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Gegenüber den von der Natur errichteten Verbreitungsschranken besitzen die Tiere nun aber eine ganze Reihe von Verbreitungsmöglichkeiten, freilich in sehr verschiedenem Grade. Auch das winzigste Insekt, auch das bescheidenste Mäuslein und das schüchternste Häschen will sein Plätzchen an der Sonne haben. Die Ansprüche an die Größe des Raumes sind natürlich sehr verschieden, je nach Größe, Alter, Bewegungslust, Nahrungsbedürfnis und Fortpflanzungsweise des betreffenden Tieres. Die Giraffe durcheilt in einem kurzen Galopp Strecken, die einer Wühlmaus als ungeheuerlich erscheinen müßten, und ein Storch durchmißt auf der Reise von Ostpreußen nach Südafrika zweimal jährlich Weiten, die auch die flinkste Antilope oder der feurigste Wildesel nicht zu bewältigen vermöchten. Jedes Tier braucht nicht nur Ernährungs-, sondern auch Fortpflanzungsraum, und beide sind oft durch ungeheure Zwischenräume getrennt, wobei wir nur an die Laichwanderungen der Heringe und Lachse zu denken brauchen.
Am günstigsten hinsichtlich der Bewegungsfähigkeit sind natürlich die Vögel daran. Ihr rascher Schwingenschlag trägt sie über breite Meeresarme und durstende Wüsten, über ragende Gebirgskämme und endlose Steppen. Ein nordamerikanischer Bussard wandert von Kanada über Mittel- nach Südamerika und kommt erst in Patagonien zur Ruhe, überwindet also alljährlich zweimal 90 Breitengrade, den vierten Teil des Meridianumfangs der Erde. Über auch unter den Fledermäusen und Schmetterlingen gibt es ganz tüchtige Wanderer, wenn auch ihr Zug über weite und unwirtliche Strecken hinweg in der Regel unfreiwillig sein wird, da sie bei ihrem ziellosen Herumschwirren von einer herrschenden Windströmung gepackt und weit fortgetragen werden. Auch bei den Vögeln darf man die Bewegungsfähigkeit nicht mit dem Bewegungsbedürfnis verwechseln. Die Standvögel und auch die Zugvögel während der Brutzeit machen von ihrem großartigen Flugvermögen doch nur so weit Gebrauch, als es die Beschaffung von Nahrung für sich selbst und für die Jungen unbedingt erfordert. Das Taucherpärchen verläßt den zum Brutgeschäft auserkorenen Teich den ganzen Sommer über nicht mehr, falls es nur unbehelligt bleibt; der Rohrsänger bindet sich ebenso streng an ein oft gar nicht besonders umfangreiches Rohrdickicht, der Zaunkönig kann sich tagelang in ein- und derselben Dornenhecke herumtreiben, Eisvogel und Wasseramsel halten sich immer an das gleiche Stück des Bachlaufes, und nur das Raubzeug und die großen Aasfresser müssen täglich weitere Strecken zurücklegen, um die benötigte Nahrungsmenge aufzubringen. Als tiergeographische Heimat des Zugvogels hat man unbedingt seinen Brutort zu betrachten, nicht etwa das Winterquartier und die unterwegs durchreisten Länder in sein eigentliches Verbreitungsgebiet einzubeziehen. Ich möchte hier auf die vielen Rätsel des Vogelzuges nicht weiter eingehen, aber wenigstens eine Frage muß hier doch gerade vom tiergeographischen Standpunkte aus kurz gestreift werden. Neuerdings ist nämlich die Ansicht aufgetaucht, die bedauerliche Abnahme unserer Singvögel sei hauptsächlich darauf zurückzuführen, daß sie mehr und mehr in den behaglichen Winterquartieren zurückbleiben, um dort auch zu brüten. Besonders und mit großer Bestimmtheit hat man dies von unseren Schwalben behauptet, die sich angeblich zahlreich in Nordafrika ansiedeln sollen. Es ist trotzdem falsch. Die Ernährungsverhältnisse dort sind nämlich während der Brutzeit keineswegs so günstig, wie der Fernerstehende vermutet, sondern zweifellos viel schlechter als bei uns. Dort versengt in den glutheißen Sommermonaten eine erbarmungslose Sonne den größten Teil der üppigen Pflanzenpracht und scheucht die Kerbtierwelt in ihre Schlupfwinkel zurück, hier aber gibt es um die gleiche Jahreszeit die saftigsten Kräuter und demzufolge auch die fettesten Schnecken, die feistesten Raupen und Larven, die ja hauptsächlich zur Ernährung der Vogelbruten herhalten müssen. Viel wichtiger sind aber noch unsere langen Sommertage, die es den fleißigen Vogeleltern ermöglichen, von 3 Uhr früh bis 9 Uhr abends ihren Jungen Futter zuzutragen, während ihnen in Afrika für diesen Zweck volle sechs Stunden weniger zur Verfügung stehen würden. Das bedingt einen großen Unterschied für den Umfang der Fortpflanzung, da die Vögel bei uns eine viel stärkere Familie aufziehen können. Die meisten Arten machen in Mitteleuropa zwei Bruten mit jedesmal 5–6, ja 8–12 Eiern, während in Afrika das Gelege derselben oder der nächstverwandten Arten in der Regel nur aus 2–3 Eiern besteht. So fand ich in den marokkanischen Amselnestern immer nur 3–4 Eier, in den unsrigen gewöhnlich 5–6. Man hat die Wanderungen der Vögel auch insofern noch für die Tiergeographie nutzbar machen zu können geglaubt, als man im Anschluß an den finnischen Vogelforscher Palmén die Behauptung aufstellte, die heutigen Vogelzugsstraßen entsprächen den alten Verbreitungs- und Ausdehnungslinien, führten also gewissermaßen wieder ins Entstehungsgebiet der betreffenden Art zurück. Diese geistvolle Annahme hat gewiß viel Verführerisches an sich und mag auch in zahlreichen Fällen zutreffen, aber verallgemeinern läßt sie sich nicht, denn wir stoßen doch auch beständig auf Tatsachen, die dieser Meinung widersprechen. Man hat ferner behauptet, daß das tiergeographisch natürlich sehr wichtige Entstehungszentrum einer Gattung dort zu suchen sei, wo sie die meisten Arten herausgebildet habe. Diese Voraussetzung ist aber sicher in vielen Fällen falsch, denn wenigstens bei meinen vogelkundlichen Untersuchungen konnte ich wiederholt feststellen, daß im Gegenteil die Gattung gerade in ihren Randgebieten und an ihren Verbreitungsgrenzen am meisten zur Bildung weiterer Arten neigt.
Die Wanderung, sei sie nun zielbewußter Art oder nicht, ist also das erste, beste und wichtigste Verbreitungsmittel der Tiere zur Überwindung der von der Natur ihrem Ausbreitungsdrang entgegengestellten Schranken. Die Vögel stehen ja in dieser Beziehung hoch obenan, aber auch manche andere Tiere leisten mehr, als man ihnen zutrauen möchte. Wanderheuschrecken und Wanderameisen führen ihren Namen mit vollem Recht, Distelfalter, Libellen und Marienkäferchen begeben sich oft in großen Heereszügen auf weite und gefährliche Reisen. Gewisse Fledermäuse suchen alljährlich ihre Winterquartiere in wärmeren Ländern. Stoll erzählt uns von einem nordamerikanischen Tagschmetterling (Megalura chiron), der in dichten Massen über Mittelamerika nach Südamerika flattert und so seinen ursprünglichen Verbreitungsbezirk schon sehr bedeutend erweitert hat. Wir wissen, daß an ihren Fäden schwebende Wolfspinnen, Heuschrecken, Libellen, Käfer und Schmetterlinge sich öfters auf Schiffen niederlassen, die schon viele Dutzende von Kilometern vom nächsten Land entfernt sind. Mag auch die große Mehrzahl solcher Wanderer zugrunde gehen, einige von ihnen erreichen doch einmal Neuland, und ein Bruchteil davon wird sich ab und zu für die Dauer seßhaft zu machen vermögen, falls die Örtlichkeitsverhältnisse nicht gar zu ungünstig sind. Das naturgemäße Bestreben ausdehnungsbedürftiger Tierarten wird es immer sein, von ihrem ältesten Sitze aus möglichst ringförmig nach allen Seiten sich auszudehnen. Diese Verbreitung geschieht so langsam und allmählich, daß der Mensch kaum etwas davon merkt. Der regelrechte Verlauf einer solchen Verbreitungsweise wird in den allermeisten Fällen auch nie lange anhalten, denn früher oder später stößt die betreffende Tierart auf unüberwindliche Schranken oder ungeeignete Örtlichkeiten. Vielfach liegen auch die Verhältnisse von Anfang an auf der einen Seite so ungünstig, daß die Vorschiebung der Verbreitungsgrenze überhaupt nur nach der anderen Seite hin erfolgen kann. Immerhin führt diese Verbreitungsart, die man nach Hesse und Dahl als eine Art »Kolonisieren« auffassen könnte, wohl am sichersten zu nachhaltigen Erfolgen. Sie vollzieht sich auch heute noch beständig vor unseren Augen. So ist der ursprünglich in den Mittelmeerländern heimische Girlitz, der nächste Vetter des allgeschätzten Kanarienvogels, schon vor vielen Jahrzehnten durch zwei Einfallpforten von Süden und Westen her in Süddeutschland eingedrungen und hat dann in den letzten Jahren einen kräftigen Vormarsch nach Norddeutschland unternommen, so daß ich ihn sogar schon aus der Umgebung von Königsberg erhielt. Es unterliegt keinem Zweifel, daß dieses anmutige Vögelchen nach wenigen Jahren in ganz Deutschland eine gleichmäßig häufige Erscheinung sein und dann weiter ins Baltikum, nach Dänemark und Skandinavien vorstoßen wird. Schon früher haben auf ganz ähnliche Weise die Haubenlerche, die mit Vorliebe den Fahrstraßen folgt, und der Hausrotschwanz, der heute noch in Ostpreußen eine Seltenheit ist, sich die deutschen Gaue erobert. Dagegen ist die Wacholderdrossel unter teilweiser Abänderung ihrer Lebensgewohnheiten umgekehrt von Norden aus bei uns eingewandert, und für Schlesien konnte ich 1893 ihr allmähliches Vordringen geradezu schrittweise nachweisen; gegenwärtig erobert sie West- und Süddeutschland, und 1923 konnte ich sie bereits als vereinzelten Brutvogel an der Solitude bei Stuttgart feststellen. Den stürmischen Siegeszug der Wanderratte nach glücklicher Überschreitung der Wolga haben wir bereits kennengelernt; vorangegangen war ihr schon der Hamster auf dem gleichen Wege, der sich aber nicht so großartig fremden Verhältnissen anzupassen vermochte und deshalb glücklicherweise in vielen Gegenden unsres Vaterlandes noch fehlt (Abb. 3). Gefolgt ist ihm das Ziesel, das schon im Wiener Prater haust, und ganz neuerdings das Perlziesel, das aber die großen russischen Stromschranken noch nicht sämtlich überwinden konnte und deshalb noch nicht ins Herz Europas gelangt ist. Dieser Drang nach dem Westen scheint überhaupt viele sibirische Tiere zu beherrschen. So liest man gegenwärtig, daß sibirische Rehe in 200–300 köpfigen Herden in Europa eindringen. Die mitteleuropäische Rasse des Rehs ist ein ausgesprochenes Waldtier, wie aus unserem Kärtchen (Abb. 4) ersichtlich. Man beachte dabei die Vermeidung des rauhen Nordens, des unwirtlichen Hochgebirges und der baumarmen Länder.
Auch die Zugswanderungen der Vögel vermögen recht wohl zur Erweiterung der Verbreitungsbezirke beizutragen, wenn sie auch eigentlich nicht zu diesem Zwecke unternommen werden. Von den nach Norden zurückflutenden Heerscharen unserer gefiederten Wintergäste werden immer etliche Stücke bei uns zurückbleiben, weil sie sich nicht kräftig genug zu der weiten Reise fühlen oder aus anderen Gründen den Anschluß verpaßt haben. Da kann es leicht geschehen, daß solche Tiere in unserem köstlichen Frühling bei Ruhe und reichlicher Ernährung sich wieder kräftigen, daß ein liebebedürftiges Pärchen sich zusammenfindet und zur Fortpflanzung schreitet. Auf diese Weise erklärt sich leicht das vereinzelte Brüten von Rauhfußbussard, Weindrossel, Bergfink, Leinzeisig u. a. auf deutschem Boden, und man hat gar nicht nötig, den viel mißbrauchten Begriff der »Reliktenfauna« heraufzubeschwören. Möglicherweise waren die früher im Riesengebirge brütenden Mornellregenpfeifer wirklich ein Überbleibsel aus der Eiszeit, aber ich habe 1925 einen noch nicht recht flugfähigen Jungvogel dieser Art lebend sogar aus der unmittelbaren Umgebung von Stuttgart erhalten. Zu dauernder Ansiedlung führen solche beim Durchzug hängen gebliebene Vögel und stets vereinzelte Fortpflanzungsversuche aber wohl nur in den seltensten Fällen. Eher kommen Vermischungen mit der bei uns heimischen Rasse vor und führen zu dauernder Niederlassung wenigstens der in Mischehe lebenden Individuen. Andere Tierarten suchen in stürmischen und unregelmäßigen, oft weitausholenden Vorstößen ihr Verbreitungsgebiet zu erweitern, Z. B. die südlichen Schwärmerarten, deren Puppen aber in der Regel unserem rauhen Winter erliegen, wenn die Schmetterlinge nicht zufällig in klimatisch ganz besonders bevorzugte Gegenden gelangten.
Abb. 4. Verbreitung des Rehes in Europa
Als solche müssen namentlich einige stark besonnte Kalkberge Süddeutschlands (z. B. der Kaiserstuhl) gelten, die sich zu wahren Brennpunkten südlichen Tierlebens herausgebildet haben. An solchen Punkten findet man so ausgesprochene Mittelmeerformen wie Zaunammer, Smaragdeidechse und Stabheuschrecke. Aus der Vogelwelt rechne ich den prachtvoll gefärbten Bienenfresser hierher, der immer wieder einmal in Deutschland auftaucht und nistet. Zu einer gewissen Berühmtheit gelangt sind die Masseneinwanderungen der sibirischen Tannenhäher und noch mehr die der mittelasiatischen Steppenhühner in den Jahren 1863 und 1888. Obgleich wenigstens bei dem zweiten großen Steppenhühnerzug rechtzeitig Schongesetze erlassen wurden, ist doch die Hoffnung auf dauernde Einbürgerung eines neuen Federwildes nicht in Erfüllung gegangen, weil nur ganz vereinzelte Paare in den Nordseedünen zu einmaliger Brut schritten.
Was für die höheren Tiere tiergeographisch die Wanderung bedeutet, das ist für die niederen die Verschleppung. Wer jemals einen der tropischen Riesenströme oder auch nur das Donaudelta befahren hat, der kennt die Erscheinung der im Wasser treibenden Baumstämme, die durch einen Sturmwind auf einer Insel oder am Steilufer entwurzelt wurden, plötzlich ins Wasser stürzten und nun mitsamt all ihrem Gezweig und Kleingetier stromabwärts schaukeln. Es ist klar, daß Kleingetier auf diese Weise leicht in wildfremde Gegenden verschleppt werden kann, was allerdings nur dann zu einer dauernden Einbürgerung zu führen vermag, wenn die Verhältnisse der neuen Heimat den Bedürfnissen des Tieres einigermaßen entsprechen. Da dies sehr häufig nicht der Fall sein wird, darf man die Bedeutung solcher natürlicher Verschleppungen keineswegs überschätzen, und namentlich bei Wirbeltieren werden sie wohl nur ausnahmsweise zur Wirkung kommen. Im Hamburger Hafen z. B. sind durch den Schiffsverkehr und namentlich durch den Farbholzhandel schon über 500 fremde Tierarten eingeschleppt worden, hauptsächlich natürlich Kerfe und Spinnen, aber auch 22 Schnecken, 2 Lurche, 4 Eidechsen, 7 Schlangen und 2 Säuger, darunter die Springmaus, die sich kurze Zeit hielt und angeblich Nachkommenschaft hatte, aber nach Jahresfrist wieder verschwunden war. Von allen diesen Tieren haben aber nur wenige Vertreter der beiden erstgenannten Klassen sich dauernd seßhaft machen können und auch diese nur in Gewächshäusern oder an ähnlichen, gut geschützten Orten.
In welcher Stufenfolge und mit welcher Schnelligkeit die Bevölkerung eines bis dahin tierfreien Gestades vor sich geht, dafür diene folgendes Beispiel: Am 26. August 1883 wurde die etwa 40 km von Java entfernte Insel Krakatau durch einen furchtbaren Vulkanausbruch teils in die Luft geblasen, teils im Meere versenkt, und der verbleibende Rest viele Meter hoch unter heißer Asche begraben. Kein Lebewesen entging dieser entsetzlichen Katastrophe. Aber schon drei Jahre später hatten auf der Rumpfinsel wieder 11 Farne und 15 Blütenpflanzen Fuß gefaßt, jedoch noch kein Tier. Aber nach 25 Jahren (1908) konnten die die Insel besuchenden Naturforscher bereits feststellen: 240 Arten Kerbtiere, 4 Schnecken, 2 Kriechtiere und 16 Vögel. Die letzte Untersuchung im Jahre 1920 ergab schon 573 Tierarten, darunter 26 Vögel, 2 Fledermäuse und ein nichtfliegendes Säugetier (Ratte). Man sieht also, wie verblüffend rasch die glückliche Tropennatur auch die furchtbarsten Schäden zu heilen vermag, man sieht weiter, daß Tiere sich nicht ansässig machen können, ehe nicht Pflanzen vorhanden sind, und endlich, daß bei der Neukolonisierung Kerfe und Schnecken den Reigen eröffnen, Vögel, fliegende Säugetiere und Kriechtiere folgen und die nicht fliegenden Säuger den Beschluß machen. Sie können aber nur mit solchen Arten eindringen, die sich im Gefolge des Menschen befinden und infolgedessen meist schon eine weltweite Verbreitung erlangt haben.
Heftige Wirbelwinde, wie sie namentlich in den Tropen nicht selten sind, vermögen auch allerlei Getier sowohl von der Wasserfläche als vom Erd- und namentlich vom nackten Sandboden aus mit sich in die Höhe zu reißen, eine Strecke weit mit sich fortzutragen und dann wieder zur Erde fallen zu lassen. Das abergläubische Volk spricht dann von Tierregen. Und was hat es nicht schon alles geregnet: Frösche und Kröten, Larven und Raupen, Käfer und Muscheln! Mag es sich dabei namentlich in früherer Zeit auch oft nur um unverbürgte und sagenhaft ausgeschmückte Gerüchte handeln, so sind doch auch aus neuerer und neuester Zeit selbst in Europa gut beglaubigte Fälle dieser Art vorgekommen. Dieser stürmische Lufttransport, der die unfreiwilligen Reisenden allzusehr mitnimmt, wird nie eine praktisch sonderlich wirksame Rolle spielen, aber immerhin ist es gut denkbar, daß etwa Kerfe und ihre Larven mitsamt den zugehörigen Blätterzweigen auf diese Weise befördert werden und so ihr Verbreitungsbezirk eine plötzliche und unerwartete Ausdehnung erfährt. Neben der ringförmigen und kolonisierenden, neben der durch allmähliche Wanderung oder rasche Vorstöße bewirkten Ausbreitung ist überhaupt noch eine andere Art zu unterscheiden, die man als die explosive bezeichnen könnte. Da lebt ein Tier jahrhundertelang schlecht und recht auf einem verhältnismäßig eng und scharf umgrenzten Raum, um dann plötzlich weit entfernt davon in überraschender Menge aufzutreten und sich mit fabelhafter Geschwindigkeit über weite Gebiete auszubreiten. Leider gehören gerade einige der allerschlimmsten Schädlinge hierher, und ich brauche nur an die Reblaus zu erinnern, die von Amerika herüberkam, einen großen Teil des europäischen Weinbaus vernichtete und auch heute noch durch scharfe Überwachungsmaßregeln im Zaume gehalten werden muß, oder an den gefährlichen Kartoffelkäfer, der schon wiederholt unsere wichtigste Erdfrucht bedrohte und seit dem Weltkriege wieder in beängstigender Menge in Frankreich aufgetreten ist.
Die erste Verschleppung erfolgt in solchen Fällen natürlich immer mittelbar oder unmittelbar durch den Menschen. Der »Herr der Schöpfung« spielt ja überhaupt eine wichtige tiergeographische Rolle, leider oft genug eine recht unerquickliche. Was er bei seiner Eroberung des Erdballs an Kleingetier unfreiwillig mit sich schleppt, bedeutet in der Regel keine sehr angenehme Bereicherung der angesessenen Tierwelt, die obendrein durch solche Eindringlinge oft in sehr bedenklicher Weise verringert und zurückgedrängt, ja fast vernichtet wird. Namentlich Ratten und Mäuse, aber auch Haustiere wie Schweine und Ziegen sind in dieser Beziehung berüchtigt geworden und haben auf entlegenen Inseln eine vollständige Umwälzung des Faunencharakters herbeigeführt. Wohin immer der Mensch seinen Fuß gesetzt hat, überall ist ihm die unheimlich fruchtbare und fabelhaft anpassungsfähige Wanderratte nachgefolgt, ja sie hat sich sogar in Einöden angesiedelt, die der Mensch nur vorübergehend zu betreten vermochte, so auf den antarktischen Inseln St. Paul und Neu-Amsterdam, wohin sie wohl mit australischen Walfischfängern gekommen sein mag. Auch die sonstige Tierwelt dieser unwirtlichen und weltfernen Eilande ist ja höchst dürftig und besteht nur aus eingeschleppten Arten. So kommen nur vier Insektenarten dort vor, darunter drei Fliegen. Aber eine Ratte findet eben überall und immer noch etwas zum Fressen. Die Stubenfliege, die ursprünglich in Amerika fehlte, wurde durch den Schiffsverkehr bald dorthin gebracht und ist heute in der Neuen Welt ebenso zahlreich und weitverbreitet, wie bei uns. Die Küchenschabe zeigte von Anfang an eine Vorliebe für das Leben auf Schiffen und ist deshalb mit deren Hilfe längst zum Allerweltsbürger geworden. Europäische und nordamerikanische Regenwürmer wurden über den ganzen Erdball verschleppt und haben in vielen Ländern die einheimischen Arten in den Hintergrund gedrängt. Der Menschenfloh bevölkert die Kirchen und Paläste Mexikos ebenso zahlreich wie die Heustadel und Sennhütten unserer Alpen. Doch machen sich bei seiner Verbreitung einige Eigentümlichkeiten geltend, die noch der Aufklärung harren. So ist er nach Stoll in den mittelamerikanischen Hochländern so massenhaft vorhanden, wie vielleicht nirgends sonst auf Erden, plagt und sticht alle Volksschichten, hoch und niedrig mit der größten Gleichmäßigkeit und Unparteilichkeit, aber in dem nur wenige Stunden entfernten heißen Tiefland fehlt er gänzlich. Der scheußliche Sandfloh ist durch den Schiffsverkehr von Südamerika nach dem tropischen Afrika verschleppt und dort auf weite Strecken hin zu einer furchtbaren Landplage geworden. Die Schamlaus hat längst die Reise um die Welt gemacht, und die Bettwanze schließt sich ihr würdig an.
Ausgedehnte Industriegegenden können geradezu als Verbreitungsschranken gelten, die von den meisten Tieren nicht durchbrochen, sondern in mehr oder minder weitem Bogen umgangen werden. Wo der Schornsteinwald gen Himmel qualmt und die Luft mit Giftgasen schwängert, wo Sirenen und Hupen gellen und der Kraftwagen seine stinkende Bahn zieht, wo die Flüsse zu schnurgeraden Kanälen verwandelt und die Bäche durch die Abwässer der Fabriken verdreckt wurden, wo die dürftigen Kiefernwäldchen nur noch unterholzlose Streichholzkulturen sind und der Schnee schon schwarz vom Himmel fällt, da schluchzt keine Nachtigall, jauchzt kein Falke, orgelt kein Hirsch, läßt kaum noch ein verschüchtertes Häslein sich blicken, hat in der Vogelwelt der Proletarier Spatz die unbestrittene Herrschaft. Der die ganze Gegend einhüllende Qualm und Kohlenruß verleiht im Verein mit den in der Luft aufgelösten Chemikalien dem Gefieder der Vögel, dem Haarkleid der Säugetiere, dem zarten Schuppenflügel des Schmetterlings ein düsteres Aussehen, ein Trauerschwarz. Die Vögel in den englischen, belgischen und deutschen Industriezentren sehen aus wie Melanismen und könnten als besondere Rassen gewertet werden, wenn sich nicht die dunkle Färbung mit Spiritus wieder auswaschen ließe. Aber der Birkenspanner ist tatsächlich schon so weit, daß er eine melanistische Spielart dort ausgebildet hat, und auf den Ölfeldern bei Baku schoß ich schwärzliche Spatzen, deren dunkle Färbung allen Abwaschversuchen standhielt.
Wie durch Menschen, so können Verschleppungen kleiner Tiere auch durch größere und höhere Tiere erfolgen, namentlich durch Vögel. Die viel im Sumpf herumwatenden Stelzvögel sowie die Enten und Möwen unserer Gewässer stehen hier wohl in erster Reihe. Wenn sich ein solcher Vogel auf seiner Wanderung an irgendeinem Teich durch eine ausgiebige Mahlzeit zur Weiterreise stärkt, kann es sehr leicht vorkommen, daß klebriger Fisch- und Schneckenlaich, ein flacher Plattwurm oder ein fadendünner Wasserschlängler an seinen Ständern oder Schwimmhäuten haften bleibt und nun in vielstündigem Fluge mehrere hundert Kilometer weit bis zur nächsten Raststelle mit fortgetragen wird. Hier begibt sich der Vogel zur Nahrungssuche wieder ins Wasser, dabei löst sich das angeklebte Kroppzeug ab und wird seinem Element zurückgegeben, soweit es die abenteuerliche Luftreise überhaupt zu überstehen vermochte. Ich glaube, daß die weitgehende Gleichförmigkeit in der Fauna der stehenden Süßwässer nicht zuletzt auf diesen Grund zurückzuführen ist. Öfter fand ich im Kropf und Magen geschossener Vögel Beutetiere, deren nächstes Vorkommen erst aus beträchtlicher Entfernung bekannt war. Ein glaubwürdiger Jäger versicherte mir, daß das Gefieder einer gleich nach dem Schuß aufgehobenen Stockente von Aalbrut, sogenannten Glasaalen, wimmelte, obgleich es in dem betreffenden Gewässer sonst keine gab. Die Ente sei eben aus einem entfernten Gewässer angestrichen gekommen. Es ist sehr bedauerlich, daß sich noch kein Naturforscher der ebenso wichtigen wie tiergeographisch hochinteressanten Frage der Verschleppung von Wassertieren durch Vögel näher angenommen hat. Ihre eingehende und planmäßige Aufhellung würde zweifellos eine Menge überraschender Tatsachen ans Tageslicht bringen.