Wilhelm Fischer
Frühlingsleid
Wilhelm Fischer

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IX.

Ihm aber war es trüb zu Mute, als er wieder auf die Gasse trat. Es fehlte ihm etwas, als wäre ihm irgend ein Licht aus seinem jungen Leben hinweg genommen worden. Nun war es mit Rene vorbei: er konnte sie nicht mehr sehen. Und mit seinem kindlichen Leid im Herzen, vergaß er auf alles, nur das eine fühlte er: die Dunkelheit der Stunde, die über ihn gekommen. So schritt er, ohne zu wissen, wohin, die Gasse hinab, als ihn Ploni einholte, die gerade freien Ausgang hatte. Sie richtete einige Worte an ihn, und indem sie ihn anblickte, wurde sie bestürzt über den verstörten Ausdruck seines Gesichtes.

145 »Was ist dir, Balder?« fragte sie. »Was ist dir geschehen?«

»Nichts«, antwortete er; »mir ist gar nichts geschehen. Wie kannst du nur so fragen, Ploni?« Und er versuchte zu lächeln, doch sein Auge hellte sich dabei nicht auf.

»Aber doch, dir ist etwas, Balder«, wiederholte sie besorgt.

»Nein, nein«, sagte er nun gereizt. »Wenn du mich nicht ärgern willst, so denke so etwas nicht.«

Da sie ihn genugsam kannte, begütigte sie ihn in ihrer trauten Weise und fragte dann: »Willst du nicht mitkommen? Wir gehen spazieren. Ich habe heute von deiner Mutter Erlaubnis bekommen, eine Verwandte zu besuchen; aber weil es so schön ist, möchte ich lieber ein bißchen im Grünen gehen. Willst du mitkommen?«

»Ja,« erwiderte er. Es widerstrebte ihm, nach Hause zu gehen und sich auch den Fragen der Mutter auszusetzen, die gewiß nicht ausbleiben würden; denn er wußte, daß sein Antlitz nichts verheimlichen konnte.

146 So zog er es vor, mit Ploni zu gehen. Diese kehrte nur noch um, um ihrer Frau zu berichten, daß sie Balder mitnehme, und war rasch wieder zur Stelle. Dann trat sie den Spaziergang mit dem kindlichen Begleiter an.

Sie erreichten den Baumgang, der sich auf dem alten Stadtwalle in unabsehbarer Windung dahin zog. Seine hundertjährigen Kastanienbäume bildeten ein grünes Dach, unter dem sie in wohliger Kühle dahin schritten. Ihr lachte das Herz über die prächtigen Bäume, die sich ihres langen Lebens wonnesam zu erfreuen schienen. Aber zum Lachen war es keine Zeit, dachte sie; denn Balder ging noch immer trübsinnig an ihrer Seite und hatte kein Auge für das herrliche Laub, das sich zu beiden Seiten und über ihnen in einander schlang.

»Höre, als du noch ein ganz kleines Kind warst«, begann sie, »da hab' ich dich schon gepflegt. Damals konntest du sehr heiter sein, aber auch mit großen Augen ernst schauen, das ist wahr. Doch lange hat es nicht gedauert, und du warst wieder fröhlich. Warum nicht auch 147 jetzt? Denk' einmal nach, vielleicht geht's. Was fehlt dir?«

»Mir fehlt nichts«, erwiderte er sanft.

»Das will ich meinen! bist du doch, Gott sei Dank, ein gesunder und frischer Bub'. Aber damals, in der Zeit, an die ich zurück denke, war's doch anders. Da bist du tüchtig herumgaloppiert. Erinnerst du dich noch an den Hund, den du so lieb gehabt hast?«

Er nickte mit dem Kopfe.

»Ja, du erinnerst dich. Er hat Wuck geheißen, war groß, und die weiße Wolle ist dick und zottig auf seinem Leib gesessen. Einmal an einem Sommerabend, es war wie heut', komm' ich in die Stube, du hast dich mit Wuck den ganzen Nachmittag im Hof herumgetrieben, das machte euch beiden warm; – also komm' ich in die Stube, da liegt Wuck lang dahin gestreckt unter dem Tisch und schnarcht, und wer liegt mit beiden kleinen Armen um seinen Hals und die Wange tief in die Wolle gedrückt? Balder. O, das war herzig anzusehen, der Hund und das 148 Kind, wie sie zusammenliegen und schlafen! Das weißt du nicht mehr?«

»Nein,« sagte er.

»Der arme Wuck«, fuhr sie fort, »er war so brav, hat niemandem nie nichts zu Leid gethan; aber ein böser Nachbar hat ihn heimlich mit Gift vergeben, weil sich die Leute vor ihm geschreckt haben. Das hat aber derselbige gelogen. Nie, Zeit meines Lebens, vergeß' ich's, wie mich der arme Wuck in seiner letzten Stunde mit den Augen eines Menschen angesehen hat, der sagen will: Kannst du mir nicht helfen? Nein, ich hab' ihm nicht helfen können. Und der Arme ist gestorben. Noch jetzt möcht' ich weinen, wenn ich daran denke.«

Und sie führte das weiße Taschentuch, das sie sorgsam in der Hand trug, zum Auge.

Sie bedachte jedoch, daß sie ihren kindlichen Begleiter aufheitern wolle und nun selber trübsinnig werde. So trocknete sie rasch die Thräne, die zwischen ihren Wimpern glänzte und sagte: »Das sind alte Geschichten, auf die ich da komme. Aber heute wär's schon zu schön in dieser 149 Gotteswelt, wenn du nur nicht traurig wärst, Balder.«

Inzwischen waren sie so weit im Baumgang gekommen, daß sie den grün bewaldeten Berg aufsteigen sahen, der einst wehrhaft zum Schutz und Trutz der Stadt diente und nun die Krone ihrer Schönheit bildete: den Schloßberg.

»Gehen wir hinauf«, sagte sie, und Balder folgte ihr gern. Wie sie höher stiegen, so ward es ihm leichter zu Mute. Das Gehänge war durchgrünt und durchblüht, bevölkert mit allerlei Sippen von zutraulichen Vöglein, und überall nickte das Laub, durch dessen grünen Schleier das liebliche Bild der Stadt herauf glänzte.

»Nun ist dein Gesicht wieder freundlich, das merke ich schon«, sagte Ploni. »Aber höre, Balder, am besten gefällst du mir, wenn du über deinem Blatt Papier sitzest und zeichnest. Ich hab' dich schon oft beobachtet. Du bist dabei glücklich wie ein kleiner Engel. Ein solches stilles Lächeln, so eine gute Heiterkeit, ja, kannst du nicht immer so schön sein?«

»Das möcht' ich wohl, Ploni; das macht mir 150 Freude. Aber ich kann viel zu wenig. Ich hab' noch nichts gelernt.«

»Wirst schon lernen Balder. Um das ist mir nicht bang. Da werden die Leute noch mehr staunen, als ich es jetzt thue, über all das Gute, was du zuwege bringst.«

»Ja, Ploni, das ist leicht gesagt: wirst schon lernen. Aber dazu braucht man Geld, um in eine große Schule zu gehen, und du weißt, wir sind arm. Die Mutter muß sich plagen, um alles zu schaffen, was wir brauchen. Ja, wenn der Vater wieder käme, dann wär' es möglich, in eine große Schule zu gehen. Er möchte es gewiß gerne haben, wie ich. Aber er ist weit, in Amerika, und wer weiß, ob er jemals wiederkommt. Denn wenn er kein Vermögen mitbringt, so daß es uns allen wieder gut geht, kommt er nicht zurück, sagte mir die Mutter einmal. Und wer weiß, ob das sein wird. Ja, wenn er wieder käme, da hätte ich Freude genug.«

»Ja, wenn er wiederkäme,« wiederholte Ploni traurig, »dann wär' uns allen geholfen. Aber denken wir jetzt nicht daran, Balder. Sieh dich 151 um! Ist das nicht schön, so dem Himmel ein bißchen näher zu steigen und sich die Welt anzusehen? Um wie viel Köpfe sind wir jetzt größer geworden als daheim, wenn wir so hinunter schauen auf die Dächer?«

Sie waren oben angekommen.

Als er hinab sah, erstund ihm eine Seligkeit im Herzen, und es gemahnte ihn an einen Traum der ihn einst in die Lüfte trug, wo er die Herrlichkeit unten ausgebreitet sah. Der sonnige Schein der Ferne überwob alles wie mit einem Zauberschleier, durch dessen durchsichtigen Goldglanz die Dinge schöner schimmerten als sie waren. Die lachenden grünen mit weißen Häusern besäten Hügel und die fernen blauen Berge umrahmten tausend Bilder zu einem einzigen unerschöpflichen Bilde der Erdenschönheit. Und alles hatte seine eigene Farbe, die mit der nächsten zusammenfloß, sich wieder eigentümlich abhob und wieder vereinigte zu einer Harmonie still träumenden Erdenglückes. So war alles fern und so nahe gerückt dem Knaben, daß es ihm schien, jedes Ding habe seinen eigenen Klang, 152 davon käme das selige Klingen in den Lüften, das er in seinem Herzen hörte. Das war die Freude, die in ihm erbrauste. Die Stadt selbst ruhte auf ihrem grünen Lager hingeschmiegt im umschlossenen Felde, so als wenn alles Leid aus ihr entschwunden wäre, weil auch sie dem Auge Schönheit schenkte, die kein Leid kennt. In seinem kindlichen Herzen fühlte Balder all dieses, ohne sich dessen bewußt zu werden, und sein Antlitz wurde davon so überleuchtet, daß Ploni verwundert ausrief: »Schau, Balder, jetzt bist du einmal wieder ganz so, wie ich mir dich wünsche, wie ein kleiner Engel. Ist dir's recht, daß ich dich heraus geführt habe?«

»Ja, mir ist's recht,« antwortete er.

»Und du bist nicht mehr mißmutig? doch was frag' ich! Ich sehe ja, du bist's nicht.«

»Nein, ich bin nicht mißmutig.«

»Nun wollen wir uns noch einmal recht satt schauen und dann heim gehen. Denn es ist spät geworden. Die Sonne ist auch schon drunten.«

Sie thaten so und wandten sich zur Heimkehr. Unter dem Gipfel war ein freier Platz, 153 wo sich ein alter fester Turm erhob, und daran klebte wie ein Schwalbennest angebaut eine kleine Wirtschaft. Leute saßen davor an Tischen unter den Bäumen und ergötzten sich an einem Trunk mit bescheidenem Imbiß wie auch an dem Ausblick.

Balder und Ploni wollten gerade vorbei gehen, als er abseits von den Übrigen an einem Tische Herrn Maypeter sitzen sah in seinem langen Rocke mit hohem Kragen. Er hatte ein Glas Bier vor sich und sah hinaus in die grünende Ferne und in den rotglühenden Abendhimmel. Balder konnte kein Auge von ihm verwenden; das bemerkte Herr Maypeter nach einer Weile und winkte ihn zu sich heran.

»Wie heißest du?« fragte er.

»Balder Prettinger.«

»Richtig. Ich muß dir ja sagen, wie es bei dir mit der Leiter bestellt ist, auf der zwei Geisterchen zusammenkommen und singen, daß es einen gar herrlichen Klang giebt: nämlich das eine vom Kopf und das andere vom Herzen. Mein Sittich war oben bei den Sternen, hat gelesen, 154 was über dich geschrieben steht, und es mir getreulich überbracht. Die eiserne Leiter ist da drinnen bei dir noch nicht fertig. Du weißt, das Eisen dazu kommt aus dem Blut; aber es dauert manchmal ein Leben lang, bis die Leiter fertig wird, und man muß viel Leid haben, bis es geschieht. Denn siehst du, das Leid zieht zuerst das Eisen aus dem Blut; zwar manchmal auch die Freude, aber die ist viel seltener. Deshalb ist vornehmlich das Leid der Baumeister der Leiter und bewirkt es, daß die Geister des Kopfes und Herzens in einem Menschen zusammenkommen und einig sind, was einen gar herrlichen Klang giebt; so wie der meines Muschelhorns aber noch viel schöner. Nun, hast du Leid Balder Prettinger?«

»Ja«, erwiderte er.

»Dann ist's recht, und mir ist nicht bange um dich, daß Kopf und Herz nicht einmal noch bei dir zusammenkommen. Nun geh mit Gott!« und er winkte ihm mit der Hand zu.

Balder stand in tiefem Sinnen, neigte sich aber doch vor Herrn Maypeter und ging. Ploni 155 erwartete ihn und fragte: »Was hat er so viel wichtig mit dir geredet, Balder?

»Das weiß ich selbst noch nicht, Ploni. Ich muß darüber nachdenken. Aber ich werde gewiß darauf kommen, denn so wie von fern weiß ich's schon jetzt, aber ich kann's noch nicht sagen.«

»Wenn's nur etwas gutes ist!«

»Es ist etwas gutes, mein' ich.«

»Dann ist's mir auch recht. Jetzt gehen wir heim, Balder, es ist schon spät.«

Als sie in die Stadt hinab kamen, dämmerte es schon durch die Gassen. Und wie Balder sinnend ging und sich das Gehörte zu verdeutlichen suchte, da schwebte das Leid, in den Mantel der Dämmerung gehüllt, an ihn heran, ganz nahe, berührte seine Stirn und hauchte ihn mit leisem Atem an. Ja, er mußte Leid haben, und da war es schon. Alles dämmerte um ihn her, und er mußte in die Augen der Finsternis blicken. Die lichte Höhe, wo er soeben gestanden, war weit hinauf entrückt, und er sah sie nicht mehr. Aber das Leid hatte sich so schwer gemacht, und doch, so groß es war, hatte es in seinem kleinen 156 Kinderherzen Platz gefunden und saß nun darin geduckt wie ein Vöglein im Nest. Seinen Mantel hatte es draußen gelassen: die Dämmerung, die umhüllte alles. Nur Plonis Augen glänzten ihm entgegen, wenn er zu ihr aufsah, die ihn mit sanften Worten mahnte, nicht wieder mißmutig zu sein. Wie er sich doch so rasch verändern könne! Oben war er doch so lieb und freudig gewesen.

Aber er dachte sich: es muß sein, man muß Leid haben, und schwieg, obgleich es ihm das Herz schwer bedrückte, wie es drinnen saß. Um jede Straßenecke ließ die Dämmerung einen Zipfel des Mantels wehen, und er mußte dorthin blicken, und der dunkelblaue Himmel über ihm, der sich mit goldenen Sterngebilden füllte, blieb unbeachtet.

Was wird mir geschehen? etwas ist so schwer in mir, seufzte er bei sich und sagte dann laut:

»Ach, Ploni, ich werde großes Leid haben.«

»Red' nicht so ungeschickt, Balder«, erwiderte sie. »Dir fehlt ja nichts.«

157 »Wohl, wohl, Ploni, mir fehlt etwas, ich weiß nur nicht was. Doch ja! Mir fehlt die Freude. Nicht wahr, Ploni, der Mensch muß auch Freude haben?«

»Gewiß, das muß er, und du wirst sie auch haben. Du bist ja brav.«

»Ja, Freude, die muß auch sein,« wiederholte er nachdenklich. »Und doch ist's so dunkel, ich sehe sie nicht. Nicht wahr, Ploni, die Freude muß licht sein wie lauter Sonnenlicht?«

»Ja, gewiß. Und wer brav ist, zu dem kommt sie.«

»Vielleicht, Ploni. Aber jetzt wird es immer finsterer. Siehst du nicht?«

»Das muß ja so sein, weil es Nacht ist, Balder.«

Also muß es sein, seufzte er bei sich.

Sie waren in die Gasse gekommen, wo sie wohnten. Plötzlich stand er still und deutete mit der Hand nach dem Hause, das sein Heim war, und fragte mit bebender Stimme: »Ploni, was ist dort?«

158 »Schau,« sagte sie erstaunt, »alle vier Fenster der Wohnung sind erleuchtet. Was ist denn das?«

»Ploni!« rief er angstvoll, »die Mutter wird doch nicht krank geworden sein?«

»Gott behüte! Sie war doch ganz frisch, als ich weggegangen bin.«

»Ploni, schnell, laß uns eilen,« rief er. »Etwas ist geschehen. Nie waren noch alle vier Fenster auf einmal beleuchtet.«

Sie beschleunigten ihre Schritte und kamen ins Haus. Balder lief voran und öffnete die Thüre. Sein Herz pochte angstvoll.

Die Mutter war heil und gesund im erhellten Gemache und brach bei seinem Anblick in einen Jubelschrei aus: »Balder, sieh!«

An ihrer Seite stand ein hochgewachsener Mann. Er wußte kaum, wie ihm geschah. Da fühlte er sich von zwei kräftigen Armen umfaßt, empor gehoben, an eine breite Brust gedrückt, und sein Mund empfing von bärtigen Lippen heiße Küsse. Und die Mutter rief jubelnd:

159 »Sieh, Balder! der Vater! Er ist heimgekehrt Wir haben ihn wieder!«

Da entschwand das Leid aus seinem Herzen, die Freude kehrte darin ein wie ein heißer goldener Sonnenstrahl, und er schloß die Augen und weinte am Halse seines Vaters.

 


 


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