederbrennt, suchen alle lebenden Geschöpfe Schatten und Ruhe, so daß sich eine feierliche Stille über die im Sonnenlichte glänzende Natur verbreitet. Sonst aber rief jede Stunde des Tages eine andere Welt von Geschöpfen hervor. Besonders schön war es am frühen Morgen. Das Geheul der Brüllaffen, die hohen und tiefen Töne der Laubfrösche und Kröten, das Schmettern und Schwirren unzähliger Zikaden und Heuschrecken pflegte ihn zu verkündigen; sobald dann die aufsteigende Sonne die noch über dem Urwald lagernden Nebel verdrängt hatte, freuten sich alle Geschöpfe lärmend des neuen Lebenstages. Die Wespen verließen ihre fußlangen, von den Zweigen herabhängenden Nester, die Ameisen kamen aus ihren künstlich von Lehm aufgetürmten und oft an den Bäumen befestigten Nestern hervor und begannen die mühseligen Reisen auf ihren selbstgebahnten Straßen; ebenso die das Erdreich in weitem Umkreise hoch aufwühlenden Termiten. Die buntfarbigsten, an Glanz mit den Farben des Regenbogens wetteifernden Schmetterlinge gaukelten genäschig von Blume zu Blume oder suchten ihre Nahrung auf den Straßen oder besonnten Sandufern kühler Bäche. So am Tage und anders am Abend und während der Nacht, wo wieder andere Arten summend die Luft durchzogen. Außer den Schmetterlingen durchschwirrten Myriaden der glanzvollsten Käfer den Luftkreis oder blitzten gleich schimmernden Edelsteinen zwischen dem saftigen Grün der Blätter oder aus den duftenden Kelchen bunter Blüten hervor, während Eidechsen von auffallender Form, Größe und Farbenpracht sowie Schlangen, düster gefärbte wie bunt gezeichnete, giftige wie unschädliche, aus dem Laube, den Baumhöhlen, dem Mulm vermoderter Stämme und zwischen Steinen hervorschlüpften, sich träge sonnten oder sich geschmeidig an den Bäumen hinaufwanden, um dort auf Beute zu lauern. Immer war alles voll tätigen Lebens. Possierliche Eichhörnchen und ganze Herden kleiner Affen zogen neugierig aus dem Innern der Wälder nach den Anpflanzungen und schwangen sich pfeifend und schnalzend von Baum zu Baum. Die hühnerartigen Jakus, Holkos und die unzähligen Wildtauben verließen die Zweige und irrten nahrungsuchend auf dem feuchten Waldboden umher. Wieder andere Vögel von den sonderbarsten Gestalten und dem glänzendsten Gefieder flatterten bald einzeln, bald gesellig durch das undurchdringliche, farbenprangende und betäubend duftende Buschwerk.

Die grellgrün, blau oder rot gefärbten Papageie erfüllten die Luft mit ihrem kreischenden Geschwätz und führten bisweilen geradezu ohrenbetäubende Konzerte auf, wenn sie in ihren Versammlungen über etwas besonders Aufregendes beratschlagten. Schlich sich aber der Jäger behutsam an den Baum heran, auf dem sie saßen, so verstummten die klugen Vögel sofort und ließen nur noch hier und da ein halb unterdrücktes, unzufriedenes Murksen hören. Und trotz ihrer bunten Farben war es gar nicht so leicht, diese Affen der Vogelwelt in den dichten Baumwipfeln zu erkennen, denn diese grünen Wipfel waren ja selbst von roten und blauen Schmarotzerblüten durchstickt, denen die still dasitzenden Papageie in der Färbung vollkommen glichen. »Schutzfärbung« nannte das der Doktor, belegte es an einer Reihe treffender weiterer Beispiele und setzte seinem lernbegierigen Schüler auseinander, welch große Bedeutung die allmähliche Herausbildung solcher Schutzfarben für die Tierwelt im Kampfe ums Dasein gehabt habe und noch habe, wie sie viel zur Entstehung neuer Formen beigetragen habe, und wie gerade dadurch der große englische Naturforscher Darwin auf seine kühne Hypothese gekommen sei, die in Europa alle gebildeten Geister erregt und ungeheure Umwälzungen auf dem Gebiete der Wissenschaften und der Weltanschauungen hervorgerufen habe. So viel als möglich schössen beide Jäger Papageie. Der Doktor, weil er die Bälge für seine Sammlungen haben wollte, Helmut auf Befehl des Vaters, weil die Papageie in den Pflanzungen oft gewaltigen Schaden anrichten, indem sie in großen Schwärmen dort einfallen und bei der ihnen eigentümlichen Zerstörungslust noch weit mehr verwüsten als wirklich verzehren. Außerdem waren der Mutter die Papageie auch immer für die Küche willkommen, da sie eine außerordentlich kräftige und schmackhafte Suppe abgaben.

Oft hörte man im Urwalde auch Töne, die genau so klangen, als wenn ein Schmied mit schwerem Hammer auf den stählernen Amboß schlägt. Es war ein schneeweißer, drosselgroßer Vogel, der diese sonderbare Musik zum besten gab und deshalb auch den Ansiedlern unter dem Namen »Schmied« bekannt war, während der Doktor ihn wissenschaftlich als Glockenvogel bestimmte. Höchst anziehende Gestalten waren ferner die auf der Brust prachtvoll rot und gelb gefärbten Pfefferfresser. Sie saßen auf den äußersten Zweigen, klapperten mit den riesengroßen hohlzelligen Schnäbeln und riefen in sehnsüchtigen Tönen nach Regen.

Geschäftig schlüpften pirolartige Vögel aus ihren kunstvoll gewebten, lang herabhängenden, beutelförmigen Nestern, um die mit goldenen Früchten beladenen Orangenbäume zu besuchen, wobei sie Wachen aufstellten, die mit lautem, zänkischem Geschrei die Annäherung eines Menschen verkündigten. Doktor Mangold hätte gern einige dieser kunstvollen Nester für seine Sammlung gehabt, aber das war gar nicht so leicht, obwohl sie an manchen Stellen so massenhaft vorhanden waren, daß sie der Landschaft geradezu ein kennzeichnendes Gepräge aufdrückten. Sie waren aber immer an den äußersten Zweigen aufgehängt, oft über dem Wasser oder über Abgründen, so daß auch der geschickteste Kletterer nicht zu ihnen gelangen konnte, ohne herabzustürzen. Der Doktor sagte, daß die klugen Vögel aus Furcht vor den eierlüsternen Baumschlangen so bauten. Einmal fand er Nester, die merkwürdig leicht zugänglich waren, und er machte sich voller Freude daran, das vorderste abzuschneiden, fuhr aber sofort mit lauten Schmerzensrufen zurück und rannte wie besessen davon. Als der erstaunte Helmut ihn endlich wieder eingeholt hatte, fand er ihn in einem Bache stehend, Gesicht und Hände im Wasser kühlend. Der arme Doktor war nämlich total von Wespen zerstochen, und sein Gesicht glich nur noch einer einzigen großen Beule.

»Sehen Sie, das kommt davon,« meinte er seufzend, »wenn man das in der Naturgeschichte Gelernte zu rasch wieder vergißt, so daß es erst schmerzliche Eigenerfahrung wieder ins Gedächtnis zurückrufen muß. Ich hatte ganz vergessen, daß diese Vögel gern mit den stechlustigen Baumwespen ein Bündnis eingehen, indem sie ihre Nester unmittelbar neben die der Wespen hängen. Wehe dann dem Feinde, der sich naht! Er wird von den wehrhaften Wespen erbarmungslos zerstochen und muß schleunigst sein Heil in der Flucht suchen, wenn er nicht als Opfer der stechlustigen Kerfe auf der Walstatt bleiben will. Wir Naturforscher nennen ein solches Zusammenhalten und Zusammenleben zweier ganz verschiedener Tierarten eine Symbiose. Sie findet sich oft genug im Tierreich, und gewöhnlich haben beide Verbündete ihren Vorteil dabei. So extreme Formen kann oft eine solche Symbiose annehmen, daß die betreffenden beiden Tierarten vollständig aufeinander angewiesen sind und ohne einander gar nicht mehr zu leben vermögen.«

Unserem Helmut tat der jämmerlich zerstochene Doktor herzlich leid, und er sann nach, wie er ihm doch noch ein paar der begehrten Beutelnester verschaffen könne. Bald hatte er des Rätsels Lösung gefunden, die freilich nur für einen sehr geübten Schützen möglich war. Mit seiner sicheren Kugel zerschoß er nämlich den dünnen Zweig, an dem die Nester aufgehängt waren, und brachte so am nächsten Tage bald mehrere in seinen Besitz, die er dem hoch erfreuten Gelehrten überreichte.

Einen wunderbaren Farbenreichtum und ein duftig zartes Gefieder wiesen auch die zahllosen Arten von Fliegenschnäppern auf, die sich gewandt von Baum zu Baum schwangen und raschen Fluges die vorüberflatternden Prachtschmetterlinge oder die vorbeisummenden Fliegen erhaschten. Wirklich gute Sänger gab es aber unter den gefiederten Bewohnern des Urwaldes ungleich weniger als in der deutschen Heimat. Eine Ausnahme machte nur die brasilianische Drossel, die in unzähligen Volksliedern verherrlichte Habia, die ihre süßen Melodien in endloser Wiederholung aus dem dichten Gesträuch herausflötete. Ganz wie bei uns ließen auch Spechte ihren kichernden Ruf erschallen, oder sie hämmerten mit den starken Schnäbeln fleißig an der Rinde der Urwaldbäume, selbst in den heißen Mittagsstunden, wo alles andere Tierleben ruhte, so daß sich dann ihr emsiges Geklopfe inmitten der ringsum herrschenden Ruhe anhörte wie der Pulsschlag der rastlos schaffenden Natur.

Besondere Anziehungskraft übten aber die winzigen Kolibris aus, wenn sie die prunkvollen Blumen umschwirrten und dabei an Pracht und Farbenglanz mit Brillanten, Smaragden, Rubinen und Saphiren wetteiferten. Sind sie doch neben den Paradiesvögeln und Fasanen diejenigen Vögel, die die Natur am verschwenderischsten mit glanzvoller Schönheit ausstattete. Freilich beschränkte sie ihr buntes Geschenk auf das männliche Geschlecht, denn während das Weibchen in seinem ziemlich gleichmäßig grünen und nur matt glänzenden Kleide lediglich eine Schutzfärbung zeigt, prunkt das Männchen in gleißendem Gold und funkelndem Rubin oder einem Blau wie Lazurstein oder einem Violett wie Heliotrop oder auch im tiefsten Sammetschwarz oder im reinsten Schneeweiß. Und wo das Grün blieb, da wurde es wunderbar leuchtend und prachtvoll strahlend wie Smaragden vom reinsten Wasser. Kaum läßt sich etwas Schöneres denken als der metallische Glanz, als die wundersame Abstufung von Farbentönen und die verschiedene Mischung von Grün und Gold und Purpur, wie sie die Natur beim männlichen Kolibri erzeugt hat. Alle Bronzen, von der leuchtend rotgelben bis zur edlen Patina, hat das Gefieder aufzuweisen, aber in glitzernder und strahlender Verklärung. Die Farbenkontraste bei einem und demselben Kolibri sind oft außerordentlich und haben die Wirkung prächtiger Geschmeide, die zwar blenden, aber nicht protzen, sondern vollkommen zum Gewande passen. Zu dem farbenschönen Gewande kommt noch mannigfaltiger Federzierat. Viele Kolibris tragen einen Kopfputz, der an den der Indianer erinnert, oder einen Helm, der wie eine preußische Pickelhaube aussieht, oder einen leuchtenden Brustlatz, oder einen Fächer besonders glänzender und bunter Federn an jeder Seite der Brust oder schneeweiße Muffs um die Füße. Andere haben den Schwanz enorm verlängert zu einer funkelnden Schere mit prachtvoll schillernden Federn, oder die äußeren Schwanzfedern bestehen nur aus Stielen, die dann aber in einer um so breiteren und prachtvolleren Fahne endigen. All dieser Putz und Schmuck gelangt erst zu voller Geltung, wenn er entfaltet wird. Das geschieht beim Besuche der Blüten, oder wenn das Männchen mit dem Weibchen kokettiert. Dann sträubt sich der Kopfschmuck mit züngelnder Spitze kerzengerade empor oder breitet sich wie ein Fächer auseinander; ebenso spreizt sich der Schwanz, die Füße werden angezogen, aber die weißen oder farbigen Muffs erscheinen dann wie aufgebläht. Auch bisher verborgene Schönheiten kommen dabei zum Vorschein: so prächtige Farben an der Schwanzwurzel oder auf der Unterseite der Flügel. – Die beiden konnten sich gar nicht satt sehen an diesen Vogelschönheiten, und ihr Entzücken steigerte sich noch, als sie mehrere Nester fanden, zierlich aus Pflanzenwolle gewebt, nicht viel größer als ein Fingerhut, und mit zwei winzigen weißen Eierchen belegt. Wo ein Strauch in Blüte stand, da brauchte man nicht lange auf das Erscheinen der Kolibris zu warten. Mit einem Husch waren sie da, blitzschnell und unvermutet, standen dann rüttelnd in der Luft vor einer Blüte, wobei die kleinen Flügel so hastig bewegt wurden, daß man die einzelnen Flügelschläge nicht mehr zu unterscheiden vermochte, sondern nur noch ein undeutliches, insektenartiges Flimmern und Schwirren sah. Dann steckten die Vögel ihren Schnabel tief in die duftenden Blumenkelche, wiederholten das mehrmals und waren dann mit einem Husch wieder verschwunden. Helmut glaubte zuerst, daß die Vögelchen Honig aus den Blüten saugten, aber sein Begleiter klärte ihn dahin auf, daß dies höchstens nebenbei geschehe, und daß es die Kolibris hauptsächlich auf die kleinen Käferchen und sonstigen Insekten abgesehen hätten, die im Innern der Blüten bei Nektar und Ambrosia schwelgten. Er machte ihn darauf aufmerksam, daß bestimmte Blüten auch immer von ganz bestimmten Kolibriarten aufgesucht würden, deren Schnabel in auffälliger Weise mit der Form und Größe der betreffenden Blüten in Übereinstimmung gebracht sei. Das Tollste in dieser Beziehung sei eine in den Anden lebende Kolibriart, der sogenannte Schwertschnabel, dessen dünner Schnabel volle zehn Zentimeter lang sei, also viel länger als der ganze Körper des Vögelchens; mit ihm könne dieses dann aber auch die größten lilienartigen Blüten durchstöbern. Dagegen sahen die beiden Freunde oft, daß weniger langschnäblige Kolibris bei ihrer Nahrungssuche bis zum Flügelansatz in den Blumengehäusen verschwanden.

Ebenso schön und eigenartig wie beim Anbruch des Morgens war der Urwald auch beim Hereinbrechen der Nacht. Nur der schlanke Waldhirsch, das schlaue Pekari, eine Wildschweinsart, der hochläufige, furchtsame Aguti oder Goldhase und der plumpe, menschenscheue Tapir weideten dann an den ruhigsten Stellen. Die hinterlistigen Katzenarten schlichen auf Raub aus und durchspähten blutgierig den finsteren Wald, während die Brüllaffen mit ihren Massenkonzerten, das Faultier mit seinen klagenden Weherufen, die Frösche mit ihrem Getrommel, die Zikaden mit ihrem Schnarren und die Heuschrecken mit ihrem traurigen, eintönigen Gegeige den Tag beschlossen und der tiefe Baß des Ochsenfrosches den Beginn der Nacht verkündete. Gespenstisch flatterten dann große, blutsaugende Fledermäuse durch das Dunkel der Tropennacht, und Myriaden großer Leuchtkäfer schwirrten gleich Irrlichtern umher. So stark war die Leuchtkraft dieser Käfer, daß die beiden Freunde eingefangene und in einen ausgehöhlten Kürbis gesetzte Stücke geradezu als Laternen benutzen konnten, wenn sie sich beim Heimwege verspätet hatten. Ganz bequem konnte man beim Lichte eines solchen Leuchtkäfers lesen.

Natürlich durfte Helmut nicht bloß ans Beobachten und Sammeln denken, sondern ihm fiel, da die Brüder durch die landwirtschaftlichen Arbeiten in Anspruch genommen waren, vor allem auch die Aufgabe zu, den großen Haushalt mit dem nötigen Wildbret zu versorgen. In dieser Beziehung waren die schon genannten Pekaris neben den Agutis die zuverlässigsten Fleischlieferanten. Sie waren eigentlich nicht sonderlich schwer zu schießen, aber die Jagd auf sie insofern nicht ungefährlich, als diese großen und mutigen Tiere immer in starken Rudeln rücksichtslos einherstürmen und sich gegenseitig tapfer beistehen. Beinahe wäre es so dem Doktor Mangold einmal schlecht gegangen, als er unklugerweise auf die vorderen Tiere der Herde geschossen hatte und dann fast von der nachfolgenden Schar über den Haufen gerannt und zertrampelt worden wäre. Nur das schleunige Erklettern des nächsten Baumes rettete ihn im Verein mit einem wahren Schnellfeuer aus den Magazingewehren Helmuts und Rolfs, der damals gerade mit von der Partie war. Seitdem beherzigte auch der Doktor klüglich den Rat der erfahrenen Farmer, die vorderen Wildschweine immer ruhig vorbeizulassen und erst auf die letzten Nachzügler der Herde zu schießen.

So verlebte Helmut genußreiche Tage in Gesellschaft des Doktors, Tage voll innerer Befriedigung und mannigfacher Anregung. Hatte er bis dahin den Wald nur mit dem Auge und Ohr des Jägers durchstreift, so lernte er jetzt auch Geist, Verstand und Gemüt an den Wundern der Natur schärfen und schulen. So manches Lebewesen, das er bis dahin übersehen oder als zu unansehnlich kaum beachtet hatte, zog nun seine Aufmerksamkeit in höchstem Maße auf sich, und er suchte sich klar zu werden über die Rolle, die es in dem wundersamen, großen Haushalt der Natur spielte. Bald kam er dahinter, daß solche Beobachtungen auch für die praktische Landwirtschaft oft von hoher Bedeutung seien, und zu seiner Freude vermochte er dem Vater bereits manchen guten Rat für die erfolgreiche Bekämpfung der vielen Schädlinge zu geben, deren Zerstörungssucht beständig den Fleiß des Pflanzers zunichte zu machen drohte. Mehr und mehr kam ihm der Gedanke, sich nach seiner verpfuschten Marinelaufbahn ganz dem Studium der Naturwissenschaften zu widmen. Er war ja noch jung genug, um Versäumtes nachholen zu können, wenn er es an Fleiß und Ausdauer nicht fehlen ließ, und ein so jungfräuliches Land wie Brasilien würde ihm gewiß später ein überaus reiches und dankbares Arbeitsfeld bieten, zumal wenn er die erworbenen Kenntnisse, wie er es sich im stillen schon vornahm, in den Dienst praktischer Land- und Forstwirtschaft stellen würde, wo dann seine Tätigkeit den hart um ihre Existenz ringenden deutschen Ansiedlern in hohem Maße zugute kommen und ihm Dank und Anerkennung eintragen mußte. Er entwickelte diese Pläne in einer stillen Stunde auch seinen Eltern, die an und für sich nichts dagegen hatten. Nur meinte der Vater in seiner bedächtigen Weise, daß es vor allem notwendig sei, in den jetzigen stürmischen Zeiten zusammenzubleiben und zunächst einmal die endgültige Gestaltung der verworrenen politischen Verhältnisse abzuwarten.

Und in dieser Beziehung sah es trüb genug aus, soweit man aus den spärlich in die Einsamkeit der Försterschen Farm durchsickernden Nachrichten entnehmen konnte. Admiral Mello hatte zu Lande im Staate Parana zwar zunächst Erfolge erzielt, war dann aber von der Übermacht der Regierungstruppen nach Santa Katharina zurückgedrängt worden, und es stand zu befürchten, daß er seinen Rückzug auch nach Rio Grande do Sul werde fortsetzen müssen, so daß dann auch diese Provinz die Schrecken des entfesselten Bürgerkrieges zu spüren bekommen werde. Admiral Gama war im Hafen von Rio de Janeiro nach Ankunft der großen Panzerschiffe, die Peixoto bei den Vereinigten Staaten von Nord-Amerika gekauft hatte, noch enger eingeschlossen worden, und so war ihm schließlich nichts übrig geblieben, als mit seinen Getreuen Zuflucht am Bord der kleinen portugiesischen Kriegsschiffe zu suchen, die in der Bucht von Rio vor Anker lagen. Damit schienen alle Aussichten für einen Sieg der Revolution geschwunden, und Admiral Mello führte offenbar nur noch einen hoffnungslosen Verzweiflungskampf. Dazu waren die Bugres an vielen Stellen aus ihren Wäldern hervorgebrochen und beteiligten sich nach ihrer Weise an dem Kriege aller gegen alle. Der siegreiche Peixoto aber hatte in Rio de Janeiro ein wahres Schreckensregiment errichtet und verfolgte mit blutigem Haß alle Anhänger der Revolutionspartei, deren er habhaft werden konnte. Mit Entsetzen erzählte man sich von den Massenhinrichtungen, die fast alltäglich in der Hauptstadt stattfanden, und von den düsteren Gefängnissen, in denen ungezählte Opfer des Bürgerkrieges langsam verschmachteten.


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