Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

IV

Abgekühlt und beschämt erwachte sie. Der Anblick ihrer Schönheit im Spiegel beruhigte sie nicht, im Gegenteil, er ließ den Schmerz von gestern Wiederaufleben. Auch ein Brief, den ihre Mutter ihr nachschickte, von einem jungen Mann, der sie im vorigen Herbst in Yale auf den Ball mitgenommen hatte und sie nun von seiner Anwesenheit in Paris in Kenntnis setzte, war kein Trost für sie – all das schien so weit weg zu sein. Als sie aus ihrem Zimmer dem peinlichen Wiedersehen mit den Divers entgegenging, war sie von zwiefachem Kummer beschwert. Doch verbarg er sich unter einer ebenso undurchdringlichen Schutzschicht wie die von Nicole, als sie sich trafen und zusammen zu einer Reihe von Anproben gingen. Immerhin war es tröstlich, daß Nicole von einer aufgeregten Verkäuferin sagte: »Die meisten Menschen glauben, daß sich alle Leute viel intensiver mit ihnen beschäftigen, als sie es tatsächlich tun – sie glauben, daß der anderen Leute Meinung über sie in großem Bogen zwischen Billigung und Mißbilligung hin und her pendelt.« Gestern hätte Rosemarie in ihrer großzügigen Stimmung diese Bemerkung abgelehnt, heute – im Bemühen, das, was geschehen war, zu bagatellisieren – war sie ihr höchst willkommen. Sie bewunderte Nicole um ihrer Schönheit und Klugheit willen, und zum erstenmal in ihrem Leben war sie eifersüchtig. Kurz bevor sie aus Gausses Hotel abgereist war, hatte ihre Mutter in jenem beiläufigen Ton, von dem Rosemarie wußte, daß er ihre bedeutungsvollsten Ansichten verbarg, gesagt, Nicole sei eine ausgesprochene Schönheit, worin die stillschweigende Folgerung lag, daß Rosemarie es nicht war. Doch das focht Rosemarie nicht an, der man erst vor ganz kurzer Zeit zu verstehen gegeben hatte, daß sie überhaupt annehmbar aussah; ihre Hübschheit empfand sie darum nie als etwas ihr Zugehöriges, sondern als Erworbenes, wie ihr Französisch. Nichtsdestoweniger betrachtete sie Nicole im Taxi und verglich sich mit ihr. Alle Voraussetzungen für romantische Liebe waren in dem lieblichen Körper gegeben und in dem zarten Mund, der zuweilen zusammengepreßt war und dann wieder sich erwartungsvoll, halbgeöffnet dem Leben darbot. Nicole war als junges Mädchen eine Schönheit gewesen, und sie würde auch später eine Schönheit sein, wenn sich ihre Haut fest über ihren hohen Backenknochen spannte; die wesentliche Struktur war vorhanden. Sie war nordisch weißblond gewesen, doch war sie jetzt mit ihrem nachgedunkelten Haar schöner als damals, da ihr Haar wie eine Wolke und schöner als ihr Gesicht gewesen war.

»Dort haben wir gewohnt.« Rosemarie zeigte auf ein Gebäude in der Rue des Saints-Pères.

»Das ist merkwürdig. Als ich zwölf Jahre alt war, haben Mutter, Baby und ich einmal einen Winter hier verlebt.« Und Nicole zeigte auf ein Hotel genau gegenüber. Die beiden schmutzigen Häuserfronten, ein grauer Widerschein ihrer Kindheit, starrten sie an.

»Wir hatten damals gerade unser Haus in Lake Forest gebaut und mußten uns einschränken«, fuhr Nicole fort. »Baby und ich zum mindesten und die Erzieherin schränkten uns ein, und Mutter befand sich auf Reisen.«

»Wir haben uns auch eingeschränkt«, sagte Rosemarie und war sich bewußt, daß jede von ihnen etwas anderes unter dem Wort verstand.

»Mutter drückte sich immer sehr vorsichtig aus und sprach von dem Haus als von einem kleinen Hotel –« Nicole ließ ihr kurzes, ansteckendes Lachen hören – »ich meine, statt zu sagen: ein ›billiges‹ Hotel. Wenn uns jemand von unseren protzigen Bekannten nach unserer Adresse fragte, sagten wir nie: ›Wir wohnen in einer schmutzigen kleinen Bude drüben im Apachenviertel, wo wir froh sein können, daß wir fließendes Wasser haben‹, sondern wir sagten: ›Wir wohnen in einem kleinen Hotel.‹ So als ob uns alle großen zu geräuschvoll und unfein gewesen wären. Natürlich durchschauten uns unsere Bekannten immer und sagten es allen weiter; aber Mutter pflegte zu sagen, es beweise, daß wir unsern Weg durch Europa finden würden. Und das tat sie auch wirklich: sie war als deutsche Staatsangehörige geboren, aber ihre Mutter war Amerikanerin, und sie war in Chicago aufgewachsen und war mehr Amerikanerin als Europäerin.«

Sie sollten sich in zwei Minuten mit den anderen treffen, und Rosemarie bereitete sich wiederum innerlich darauf vor, als sie in der Rue Guynemer, gegenüber dem Luxemburg-Garten, das Taxi verließen. Sie speisten in der schon ausgeräumten Wohnung des Ehepaars North, hoch über dem grünen Laubwerk der Bäume. Rosemarie erschien dieser Tag anders als der vorhergehende. Als sie Dick von Angesicht zu Angesicht sah, begegneten sich ihre Blicke und streiften sich wie Vogelschwingen. Und danach war alles in Ordnung, alles war herrlich, denn sie wußte, daß er anfing, sich in sie zu verlieben. Sie fühlte sich überschäumend glücklich, fühlte, wie eine warme Welle von Erregung durch ihren Körper pulsierte. Eine ruhige, klare Zuversicht klang und vertiefte sich in ihr. Sie sah Dick kaum an, aber sie wußte, daß alles in Ordnung war.

Nach dem Lunch fuhren die Divers, Norths und Rosemarie zur Franko-Amerikanischen Filmgesellschaft, wo sie sich mit Collis Clay treffen wollten, Rosemaries jungem Mann aus New Haven, den sie angerufen hatte. Er stammte aus Georgia und hatte die auffallend wohlgeordneten, ja schablonenhaften Ideen der Südländer, die im Norden zur Schule gehen. Im vergangenen Winter war er ihr anziehend erschienen – einmal hatten sie von New Haven nach New York Hand in Hand im Auto gesessen –, jetzt existierte er nicht mehr für sie.

Im Projektionsraum saß sie zwischen Collis Clay und Dick, während der Mechaniker die Spule für »Vatis Mädelchen« einsetzte und ein französischer Spielleiter um sie herumtänzelte und versuchte, in amerikanischem Slang zu reden. »Mensch«, sagte er, als es mit dem Projektionsapparat nicht klappen wollte, »ausgerechnet Bananen.« Dann ging das Licht aus, ein plötzliches Knacken und ein schnurrendes Geräusch waren zu vernehmen, und endlich war sie mit Dick allein. Sie blickten sich im Halbdunkel an.

»Liebe Rosemarie«, murmelte er. Ihre Schultern berührten sich. Nicole bewegte sich unruhig am Ende der Reihe, und Abe hustete krampfhaft; und schnaubte sich; dann kamen sie zur Ruhe, und der Film lief an.

Das war sie – das Schulmädchen vom vergangenen Jahr, mit dem Haar, das so steif gewellt über ihren Rücken fiel wie das starre Haar einer Tanagrafigur; das war sie – so jung und unschuldig, das Produkt der liebevollen Sorgfalt ihrer Mutter; das war sie – verkörperte die ganze Unreife dieser Altersstufe, schuf eine neue Ankleidepuppe, die mit ihrem ausdruckslosen Dirnenlächeln an ihnen vorüberzog. Sie erinnerte sich, wie sie sich in dem Kleid gefühlt hatte: besonders frisch und neu unter der frischen, jungen Seide.

Vatis Mädelchen. War es nicht ein tapferes kleines Ding und mußte soviel ausstehen! O, soooo süß, das süßeste Dingelchen! War sie nicht eigentlich zu süß? Unter ihrer kleinen Hand lösten sich die Kräfte der Begierde und der Verderbtheit in Nichts auf. Das Schicksal hielt in seinem Lauf inne, das Unvermeidliche konnte vermieden werden, ja logische Schlüsse, Dialektik und jegliche vernünftige Denkweise wurden zunichte. Die Frauen vergaßen dabei ihren Aufwasch zu Hause und weinten; selbst auf der Leinwand weinte eine Frau so anhaltend, daß sie Rosemarie fast an die Wand gespielt hätte. Sie weinte während der Dauer einer Folge von Aufnahmen, die ein Vermögen kostete: in einem Duncan Phyfe-Eßzimmer, auf einem Flugplatz, während einer Segelregatta, die nur zweimal ganz kurz zu sehen war, in einer Untergrundbahn und schließlich in einem Badezimmer. Aber Rosemarie trug den Triumph davon. Die Anständigkeit ihres Charakters, ihr Mut, ihre Standhaftigkeit wurden von der Gemeinheit der Welt bedrängt, und Rosemarie zeigte mit einem Gesicht, das noch nicht zur Maske geworden war, was das bedeutete – es war wirklich so ergreifend, daß die Erregung der Zuschauer in der Sitzreihe sich ihr während der Vorführung von Zeit zu Zeit mitteilte. Einmal riß der Film, das Licht ging an, und nachdem sich der Beifall gelegt hatte, sagte Dick in aufrichtigem Ton zu ihr: »Ich bin wirklich erstaunt. Du wirst eine der größten Schauspielerinnen werden.«

Dann rollte der Film weiter: glücklichere Tage kamen, und eine wunderhübsche Aufnahme vereinigte am Schluß Rosemarie und ihren Vater unter so offenkundiger Betonung des Vaterkomplexes, daß Dick im Namen aller Psychologen über die verwerfliche Sentimentalität entsetzt war. Das Bild verschwand, das Licht flammte auf, der Augenblick war gekommen.

»Ich habe noch etwas in petto«, verkündigte Rosemarie der versammelten Gesellschaft. »Ich habe eine Probe für Dick arrangiert.«

»Eine was?«

»Eine Probeaufnahme. Sie wird gleich gemacht werden.«

Ein schreckliches Schweigen folgte, dann ein nicht zu unterdrückendes Lachen von dort her, wo die Norths saßen. Rosemarie beobachtete, wie Dick begriff, was sie meinte, wobei er sein Gesicht in einer für ihn charakteristischen Weise verzog. Gleichzeitig merkte sie, daß sie mit dem Ausspielen ihres Trumpfes einen Fehler begangen hatte, und doch glaubte sie nicht, daß es eine Verlustkarte gewesen war.

»Ich will keine Probeaufnahme«, meinte Dick bestimmt, dann, die Situation als Ganzes betrachtend, fuhr er leichthin fort: »Rosemarie, ich bin enttäuscht. Der Film ist eine schöne Karriere für Frauen, aber, mein Gott, man kann mich doch nicht photographieren. Ich bin ein alter, ganz in sein Privatleben eingesponnener Gelehrter.«

Nicole und Mary bestürmten ihn ironisch, die Gelegenheit zu ergreifen; sie neckten ihn, beide ein wenig verärgert, daß sie nicht aufgefordert worden waren. Aber Dick tat das Thema mit einem ziemlich schroffen Urteil über Schauspieler ab. »Der stärkste Wächter wird an die Pforte zum Nichts gestellt«, sagte er. »Vielleicht, weil der Zustand der Leere zu beschämend ist, um enthüllt zu werden.«

Im Taxi mit Dick und Collis Clay – sie setzten Collis ab, und Dick nahm Rosemarie mit zu einem Tee, den Nicole und das Ehepaar North abgesagt hatten, um die Sachen zu erledigen, die Abe bis zum letzten Moment liegengelassen hatte –, im Taxi machte Rosemarie ihm Vorwürfe.

»Ich wollte die Probeaufnahme, falls sie gut geraten wäre, nach Kalifornien mitnehmen. Und vielleicht, wenn sie damit zufrieden gewesen wären, hättest du hinkommen und der Hauptdarsteller in einem meiner Filme werden können.«

Er war überwältigt. »Das war ein verteufelt reizender Gedanke, aber ich sehe mir lieber dich an. Du warst so ziemlich der hübscheste Anblick, den ich je genossen habe.«

»Der Film ist ganz groß«, sagte Collis. »Ich habe ihn viermal gesehen. Ich kenne einen Jungen in New Haven, der ihn sich ein dutzendmal angesehen hat; einmal ging er den ganzen Weg nach Hartford zu Fuß, um ihn zu sehen. Und als ich Rosemarie mit nach New Haven brachte, war er so schüchtern, daß er sie nicht sehen wollte. Hat man je so etwas erlebt? Vor diesem Mädchen werden alle klein und häßlich.«

Dick und Rosemarie sahen sich an und wollten gern allein sein, aber Collis war begriffsstutzig.

»Ich werde Sie dort absetzen, wo Sie hinfahren wollen«, schlug er vor. »Ich wohne im Lutetia.«

»Wir werden Sie absetzen«, sagte Dick.

»Es ist mir lieber, wenn ich Sie absetze. Es macht mir nichts aus.«

»Ich glaube, es wird besser sein, wenn wir Sie absetzen.«

»Aber –«, begann Collis; dann begriff er und vereinbarte mit Rosemarie ein Wiedersehen.

Endlich hatte er sich entfernt und mit ihm die schattenhafte Belanglosigkeit und dennoch unangenehme Gegenwart des lästigen Dritten. Unerwartet und unerwünscht schnell hielt der Wagen bei der Adresse, die Dick angegeben hatte. Er holte tief Luft.

»Sollen wir hineingehen?«

»Mir liegt nichts daran«, sagte Rosemarie. »Ich tue alles, was du willst.«

Er überlegte.

»Ich muß eigentlich hingehen. Sie will Gemälde von einem meiner Freunde kaufen, der das Geld braucht.«

Rosemarie strich sich über ihr in Unordnung geratenes Haar.

»Wir bleiben nur fünf Minuten«, entschied er. »Die Leute werden dir nicht gefallen.«

Sie nahm an, daß es langweilige, alltägliche Leute waren oder unfeine, betrunkene Leute oder unangenehme hartnäckige Leute, kurz die Art Leute, denen die Divers aus dem Wege gingen. Sie war vollkommen unvorbereitet auf den Eindruck, den die Szene dann auf sie machte.


 << zurück weiter >>