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VIII

In einer Pause wandte sich Rosemarie ab und blickte die Tafel entlang, dorthin, wo Nicole zwischen Tommy Barban und Abe North saß, mit ihrem goldbraunen Haar, das im Schein der Kerzen schäumte und sprühte. Rosemarie hörte hin, stark gefesselt von der spröden Stimme, die man nur selten zu hören bekam.

»Der arme Mann«, rief Nicole. »Warum wolltest du ihn in zwei Teile zersägen?«

»Selbstverständlich wollte ich sehen, was in einem Kellner drinsteckt. Würdest du nicht auch gern wissen, was in einem Kellner steckt?«

»Alte Speisekarten«, meinte Nicole mit kurzem Lachen, »Porzellanscherben, Trinkgelder und Bleistiftstummel.«

»Richtig – aber die Sache mußte wissenschaftlich bewiesen werden. Und da ich es mit der singenden Säge machen wollte, wäre von Trübseligkeit dabei keine Rede gewesen.«

»Wolltest du auf der Säge spielen, während du die Operation ausführtest?« erkundigte sich Tommy.

»So weit kamen wir nicht. Das Schreien beunruhigte uns. Wir hatten Angst, er könnte einen Bruch bekommen.«

»Das klingt mir alles sehr sonderbar«, sagte Nicole. »Ein Musiker, der die singende Säge eines anderen Musikers benutzt, um –«

Sie hatten eine halbe Stunde bei Tisch gesessen, und eine sichtbare Veränderung war mit ihnen vorgegangen – jeder hatte, einer nach dem anderen, etwas abgestreift: ein Vorurteil, eine Ängstlichkeit, ein Mißtrauen, und jetzt war jeder von ihnen nur noch sein besseres Ich und Divers Gast. Wäre man nicht liebenswürdig und interessiert gewesen, hätte das ein schlechtes Licht auf die Divers geworfen; darum gab sich jetzt jeder Mühe, und als Rosemarie das sah, hatte sie alle gern – außer McKisco, der es als einziger fertiggebracht hatte, sich der Gesellschaft nicht anzupassen. Das hatte weniger mit böser Absicht als mit seinem Entschluß zu tun, sich mit Hilfe des Weins die gute Laune zu erhalten, in der er sich bei seiner Ankunft befunden hatte. Zurückgelehnt auf seinem Platz zwischen Earl Brady, an den er mehrere herabsetzende Bemerkungen über den Film gerichtet hatte, und Frau Abrams, mit der er gar nicht redete, starrte er Dick Diver mit dem Ausdruck vernichtender Ironie an, was gelegentlich durch den Versuch unterbrochen wurde, Dick über den Tisch hinweg in eine Unterhaltung zu verwickeln.

So sagte er zum Beispiel: »Sind Sie nicht ein Freund von Van Buren Denby?«

»Ich glaube nicht, daß ich ihn kenne.«

»Ich dachte, Sie seien ein Freund von ihm«, beharrte er gereizt.

Als das Thema Denby unter seiner eigenen Last zusammengebrochen war, versuchte er es mit anderen, gleich belanglosen Dingen, doch jedesmal schien ihn Dicks ungemein verbindliche Aufmerksamkeit zu lähmen, und nach einem Moment krampfhaften Schweigens ging die Unterhaltung, die er unterbrochen hatte, ohne ihn weiter. Er versuchte, sich in andere Unterhaltungen einzuschalten, aber es war jedesmal wie ein Händedruck mit einem Handschuh, aus dem die Hand zurückgezogen war, und schließlich machte er ein gottergebenes Gesicht, als befände er sich unter Kindern, und konzentrierte seine Aufmerksamkeit völlig auf den Champagner.

Rosemaries Blicke wanderten von Zeit zu Zeit über die Tafel, besorgt um das Vergnügen der anderen, so als wären sie ihre künftigen Stiefkinder. Ein anmutiges Licht, das von einer Schale mit wohlriechenden Nelken ausging, fiel auf Frau Abrams' Gesicht, das, durch den Veuve Cliquot ganz verändert, voll von Lebenskraft, Duldsamkeit und jugendlichem Frohsinn war; neben ihr saß Royal Dumphry, dessen mädchenhafte Anmut in der abendlichen Welt des Vergnügens weniger auffiel; dann Violet McKisco, deren Niedlichkeit an den Tag gekommen war, und die sich nicht länger damit abmühte, das Schattendasein zu begreifen, das sie als Frau eines Arrivierten führte, der nicht arriviert war.

Dann kam Dick, beladen mit den Schlacken, von denen er die anderen befreit hatte, und ganz in seinem Fest aufgehend.

Dann ihre Mutter, wie immer vollkommen.

Dann Barban, der sich mit soviel verbindlicher Gewandtheit mit ihrer Mutter unterhielt, daß Rosemarie ihn wieder gern haben mußte. Dann Nicole. Plötzlich sah Rosemarie sie in einem anderen Licht; sie hielt sie für einen der schönsten Menschen, die sie jemals gesehen hatte. Ihr Gesicht, das Gesicht einer Heiligen, einer Wikingermadonna, leuchtete durch die winzigen Stäubchen, die vor dem Kerzenlicht tanzten, holte sich seinen rötlichen Hauch von den weinfarbenen Laternen in der Pinie. Sie war sehr still.

Abe North sprach mit ihr über seinen moralischen Kodex. »Natürlich besitze ich einen«, beharrte er. »Ein Mann kann nicht ohne moralischen Kodex leben. Meiner besteht darin, daß ich gegen Hexenverbrennungen bin. Immer wenn eine Hexe verbrannt wird, wird es mir heiß unterm Kragen.« Rosemarie wußte durch Brady, daß er ein Musiker war, der nach einem glänzenden Aufstieg, der dem eines Wunderkindes glich, seit sieben Jahren nichts mehr komponiert hatte.

Als nächster kam Campion, dem es irgendwie gelungen war, sein widerlich weibisches Wesen zu unterdrücken, ja sogar den Zunächstsitzenden mit einer gewissen unverbindlichen Zutunlichkeit zu begegnen. Dann Mary North mit einem so fröhlichen Gesicht, daß es unmöglich war, das Lächeln, das in dem weißen Spiegel ihrer Zähne wohnte, nicht zu erwidern; die Umgebung ihrer geöffneten Lippen gewährte einen lieblichen Anblick.

Schließlich noch Brady, der seine rauhe Herzlichkeit von Minute zu Minute mehr dem gesellschaftlichen Ton anpaßte, statt, wie er es zu Anfang getan hatte, immer wieder in aufdringlicher Weise seinen gesunden Menschenverstand ins Treffen zu führen, indem er sich von den Schwächen der anderen lossagte, um ihn sich zu bewahren.

Rosemarie, voll taufrischer Gläubigkeit wie ein Kind aus einer kitschigen Schauergeschichte, hatte das Gefühl, als sei sie von einem Jahrmarkt voller niederziehender, gemeiner Belustigungen nach Hause zurückgekehrt. Leuchtkäfer zogen durch die dunkle Luft, und auf einem tiefer unten gelegenen Felsvorsprung bellte ein Hund. Die Tafel schien sich, wie eine mechanisch bewegte Tanzplattform, etwas zum Himmel erhoben zu haben; das gab den Menschen, die an ihr saßen, die Empfindung, als seien sie miteinander allein im dunklen All und würden mit seiner Nahrung gespeist, von seinen Lichtern erwärmt. Und als sei ein merkwürdig gedämpftes Lachen Frau McKiscos ein Signal dafür gewesen, daß diese Loslösung von der Welt sich vollzogen habe, fingen die Divers plötzlich an, lebendig, interessiert und freundlich zu werden, so als wollten sie ihre Gäste, die bereits so geschickt ihrer Bedeutung versichert worden waren und sich von soviel Höflichkeit geschmeichelt fühlten, für alles das entschädigen, was ihnen etwa fehlen könnte, weil es in dem zurückgelassenen Land verblieben war. Eine Minute lang schienen die Divers mit jedem am Tisch zu sprechen, einzeln und zusammen, und sie ihrer freundschaftlichen Gesinnung und ihrer Zuneigung zu versichern. Und eine Minute lang waren die Gesichter, die sich ihnen zuwandten, wie die Gesichter armer Kinder unterm Weihnachtsbaum. Dann, mit einemmal, wich der Bann – der Augenblick, da sich die Gäste über die Freuden der Tafel hinaus kühn ins Reich des Gefühls erhoben hatten, war vorüber, ehe er entweiht werden konnte, ehe er ihnen überhaupt zum Bewußtsein gekommen war.

Aber der dem heißen, süßen Süden anhaftende Zauber hatte sich in die sanftselige Nacht und die gespenstige Brandung des Mittelmeers tief unten zurückgezogen; der Zauber verließ diese Dinge, ging in die beiden Divers über und wurde zu einem Teil von ihnen. Rosemarie beobachtete, wie Nicole ihrer Mutter ein gelbes Abendtäschchen aufnötigte, das diese bewundert hatte, indem sie sagte: »Ich finde, alle Dinge sollten den Menschen gehören, denen sie gefallen«, und wie sie dann alle gelben Gegenstände hineinsteckte, die sie fand: einen Bleistift, einen Lippenstift, ein kleines Notizbuch, »weil sie alle zusammenpassen«.

Nicole entfernte sich, und gleich darauf merkte Rosemarie, daß Dick nicht mehr da war; die Gäste zerstreuten sich in den Garten oder begaben sich zur Terrasse.

»Kommen Sie mit ins Badezimmer?« fragte Frau McKisco Rosemarie.

»Nicht in diesem Augenblick.«

»Ich gehe jedenfalls ins Badezimmer«, beharrte Frau McKisco. Als Frau, die alles offen heraus sagte, ging sie auf das Haus zu und zog ihr Geheimnis hinter sich her, während Rosemarie ihr mißbilligend nachblickte. Earl Brady machte ihr den Vorschlag, zur Strandmauer hinunterzugehen, aber sie fand, daß es endlich an der Zeit sei, etwas von Dick Diver zu haben, wenn er wieder erschien, und sie blieb stehen und hörte sich den Streit zwischen McKisco und Barban an.

»Warum wollen Sie die Sowjets bekämpfen?« fragte McKisco. »Das bedeutendste Experiment, das die Menschheit je unternommen hat! Und was ist mit den Rifkabylen? Mir scheint es viel heldenhafter, auf der richtigen Seite zu kämpfen.«

»Woher wollen Sie wissen, welche das ist?« fragte Barban trocken.

»Nun, für gewöhnlich weiß das jeder, der etwas Grips hat.«

»Sind Sie Kommunist?«

»Ich bin Sozialist«, sagte McKisco. »Ich sympathisiere mit Rußland.«

»Nun, und ich bin Soldat«, meinte Barban freundlich. »Mein Beruf ist es, Menschen zu töten. Gegen die Rifkabylen habe ich gekämpft, weil ich Europäer bin, und die Kommunisten habe ich bekämpft, weil sie mir mein Eigentum wegnehmen wollen.«

»Die Ausreden aller Bornierten!« McKisco blickte in die Runde, um für seinen Spott einen Bundesgenossen zu finden, aber ohne Erfolg. Er wußte nicht, woran er mit Barban war, ahnte weder etwas von der Schlichtheit der Ideenwelt des anderen noch von der Kompliziertheit seiner Erziehung. McKisco wußte, was Ideen waren, und in dem Maße, wie sein Geist wuchs, war er imstande, eine immer größere Anzahl davon zu erkennen und einzuordnen; aber da er einem Mann gegenüberstand, den er für dumm hielt, in dem er keine Ideen fand, die er als solche anerkannte, und dem er sich menschlich doch nicht überlegen fühlen konnte, zog er den kühnen Schluß, daß Barban das Endprodukt einer veralteten Welt und in dieser Eigenschaft wertlos sei. McKiscos Beziehungen zu den höchsten Kreisen Amerikas hatten ihm deren unsichere und linkische Vornehmtuerei eindrucksvoll zum Bewußtsein gebracht, ihr Vergnügen an Unwissenheit und ihr absichtlich ungehobeltes Benehmen, alles von den Engländern übernommen, ohne Rücksicht auf Faktoren, die englisches Philistertum und ungehobeltes Benehmen zweckvoll machen, und angewandt in einem Land, in dem ein wenig Wissen und Höflichkeit größere Kaufkraft besitzen als anderswo – eine Haltung, die ihren Höhepunkt um das Jahr 1900 in der »Harvard-Manier« erreicht hatte. Er zählte Barban zu diesem Typ, und da er betrunken war, vergaß er schnell, daß er ihn fürchtete.

Rosemarie, die sich unbestimmt für McKisco schämte, wartete ruhig, doch innerlich erregt auf Dick Divers Rückkunft. Mit Barban, McKisco und Abe an dem verlassenen Tisch sitzend, blickte sie von ihrem Stuhl aus den mit dunklen Myrten und Farnkraut gesäumten Weg zur Steinterrasse entlang, verliebte sich in das Profil ihrer Mutter, das sich von einer beleuchteten Tür abhob, und wollte gerade hingehen, als Frau McKisco eilig aus dem Haus gelaufen kam.

Sie strömte Erregung aus. Schon an der Schweigsamkeit, mit der sie einen Stuhl heranzog und sich setzte, während sie vor sich hinstarrte und ihr Mund sich zuckend bewegte, erkannten alle, daß sie einen Menschen vor sich hatten, der voll von Neuigkeiten steckte. Daß ihr Mann sagte: »Was ist los, Vi?«, war ganz natürlich, da aller Augen sich auf sie richteten.

»Mein Lieber«, sagte sie planlos und wandte sich dann Rosemarie zu, »meine Liebe – es ist nichts. Ich kann wirklich nichts sagen.«

»Sie befinden sich unter Freunden«, sagte Abe.

»Also oben habe ich eine Szene mitangesehen, meine Lieben –«

Mit einem geheimnisvollen Kopfschütteln hielt sie gerade rechtzeitig inne, denn Tommy erhob sich und sagte höflich, aber scharf:

»Es ist nicht ratsam, an dem Kritik zu üben, was in diesem Hause vorgeht.«


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