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Nordlandfahrt

Erik Svensen, der alte verwitterte norwegische Trapper, der Brehms unzertrennlicher Jagdgefährte in Lappland geworden war, kniete nieder, prüfte aufmerksam den Boden und sagte: »Hier hat heute ein Renntier geäst. Schau, diese Pflanzen sind frisch abgebissen, und hier liegt ein Stengel daneben, noch saftig und unverwelkt.« Nicht weit davon fand denn auch Brehm an einer feuchten Stelle die scharf und frisch abgedrückte Fährte des begehrten Wildes. Kein Zweifel also: wilde Renntiere, an deren genauer Beobachtung Brehm so viel lag, waren wirklich in der Nähe. Es kostete aber noch manchen vergeblichen Pirschgang und manchen Schweißtropfen, bis man zum Ziele gelangte. Es bedurfte oft meilenweiter Märsche auf völlig ungewohntem und überaus schwierigem Gelände. An Gefahr war dabei allerdings kaum zu denken, aber Beschwerden gab es genug. Die Halden bestanden nur aus wirr durcheinander und übereinander gewürfelten Schieferplatten, die entweder beim Darüberschreiten in rutschende Bewegung gerieten oder aber so scharfkantige Ecken, Spitzen und Kanten hervorstreckten, daß jeder Schritt durch die Stiefelsohlen hindurch schmerzlich fühlbar wurde. Die außerordentliche Glätte der Platten, über die das Wasser herabrieselt, vermehrte noch die Schwierigkeiten des Weges, und das beständige Durchwaten der glatt gescheuerten Rinnsale erforderte ängstliche Vorsicht, wenn man blutige Abschürfungen an Armen und Beinen sowie ein unfreiwilliges Bad im eiskalten Gebirgswasser vermeiden wollte. Man kam deshalb auf Pirschgängen nicht gerade rasch vorwärts. Die Renntiere selbst standen oben auf den kahlen Hochflächen, die nur noch mit Zwergbirken, Beerengestrüpp, Moosen und Flechten spärlich bekleidet waren.

Endlich erspähte Brehm von einem Hügel aus in einer Talmulde ein Rudel von 18 Renntieren. Er und Svensen entledigten sich rasch alles überflüssigen Gepäcks, prüften die Windrichtung und krochen dann Schritt für Schritt mit aller erdenklichen Vorsicht das scheue und scharfsinnige Wild an, bis sie hinter einigen großen Steinen Deckung fanden und Atem schöpfen kannten. Brehms Wunsch war erfüllt: Es war ein prachtvolles Schauspiel, das das Rudel ihm bot. Er brachte das Fernrohr gar nicht mehr vom Auge, um nur ja keine Bewegung der edlen Tiere sich entgehen zu lassen. Einige ästen, andere hatten sich niedergetan, wieder andere liefen spielerisch hin und her oder neckten sich mit ihren vielzackigen Geweihen, plötzlich aber kam Leben und Bewegung, Schrecken und Furcht über alle. Sie stoben davon und jagten trottend durch Sumpf und Moor, gerade auf die Jäger zu, blieben dann aber wieder sichernd stehen, noch immer außer Schußweite. Brehms scharfes Auge erspähte auch bald die Ursache der ärgerlichen Störung in einem dunklen Klumpen, den er zunächst für einen Bären hielt. Als das Tier sich aber bewegte, erkannte er sofort, daß er es mit einem ungewöhnlich großen Vielfraß zu tun habe, und nun überwog bei ihm natürlich der Forscher den Jäger, denn der sagenumwobene Vielfraß gehört ja zu denjenigen Tieren, deren ein Zoologe nur ganz selten einmal in freier Natur ansichtig wird. Brehm bemerkte, wie der Vielfraß mit sehr stark bogenförmigen Sätzen lief, einem Marder entfernt ähnlich, aber mit weit mehr gebogenem Rücken und viel größeren Wölbungen, beinahe lauter Purzelbäume schlagend. Dieser Gang, die stattliche Größe und die dicke, buschige Lunte machen den Vielfraß sofort kenntlich. Der Räuber schien aber Verdacht geschöpft zu haben, plötzlich verließ er seinen Ausguck, trabte, trottelte und kugelte dem Gebirge zu, fing unterwegs flugs noch einen Lemming, verspeiste ihn im Weiterlaufen, sah sich nach einmal mißgünstig nach dem menschlichen Störenfried und betrübt nach den Renntieren um und verschwand dann im Geklüft des Bergrückens.

Da das Gelände nirgends Deckung zum Anschleichen bot, blieb den Jägern nichts übrig, als sich an zwei halbwegs günstigen Stellen niederzulegen und ein Näherkommen des Wildes abzuwarten. Drei volle Stunden lang wurde ihre Geduld auf eine harte Probe gestellt, sie durften sich ja nicht rühren, alle Glieder wurden steif, und in dem quatschnassen Moos lag es sich auch nicht gerade behaglich. Endlich äste sich das Rudel ganz langsam näher heran. Schon hob Brehm zögernd die Büchse, da krachte drüben der Schuß des Norwegers. Das Rudel schreckte, zog ängstlich hin und her, sicherte und wurde schließlich flüchtig. Ein Stück lahmte, trennte sich von den anderen und nahm die Richtung auf Brehm zu. Der schoß und sah zu seiner unaussprechlichen Freude das edle Wild im Feuer zusammenstürzen.

*

Donnernd hallte ein Kanonenschuß über die bewegten Fluten des Eismeeres und brach sich an den jähen Felsenwänden des Nordkaps und des Vogelberges Svärtholm. Der norwegische Schiffskapitän hatte sein Geschütz abfeuern lassen, um Brehm das Schauspiel der aufgescheuchten Brutkolonie von Dreizehenmöwen zu ermöglichen. Wie wenn ein tosender Wintersturm durch die Luft zieht und schneeschwangere Wolken aneinander schlägt, bis sie, in Flocken zerteilt, sich herniedersenken: so schneite es jetzt von oben lebendige Vögel herunter. Man sah weder den Berg noch den Himmel, sondern nur ein Wirrsal ohnegleichen. Eine dichte Wolke erfüllte den ganzen Gesichtskreis, und erfüllt war Fabers Wort: »Sie verbergen die Sonne, wenn sie fliegen.« Heftig blies der Nordwind, und wütend brandete das Eismeer am Fuß der Klippen, aber lauter noch erklangen die kreischenden Schreie der Möwen, damit auch das Wort sich bewahrheitete: »Sie übertäuben das Tosen der Brandung, wenn sie schreien.« Die Wolke senkte sich endlich auf das Meer hernieder, die bisher von ihr umnebelten Umrisse von Svärtholm traten wieder hervor, und ein neues Schauspiel fesselte die Blicke. Auf den Felsbändern schienen noch ebensoviele Möwen zu sitzen wie vorher, und Tausende flogen noch ab und zu, auf dem Meere aber, soweit es sich überschauen ließ, lagen, leichten Schaumballen vergleichbar, die weißen Vögel und schaukelten mit den Wogen auf und nieder. »Wie soll ich diesen herrlichen Anblick beschreiben? Soll ich sagen, daß das Meer Millionen und aber Millionen lichte Perlen in sein dunkles Wellenkleid geflochten habe? Oder soll ich die Möwen mit Sternen und das Meer mit dem Himmelsgewölbe vergleichen? Ich weiß es nicht, aber ich weiß, daß ich auf dem Meere noch niemals Schöneres erschaut habe. Und als wäre es noch nicht genug des Zaubers, goß plötzlich die auf kurze Zeit verhüllt gewesene Mitternachtssonne ihr rosiges Licht über Vorgebirge und Meer und Vögel, beleuchtete alle Wellenkämme, als ob ein goldenes, weitmaschiges Netz über die See geworfen wäre, und ließ die ebenfalls rosig überstrahlten, blendenden Möwen nur um so leuchtender erscheinen. Da standen wir sprachlos im Schauen!«

Es gibt aber auch noch Vogelberge anderer, nicht minder großartiger Art im Norden, die auf ihren Rücken mit torfiger Erde bedeckt sind und die hauptsächlich von Alken, Lummen und Lunden bevölkert werden, zwischen die nur vereinzelt Kormorane und Möwen sich eindrängen. Brehm hat auf seiner durch die Unterstützung der »Gartenlaube« ermöglichten Nordlandreise auch die größte dieser Siedlungen besucht. Die Torfrinde des Berges war nach Art von Kaninchenhöhlen dicht von Bruthöhlen durchlöchert. Unter Brehms Tritten, der in Schraubenlinien zum Gipfel des Berges emporstieg, zitterte das unterwühlte Erdreich. Und hervor aus allen Höhlen lugten, krochen, rutschten, flogen mehr als taubengroße, oberseits schieferfarbene, auf Brust und Bauch glänzend weiße Vögel mit phantastischen Schnäbeln und Gesichtern, kurzen, schmalen, spitzigen Flügeln und stummelhaften Schwänzen. Aus allen Löchern erschienen sie, aus Ritzen und Spalten des Gesteins nicht minder, wohin man blickte, boten sich nur Vögel dem Auge, und ihre leise knarrenden Stimmen vereinigten sich zu einem sonderbaren Gedröhn. Jeder Schritt weiter entlockte neue Scharen dem Bauche der Erde, von dem Berge herab nach dem Meere begann es zu fliegen, von dem Meere nach dem Berge hinauf schwärmten bereits unzählbare Massen. Aus Hunderten waren Tausende, aus Tausenden Zehntausende geworden, und Hunderttausende entwuchsen fortwährend dem braungrünen Boden. Eine Vogelwolke umhüllte den Forscher, umhüllte den ganzen Berg, so daß dieser, zauberhaft wohl, aber den Sinnen noch begreiflich, zu einem riesenhaften Bienenstocke sich wandelte, um den nicht minder riesenhafte Bienen schwirrend und summend schwebten und gaukelten. Je weiter Brehm kam, um so großartiger gestaltete sich das Schauspiel. Der ganze Berg wurde lebendig. Hunderttausende von Vogelaugen lugten auf den Eindringling herab.

siehe Bildunterschrift

Der Vogelberg in Vesteraalen (Norwegen).
Nach einer Zeichnung aus dem Jahre 1861 Von links nach rechts: Teisten, Scharbe, Lummen, Lunde, Möwe, Alk

»Aus allen Ecken und Enden, von allen Winkeln und Vorsprüngen her, aus allen Ritzen, Höhlen und Löchern wälzte es sich heraus, zur Rechten wie zur Linken, ober- und unterhalb, in der Luft wie auf dem Boden wimmelte es von Vögeln, von den Wänden wie vom Gipfel des Berges herab ins Meer stürzten sich ununterbrochen Tausende in so dichtem Gedränge, daß sie dem Auge ein festes Dach vorzutäuschen vermochten. Tausende kamen, Tausende gingen, Tausende saßen, Tausende tänzelten unter Zuhilfenahme der Schwingen in wundersamer Weise dahin, Hunderttausende flogen, Hunderttausende schwammen und tauchten, und neue Hunderttausende harrten des auch sie aufscheuchenden Fußtritts.«

Es wimmelte, schwirrte, rauschte, tanzte, flog und kroch um Brehm herum, daß ihm fast die Sinne vergingen; das sonst so scharfe Auge versagte den Dienst, das Gewehr zitterte in der sonst so zielsicheren Hand, halb betäubt kam er endlich auf dem Gipfel an und blieb 18 Stunden auf ihm liegen, um das Leben der Alken recht genau kennen zu lernen, sie hatten bald alle Scheu vor ihm verloren; tänzelnden Ganges näherten, sie sich ihm so weit, daß er mit der Hand nach ihnen zu greifen versuchte. Die Schönheit und der Reiz des Lebens zeigten sich in jeder Bewegung der wunderlichen Vögel. Mit Erstaunen erkannte Brehm, wie steif und kalt auch die besten Abbildungen dieser absonderlichen Geschöpfe sind, denn er bemerkte eine Regsamkeit und eine Lebhaftigkeit in den wundersamen Gestalten, wie er sie ihnen nie zugetraut hätte. Nicht einen Augenblick saßen sie ruhig, bewegten mindestens Kopf und Hals fort und fort nach allen Seiten hin, und ihre Umrisse gewannen dabei wahrhaft künstlerische Linien. Es war, als ob die Harmlosigkeit, mit der sich Brehm ganz der Beobachtung hingab, durch unbeschränktes Vertrauen von ihrer Seite vergolten werden sollte. Er verkehrte mit den Tausenden, als ob sie Haustiere wären, die Millionen schienen ihn geradezu als einen der ihrigen zu betrachten.

Manch feinen Zug konnte Brehm dabei dem Leben der Alken ablauschen. Ihre geselligen Tugenden erreichen während der Brutzeit eine unvergleichliche Höhe. Während sonst in der Vogelwelt ein Mißverhältnis der Geschlechter zu ununterbrochenem Streite führt, wird bei den Lummen der Friede nicht gestört. Die beklagenswerten Hagestolze, die kein Weibchen zu ergattern vermochten, wandern trotzdem in Verein mit den glücklichen, unterwegs kosenden und tändelnden Paaren dem Brutberge zu. Hat das Weibchen sein einziges, aber sehr großes, kreiselförmiges und buntgetüpfeltes Ei gelegt und hat dessen Bebrütung begonnen, dann wollen auch die armen Junggesellen wenigstens ihren guten Willen bekunden und drängen sich den einzelnen Paaren als Hausfreunde auf. Wachehaltend stehen sie vor den Bruthöhlen, aus denen das Männchen sich entfernt hat. Wenn aber beide Eltern gleichzeitig zum Meere hinabgeflogen sind, dann rutschen sie ohne Zögern ins Innere der Höhle und wärmen inzwischen das verlassene Ei. Nur brüten, ein ganz klein wenig brüten wollen sie: gewiß ein bescheidenes Verlangen für einen Junggesellen! Diese selbstlose Hingabe hat eine Folge, um die wir Menschen die Alken beneiden könnten: auf den Vogelbergen gibt's kein Waisenkind! Sollte der Gatte eines Paares verunglücken, so bietet sich der Witwe augenblicklich Ersatz, und sollten gar beide Eltern gleichzeitig umkommen, flugs sind die gutmütigen Junggesellen zur Hand, um das Ei vollends auszubrüten und das Junge sorgfältig aufzuziehen.


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