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IV

Es war fast zwei Uhr, als sie in den Speisesaal gingen. Über die verlassenen Tische huschte ein scharf geprägtes Muster von Lichtern und Schatten hin und her, der Bewegung der Pinien folgend, die draußen standen. Zwei Kellner, die Teller aufeinanderstapelten und laut italienisch miteinander redeten, verstummten, als sie hineinkamen, und brachten ihnen die dürftigen Überreste des Table d'hôte-Lunchs.

»Ich habe mich am Strand verliebt«, sagte Rosemarie.

»In wen?«

»Zuerst in eine ganze Menge Leute, die nett aussahen. Dann in einen Mann.«

»Hast du mit ihm gesprochen?«

»Nur ein paar Worte. Sieht sehr gut aus. Hat rötliches Haar.« Sie aß mit Heißhunger. »Aber er ist verheiratet – immer dieselbe Geschichte.«

Ihre Mutter war ihre beste Freundin und hatte alles bis zum Letzten in ihre Ausbildung gesteckt – nichts Seltenes im Theaterberuf, in diesem Fall aber etwas Besonderes, weil Frau Elsie Speers sich für ihre eigenen Verzichtleistungen nicht schadlos hielt. Dem Leben gegenüber kannte sie weder Bitterkeit noch Groll; zweimal befriedigend verheiratet und zweimal verwitwet, hatte sich ihr heiterer Gleichmut mit jedem Male verstärkt. Ihr erster Mann, Rosemaries Vater, war Militärarzt gewesen, der zweite Kavallerieoffizier; jeder hatte ihr etwas vererbt, und sie war bestrebt, es Rosemarie unangetastet zugute kommen zu lassen. Dadurch, daß sie Rosemarie nicht geschont hatte, war diese hart geworden – dadurch, daß sie selbst keine Arbeit und keine Mühe gescheut hatte, war in Rosemarie eine Schwärmerei großgezogen worden, die sich gegenwärtig ganz auf ihre Mutter konzentrierte, so daß sie die Welt mit deren Augen betrachtete. Wenngleich also Rosemarie Hoyt noch ganz kindlich war, hatte sie doch einen doppelten Schutz: die Lebensauffassung ihrer Mutter und ihre eigene – sie hatte ein ausgesprochenes Mißtrauen gegen alles Triviale, Oberflächliche und Gewöhnliche. Frau Speers jedoch fühlte nach Rosemaries plötzlichem Filmerfolg, daß es Zeit sei, sie seelisch zu entwöhnen; ja, es hätte sie weniger geschmerzt als gefreut, wenn diese etwas übertriebene, atemraubende und aggressive Schwärmerei sich außer auf sie noch auf ein anderes Objekt gerichtet hätte.

»Demnach gefällt es dir hier?« fragte sie.

»Es könnte nett sein, wenn wir die Leute kennenlernen würden. Es waren auch noch andere da, aber sie waren nicht sympathisch. Sie erkannten mich – wir können hinfahren, wohin wir wollen, jeder hat ›Vatis Mädelchen‹ gesehen.«

Frau Speers wartete, bis sich die Woge der Selbstgefälligkeit gelegt hatte, dann sagte sie in sachlichem Ton: »Übrigens, ich denke gerade daran – wann wirst du Earl Brady aufsuchen?«

»Ich dachte, wir könnten heute nachmittag hin, wenn du ausgeruht bist.«

»Du allein – ich komme nicht mit.«

»Dann warten wir eben bis morgen.«

»Ich möchte, daß du allein hingehst. Es ist doch nicht so weit – und schließlich sprichst du ja französisch.«

»Mutter – gibt's nicht irgend etwas, was ich nicht tun muß?«

»Nun gut, dann geh ein andermal, aber noch bevor wir fortfahren.«

»Gut, Mutter.«

Nach dem Lunch wurden sie beide von der plötzlichen Langeweile gepackt, wie sie amerikanische Reisende an stillen ausländischen Orten überfällt. Keine Anregung war vorhanden, keine Stimmen riefen von draußen nach ihnen, keine Bruchstücke ihrer eigenen Gedanken sprangen ihnen plötzlich aus den Köpfen anderer entgegen, und da sie den Trubel von New York vermißten, kam es ihnen vor, als stünde das Leben hier still.

»Wir wollen nur drei Tage hierbleiben, Mutter«, sagte Rosemarie, als sie wieder in ihren Zimmern waren. Draußen wirbelte ein leichter Wind die Hitze umher, drängte sie zwischen die Bäume und sandte kleine heiße Böen durch die Jalousien.

»Und was ist mit dem Mann, in den du dich am Strand verliebt hast?«

»Ich liebe nur dich allein, Mutter, mein Liebling.«

Rosemarie begab sich in die Halle und sprach mit Gausse Vater über Züge. Der Portier, der in hellbrauner Khakiuniform hinter seinem Tisch faulenzte, starrte sie unbeweglich an, dann plötzlich besann er sich darauf, was seinem Beruf zukam. Sie benutzte den Autobus und fuhr mit zwei unterwürfigen Kellnern zum Bahnhof. Ihr ehrerbietiges Schweigen irritierte sie, und sie hätte ihnen am liebsten gesagt: »Reden Sie doch, amüsieren Sie sich. Es stört mich nicht.«

In dem Erster-Klasse-Abteil war es erstickend heiß; die lebendigen Reklamebilder der Eisenbahngesellschaften – der Pont du Gard in Arles, das Amphitheater in Oranien, Wintersport in Chamonix – wirkten frischer als die weite, bewegungslose See draußen. Im Gegensatz zu amerikanischen Zügen, die von ihrer eigenen unbedingten Notwendigkeit durchdrungen sind und Leute aus einer anderen, weniger flinken und atemlosen Welt verachten, war dieser Zug ein Bestandteil des Landes, durch das er fuhr. Sein Luftzug wehte den Staub von den Palmblättern, die Kohlenasche vereinigte sich mit dem getrockneten Mist in den Gärten. Rosemarie hatte den Eindruck, sie könne sich aus dem Fenster lehnen und Blumen pflücken.

Vor dem Bahnhof in Cannes schliefen ein Dutzend Droschkenkutscher in ihren Wagen. Gegenüber auf der Promenade kehrten das Kasino, die eleganten Läden und die großen Hotels der sommerlichen See blinde, eiserne Masken zu. Es war unvorstellbar, daß es jemals eine »season« gegeben haben sollte, und Rosemarie, die unter dem Einfluß dessen stand, was für schick galt, hatte ein bedrücktes Gefühl, weil sie sich in der toten Saison hier aufhielt; als würden sich die Leute darüber Gedanken machen, warum sie in der Ruhepause zwischen der Fröhlichkeit des vorigen und des nächsten Winters hier war, während oben im Norden das Leben dahinbrauste.

Als sie mit einem Fläschchen Kokosnußöl aus einer Drogerie kam, kreuzte ihren Weg eine Dame, in der sie Frau Diver wiedererkannte; sie hatte die Arme voller Sofakissen und ging zu einem Wagen, der am Ende der Straße parkte. Ein langer, kurzbeiniger schwarzer Hund bellte sie an, ein Chauffeur, der eingenickt war, fuhr hoch. Sie saß im Wagen, ihr liebliches Gesicht unbeweglich und beherrscht, ihre schönen Augen blickten aufmerksam geradeaus ohne festes Ziel. Ihr Kleid war leuchtend rot, und ihre braunen Beine waren ohne Strümpfe. Sie hatte dichtes, dunkles, goldenes Haar wie ein Chow-Chow.

Da Rosemarie eine halbe Stunde auf ihren Zug warten mußte, setzte sie sich ins Café des Aliées auf der Croisette, wo die Bäume ein grünes Zwielicht auf die Tische zauberten und eine Kapelle ein imaginäres Publikum von Kosmopoliten mit dem Nizza-Karnevalslied und den vorjährigen amerikanischen Schlagern umwarb. Sie hatte Le Temps und The Saturday Evening Post für ihre Mutter gekauft, und während sie ihr Zitronenwasser trank, öffnete sie das amerikanische Blatt bei den Memoiren einer russischen Fürstin und fand die unklaren gesellschaftlichen Konventionen der neunziger Jahre wirklicher und lebensnaher als die Schlagzeilen des französischen Blattes. Es war das gleiche Gefühl, das sie im Hotel bedrückt hatte. Gewohnt, die ausgefallensten Wunderlichkeiten eines Erdteils, stark unterstrichen, als Komödie oder als Tragödie zu betrachten, und ungeübt in der Kunst, das Wesentliche für sich herauszuschälen, begann sie jetzt, das französische Leben schal und leer zu finden. Dieses Gefühl verstärkte sich noch, als sie den traurigen Melodien der Kapelle lauschte, die an die melancholische Musik bei akrobatischen Darbietungen in Vaudevilles erinnerte. Sie war froh, als sie wieder in Gausses Hotel war.

Ihre Schultern waren zu verbrannt, als daß sie am nächsten Tag hätte schwimmen können. So mieteten sie und ihre Mutter einen Wagen – nach vielem Feilschen, denn Rosemarie hatte die Bewertung des Geldes in Frankreich gelernt – und fuhren an der Riviera, dem Mündungsgebiet vieler Flüsse, entlang. Der Chauffeur, ein russischer Zar aus der Zeit Iwans des Schrecklichen, hatte eigenmächtig die Führung übernommen, und die schillernden Namen – Cannes, Nizza, Monte Carlo – begannen aus ihrer trägen Verschleierung hervorzuleuchten und erzählten flüsternd von alten Königen, die hergekommen waren, um zu schmausen oder zu sterben, von Maharadschas, die englischen Tänzerinnen Edelsteine aus Buddhastatuen zuwarfen, und von russischen Großfürsten, die in den entschwundenen Zeiten des Kaviars ihren Aufenthalt im Süden in nordische helle Nächte verwandelten. Am offensichtlichsten war an der Küste die Spur der Russen zurückgeblieben: ihre geschlossenen Bücherläden und Kolonialwarengeschäfte. Elf Jahre zuvor, als im April die Saison zu Ende ging, wurden die Türen ihrer orthodoxen Kirche abgeschlossen, und der süße Champagner, den sie liebten, wurde für ihre Rückkunft aufbewahrt. »Wir kommen nächste Saison wieder«, sagten sie, aber – sie kamen nie mehr zurück.

Es war hübsch, am späten Nachmittag zum Hotel zurückzufahren, hoch über einem Meer, das geheimnisvoll getönt war wie die Achate und Karneole der Kindheit: grün wie grünliche Milch, bläulich wie Wasser mit Wäscheblau, dunkel wie Wein. Es war hübsch, an den Menschen, die vor ihren Häusern speisten, vorbeizufahren und den wilden Klängen der mechanischen Klaviere hinter den Weinstöcken der ländlichen Gasthäuser zu lauschen. Als sie von der Corniche d'Or abbogen und auf Gausses Hotel zufuhren, durch dämmrige Gruppen von Bäumen, deren Grün sich in vielen Schattierungen voneinander abhob, schwebte der Mond bereits über den Ruinen des Aquädukts.

Irgendwo in den Bergen hinter dem Hotel fand ein Tanzvergnügen statt, und Rosemarie lauschte der Musik in dem gespenstigen Mondlicht unter ihrem Moskitonetz; sie stellte sich vor, daß auch anderswo Fröhlichkeit herrschte, und dachte an die netten Leute am Strand. Vielleicht würde sie sie am Vormittag treffen; aber anscheinend bildeten sie eine kleine Gesellschaft für sich, und wenn sie erst einmal ihre Bambusmatten, Hunde und Kinder untergebracht hatten, war dieser Teil des Strandes buchstäblich eingezäunt. Rosemarie faßte auf alle Fälle den Entschluß, ihre letzten beiden Vormittage nicht mit den andern zu verbringen.


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