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VII

Am nächsten Morgen jedoch, als sie mit Dick an den Strand ging, machte sie von neuem die Wahrnehmung, daß er auf eine verzweifelte Lösung sann. Seit dem Abend auf Goldings Jacht hatte sie instinktiv geahnt, was vorging. So sehr befand sie sich in der Schwebe zwischen dem alten Rückhalt, der immer ihre Sicherheit verbürgt hatte, und dem Herannahen einer plötzlichen Umwälzung, aus der sie verändert bis in die innersten Bestandteile des Blutes und der Muskeln hervorgehen mußte, daß sie nicht wagte, das Problem in den Vordergrund des Bewußtseins zu bringen. Die sich verändernden, unklaren Gestalten Dicks und ihrer selbst schienen wie Spukgebilde in einem phantastischen Tanz. Seit Monaten schien jedes Wort eine zweite Bedeutung zu haben, die sich bald, unter gewissen Umständen, die Dick bestimmte, aufklären würde. Wenn diese Gemütslage auch hoffnungsvoller schien – die langen Jahre bloßen Daseins hatten einen belebenden Einfluß auf die Seiten ihres Wesens gehabt, die von früher Krankheit zerstört und von Dick nicht erfaßt worden waren, nicht durch seine Schuld, sondern einfach, weil das Wesen eines Menschen nicht völlig in das eines anderen eindringen kann – so war sie immer noch beunruhigend. Das Bedrohlichste an ihrem Verhältnis zueinander war Dicks zunehmende Gleichgültigkeit, die sich zur Zeit in zu vielem Trinken äußerte; Nicole wußte nicht, ob sie daran zerbrechen würde oder ob es ihr erspart bliebe – Dicks Stimme, in der Unaufrichtigkeit mitschwang, ließ den Ausgang ungewiß erscheinen; sie konnte sich nicht vorstellen, wie er sich künftig beim langsamen und gewundenen Ablauf der Dinge verhalten oder was sich schließlich im Augenblick des Umschwungs ereignen würde.

Das, was möglicherweise hinterher kam, flößte ihr keine Furcht ein – sie nahm an, es würde das Befreien von einer Last, ein Öffnen der Augen sein. Nicole war für den Wechsel, für das Vorwärtsstürmen geschaffen, wobei ihr Geld die treibende Kraft darstellte. Die neue Lage der Dinge konnte nichts anderes sein, als wenn das Fahrgestell eines Rennwagens, das sich jahrelang unter einer Familienlimousine verborgen hatte, sich seiner Verkleidung entledigen und wieder das sein würde, was es ursprünglich gewesen war. Nicole vermeinte schon, die frische Brise zu spüren. Was sie fürchtete, war der Trennungsschnitt und sein in Dunkel gehülltes Herannahen.

Die Divers gingen an den Strand hinunter; ihr weißer Anzug und seine weißen Badehosen kontrastierten stark zu der dunklen Tönung ihrer Körper. Nicole beobachtete, wie Dick sich zwischen den unbestimmten Formen und Schatten der Sonnenschirme nach den Kindern umsah, und da sein Inneres sich vorübergehend von ihr losmachte und seinen Griff lockerte, betrachtete sie ihn rein sachlich und stellte fest, daß er die Kinder suchte, nicht um sie zu beschützen, sondern um bei ihnen Schutz zu suchen. Wahrscheinlich fürchtete er sich vor dem Strand wie ein entthronter Herrscher vor seinem ehemaligen Hof, dem er heimlich einen Besuch abstattet. Sie hatte seine Welt mit ihren feinen Späßen und Höflichkeiten verabscheuen gelernt und vergaß, daß es jahrelang die einzige Welt gewesen war, die ihr offengestanden hatte. Wenn er sie jetzt betrachtete – seinen Strand, der nun dem Geschmack der Leute ohne Geschmack angeglichen war, hätte er einen ganzen Tag lang suchen können, ohne einen Stein der Chinesischen Mauer, die er um ihn aufgerichtet hatte, ohne die Fußspur eines alten Freundes wiederzufinden.

Einen Augenblick tat es Nicole leid, daß es so war; sie erinnerte sich an das Glas, das er aus dem alten Müllhaufen herausgebuddelt hatte, erinnerte sich der Seemannshosen und Sweater, die sie in Nizza in einem Seitengäßchen gekauft hatten – Kleidungsstücke, die in Seide bei den Pariser Schneidern die große Mode wurden, entsann sich der einfachen kleinen französischen Mädchen, die auf die Wellenbrecher kletterten und schrien: »Dites donc! Dites donc!« wie Vögel, erinnerte sich an das Ritual der Vormittagsstunden, die ruhige, erholsame Hingegebenheit an See und Sonne und an viele seiner Einfälle, die tiefer als der Sand unter der Spanne so weniger Jahre begraben lagen ...

Jetzt war der Badeplatz zu einem »Klub« geworden, und obwohl er die internationale Gesellschaft repräsentierte, gab es doch kaum jemand, der nicht Aufnahme gefunden hätte.

Nicole wurde wieder ärgerlich, als Dick sich auf die Strohmatte kniete und Ausschau nach Rosemarie hielt. Ihre Augen folgten seinen Blicken, die suchend über das moderne Drum und Dran glitten: die Trapeze über dem Wasser, die schwebenden Ringe, die fahrbaren Badekabinen, die schwimmenden Türme, die Scheinwerfer von vergangenen Festabenden, das neuzeitliche weiße Büfett mit dem abgedroschenen Motiv zahlloser Lenkstangen.

Das Wasser war eigentlich der letzte Ort, auf dem er Rosemarie suchte, denn es badeten nur noch wenige Leute in diesem blauen Paradies, Kinder ausgenommen und ein angeberischer Diener, der am Vormittag von Zeit zu Zeit Sprünge von einem achtzehn Meter hohen Felsen vorführte. Die meisten Gäste von Gausse streiften ihre verhüllenden Strandanzüge erst um ein Uhr zu einem kurzen Abschiedsbad von den schlappen Körpern.

»Dort ist sie«, bemerkte Nicole.

Sie beobachtete, wie Dicks Augen Rosemaries Spur von Floß zu Floß verfolgten; aber der Seufzer, der sich ihrer Brust entrang, war etwas, das noch aus der Zeit vor fünf Jahren stammte.

»Wollen wir hinausschwimmen und mit Rosemarie sprechen?« schlug er vor.

»Geh du.«

»Wir gehen zusammen.« Einen Moment widerstrebte ihr sein bestimmter Ton, aber schließlich schwammen sie zusammen hinaus und fanden Rosemarie am Badesteg der Kinder, die von ihrer Schönheit angelockt wurden wie Forellen von einem glitzernden Köder.

Nicole blieb im Wasser, während sich Dick zu Rosemarie auf den Steg schwang, und die beiden saßen tropfend und schwatzend da, so als hätten sie sich niemals geliebt oder berührt. Rosemarie war bildschön – ihre Jugend bedeutete eine Bedrohung für Nicole, die indessen mit Befriedigung feststellte, daß das junge Mädchen um eine Idee weniger schlank war als sie selbst. Nicole schwamm in kleinen Kreisen um sie herum und hörte Rosemarie zu, die Vergnügen, Freude und Erwartung mimte – sicherer im Auftreten, als sie vor fünf Jahren gewesen war.

»Ich vermisse Mutter sehr, aber Montag wird sie sich mit mir in Paris treffen.«

»Vor fünf Jahren kamst du her«, sagte Dick. »Und was warst du für ein drolliges kleines Ding in einem dieser Hotel-Bademäntel!«

»Was für ein gutes Gedächtnis du für die Dinge hast! Das hattest du schon immer – und immer für hübsche Dinge.«

Nicole sah, daß das alte Spiel mit Schmeicheleien wieder begann; sie tauchte, und als sie wieder hochkam, hörte sie:

»Ich werde mir einbilden, es wäre vor fünf Jahren, und ich wäre wieder ein junges Ding von achtzehn. Ihr habt es immer zuwege gebracht, daß ich mir vorkam wie jemand, den ihr kennt oder doch so ähnlich, und zwar auf eine entzückende Art – du und Nicole. Es kommt mir vor, als befändet ihr euch immer noch am Strand dort unter einem der Sonnenschirme – die reizendsten Leute, die ich jemals kennengelernt habe und vielleicht kennenlernen werde.«

Während sie wegschwamm, sah Nicole, daß die Wolke von Dicks Schwermut sich ein wenig gehoben hatte, als er mit Rosemarie zu spielen begann, indem er seine alte Gewandtheit im Umgang mit Menschen hervorholte wie einen blindgewordenen Kunstgegenstand; sie vermutete, daß er, mit ein oder zwei Schnäpsen im Leib, ihr seine Kunststücke an den schwebenden Ringen vormachen würde, sich durch Tricks mühsam hindurchstümpernd, die ihm früher mit Leichtigkeit gelungen waren. Sie hatte gemerkt, daß er es in diesem Sommer zum erstenmal vermied, vom hohen Sprungbrett zu springen.

Später, als sie von Floß zu Floß schwamm, holte Dick sie ein.

»Ein paar von Rosemaries Bekannten haben ein Motorboot, dort draußen ist es. Hast du Lust zum Wellenreiten? Ich glaube, das wäre schön.«

Sie erinnerte sich daran, daß er einstmals auf einem Stuhl am Ende des Wellenbrettes Handstand machen konnte, und sie gab nach, so wie sie Lanier nachgegeben hätte. Vorigen Sommer am Zugersee hatten sie diesen vergnüglichen Wassersport getrieben, und Dick hatte einen zwei Zentner schweren Mann auf seine Schultern genommen und hatte sich mit ihm aufgerichtet. Aber Frauen heiraten die Talente ihrer Männer, und später imponieren ihnen diese begreiflicherweise nicht mehr so sehr, obwohl sie den Anschein zu erwecken suchen. Nicole hatte nicht einmal so getan, als imponierten sie ihr, wenn sie auch »Ja« oder »Ja, ganz meine Meinung« zu ihm gesagt hatte.

Dennoch wußte sie, daß er ein wenig müde war, daß nur die Nähe von Rosemaries erregender Jugend ihn zum Vollbringen der Leistung anspornte – sie hatte gesehen, daß er die gleiche Inspiration aus den jugendfrischen Körpern der Kinder schöpfte, und fragte sich kühl, ob er wirklich beabsichtige, eine Schaustellung zu geben. Divers waren älter als die anderen im Boot – die jungen Leute waren höflich und ehrerbietig, aber Nicole spürte einen gewissen Unterton von: »Was sind das eigentlich für Leute?«, und sie vermißte Dicks geschmeidige Kunst, Situationen zu beherrschen und sie ins Lot zu bringen – er konzentrierte sich völlig auf das, was er vorhatte.

Zweihundert Meter vom Strand entfernt wurde der Motor abgedrosselt, und einer der jungen Leute sprang in flachem Schwung über den Rand. Er schwamm zu dem ziellos schlingernden Brett, hielt es fest, kletterte kniend hinauf und erhob sich auf die Füße, als das Boot anfuhr. Indem er sich zurücklehnte, schwang er das leichte Fahrzeug mit seinem ganzen Gewicht von einer Seite zur anderen, in langsamen, atemlosen Bögen am Ende eines jeden Schwunges auf den Seitenwellen entlanggleitend. Als er sich genau im Kielwasser des Bootes befand, ließ er das Seil los, hielt einen Augenblick das Gleichgewicht, dann schnellte er zurück ins Wasser, verschwand wie ein Siegesstandbild, um als unbedeutender Kopf wieder aufzutauchen, während das Boot im Kreis zu ihm zurückfuhr.

Nicole lehnte ab, als die Reihe an sie kam; dann ritt Rosemarie auf dem Brett, geschickt und vorsichtig, begleitet von witzigen Zurufen ihrer Bewunderer. Drei von ihnen balgten sich egoistisch um die Ehre, ihr ins Boot zu helfen, und brachten es zuwege, daß sie sich das Knie und die Hüfte an der Bootswand stieß.

»Nun kommen Sie, Doktor«, sagte der Mexikaner am Steuer.

Dick und der letzte junge Mann sprangen über den Rand und schwammen zum Brett. Dick wollte seinen Hebetrick versuchen, und Nicole sah mit lächelnder Verachtung zu. Vor allem anderen ärgerte sie sich darüber, daß er sich vor Rosemarie mit seinen körperlichen Fähigkeiten großtat.

Als die Männer lange genug geritten waren, um sich im Gleichgewicht zu halten, kniete Dick hin, und indem er den anderen auf seine Schultern nahm, ergriff er durch seine Beine hindurch das Seil und fing langsam an, sich aufzurichten.

Die Leute im Boot, die aufmerksam zusahen, bemerkten, daß es ihm Schwierigkeiten bereitete. Er ruhte auf einem Knie; das Kunststück bestand darin, daß er sich, bis er aufrecht stand, ohne seinen Schwerpunkt zu verlagern, in der gleichen Richtung bewegte, in der er sich aus der knienden Stellung erhoben hatte. Er zögerte einen Augenblick, dann verkrampfte sich sein Gesicht, als er seine ganze Energie anspannte und sich aufrichtete.

Das Brett war schmal, und der Mann, obwohl er weniger als hundertfünfzig Pfund wog, verteilte sein Gewicht schlecht und griff unbeholfen nach Dicks Kopf. Als Dick, nach einer letzten krampfhaften Verrenkung seines Rückens, aufrecht dastand, glitt das Brett zur Seite, und das Paar purzelte ins Wasser.

Im Boot rief Rosemarie: »Großartig! Beinahe wäre es gelungen.«

Aber als sie zu den Schwimmern zurückfuhren, versuchte Nicole, einen Blick auf Dicks Gesicht zu werfen. Sein Ausdruck war verärgert, wie sie es erwartet hatte, denn vor nur zwei Jahren hatte ihm dasselbe Kunststück keine Schwierigkeiten gemacht.

Beim zweitenmal war er vorsichtiger. Er erhob sich ein wenig, balancierte seine Bürde aus und ließ sich wieder auf sein Knie nieder; dann grunzte er: »Allez hopp!« und fing an, sich aufzurichten – aber bevor es ihm richtig gelang, knickten seine Beine ein, und er schob das Brett mit den Füßen weg, damit sie sich nicht beim Fallen an ihm schlugen.

Als das Boot diesmal zurückkam, merkten alle Passagiere, daß er ärgerlich war.

»Was meint ihr, soll ich's nochmal versuchen?« rief er, wassertretend. »Fast hatten wir's.«

»Natürlich. Los.«

Nicole schien er blaß auszusehen, und sie warnte ihn.

»Findest du nicht, daß es vorläufig genug ist?«

Er antwortete nicht. Der Bedarf des ersten Partners war gedeckt; er wurde an Bord gezogen. Der Mexikaner, der das Boot steuerte, sprang zuvorkommend für ihn ein.

Er war schwerer als sein Vorgänger. Als das Boot Tempo vorlegte, blieb Dick zunächst bäuchlings auf dem Brett liegen. Dann schob er sich unter den Mann und ergriff das Seil; seine Muskeln spannten sich, als er versuchte, sich zu erheben.

Er konnte sich nicht erheben. Nicole sah, wie er seine Stellung veränderte und angestrengt nach oben strebte, aber im selben Augenblick, als das volle Gewicht seines Partners auf seinen Schultern ruhte, wurde er unbeweglich. Er versuchte von neuem – hob sich um einen Zoll, um zwei Zoll – Nicole spürte, wie ihr der Schweiß auf die Stirn trat, während sie seine Anstrengungen mitmachte –, dann behauptete er lediglich seine Stellung, und dann sackte er mit einem klatschenden Geräusch auf die Knie zurück, und sie gingen über Bord, wobei Dicks Kopf mit genauer Not einem Anprall des Brettes entging.

»Schnell zurück!« rief Nicole dem Fahrer zu; während sie das sagte, sah sie Dick schon untergehen und stieß einen kleinen Schrei aus; aber er tauchte wieder auf, drehte sich auf den Rücken, und »Château« kam ihm und seinem Partner zu Hilfe. Es schien endlos zu dauern, bis das Boot sie erreichte; aber als sie schließlich längsseits kamen und Nicole sah, wie Dick sich erschöpft und ohne Ausdruck, allein mit Wasser und Himmel, dahintreiben ließ, verwandelte sich ihre Angst plötzlich in Verachtung.

»Wir helfen Ihnen herauf, Doktor ... pack ihn beim Fuß ... so ist's recht ... nun alle zusammen ...«

Dick saß keuchend da und blickte ins Leere.

»Ich wußte es ja, du hättest es nicht versuchen dürfen«, konnte sich Nicole nicht verkneifen zu sagen.

»Die beiden ersten Male hatten ihn ermüdet«, sagte der Mexikaner.

»Es war eine Torheit«, beharrte Nicole. Rosemarie schwieg taktvoll.

Eine Minute später kam Dick zu Atem und keuchte: »Ich hätte vorhin nicht einmal eine Papierpuppe aufheben können.«

Ein Ausbruch von Heiterkeit löste die Spannung, die sein Versagen hervorgerufen hatte. Sie alle waren um Dick bemüht, als er im Hafen ausstieg. Aber Nicole ärgerte sich – alles, was er tat, ärgerte sie jetzt.

Sie saß mit Rosemarie unter einem Sonnenschirm, während Dick zum Büfett ging, um etwas zu trinken – gleich darauf kam er mit Sherry für sie zurück.

»Mein erstes Glas Wein habe ich mit dir getrunken«, sagte Rosemarie, und mit einem Aufflammen von Begeisterung fügte sie hinzu: »Ach, ich bin so glücklich, dich zu sehen und mich davon zu überzeugen, daß es dir gut geht. Ich hatte Angst –« Ihr Satz brach ab, als sie sich abwandte: »– es wäre vielleicht nicht der Fall.«

»Hast du davon gehört, daß ich mich zu meinem Nachteil verändert habe?«

»Ach nein. Ich habe einfach – nur gehört, du hättest dich verändert. Und ich freue mich, daß ich mich mit meinen eigenen Augen davon überzeugen kann, daß es nicht stimmt.«

»Doch, es stimmt«, sagte Dick und setzte sich zu ihnen. »Die Veränderung liegt eine lange Zeit zurück – aber im Anfang machte sie sich nicht bemerkbar. Das Benehmen bleibt noch einige Zeit intakt, nachdem die Moral einen Knacks bekommen hat.«

»Übst du deine Praxis an der Riviera aus?« fragte Rosemarie hastig.

»Es wäre ein guter Boden, um ähnliche Exemplare zu finden.« Er wies mit dem Kopf hierhin und dorthin nach Leuten, die im goldenen Sand gruben. »Famose Anwärter. Betrachte unsere alte Freundin, Frau Abrams, die neben Mary Norths Königin die Herzogin spielt. Aber kein Neid deshalb – denk, wie Frau Abrams mühselig die Hintertreppe des Ritz auf Händen und Füßen hinaufgeklettert ist und wieviel Teppichstaub sie dabei schlucken mußte.«

Rosemarie unterbrach ihn. »Ist das wirklich Mary North?« Sie betrachtete eine Frau, die auf sie zuschlenderte und von einer kleinen Gruppe von Leuten begleitet wurde, die sich benahmen, als seien sie es gewöhnt, beachtet zu werden. Marys Blick blitzte sekundenlang über die Divers hin, einer jener verhängnisvollen Blicke, die demjenigen, auf den sie fallen, anzeigen, daß man ihn bemerkt hat aber zu ignorieren gedenkt – die Sorte von Blicken, die weder die Divers noch Rosemarie Hoyt jemals gewagt hätten, jemandem zuzuwerfen. Es belustigte Dick, daß Mary, als sie Rosemarie bemerkte, ihre Absicht änderte und herbeikam. Sie redete Nicole mit liebenswürdiger Herzlichkeit an, nickte Dick zu, ohne zu lächeln, als sei er von einer ansteckenden Krankheit befallen, und begrüßte Rosemarie.

»Ich hörte, daß du hier wärst. Auf wie lange?«

»Bis morgen«, antwortete Rosemarie.

Auch sie hatte gesehen, wie Mary sozusagen durch die Divers hindurchgeschritten war, um mit ihr zu sprechen, und ein Gefühl von Verbundenheit machte sie abweisend. Nein, sie war zum Dinner heute nicht frei.

Mary wandte sich an Nicole, und in ihrem Benehmen war Zuneigung mit Mitleid gepaart.

»Wie geht es den Kindern?« fragte sie.

Gerade in diesem Augenblick kamen sie herbei, und Nicole hörte sich ihre Bitte an, die Erzieherin in einem Punkt – das Schwimmen betreffend – umzustimmen.

»Nein«, antwortete Dick für Nicole. »Was Mademoiselle sagt, gilt.«

Nicole, die mit ihm darin übereinstimmte, daß übertragene Autorität unterstützt werden müsse, schlug ihnen ihre Bitte ab, woraufhin Mary – die sich, wie eine Heldin bei Anita Loos, nur mit Faits accomplis befaßte, und die nicht einmal einen jungen französischen Pudel hätte stubenrein machen können – Dick ansah, als habe er sich der abscheulichsten Tyrannei schuldig gemacht. Dick, durch die ermüdende Vorführung angegriffen, fragte mit gespielter Besorgnis:

»Wie geht es deinen Kindern – und ihren Tanten?«

Mary antwortete nicht. Sie verließ sie, doch strich sie vorher mit teilnahmsvoller Hand über Laniers zurückweichenden Kopf. Als sie weg war, sagte Dick: »Wenn ich bedenke, wieviel Zeit ich in ihrem Interesse geopfert habe.«

»Ich habe sie gern«, sagte Nicole.

Dicks Bitterkeit verwunderte Rosemarie, die von ihm geglaubt hatte, er verstehe alles und verzeihe alles. Mit einemmal entsann sie sich dessen, was sie über ihn gehört hatte. Anläßlich einer Unterhaltung auf der Überfahrt mit Leuten vom State Department – europäisierten Amerikanern, die eine Stellung errungen hatten, in der man ihnen ihre Angehörigkeit zu irgendeiner Nation nicht mehr anmerken konnte, wenigstens nicht zu irgendeiner Großmacht, allenfalls zu einem balkanartigen Staat mit ähnlichen Bewohnern – war der in weiten Kreisen bekannte Name von Baby Warren erwähnt worden. Dann fiel die Bemerkung, ihre jüngere Schwester habe sich an einen ausschweifend lebenden Arzt weggeworfen. »Er wird nirgends mehr empfangen«, hatte die Dame hinzugefügt.

Diese Redewendung beunruhigte Rosemarie; zwar konnte sie sich die Divers nicht in Verbindung mit einer Gesellschaft vorstellen, in der eine derartige Tatsache – wenn es eine Tatsache war – irgendwelche Bedeutung hatte, und doch klang ihr die Anspielung auf eine feindliche und organisierte öffentliche Meinung noch in den Ohren. »Er wird nirgends mehr empfangen.« Im Geist sah sie, wie Dick die Treppe eines Gebäudes hinaufstieg, wie er Karten abgab und wie der Butler ihm sagte: »Wir empfangen Sie nicht mehr«; wie er dann eine breite Straße entlangging, um von zahllosen anderen Butlern dasselbe zu hören ...

Nicole war gespannt, wie Dick sich weiter verhalten würde. Sie nahm an, er würde – wachsam geworden – ein bezauberndes Wesen an den Tag legen und Rosemarie veranlassen, darauf einzugehen. Und richtig, einen Augenblick später gelang es seiner Stimme, alles das zu mildern, was er Unangenehmes gesagt hatte:

»Mary hat ganz recht – sie hat richtig gehandelt. Aber es ist schwer, Leute weiter gern zu haben, wenn sie einen nicht mögen.«

Rosemarie paßte sich sogleich an, schwenkte zu Dick über und zwitscherte:

»Ach, du bist so goldig. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es Menschen gibt, die dir etwas nicht verzeihen, einerlei, was du ihnen zugefügt hast.« Doch als sie merkte, daß ihre Überschwenglichkeit in Nicoles Rechte eingriff, blickte sie in den Sand zwischen ihnen und sagte: »Ich wollte euch beide fragen, was ihr von meinen letzten Filmen haltet – wenn ihr sie gesehen habt.«

Nicole sagte nichts, denn sie hatte nur einen gesehen, der ihr nicht besonders gefallen hatte.

»Das werde ich dir mit ein paar Worten auseinandersetzen«, sagte Dick. »Angenommen, Nicole erzählt dir, daß Lanier krank ist. Was tust du im Leben? Was tun alle? Sie reagieren – mit dem Gesicht, der Stimme, den Worten – das Gesicht drückt Kummer aus, die Stimme Schrecken und die Worte Teilnahme.«

»Ja – ich verstehe.«

»Aber wie ist es im Theater? Ganz anders. Im Theater haben auch die besten Schauspielerinnen ihren Ruhm dadurch begründet, daß sie ihre normalen Gefühlsreaktionen – Angst, Liebe, Teilnahme – parodieren.«

»Ich verstehe.« Doch sie verstand es nicht ganz.

Nicole sah keinen Zusammenhang, und ihre Ungeduld wuchs, als Dick fortfuhr:

»Die Gefahr für eine Schauspielerin liegt im Reagieren. Nochmals angenommen, jemand würde dir sagen: ›Dein Geliebter ist tot.‹ Im Leben würdest du wahrscheinlich daran zerbrechen. Aber im Theater versuchst du zu unterhalten – das Publikum kann das Reagieren selbst besorgen. Erst einmal muß die Schauspielerin gewissen Richtlinien folgen, dann muß sie die Aufmerksamkeit des Publikums von dem ermordeten Chinesen – oder was für ein Kerl das ist – weg – und auf sich zurücklenken, darum muß sie etwas Unerwartetes tun. Wenn das Publikum ihren Charakter für hart hält, muß sie sich sanft geben – wenn es glaubt, sie sei sanft, muß sie sich hart zeigen. Man gibt seinen Charakter auf – verstehst du?«

»Nicht ganz«, gestand Rosemarie. »Was meinst du damit, daß man seinen Charakter aufgibt?«

»Du tust das Unerwartete, bis du das Publikum von der objektiven Tatsache zu dir zurückgeführt hast. Dann schlüpfst du wieder in den Charakter hinein.«

Nicole konnte es nicht länger ertragen. Sie erhob sich brüsk und machte nicht einmal den Versuch, ihre Ungeduld zu verbergen. Rosemarie, der das für einige Minuten nur halb zum Bewußtsein gekommen war, wandte sich beschwichtigend an Topsy: »Möchtest du gern Schauspielerin werden, wenn du erwachsen bist? Ich glaube, du würdest eine gute Schauspielerin abgeben.«

Nicole starrte sie prüfend an und sagte mit dem Tonfall ihres Großvaters, langsam und deutlich:

»Es ist vollständig abwegig, den Kindern anderer Leute solche Ideen in den Kopf zu setzen. Du mußt bedenken, daß wir vielleicht ganz andere Pläne für sie haben.« Sie wandte sich schroff an Dick. »Ich nehme den Wagen und fahre nach Hause. Für euch und die Kinder werde ich Michelle herschicken.«

»Du bist seit Monaten nicht selbst gefahren«, wandte er ein.

»Ich habe es nicht verlernt.«

Mit keinem Blick streifte sie Rosemarie, deren Gesicht lebhaft »reagierte«, und verließ den Sonnenschirm.

Im Badehaus zog sie ihren Strandanzug an – der Ausdruck ihres Gesichts immer noch hart wie auf einer Plakette. Als sie jedoch in die Straße einbog, über der sich die Kiefern wölbten und eine andere Luft sie umwehte – ein Eichhörnchen sprang auf einen Ast, sanfter Wind bewegte die Blätter, in der Ferne zerriß das Krähen eines Hahnes die Luft, die Stille war von Sonnenlicht durchtränkt, und die Stimmen des Strandes wichen zurück –, entspannte sich Nicole und fühlte sich neu und glücklich; ihre Gedanken waren klar wie helle Glocken – sie hatte das Gefühl, als sei sie geheilt, und zwar auf eine neue Art. Ihr Ich begann, sich wie eine große, prächtige Rose zu entfalten, wenn sie in der Erinnerung die Labyrinthe durcheilte, in denen sie jahrelang gewandelt war. Sie haßte den Strand und verabscheute die Orte, wo sie der Planet zu Dicks Sonne gewesen war.

»Eigentlich ist meine Entwicklung fast vollendet«, dachte sie. »Praktisch stehe ich allein da, ohne ihn.« Und da sie, wie ein glückliches Kind, wollte, daß die Vollendung sich so schnell wie möglich vollzog, und undeutlich ahnte, daß es in Dicks Absicht gelegen hatte, sie so weit zu bringen, legte sie sich, sobald sie zu Hause war, aufs Bett und schrieb einen kurzen, ermutigenden Brief an Tommy Barban in Nizza.

Aber das war am Tag – gegen Abend mit dem unvermeidlichen Nachlassen der Nervenenergien ließ auch ihr Übermut nach, und ihre Pfeile zielten ins ungewisse. Sie hatte Angst vor dem, was Dick im Sinne hatte; wiederum spürte sie, daß seinen gegenwärtigen Handlungen ein Plan zugrunde lag, und sie fürchtete sich vor seinen Plänen – diese pflegten sich zu verwirklichen, und es lag eine Folgerichtigkeit in ihnen, über die Nicole keine Gewalt hatte. Sie hatte ihm irgendwie das Denken überlassen, und während seiner Abwesenheiten schien eine jede ihrer Handlungen automatisch von dem diktiert zu werden, was er gewollt hätte, so daß sie sich jetzt nicht für fähig hielt, ihre Absichten zu den seinen in Widerspruch zu bringen. Dennoch, denken mußte sie; jetzt endlich kannte sie die Nummer auf der entsetzlichen Tür zum Phantasiereich, der Schwelle zur Rettung, die keine Rettung war; sie wußte, daß es für sie jetzt und in alle Zukunft die größte Sünde war, sich Illusionen hinzugeben. Es war eine lange Lektion gewesen, aber sie hatte sie gelernt. Entweder jemand denkt, oder andere müssen für ihn denken und berauben ihn seiner Macht, modeln seine natürlichen Neigungen um und verkehren sie in ihr Gegenteil, zivilisieren ihn und machen ihn unfruchtbar.

Das Abendessen verlief ruhig; Dick trank viel Bier und war in dem dämmrigen Zimmer vergnügt mit den Kindern. Später spielte er einige Schubert-Lieder und neue Jazz-Musik aus Amerika, wozu Nicole über seiner Schulter mit ihrer rauhen, süßen Altstimme summte:

»Dank dir, Vater
dank dir, Mutter,
dank euch, daß ihr euch fandet –«

»Das gefällt mir nicht«, sagte Dick, im Begriff, die Seite umzublättern.

»Bitte, spiele es!« rief sie. »Soll ich denn mein Leben lang vor dem Wort ›Vater‹ zurückschrecken?«

»– dank dem Pferd, das euren Wagen zog bei Nacht,
dank dem Wein, der trunken euch gemacht –«

Später dann saßen sie mit den Kindern auf dem maurischen Dach und sahen sich das Feuerwerk der beiden Kasinos an, weit weg, weit unten am Strand. Man fühlte sich einsam und betrübt, weil sich die Herzen nichts zu sagen hatten.

Als Nicole am nächsten Vormittag vom Einkäufemachen in Cannes zurückkam, fand sie ein Briefchen vor mit der Mitteilung, daß Dick in seinem kleinen Wagen für einige Tage allein in die Provence gefahren sei. Noch während sie es las, läutete das Telefon – es war Tommy Barban, der aus Monte Carlo anrief und sagte, er habe ihren Brief erhalten und komme hinüber. Sie fühlte, wie ihre Lippen an der Muschel warm wurden, als sie ihn willkommen hieß.


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