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Die Tiergeographie

Jedes Tier füllt einen bestimmten Lebenskreis aus, übt eine ihm zukommende Verrichtung, aber Heimat und Tätigkeit stehen ausnahmslos im genauen Einklang mit seiner Gestaltung, die ihm sozusagen Wohnort und Beruf zuweist. Edelmarder und Fischotter sind zweifellos nach demselben Plane gebaut, aber prachtvoll ist der eine dem Leben in den Baumwipfeln, der andere dem im Wasser angepaßt. Jedes Tier klebt ja an der ihm zugewiesenen Scholle, sei es auch so beweglich wie die Schwalbe, so flüchtig wie die Gazelle. Die Verbreitung der Tiere sowie ihr Vorkommen an gewissen Örtlichkeiten darf deshalb keineswegs als zufällig angesehen werden, sondern beides regelt sich nach ganz bestimmten, bisher erst zum kleinsten Teil näher erforschten Gesetzen. Man bezeichnet dieses Wissensgebiet als Tiergeographie. Dem Laien wird diese Wissenschaft zunächst als eine recht einfache Sache erscheinen, mit der eingehender sich zu beschäftigen eigentlich kaum der Mühe lohnt. Nun, wird er sagen, daß in Afrika Löwen brüllen und Zebras weiden, daß im indischen Dschungel der tückische Tiger raubt und im kalten Sibirien der schönpelzige Zobel, daß in Australien Känguruhs hüpfen und Schnabeltiere Eier legen, daß im südamerikanischen Urwalde Brüllaffen heulen und Kolibris herumschwirren, daß es nur am Nordpol Walrosse und Eisbären gibt –, das weiß doch jeder halbwegs gebildete Mensch; das sind längst festgestellte Tatsachen. Derselbe Laie würde aber wahrscheinlich schon ziemlich erstaunt sein, wenn wir ihm verraten, daß der Tiger auch im rauhesten Teile Sibiriens recht vergnüglich lebt, daß Affen im Himalaja sich im Schnee wälzen, daß Kolibris auch auf den höchsten Kämmen der Anden als unmittelbare Nachbarn des Kondors anzutreffen sind, daß argentinische Papageien sich lustig bei Schneegestöber tummeln. Hoch oben im Stromgebiete des Amazonas kommt im Mamoré ein Stachelrochen vor, ein Fisch, den sich der Laie nur als Meeresbewohner vorstellen kann. Daß der Haifisch im Ganges und Tigris weit landeinwärts geht, dürfte manchem bekannt sein, daß er aber auch – und zwar ein Menschenhai – nach Scholber im Nikaraguasee vorkommt, also in einem heute vom Meere aus für einen Fisch unzugänglichen Süßwassersee, werden wohl nur die allerwenigsten unserer Leser wissen. Und ob sich wohl viele darüber klar sind, daß und warum Tier- und Pflanzenwelt im Kaspi- und Aralsee teilweise Meeresgepräge haben, noch mehr im Tanganjikasee? Quallen im Tanganjikasee! Robben nicht nur im Kaspi- und Aral-, sondern auch im Onega- und Ladogasee! Robben selbst im warmen Mittelmeer an der dalmatinischen Küste! Krokodile im Zerka, einem Nebenflusse des Jordan! Um auch noch einige bekanntere, aber deshalb nicht minder auffallende Beispiele anzuführen: Affen in Europa – bei Gibraltar, Tiger in Europa – bei Lankoran, die nordafrikanische Ginsterkatze in den Vogesen! Diese kurzen Andeutungen genügen wohl schon, um zu zeigen, wieviele und nicht immer leichte Rätsel auf diesem Gebiete zu lösen sind.

Die Tiergeographie soll uns also über die heutige Verbreitung der Tiere belehren; sie soll nach Möglichkeit auch eine stichhaltige Begründung und Erklärung dafür geben. Wenn nun auch diese Wissenschaft viel jünger ist als die Pflanzengeographie und überdies viel schwieriger, da die Tiere nicht wie die Pflanzen am Boden haften, sondern sich selbständig fortbewegen, so hat sie doch in überraschend kurzer Zeit gewaltige Fortschritte erzielt, weil sie es verstand, sich rasch von ursprünglicher Einseitigkeit frei zu machen. Anfangs betrieb man diesen Wissenszweig nur von faunistischer Grundlage aus, d. h., man stellte die Tierwelt bestimmter Gebiete zunächst für sich zusammen, dann vergleichend anderen gegenüber, suchte daraus Schlüsse zu ziehen und kam so zur Abgrenzung bestimmter Regionen und Subregionen. Das war das Zeitalter der Tierkunde, in dem überall kühne Forschungsreisende hinauszogen in die weite Welt, um möglichst umfangreiche Sammlungen mit recht viel Seltenheiten und neu entdeckten Arten zusammenzubringen und in die Heimat zu schicken. Hier saßen die Museumsgelehrten, trugen alles fein säuberlich ein und errichteten auf Grund der Tausende von Bälgen, Fellen, Schädeln und Spiritusstücken ein tiergeographisches Lehrgebäude, das nur den einen Fehler hatte, daß ihm die Fenster fehlten zum Ausblick in die freie Natur. Über dem toten Tier vergaß man das Leben, später auch über der Vergangenheit die Gegenwart. Hätte man von Anfang an ebenso fleißig beobachtet wie gesammelt, hätte man die Lebensweise und die Wohnorte der Tiere ebenso genau ergründet wie ihre Verbreitung – der Wissenschaft wäre mancher Trugschluß erspart geblieben. Schon sehr bald kam man aber dahinter, daß bei den gegenwärtigen Faunen höchst auffallende und merkwürdige Erscheinungen zutage treten, die sich durch tiergeographische Betrachtungen allein nicht erklären ließen. Man wollte Auskunft haben auch über das »Woher« und »Warum«, und da blieb nichts übrig, als noch eine andere Wissenschaft zu Hilfe zu rufen, nämlich die Versteinerungskunde. So kam man auf die geologische Tiergeographie. Das war ein gewaltiger Fortschritt und eine ungeheure Gefahr zugleich. Warum gibt es nur in Australien Beuteltiere in verblüffender Entfaltung und sonst solche nur noch vereinzelt in Südamerika? Warum hat dieses so wenig Huftiere und Madagaskar keine einzige Antilopenart, obgleich das nahe Südafrika so überreich an solchen ist? Warum gibt es die großen Menschenaffen nur in Westafrika und dann erst wieder in weltweiter Ferne in Insulinde? Warum leben auf der weiten Inselflur Polynesiens zwar Warane, Skinke und Geckos, aber nicht eine einzige Schlangenart? Das alles waren Fragen, die zunächst jeder Lösung zu spotten schienen. Aber wie Schuppen fiel es den Forschern von den Augen, als man mit Hilfe der Erdschichtenkunde den Ursprung und die frühere Verbreitung der verschiedenen Tiergruppen näher studieren konnte. Da fand man z. B. bald, daß die Beuteltiere einen uralten Säugetierstamm darstellen, der in früheren Zeitaltern bedeutend weiter verbreitet war, sogar in Europa, der aber dem Mitbewerb der sich entwickelnden höheren Tierformen nicht standhalten konnte, sondern von ihnen verdrängt wurde und nur in Australien die Herrschaft behielt, weil dieses zur Insel wurde, ehe die höheren Säuger von der Alten Welt aus dort einwandern konnten. Da es im fünften Erdteil überdies an natürlichen Feinden fehlte, hatten die Beutler dort auch keine Veranlassung, sich höher zu entwickeln. Sie blieben auf ihrem primitiven Standpunkt stehen, verzweigten sich aber in eine große Reihe parallel verlaufender Gattungen, die die verschiedenen Wohnungsgelegenheiten des Landes bevölkerten und sich ihnen in Körperbeschaffenheit, Nahrung und Lebensweise weitgehend anpaßten, damit die Familien der anderen Säugetiere fast restlos vertretend. Eine ganze Menge ähnlicher Fragen ließ sich auf entsprechende Weise beantworten, wenn man nur die in den einzelnen Erdschichten hinterlassenen Reste ausgestorbener Tiergeschlechter zu deuten wußte und sich immer vor Augen hielt, welch gewaltige Veränderungen die Erdoberfläche seitdem durchgemacht hat. Ganze Erdteile sind ja bis auf geringe Inselreste im Meere versunken, andere zerrissen worden oder durch neu auftauchende Landbrücken verbunden, neue Gebirgsschranken erhoben sich, und andere wurden abgetragen, Steppen wurden zu Wüsten, und Waldgebiete zu Steppen, kurz, wir können uns die ganze Erdrinde in beständiger Bewegung vorstellen, wenn unsere Einbildungskraft stark genug ist, Jahrmillionen auf Sekunden zusammenzudrängen. Selbstverständlich mußten solche Vorkommnisse vom stärksten Einfluß auf die Verbreitung und Verteilung der Tierwelt sein, aber die geschichtliche Tiergeographie, wie sie namentlich durch den genialen Wallace vertreten und zur fast ausschließlich maßgebenden Richtung erhoben wurde, beging den großen Fehler, nun alles auf diesem Wege erklären zu wollen. Es trat ein förmlicher Wetteifer ein, durch immer gewagtere Voraussetzungen immer verblüffendere Ergebnisse erzielen zu wollen, und so geriet man immer mehr in Sackgassen und Irrgänge, während trotz alledem noch ein großer Rest von gegenwärtigen Tatsachen zurückblieb, die sich nicht erklären lassen wollen. Da die Kosmos-Leser mit der geschichtlichen Tiergeographie schon durch das Bölsche-Bändchen »Tierwanderungen in der Urwelt« (1914) vertraut sind, brauche ich auf diesen Wissenszweig und seine Errungenschaften nicht näher einzugehen. Ich werde mich deshalb im wesentlichen auf den jüngsten Zweig der Tiergeographie beschränken, nämlich auf das Verhältnis der Tiere zu ihrer Umwelt (ökologische Tiergeographie). Von dem griechischen oikos, Heim, Umwelt.

Es ist das Verdienst deutscher Forscher (Schmarda, Hesse, Dahl), diese vielversprechende Richtung gewiesen zu haben. Sie will die Tierwelt unter dem Einflusse ihrer belebten und unbelebten Umwelt betrachten, will sich mit den äußeren Anpassungen des Tieres an Klima, Nahrung, Boden, Lebensgemeinschaften, Artgenossen, Feinde usw. befassen, will letzten Endes die Erscheinungen aufzuhellen versuchen, die wir seit Darwins Auftreten als »Kampf ums Dasein« zu bezeichnen gewöhnt sind, obwohl der Tiergeograph eigentlich richtiger von einem »Kampf um den Raum« sprechen würde. Die besondere Beschaffenheit jeder einzelnen Tierform muß ja in innigster Wechselbeziehung zu der Verschiedenheit seiner jeweiligen Umwelt stehen, muß sich mit ihr in der Übereinstimmung befinden, die uns als »Schönheit« in der Natur erscheint. Diese Wechselwirkungen aufzuklären, ist wahrlich ein dankbares und lohnendes Forschungsgebiet. Welch wertvolle wissenschaftliche Feststellungen sich hier schon beim ersten Anlaufe erreichen lassen, zeigen die Arbeiten von Hesse, Dahl, Merriam, Bergmann und anderen. Aber selbst diese neuzeitlichen Forscher gehen wohl noch zu einseitig vor. Sie beschäftigen sich fast ausschließlich mit den äußeren Umweltsverhältnissen, die auf das Tier einwirken und dieses so zum willenlosen Spielball rein physikalischer Bedingungen machen, während in Wirklichkeit die Natur sich niemals mechanisieren läßt. Das Tier läßt sich nicht blindlings verschieben, sondern wehrt sich gegen ein ihm unliebes Versetztwerden, und zwar jedes nach seiner Art, die oft von der der nächsten Verwandten schon ganz verschieden ist. Deshalb verbietet sich auch jedes Verallgemeinern, wenn wir auch einige Grundgesetze aufstellen und ableiten können. Die Tiere lassen sich zwar durch von außen wirkende Kräfte und Lebensbedingungen in ihrer Verbreitung regeln, aber nur bis zu einem gewissen Grade, soweit es den ihnen innewohnenden Kräften und Eigentümlichkeiten genehm ist. Diese innere Kraft, die in ununterbrochenem Kampfe mit den äußeren Einflüssen liegt, sträubt sich gegen die Launenhaftigkeit müßig spielender Umweltsverhältnisse und läßt nicht blind mit sich spielen. Werden z. B. gewisse niedere Tiere auf einen neuen Wohnplatz übertragen, so mögen dessen Lebensverhältnisse nach menschlicher Kenntnis vielleicht sehr geeignet erscheinen, aber sie gefallen dem Tier trotzdem nicht, es spielt einfach nicht mehr mit, schaltet sich freiwillig aus, kapselt sich trotzig ein und verharrt in diesem Dauerzustände scheinbar leblos so lange, bis die Verhältnisse sich so weit geändert haben, daß sie ihm wirklich behagen, worauf es von neuem in das große Mosaikbild des bewegten Lebens eintritt. Ähnlich verfahren alle Schmarotzer, die im Kreislauf ihres vielgestaltigen Daseins auf verschiedene Wirte angewiesen sind. Man denke z. B. an die Trichine! Dies führt uns gleich darauf, daß die Tiere auf ihren verschiedenen Entwicklungsstufen den Einflüssen der Umwelt gegenüber sich oft ganz verschieden verhalten und daß auch dadurch ihrer Verbreitung mitunter sehr scharfe Grenzen gezogen sind. So kommen alljährlich südeuropäische Schwärmer-Arten, die ja vorzügliche Flieger sind, nach Mitteleuropa und gelegentlich selbst bis nach Rußland und führen hier den Sommer über ein ganz vergnügliches Dasein, aber die ihren Eiern entschlüpfenden Raupen vermögen sich in unserem Klima nicht zu halten, so daß von einer dauernden Einbürgerung nicht die Rede sein kann. Auch die Raupe des Totenkopfs liefert nur in klimatisch besonders bevorzugten Gegenden Deutschlands den großen Falter, scheint aber in fortschreitender Anpassung an unsere Verhältnisse begriffen zu sein. Bei einer Gattung der Schlangensterne (Amphiura) hat man festgestellt, daß bei Verminderung des Salzgehaltes im Meerwasser zwar die Tiere selbst ganz gut zu leben vermögen, dagegen ihre Samenfäden erstarren, also zur Fortpflanzung untauglich werden. Eine ähnliche Erfahrung mußte unbewußt der alte Blücher machen, der nicht nur ein tapferer Haudegen war, sondern auch gern einen Leckerbissen aß und deshalb die schmackhafte Auster in der Ostsee ansiedeln wollte; alle seine Versuche scheiterten, da die Schalentiere zwar leben blieben, sich jedoch nicht vermehrten. Im Oslo-Fjord erscheinen alljährlich im Mai und Juni unzählige Seepocken, erreichen hier ihre nördlichste Verbreitungsgrenze und werden bei ihrem massenhaften Auftreten geradezu zu Kenntieren, sterben aber ausnahmslos ab, wenn im November und Dezember die richtige Winterkälte einsetzt, so daß in jedem Frühjahr eine Neueinwanderung in Larvenform stattfinden muß. Man ersieht schon aus diesen wenigen Beispielen, wie sorgsam der Tiergeograph die Lebensschicksale der verschiedenen Tierarten bis in die feinsten Einzelheiten hinein verfolgen muß, wenn er nicht zu Trugschlüssen kommen soll.

Daraus erhellt schon, daß die Biologie eine unerläßliche Hilfswissenschaft für unsere Zwecke ist. Eine zweite ist die Systematik, wie sie sich ja neuerdings namentlich auf dem Gebiete, der Vogelkunde zu ungeahnter Höhe entwickelt und dabei überraschend neue Ausblicke eröffnet hat. Man ist von dem starren, gekünstelten Artbegriff Linnés abgekommen und hat sich für den natürlichen und flüssigen Begriff des »Formenkreises« entschieden. Jeder Formenkreis zerfällt in eine Anzahl von »Rassen«, die wenigstens dem geschärften Auge des Kundigen deutlich als solche erkennbar sind und sich gegenseitig geographisch vertreten, also fast nie im gleichen Gebiete vorkommen. In diesen Rassen (conspecies), die sich in den Grenzbezirken miteinander vermischen und fruchtbare Bastarde erzeugen können, während die in freier Natur sehr seltenen Mischlinge der Arten (species) in der Regel unfruchtbar sind, kommt der Einfluß der Umwelt in der schärfsten und feinsten Weise zum Ausdruck. Die dadurch bewirkten Sondereigenschaften erben sich von Geschlecht zu Geschlecht fort. Das allmähliche Bekanntwerden mit diesen Verhältnissen hat dann auch zur Einführung der dreifachen Namengebung (trinäre Nomenklatur) in die zoologische Wissenschaft geführt, weil man notgedrungen schließlich auch für die Rassen bestimmte Namen haben mußte. Wenn es also z. B. für den mitteleuropäischen Zaunkönig jetzt heißt Troglodytes parvulus europaeus, so bezeichnet der erste Name die Gattung, der zweite den Formenkreis oder die Art, der dritte die Rasse. Dies ist notwendig, weil es außer der mitteleuropäischen Zaunkönigsrasse noch eine ganze Reihe anderer gibt, so z. B. die Form zetlandicus von den sturmumbrausten Shetlandsinseln, islandicus aus Island, borealis von den Faröern, hirtensis von der Insel St. Kilda, cypriotes von Zypern, kabylorum vom Atlas, pallidus aus Transkaspien, hyrcanus aus Persien, tibetanus aus Tibet, idius aus China, peninsulae aus Korea, fumigatus und ogawae von den japanischen Inseln usw. Wir lernen aus diesem Beispiele gleich noch zweierlei, nämlich erstens, daß die nicht wandernden Standvögel, die ja das ganze Jahr hindurch unverändert den Einflüssen ihres Wohnortes ausgesetzt sind, viel mehr zu Abänderungen, also zur Rassenbildung neigen als die Zugvögel, und zweitens, daß Inseln die Rassenbildung stark begünstigen.


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