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XIII

Als er hinausgetorkelt war, umarmten sich Dick und Rosemarie flüchtig. Paris lag wie eine Wolke über ihnen, durch die hindurch sie einer des anderen Geruch spürten: die Gummihülle von Dicks Füllfederhalter, den schwachen Duft der Wärme von Rosemaries Nacken und Schultern. Eine halbe Minute lang hielt Dick die Situation fest; Rosemarie kehrte als erste in die Wirklichkeit zurück.

»Ich muß gehen, mein Junge«, sagte sie.

Sie nickten sich zu, indes sie sich voneinander entfernten, und Rosemarie verschwand von der Bildfläche auf eine Art, die sie in jungen Jahren gelernt hatte und die von keinem Direktor jemals beanstandet worden war.

Sie öffnete die Tür ihres Zimmers und ging geradeswegs zu ihrem Schreibtisch; denn es war ihr plötzlich eingefallen, daß sie ihre Armbanduhr dort hatte liegen lassen. Sie fand sie, und während sie sie umband, blickte sie hinab auf den täglichen Brief an ihre Mutter und beendete in Gedanken den letzten Satz. Dann – eigentlich ganz allmählich und ohne sich umzudrehen – wurde sie sich bewußt, daß sie nicht allein im Zimmer war.

In einem bewohnten Raum gibt es glänzende, das Licht brechende Gegenstände, die kaum beachtet werden: lackiertes Holz, mehr oder weniger blank poliertes Messing, Silber und Elfenbein und außerdem tausend andere Quellen von Licht und Schatten, die so schwach sind, daß sie kaum als solche empfunden werden: die Kanten von Bilderrahmen, die Ränder von Bleistiften oder Aschenbechern, von Kristall oder Porzellan. Auf die Gesamtheit dieser Lichtbrechungen reagieren die ebenfalls feinen Gesichtsreflexe genau so wie die Erinnerungsbruchstücke in unserem Unterbewußtsein, die wir zu bewahren scheinen, so wie der Glaser unregelmäßige Glasscherben aufhebt, weil er sie eines Tages noch brauchen kann – diese Tatsache könnte vielleicht eine Erklärung dafür abgeben, was Rosemarie späterhin geheimnisvoll mit den Worten umschrieb, es sei ihr »zum Bewußtsein gekommen«, daß jemand im Zimmer war, bevor sie es feststellen konnte. Aber als es ihr zum Bewußtsein kam, drehte sie sich rasch, mit einer Art Tanzschritt, um und sah, daß ein toter Neger auf ihrem Bett lag.

Als sie »Ohuhuhu!« schrie, indes ihre noch nicht richtig befestigte Armbanduhr gegen den Schreibtisch schlug, hatte sie die unsinnige Vorstellung, es sei Abe North. Dann stürzte sie aus der Tür über den Flur.

Dick war dabei, sich umzuziehen. Die Handschuhe, die er an dem Tag getragen hatte, wurden nach eingehender Prüfung auf einen Haufen schmutziger Handschuhe in eine Ecke des Koffers geworfen. Rock und Weste wurden aufgehängt, sein Hemd auf einen gesonderten Bügel – eine seiner Eigentümlichkeiten. »Ein etwas angeschmutztes Hemd wird man eher anziehen als ein verknittertes.« Nicole war hereingekommen und kippte einen von Abes verrückten Aschenbechern in den Papierkorb aus, als Rosemarie ins Zimmer gestürzt kam.

»Dick! Dick! Komm und sieh dir das an!«

Dick lief über den Flur in ihr Zimmer. Er kniete hin, behorchte Petersons Herz und fühlte nach dem Puls – der Körper des Toten war noch warm, das im Leben gequälte, verkniffene Gesicht war im Tod stumpf und traurig. Der Werkzeugkasten war unter einen Arm geklemmt, aber der Schuh, der über die Bettkante herunterhing, hatte schon lange keinen Schuhkrem gesehen, und die Sohle war durchgelaufen. Nach dem französischen Gesetz hatte Dick kein Recht, die Leiche zu berühren, doch hob er den Arm ein wenig auf, um etwas festzustellen – auf der grünen Steppdecke war ein Fleck, und auf dem Oberlaken darunter war wahrscheinlich auch etwas Blut.

Dick schloß die Tür und überlegte; er vernahm behutsame Schritte auf dem Flur und dann Nicoles Stimme, die seinen Namen rief. Er öffnete die Tür und flüsterte: »Bring die Steppdecke und das Oberlaken von einem unserer Betten – aber laß dich von niemandem sehen.« Dann, als er ihren gequälten Gesichtsausdruck wahrnahm, fügte er schnell hinzu: »Komm, du mußt dich nicht darüber aufregen – das war nur so eine Negerrauferei.«

»Ich wünschte, es wäre vorüber.«

Als Dick den Körper des Toten aufhob, merkte er, daß er leicht und unterernährt war. Er hielt ihn so, daß weitere Blutungen aus der Wunde in die Kleider des Mannes fließen mußten. Er legte ihn neben das Bett, entfernte die Bettdecke und das Oberlaken, dann öffnete er die Tür um einen Spalt und horchte – vom anderen Ende des Flurs erklang das Klappern von Geschirr, danach laut und gönnerhaft: »Merci, Madame«, aber der Kellner entfernte sich in der Richtung zur Dienertreppe. Schnell tauschten Dick und Nicole ihre Bündel über den Flur aus. Nachdem Dick die andere Decke auf Rosemaries Bett ausgebreitet hatte, stand er schwitzend im warmen Zwielicht und überlegte. Gewisse Gesichtspunkte hatten sich ihm aufgedrängt, nachdem er die Untersuchung der Leiche beendet hatte. Erstens, daß Abes erster feindlich gesinnter Indianer den freundlich gesinnten Indianer verfolgt und im Flur aufgespürt hatte und daß, als dieser in seiner Verzweiflung in Rosemaries Zimmer geflüchtet war, der Verfolger ihn dort gestellt und getötet hatte. Zweitens, daß, wenn man den Dingen ihren natürlichen Lauf ließ, keine Macht der Welt Rosemarie von dem Schmutzfleck reinwaschen konnte. Ihr Kontrakt legte ihr die Verpflichtung auf, unbedingt und einwandfrei weiterhin »Vatis Mädelchen« zu verkörpern.

Unwillkürlich machte Dick die altgewohnte Bewegung, als wolle er sich die Ärmel aufkrempeln, obwohl er ein ärmelloses Unterhemd trug, und beugte sich über die Leiche. Er packte an den Schultern des Rockes zu, klinkte die Tür mit dem Absatz auf und schleifte die Leiche auf den Flur, wo er sie in einer glaubwürdigen Stellung liegen ließ. Darauf ging er in Rosemaries Zimmer zurück, strich den Veloursteppich glatt, begab sich dann zum Telefon in seinem Zimmer und rief den Hoteldirektor an.

»McBeth? Hier ist Doktor Diver – eine Sache von Wichtigkeit. Sprechen wir auf einer Privatleitung?«

Es war gut, daß er den großen Festabend veranstaltet hatte, wodurch sich ihm McBeth stark verpflichtet fühlte. Hier konnte Nutzen aus all dem Scharm gezogen werden, den Dick im Verlauf eines langen Zeitraumes, der sich niemals wiederholen würde, hatte spielen lassen ...

»Als wir unsere Zimmer verließen, stießen wir auf einen toten Neger ... im Flur ... nein, nein, er ist Zivilist. Warten Sie einen Moment – ich wußte, Sie würden nicht wollen, daß irgendwelche Gäste über den Leichnam stolpern, darum rufe ich Sie an. Allerdings muß ich Sie bitten, meinen Namen aus dem Spiel zu lassen. Ich habe keine Lust, dem französischen Bürokratismus in die Hände zu fallen.«

Welch außerordentliche Rücksicht dem Hotel gegenüber! Nur weil Herr McBeth zwei Tage zuvor diesen Charakterzug Doktor Divers bemerkt hatte, konnte er der Geschichte ohne weiteres Glauben schenken.

Eine Minute später erschien Herr McBeth, und in einer weiteren Minute war ein Gendarm zur Stelle. In der kurzen Zwischenzeit fand der Direktor Gelegenheit, Dick zuzuflüstern: »Sie können ganz ruhig sein, der Name eines jeden Gastes wird geschont werden. Ich bin Ihnen für Ihre Mühe nur zu dankbar.«

Herr McBeth tat augenblicklich einen Schritt, über den sich lediglich Mutmaßungen anstellen ließen, der jedoch den Gendarm veranlaßte, in einem Anfall von Unruhe und Habgier an seinem Schnurrbart zu zupfen. Gewohnheitsmäßig machte er Notizen und telefonierte mit seiner Dienststelle. Inzwischen wurden mit einer Geschwindigkeit, die Jules Peterson, der Geschäftsmann, verstanden hätte, seine Überreste in ein anderes Zimmer eines der vornehmsten Hotels der Welt gebracht.

Dick kehrte in seinen Salon zurück.

»Was ist geschehen?« schrie Rosemarie. »Erschießen sich dauernd alle Amerikaner in Paris gegenseitig?«

»Das scheint die Jahreszeit dafür zu sein«, antwortete er. »Wo ist Nicole?«

»Ich glaube, im Badezimmer.«

Sie betete ihn an, weil er sie gerettet hatte – Katastrophen, die diese Begebenheit nach sich ziehen konnte, hatten sich ihrem Geist prophetisch gezeigt, und sie lauschte in ungestümer Verehrung Dicks starker, sicherer höflicher Stimme, die alles in Ordnung brachte. Aber bevor sie ihm in seelischem und körperlichem Elan näherkam, wurde seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes gelenkt: er ging ins Schlafzimmer und auf das Badezimmer zu. Und jetzt konnte auch Rosemarie laut und immer lauter einen Wortschwall vernehmen, der nichts Menschliches hatte und der durch die Schlüssellöcher und Türritzen drang, sich in das Zimmer ergoß und in Form von Entsetzen Gestalt annahm.

In der Meinung, daß Nicole im Badezimmer hingefallen sei und sich verletzt habe, folgte Rosemarie Dick. Doch nicht das war es, worauf sie schreckensstarr blickte, bevor Dick sie zurückdrängte und ihr schroff die Aussicht versperrte.

Nicole kniete neben der Badewanne und wiegte sich von einer Seite auf die andere. »Du bist es!« schrie sie. »Du kommst und dringst in den einzigen Raum ein, den ich auf der Welt für mich allein habe – mit deinem Tuch mit roten Blutflecken. Ich werde es für dich tragen – ich geniere mich gar nicht, obwohl es ein Jammer war. Am Narrenfesttag hatten wir eine Gesellschaft am Zürichsee, und alle Verrückten waren da, und ich wollte, mit einem Tuch bekleidet, hinkommen, aber sie erlaubten es nicht –«

»Nimm dich zusammen!«

»– darum setzte ich mich ins Badezimmer, und sie brachten mir einen Domino und sagten: ›Zieh den an‹ Und ich tat es. Was hätte ich sonst tun sollen?«

»Nimm dich zusammen, Nicole!«

»Ich habe nie geglaubt, daß du mich liebst – es war zu spät – nur komm nicht ins Badezimmer – den einzigen Ort, wo ich für mich sein kann – und schlepp nicht Tücher her mit rotem Blut darauf und verlang nicht von mir, daß ich sie in Ordnung bringe.«

»Nimm dich zusammen. Steh auf –«

Wieder im Salon, hörte Rosemarie, wie die Badezimmertür zugeknallt wurde, und stand zitternd da: jetzt wußte sie, was Violet McKisco im Badezimmer der Villa Diana gesehen hatte. Als das Telefon läutete, meldete sie sich und stieß einen Schrei der Erleichterung aus, als sie entdeckte, daß es Collis Clay war, der die Leitung nach Divers Zimmer hatte umlegen lassen. Sie bat ihn heraufzukommen, um mit ihr ihren Hut zu holen, denn sie hatte Angst, allein in ihr Zimmer zu gehen.


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