Wilhelm Fischer
Frühlingsleid
Wilhelm Fischer

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I.

Er war noch ein kleiner Knabe und hieß Thiebald. Seine Mutter aber nannte ihn Balder. Einst im Frühling entdeckte er in dem Stachelbeergebüsch des Gärtchens hinter dem Hause ein Nest. Es war gegen Abend, als er diesen Fund machte. Das Herz schlug ihm vernehmbar vor Freude und Bewunderung; denn es war ein schöner Anblick, wie sich vier Köpfchen ihm entgegenreckten und gleich wieder enttäuscht zurückzogen, weil sie Mutter und Vater und nicht ihn erwartet hatten. Da kamen diese geflogen, brachten jedes etwas im Schnabel und atzten ihre Jungen damit. Das sah er alles. Er legte sich ausgestreckt ins Gras auf den Bauch, stützte 80 sich auf beide Arme, um alles genau zu beobachten. Die Alten sahen ihn wohl ein bißchen verwundert an, doch scheuten sie sich nicht im mindesten vor ihm, weil er ein so gutes Gesicht hatte, und seine Äuglein wie zwei blaue Sterne glänzten. Dann als das Abendessen der Kleinen beendigt war, schlüpfte die Mutter ins Nest, deckte sie mit ihren Fittichen, aber nicht so gänzlich, daß nicht eines oder das andere noch sein Köpfchen hervorreckte und Balder neugierig musterte. Aber der Vater war auf einen nahen Ast geflogen und sang noch eine Abendweise. Balder vergaß alles in der Welt und dünkte sich wie in ein wunderbares Land versetzt, wo die Tiere sprechen konnten. Denn der Grünling auf dem Aste sang vernehmlich: Balder, Balder, die Welt ist schön, freu' dich mit mir! Und die Jungen zwitscherten schon halb im Schlaf: ja, so ist's!

Da fielen auch Balder die Augen zu und er schlief ein im Grase vor dem Stachelbeergebüsch, weil die Sterne, einer nach dem andern, langsam heraufzogen. Auch ein Traum kam mit, an den 81 erinnerte er sich noch später, und in dem Traume ging es also zu: Er hatte Flügel und flog mit vielen andern Grünlingen, Zeisigen und Finken in die Luft. Er aber war größer als sie alle und flog immer höher hinauf, bis er allein war. Das gab dann ein prächtiges Wiegen in der blauen Himmelsluft, und tief unter ihm lag die Stadt. Er sah erstaunt hinab, weil es von allen Seiten hell war mit goldenem Licht wie an einem Freudentage. Die Häuser waren klein geworden wie Kinderspielzeug, und feine Nadeln ragten als Türme daraus empor, aber ein goldener Schimmer ging von ihren Spitzen aus und fiel auf die Dächer. Die waren in allen Farben zu sehen, doch meistens rot, braun und violett und so, daß die eine Farbe immer weg huschte, wenn die andere kam, und dann doch auf dem Platze blieb. Das gab plötzlich der ganzen Stadt ein Antlitz, das belebt war, und auch die Glieder reckten sich wohlig im Grünen, bis sie die Hügel erreichten, die sich weich wie grüner Sammt um sie schmiegten. Aber sie trug auch ein Kleid, mit Grün und Blumen überstickt, das waren die 82 Gärten und Wäldchen in ihr, und ein silbernes Band schnitt durch das Kleid, das war der Strom: die Mur; und ein Krönlein saß auf dem Haupte der Stadt überaus wundersam geformt, das war ein Berg mit Gemäuer; der Schloßberg, und die großen blauen Berge in der Ferne sahen gar nicht verächtlich, sondern gütig auf dieses Krönlein hinab.

Balder wiegte sich wohlig auf seinen Flügeln, und das Herz ward ihm leicht wie nie zuvor. Er sah gar nicht in die Ferne, obgleich auch sie leuchtend schön war mit Hügeln, Wäldern und Bergmauern, sondern nur auf die Stadt hinab, die ihm vertraut war und so seltsam herrlich tief unten lag. Da zwitscherte es plötzlich neben ihm: ich bin auch da, Balder!

Erstaunt sah er ein Mägdlein bei sich, das hatte Flügel wie eine Amsel, und die Stimme, mit der sie dies sagte, klang eben so süß wie Amselton. Ihr Gesichtchen war schmal und lieblich und leuchtende braune Äuglein lachten ihn daraus an, während die roten Lippen ihres Schnäbelchens sich stolz kräuselten.

»Was machst du da?« fragte das zierliche Wesen.

83 »Ich sehe mir die Welt an, Rene,« antwortete er.

»Da wirst du was rechtes sehen! Du hast ja die Augen geschlossen und träumst, Balder!« sagte sie schnippisch.

»Ich?« erwiderte er erstaunt und riß die Augen weit auf. »Das sind ja meine Flügel, die ich immer gehabt habe, wie sollte ich denn träumen! Du willst immer recht haben, Rene.«

»Hab' ich auch,« sagte sie und flog spöttisch um ihn herum, so daß er die Stadt vergaß und dachte: das ist auch etwas zum Ansehen, obgleich ich ihr nicht immer gut sein kann, denn sie hat oft an einem etwas auszusetzen. Aber jetzt sind wir beide hier ganz allein, und wir müssen uns vertragen. Da flog sie über ihm, er blickte empor und sah, daß viele goldene Sterne im dunklen Himmelsblau leuchteten, sich bewegten und zu seltsamen Gestalten sich verschlangen. Er sah eine Weile verwundert dem Sternenreigen zu, dann sagte er zu dem lustigen Vöglein, das über ihm kreiste: »Komm, laß uns in den Himmel fliegen, dort ist's noch viel schöner als hier, und 84 wir können mit den Sternen tanzen. Vielleicht nehmen sie uns auf.«

»Danke schön,« erwiderte sie. »Ich tanze lieber auf der Erde. Komm mit, wenn du willst.«

Sprach's und flog jählings hinab.

Er aber war unschlüssig, ob er ihr folgen sollte oder nicht, und da war sie entschwunden. Dafür klang ihm plötzlich ein Getön von vielen Vogelstimmen ins Ohr, und nmrauschte ihn ein Geschwirre von vielen Flügeln, überall sah er aufgesperrte Schnäbel, die ihn anfauchten, und es war ihm Angst dabei. Immer lauter wurden die Stimmen, er fühlte schon die Schnäbelhiebe einer Eule: da erwachte er plötzlich.

Die treue Magd des Hauses, Ploni, stand vor ihm und hatte ihn aus dem Schlafe gerüttelt. Die Mutter sei nach Hause gekommen und habe ihn überall gesucht, sich um ihn geängstigt, und sie, Ploni, habe ihn nun glücklich gefunden. Schlaftrunken stand er auf seinen Beinen und konnte kaum etwas erwidern. Wäre er doch nicht schon zu schwer gewesen, so hätte ihn Ploni auf 85 ihren Armen ins Haus getragen. So aber führte sie ihn und geleitete ihn sorglich in das erhellte Gemach, wo ihn die Mutter mit gelindem Vorwurfe freudig empfing. Er wurde zu Bette gebracht und schlief die ganze Nacht hindurch einen traumlosen Schlaf.



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