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V

Nicole ging ans Fenster und beugte sich hinaus, um dem immer heftiger werdenden Wortwechsel auf der Terrasse zu folgen. Die Aprilsonne zauberte einen rosa Schein auf das Madonnengesicht von Augustine, der Köchin, und funkelte blau auf dem Fleischermesser, mit dem sie in ihrer Trunkenheit herumfuchtelte. Augustine war, seit Divers im Februar in die Villa Diana zurückgekehrt waren, bei ihnen.

Da die Markise ein Hindernis bildete, konnte Nicole nur Dicks Kopf sehen und seine Hand, in der er einen seiner schweren Spazierstöcke mit Bronzeknauf hielt. Das Messer und der Stock bedrohten einander wie Dreispitz und kurzes Schwert bei einem Kampf der Gladiatoren. Dicks Worte erreichten sie zuerst:

»– einerlei, wieviel Küchenwein Sie trinken, aber wenn ich dahinter komme, daß sie in eine Chablisflasche Schaumwein füllen –«

»Sie haben's nötig, vom Trinken zu reden!« schrie Augustine.

Nicole rief über die Markise hinweg: »Was ist los, Dick?«, und er erwiderte auf englisch:

»Das alte Mädchen hat unsern ganzen Wein weggeputzt. Ich bin dabei, sie hinauszuwerfen – zum mindesten versuche ich es.«

»Du lieber Himmel! Aber laß sie dir mit dem Messer nicht zu nahe kommen.«

Augustine schüttelte ihr Messer zu Nicole hinauf. Ihr alter Mund sah aus, als bestünde er aus zwei kleinen durchschnittenen Kirschen.

»Ich möchte Ihnen nur sagen, Madame, wenn Sie wüßten, daß Ihr Mann drüben in seiner Werkstatt akkurat wie ein Tagelöhner trinkt –«

»Halten Sie den Mund und machen Sie, daß Sie fortkommen«, unterbrach Nicole. »Wir werden die Polizei holen.«

»Ausgerechnet Sie werden die Polizei holen! Wo mein Bruder dazu gehört! Sie abscheuliche Amerikanerin!«

Dick rief auf englisch zu Nicole hinauf:

»Entferne die Kinder vom Haus, bis ich dies erledigt habe.«

»– abscheuliche Amerikaner, die herkommen und uns unsere schönsten Weine wegtrinken«, kreischte Augustine mit der Stimme der Kommune.

Dick schlug einen bestimmteren Ton an.

»Sie müssen jetzt weggehen! Ich werde Ihnen zahlen, was ich Ihnen schuldig bin.«

»Das versteht sich, daß Sie zahlen werden! Und eins will ich Ihnen sagen –« Sie kam näher und fuchtelte so wütend mit dem Messer, daß Dick seinen Stock hob, woraufhin sie in die Küche stürzte und außer mit dem Aufschnittmesser noch mit einem Beil zurückkehrte.

Die Situation war nicht angenehm – Augustine war ein kräftiges Frauenzimmer, und wenn man sie hätte entwaffnen wollen, hätte das schlimme Folgen für sie und ernsthafte gesetzliche Komplikationen für denjenigen gezeitigt, der sich an einer französischen Bürgerin vergriff. So versuchte es Dick mit einem Bluff und rief zu Nicole hinauf:

»Ruf die Polizei an.« Dann, zu Augustine gewandt, auf ihre Waffen zeigend: »Das bedeutet Gefängnis für Sie.«

»Haha!« lachte sie dämonisch; immerhin kam sie nicht näher. Nicole rief die Polizei an, die Antwort jedoch bestand eigentlich nur aus dem Widerhall von Augustines Gelächter. Sie hörte Gemurmel, ein Hin und Her von Worten – plötzlich war die Verbindung unterbrochen.

Sie ging ans Fenster zurück und rief zu Dick hinunter: »Zahl ihr noch was drauf.«

»Wenn ich nur zum Telefon kommen könnte!« Da dies nicht durchführbar schien, kapitulierte Dick. Für fünfzig Franken – die auf hundert erhöht wurden, da ihm viel daran lag, sie schleunigst loszuwerden – übergab Augustine die Festung und deckte ihren Rückzug mit heftigen Schimpfreden. Sie wollte nur weggehen, wenn ihr Neffe ihr Gepäck holen dürfte. Als Dick vorsichtshalber in der Nähe der Küche wartete, hörte er einen Pfropfen knallen, doch sah er darüber hinweg. Es gab keinen Verdruß weiter. Als der Neffe mit vielen Entschuldigungen kam, verabschiedete sich Augustine heiter und fröhlich von Dick und rief: »Au revoir, Madame! Bonne chance!« zu Nicoles Fenster hinauf.

Divers fuhren nach Nizza, aßen eine Bouillabaisse – das ist ein Eintopf aus Klippfisch und kleinen Hummern, stark mit Safran gewürzt – und tranken eine Flasche kalten Chablis. Dick äußerte Mitleid mit Augustine.

»Mir tut sie kein bißchen leid«, sagte Nicole.

»Mir wohl – und doch wünschte ich, ich hätte sie über die Klippe geworfen!«

In jenen Tagen gab es wenig, worüber sie miteinander zu sprechen wagten, selten fanden sie das rechte Wort, wenn es darauf ankam; immer fiel es ihnen einen Augenblick zu spät ein, wenn es den anderen nicht mehr erreichte. Heute hatte Augustines Wutanfall sie ihrem getrennten Traumleben entrissen. Angeregt durch die scharf gewürzte, hitzende Speise und den durstlöschenden Wein, wurden sie gesprächig.

»So kann es mit uns nicht weitergehen«, begann Nicole. »Oder doch? – Was meinst du?« Erschreckt, weil Dick nicht sofort widersprach, fuhr sie fort: »Manchmal denke ich, daß es meine Schuld ist – daß ich dich ruiniert habe.«

»Du glaubst also, daß ich ruiniert bin?« sagte er freundlich.

»So meine ich es nicht. Aber früher hattest du das Bedürfnis, Dinge zu schaffen – jetzt willst du sie anscheinend zerschlagen.«

Sie zitterte, weil sie ihn in so deutlichen Ausdrücken kritisierte, aber noch mehr erschreckte sie sein Schweigen, das immer länger anhielt. Sie vermutete, daß eine Entwicklung vor sich ging hinter diesem Schweigen, den harten, blauen Augen, dem fast unnatürlichen Interesse an den Kindern. Temperamentsausbrüche, die seinem Wesen nicht entsprachen, setzten sie in Erstaunen – so konnte er unvermittelt eine ganze Liste von Schmähungen gegen gewisse Menschen, Rassen, Stände, Lebensstile und Denkungsweisen vorbringen. Es war, als spielten sich in seinem Inneren unkontrollierbare Vorgänge ab, die Nicole nur in solchen Momenten erraten konnte, wenn sie durch die Oberfläche schimmerten.

»Was kommt letzten Endes dabei heraus?« fragte sie.

»Die Erkenntnis, daß du von Tag zu Tag gesünder wirst, die Erkenntnis, daß deine Krankheit in ein abflauendes Stadium getreten ist.«

Seine Stimme kam von weit her, so als spräche er über etwas Fernliegendes, Akademisches. Bestürzt rief sie: »Dick!« und streckte ihm über den Tisch ihre Hand entgegen. Einem Reflex folgend, zog er seine Hand zurück und fügte hinzu:

»Das ist die Situation, die zu bedenken ist, verstehst du? Das geht nicht nur dich an.« Er bedeckte ihre Hand mit der seinen und sagte in dem alten liebenswürdigen Verschwörerton, den er bei Vergnügungen, Unfug, froher Erwartung und Freude anschlug: »Siehst du das Schiff dort draußen?«

Es war die Motorjacht von T. F. Golding, die inmitten der kleinen Wellen in der Bucht von Nizza ruhig dalag und ständig auf einer romantischen Reise begriffen schien, unabhängig davon, ob sie tatsächlich in Bewegung war oder nicht. »Wir wollen hinausfahren und die Leute an Bord befragen, wie es um sie steht. Wir wollen dahinterkommen, ob sie glücklich sind.«

»Wir kennen sie ja kaum«, wandte Nicole ein.

»Er hat uns dringend aufgefordert. Außerdem kennt Baby ihn – recht besehen ist sie mit ihm verheiratet – oder etwa nicht?«

Als sie in einem gemieteten Boot vom Hafen absetzten, fiel bereits die Sommerdämmerung herein, und in der Takelage der »Margin« leuchteten ruckweise die Lichter auf. Als sie sich neben der Jacht befanden, kamen Nicole wieder Bedenken.

»Er gibt eine Gesellschaft –«

»Es ist nur das Radio«, meinte er.

Sie wurden mit Hallo begrüßt, und ein riesengroßer weißhaariger Mann in weißem Anzug sah zu ihnen herunter und rief:

»Sind das nicht Divers?«

»Boot ahoi, Margin!«

Ihr Boot machte unter der Kajütentreppe fest; als sie hinaufstiegen, reckte sich Goldings riesige Gestalt zu doppelter Größe auf, und er reichte Nicole die Hand.

»Gerade rechtzeitig zum Dinner!«

Achtern spielte eine kleine Kapelle:

»Freiwillig will ich dir gehören –
bis dahin aber laß mich sein –«

Und als Goldings Zyklopenarme sie nach hinten ins Schiff dirigierten, ohne sie zu berühren, tat es Nicole noch mehr leid, daß sie gekommen waren, und sie war noch unzufriedener mit Dick. Dadurch, daß sie sich von den fröhlichen Leuten hier ferngehalten hatten, zu der Zeit als ein häufiges Ausgehen sich nicht mit Dicks Arbeit und Nicoles Gesundheitszustand vertrug, waren sie in den Ruf von Neinsagern gekommen. Dadurch, daß sie die Riviera während der folgenden Jahre, mit anderen Aufenthaltsorten vertauscht hatten, waren sie nicht beliebter geworden. Jedenfalls war sich Nicole bewußt, daß es nach einer solchen Haltung nicht leicht sein würde, um einer momentanen Vergnügungssucht willen einzulenken.

Als sie durch den Hauptgesellschaftsraum gingen, sahen sie Gestalten vor sich, die in dem Halbrund des dämmrigen Hecks zu tanzen schienen. Das war eine Sinnestäuschung, hervorgerufen durch den Zauber der Musik, die ungewöhnliche Beleuchtung und das Vorhandensein von Wasser ringsum. In Wirklichkeit war es so, daß, von ein paar geschäftigen Stewards abgesehen, die Gäste auf einem breiten Sofa herumsaßen, das der Biegung des Decks angepaßt war. Da waren ein weißes, ein rotes, ein buntgeflecktes Kleid und die gestärkten Hemdbrüste von mehreren Herren, von denen der eine, als er sich herauslöste, so daß er deutlich zu erkennen war, bei Nicole einen ungewohnten kleinen Freudenschrei auslöste.

»Tommy!«

Sie schob die französische Manier, mit der er sich förmlich über ihre Hand neigte, beiseite und preßte ihr Gesicht gegen seins. Sie setzten oder legten sich vielmehr auf die römische Ruhebank. Sein hübsches Gesicht war ganz dunkel; es hatte den warmen, braunen Hautton eingebüßt, ohne die blauschwarze Schönheit der Neger erworben zu haben; es war wie gegerbtes Leder. Seine durch unbekannte Sonnen seltsam pigmentierte Haut, seine Ernährung aus fremdem Erdreich, seine Sprache, die durch den Gebrauch vieler Mundarten unbeholfen geworden war, seine auf sonderbare Alarme abgestimmte Art zu reagieren – all dies bezauberte Nicole und beruhigte sie – im Augenblick ihrer Begegnung warf sie sich ihm, geistig gesprochen, an die Brust und verging – verging ... Dann machte sich der Selbsterhaltungstrieb wieder geltend, sie zog sich in ihre eigene Welt zurück und sagte obenhin:

»Du siehst genau wie die Abenteurer im Film aus – aber was fällt dir ein, so lange wegzubleiben?«

Tommy Barban sah sie verständnislos, aber wachsam an; die Pupillen seiner Augen glitzerten.

»Fünf Jahre«, fuhr sie affektiert fort. »Viel zu lange. Konntest du nicht bloß eine gewisse Anzahl von Menschen totschlagen und dann zurückkommen und für eine Weile Heimatluft atmen?«

In ihrer Gegenwart, die er so schätzte, europäisierte sich Tommy schnell.

»Mais pour nous héros«, sagte er, »il nous faut du temps, Nicole. Nous ne pouvons pas faire de petits exercises d'héroisme – il faut faire les grandes compositions.«

»Sprich englisch mit mir, Tommy.«

»Parlez français avec moi, Nicole.«

»Aber die Bedeutung ist verschieden – auf französisch kann man mit Würde heldenhaft und ritterlich sein, das weißt du. Aber auf englisch kann man nicht heldenhaft und ritterlich sein, ohne gleichzeitig etwas lächerlich zu wirken, und das weißt du ebenfalls. Dadurch bin ich im Vorteil.«

»Aber schließlich –« Plötzlich lachte er. »Schließlich bin ich sogar auf englisch tapfer, heldenmütig und dergleichen.«

Sie tat so, als sei sie ganz taumelig vor Verwunderung, aber er ließ sich nicht aus der Fassung bringen.

»Ich kenne nur, was ich im Kino sehe«, sagte er.

»Ist denn alles wie im Kino?«

»Filme sind nicht so übel – zum Beispiel Ronald Colman – hast du seinen Film über das Nordafrika-Korps gesehen? Wirklich, gar nicht übel.«

»Na schön, wenn ich ins Kino gehe, werde ich mir vorstellen, daß du im selben Augenblick genau das gleiche durchmachst.«

Während sie sprach, erblickte Nicole eine kleine, blasse, niedliche junge Frau mit hübschem, metallisch schimmerndem Haar, das im Schein der Decklaternen fast grün wirkte; sie hatte auf der anderen Seite von Tommy gesessen und vielleicht ihrer Unterhaltung oder der der anderen neben ihnen gelauscht. Augenscheinlich hatte sie Tommy mit Beschlag belegt; denn jetzt gab sie, verstimmt, alle Hoffnung auf, daß er sich weiter um sie kümmern würde und überquerte schmollend den Halbkreis des Decks.

»Letzten Endes bin ich ein Held«, sagte Tommy ruhig und nur halb im Scherz. »Ich verfüge im allgemeinen über tollen Mut, manchmal wie ein Löwe, manchmal wie ein Betrunkener.«

Nicole wartete, bis der Widerhall seiner Prahlerei in seinem Inneren verklungen war – sie wußte, daß er wahrscheinlich nie zuvor eine solche Äußerung getan hatte. Dann blickte sie sich unter den Fremden um und entdeckte wie gewöhnlich aufgeregte Neurastheniker, die Ruhe vorspiegelten und die das Land nur aus Abscheu vor der Stadt und vor dem Klang ihrer eigenen Stimmen liebten ... Sie fragte:

»Wer ist die Frau in Weiß?«

»Die neben mir gesessen hat? Lady Caroline Sibley-Biers.« Sie lauschten einen Augenblick ihrer Stimme von drüben:

»Der Mann ist ein Schuft, aber er ist ein gerissener Hund. Wir haben die ganze Nacht aufgesessen und zu zweit cheminde-de-fer gespielt, und er schuldet mir tausend Schweizerfranken.«

Tommy lachte und meinte: »Sie ist gegenwärtig die lasterhafteste Frau von London – immer wenn ich nach Europa zurückkomme, gibt es einen neuen Nachwuchs der lasterhaftesten Frauen aus London. Sie ist die allerletzte – das heißt, ich glaube, es gibt noch eine andere, die für beinahe ebenso lasterhaft gilt.«

Nicole blickte wieder nach der Frau auf der anderen Seite des Decks – sie war zart, tuberkulös – es war nicht zu glauben, daß diese schmalen Schultern, diese dünnen Arme die Fahne der Dekadenz, das letzte Sinnbild des sterbenden Empire, emporhalten konnten. Sie ähnelte eher einem der flachbrüstigen Backfische von John Held als der Kategorie von hochgewachsenen, kränklichen Blondinen, die seit der Zeit vor dem Krieg Malern und Romanschreibern als Vorbild gedient hatten.

Golding näherte sich, die Resonanz seines mächtigen Körpers dämpfend, der seine Wünsche wie durch einen riesigen Verstärker übertrug, und die noch widerstrebende Nicole strich die Segel vor seinen immer wieder vorgebrachten Erklärungen: daß die »Margin« gleich nach dem Dinner nach Cannes aufbrechen werde; daß sie, obgleich sie schon gespeist hatten, bestimmt noch Kaviar und Champagner zu sich nehmen könnten; daß Dick jedenfalls im Moment am Telefon sei und ihrem Chauffeur in Nizza Bescheid sage, er solle ihren Wagen nach Cannes zurückfahren, vor das Café des Alliés, wo Divers ihn wieder besteigen würden.

Sie begaben sich in den Speisesaal, wo Dick neben Lady Sibley-Biers saß. Nicole sah, daß sein für gewöhnlich rötliches Gesicht blutleer war; er sprach in einem dogmatischen Ton, und es drangen nur Bruchstücke von dem, was er sagte, zu Nicole:

»... Für euch Engländer ist das angebracht. Ihr führt einen Totentanz auf ... Sepoys im zerstörten Fort, ich meine Sepoys am Eingang und Fröhlichkeit im Fort und dergleichen ... der grüne Hut, der zerknitterte Hut, keine Zukunft.«

Lady Caroline antwortete ihm in kurzen Sätzen, die mit dem abschließenden »Nicht wahr?«, dem zweischneidigen »Ganz recht!« und dem beschwichtigenden »Cheerio!« gespickt waren, was immer eine drohende Gefahr andeutet, aber Dick schien gegen die Warnsignale taub zu sein. Plötzlich tat er einen besonders leidenschaftlichen Ausspruch, dessen Sinn Nicole entging, aber sie sah, wie das Gesicht der jungen Frau rot und verkniffen wurde, und hörte ihre scharfe Antwort:

»Na ja, Engländer bleibt Engländer und Yankee bleibt Yankee.«

Wieder hatte er jemandem vor den Kopf gestoßen – konnte er denn seinen Mund nicht halten? Wie lange noch? Wohl bis zum Tod.

Am Klavier hatte ein junger blonder Schotte von der Kapelle (die nach ihrem Schlagwerk »The Ragtime College Jazzes of Edinboro« hieß) angefangen, monoton einen Danny Deever zu singen, zu dem er sich auf dem Klavier mit leisen Akkorden begleitete. Er sprach die einzelnen Worte sehr deutlich aus, als ob er ihnen schier unermeßlichen Wert beilegte:

»Es kam eine Maid aus der Hölle,
die sprang nach dem Klang einer Schelle,
denn sie war schlecht – schlecht – schlecht.
Sie sprang nach dem Klang einer Schelle,
aus der Hölle (bum – bum)
aus der Hölle (tut – tut)
es kam eine Maid aus der Hölle –«

»Was bedeutet das alles?« flüsterte Tommy Nicole zu.

Das Mädchen auf seiner anderen Seite beantwortete die Frage:

»Die Worte stammen von Caroline Sibley-Biers. Er schrieb die Musik dazu.«

»Quelle enfantillage!« murmelte Tommy, als die nächste Strophe anfing, die auf weitere Liebhabereien der hüpfenden Dame anspielte. »On dirait qu'il récite Racine!«

Nach außen hin zum mindesten schenkte Lady Caroline dem Vortrag ihres Werkes keine Aufmerksamkeit. Als Nicole sie wiederum betrachtete, machte weder ihr Wesen noch ihre Persönlichkeit Eindruck auf sie, wohl aber die unverfälschte Kraft, die von ihrer Haltung ausging. Nicole fand sie großartig und wurde in dieser Ansicht bestärkt, als sich die Gesellschaft von der Tafel erhob. Dick blieb mit einem eigentümlichen Gesichtsausdruck auf seinem Platz sitzen, dann ließ er eine abgeschmackte Bemerkung fallen.

»Ich kann die versteckten Anspielungen in diesem ohrenbetäubenden englischen Geflüster nicht leiden.«

Lady Caroline, die schon halb aus dem Zimmer war, kehrte um und kam zu ihm zurück; sie sprach mit leiser, abgehackter Stimme, in der Absicht, daß die ganze Gesellschaft sie verstehen sollte.

»Sie haben mich herausgefordert – haben geringschätzig von meinen Landsleuten und geringschätzig von meiner Freundin Mary Minghetti gesprochen. Ich habe nur gesagt, man habe beobachtet, daß Sie in Lausanne mit fragwürdiger Gesellschaft Umgang pflegten. Ist das ein ohrenbetäubendes Geflüster? Oder macht es nur Sie taub?«

»Es ist immer noch nicht laut genug«, sagte Dick ein wenig zu spät. »Demnach bin ich ein notorischer –«

Golding schnitt mit einem dröhnenden »Was denn! Was denn!« den Satz ab und schob seine Gäste hinaus, indem er sie mit seinem mächtigen Körper bedrohte. Als Nicole bei der Tür um die Ecke bog, sah sie, daß Dick immer noch am Tisch saß. Sie war wütend auf die Frau wegen ihrer lächerlichen Behauptung und ebenso wütend auf Dick, weil er sie hergebracht hatte, weil er sich betrunken hatte, weil er die verdeckten Stacheln seiner Ironie enthüllt hatte, weil er gedemütigt daraus hervorgegangen war – und zwar war sie doppelt ärgerlich, weil sie wußte, daß ihre Besitzergreifung von Tommy Barban die Engländerin zuerst gereizt hatte.

Kurz darauf sah sie Dick anscheinend in vollkommener Selbstbeherrschung auf der Laufplanke stehen und mit Golding reden; dann sah sie ihn eine halbe Stunde lang nirgends auf dem Deck, brach ein verzwicktes malaiisches Spiel ab, das mit Bindfäden und Kaffeebohnen gespielt wurde, und sagte zu Tommy:

»Ich muß Dick suchen.«

Seit dem Dinner bewegte sich die Jacht westwärts. Die schöne Nacht flutete zu beiden Seiten hin, die Dieselmaschinen stampften leise; ein böiger Wind zauste ungestüm in Nicoles Haar, als sie den Bug erreichte, und wie ein scharfer Schmerz durchzuckte sie Schrecken, als sie Dick gewahrte, der im Winkel neben der Fahnenstange stand. Seine Stimme klang heiter, als er sie erkannte.

»Eine schöne Nacht.«

»Ich habe mir Sorgen gemacht.«

»Oh, du hast dir Sorgen gemacht?«

»Bitte sprich nicht so. Es würde mir solche Freude bereiten, wenn mir nur irgendeine Kleinigkeit einfiele, die ich für dich tun könnte, Dick.«

Er wandte sich von ihr ab, dem Sternenschleier über Afrika zu.

»Ich glaub's dir, Nicole. Und manchmal glaube ich, je kleiner die Sache wäre, desto mehr Freude würde es dir bereiten.«

»Sprich nicht so – sage nicht solche Dinge.«

Sein Gesicht, farblos in dem Licht, das der weiße Gischt einfing und in den schimmernden Himmel zurückwarf, zeigte keine Spur von Ärger, wie sie es erwartet hatte. Ja, es war eher gleichgültig; seine Augen hefteten sich allmählich auf sie, wie auf eine Schachfigur, die gerückt werden sollte, und in derselben langsamen Weise ergriff er ihr Handgelenk und zog sie zu sich heran.

»Du hast mich ruiniert, ist es nicht so?« fragte er sanft. »Dann sind wir beide ruiniert. Also –«

Kalt vor Entsetzen legte sie ihr zweites Handgelenk in seine Hände. Nun gut, sie wollte mit ihm gehen – wiederum empfand sie lebhaft die Schönheit der Nacht in einem Augenblick völligen Widerhalls und Verzichts – nun gut, also –

Dann jedoch fühlte sie sich unversehens frei, und Dick kehrte sich seufzend von ihr ab.

Tränen strömten über Nicoles Gesicht – gleich darauf hörte sie jemand kommen; es war Tommy.

»Hast du ihn gefunden? Nicole glaubte, du seist am Ende über Bord gesprungen, Dick«, sagte er, »weil dieses kleine englische Gänschen dich heruntergeputzt hat.«

»Das wäre eine gute Sache, über Bord zu springen«, sagte Dick milde.

»Das wäre es wirklich«, stimmte Nicole hastig zu. »Wir wollen uns Schwimmgürtel ausleihen und hinunterspringen. Ich finde, wir sollten etwas Theatralisches tun. Ich habe das Gefühl, wir alle haben uns im Leben zu viel Zwang auferlegt.«

Tommy witterte vom einen zum andern und versuchte, die Situation mit der Nacht einzuatmen. »Wir wollen gehen und die Lady Bier und Ale fragen, was wir tun sollen – sie muß wissen, was das Neueste ist. Und wir müssen ihr Lied »There was a young lady from l'enfer« memorieren. Ich werde es übersetzen, und sein Erfolg im Kasino wird mir ein Vermögen einbringen.«

»Bist du reich, Tommy?« fragte Dick, als sie ans andere Ende des Bootes zurückgingen.

»So wie die Dinge jetzt liegen, nein. Ich hatte den Maklerberuf satt und gab ihn auf. Aber ich besitze gute Wertpapiere, die Freunde von mir für mich verwalten. Es läßt sich alles gut an.«

»Dick wird jetzt reich«, sagte Nicole. Als Reaktion hatte ihre Stimme angefangen zu zittern.

Auf dem hinteren Deck hatte Golding mit seinen kolossalen Pranken drei Tänzerpaare in Bewegung gesetzt. Nicole und Tommy gesellten sich dazu, und Tommy bemerkte: »Dick scheint zu trinken.«

»Nur mäßig«, sagte Nicole loyal.

»Es gibt Menschen, die es vertragen, und solche, die es nicht vertragen. Offenbar verträgt Dick es nicht. Du solltest ihm sagen, er soll es lassen.«

»Ich?« rief sie bestürzt aus. »Ich soll Dick sagen, was er tun oder lassen soll?«

Als sie den Pier von Cannes erreichten, war Dick immer noch schweigsam, zerstreut und schläfrig. Golding half ihm in das Boot der »Margin«, worauf Lady Caroline mißtrauisch ihren Platz wechselte. Im Hafen verabschiedete sich Dick mit einer übertrieben förmlichen Verbeugung, und einen Augenblick schien er drauf und dran, ihr ein gesalzenes Epigramm zu versetzen, aber Tommys knochiger Arm schob sich in seine Armbeuge, und sie gingen zu dem Wagen.

»Ich werde euch nach Hause fahren«, bot Tommy an.

»Bemüh dich nicht – wir können ein Taxi nehmen.«

»Ich möchte es gern tun, wenn ich bei euch übernachten kann.«

Im Rücksitz des Wagens verhielt sich Dick ruhig, bis der gelbe Monolith vom Golf Juan hinter ihnen lag und das ständige Faschingstreiben in Juan les Pins, wo Musik und Gekreisch in vielerlei Sprachen die Nacht erfüllte. Als der Wagen seinen Weg den Berg hinauf nach Tarmes nahm, setzte er sich plötzlich, durch das Schwanken des Gefährts veranlaßt, aufrecht hin und hielt eine Rede:

»Eine reizende Repräsentantin der –« Er stockte. »– der Firma – bringen Sie mir Gehirn hohl à l'Anglaise.« Dann fiel er in einen ruhigen Schlaf, von Zeit zu Zeit zufrieden in die weiche, warme Nacht hineinrülpsend.


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