Egid von Filek
Fresken
Egid von Filek

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Glastür.

Heute ist er wieder so spät nach Hause gekommen. Mit rotunterlaufenen Augen und stierem, verglastem Blick. Ein breites, rohes Lachen, ein Schlag mit der geballten Faust auf den Tisch, wo die Flasche mit der qualmenden Unschlittkerze steht; dann hat er die Mutter geschlagen und ist endlich schwerfällig auf das schmutzige Bett hingefallen.

Und die Mutter ist aus ihrer Ecke hervorgekrochen und hat abwechselnd gescholten und geweint. Zuerst über sich und ihr elendes Leben bei dem rohen Mann, der so wenig verdient und doch die paar Kreuzer im Schnapsladen läßt, dann über die Tochter, die beim Tisch sitzt und den Kopf auf die zarten, noch halbkindlichen Arme stützt. Fortgejagt wird sie, wenn sie nicht mehr Geld nach Hause bringt als den elenden Fabrikslohn. Wie lange soll sie noch zu Hause 39 gefüttert werden . . . sie ist schon fünfzehn vorüber . . .

Das Mädel sitzt mit abgewendetem Gesicht da und starrt gleichgiltig vor sich hin, als ob sie das alles nichts anginge. Sie weiß ja, was jetzt kommen wird. Die Mutter wird noch eine Viertelstunde schelten und jammern. Dann wird der Vater anfangen zu schnarchen, und die Mutter wird sich auf das zerwühlte Bett hinwerfen und weinen. Immer leiser und leiser. Und dann wird es ganz still werden in dem dumpfigen Raum, und morgen wiederholt sich alles wie heute . . .

Eine halbe Stunde sitzt sie so da und starrt in das Licht. Dann hebt sie den Kopf und blickt nach dem Lager der Eltern. Beide schlafen. Der Vater stöhnt im Traum, die Mutter läßt die Hand schlaff über den Bettrand herunterhängen. Sie atmet tief auf, streicht sich das Haar aus der Stirn und greift nach dem großen grauen Umhängtuch, das über der Stuhllehne hängt.

Hinaus, in die frische Luft. Nur eine halbe Stunde; morgen heißt ja es wieder in aller Frühe im Qualm und Dunst des dröhnenden Maschinensaales arbeiten. Und ihr ist so unbehaglich zumute, es flimmert vor ihren Augen, es saust in den Ohren. Das hat sie jetzt so oft, seit einem halben Jahre etwa. Draußen wird es besser werden. 40

Sie drückt langsam, ganz langsam die Klinke nieder und schleicht hinaus. Über die finstere Holztreppe hinab, an dem lebensgroßen, geschnitzten Christus vorüber, vor dem die kleine, rote Lampe brennt, über die kühlen Steinfliesen. Wie sie die große, schwerfällige Haustüre öffnet, verlöscht der Zugwind das flimmernde ewige Licht.

Draußen klare Wintermondnacht. Sie hüllt sich fester in ihr Tuch und wandert langsam durch die einsamen, hallenden Straßen; an niedrigen dunkelrot verhängten Fensterchen vorbei, hinter welchen wüstes Schreien und Singen ertönt, vorüber an großen, hohen Fensterbogen mit weißen, stillen Vorhängen, die im kühlen Mondlicht schimmern. Dort, wo das eine Fenster noch matt erleuchtet ist, dort liegt der alte Herr, der Fabrikschef, für den sie arbeitet. Er ist schon lange krank, unheilbar, sagen die Ärzte. Und sie huscht mit raschen Schritten vorbei und freut sich, daß sie so jung und gesund ist. Das Unwohlsein von vorhin ist verschwunden; mit gierigen tiefen Atemzügen saugt sie die kalte, frische Luft. Stundenschläge hallen von den Türmen der Stadt, aber sie merkt nicht, wie die Zeit verfliegt, und wandert weiter, immer weiter.

Nun biegt sie in die Hauptstraße ein. Die grünlichen Lichter der Auerlampen bilden eine 41 lange Reihe hinauf und hinab, im kalten Mondlicht glänzen die Schienen der elektrischen Straßenbahn, weithingestreckt, in der Ferne zu einem flimmernden Punkt zusammenfließend. Immerzu möchte sie ihnen so nachgehen mit ihren langsamen, regelmäßigen Schritten – die Nacht hindurch – den ganzen Tag – immer weiter und weiter.

Jetzt münden die Schienen auf einen großen Platz mit Baumanlagen, beschneiten Beeten und schmalen Kieswegen; und aus dem runden Rasenplatz in der Mitte hebt sich ein Erzdenkmal schwarz und finster in den Nachthimmel empor. Der Mann da droben hat einen Mantel von Schnee, auf seinem Haupte ruht eine glitzerweiße Krone, auch die gebietend ausgestreckte Hand trägt die weiße Last. Ringsum die großen, dickbeschneiten Bäume, die ihre Äste plump zum Himmel strecken, unten der weiße, weiche Teppich, der alles verhüllt, alles ausgleicht und selbst den leisen Schall ihrer Tritte verschlingt. So heimlich und traut – es ist ihr, als sollte jemand ihre Hand fassen und mit leiser, lieber Stimme sagen: »Komm mit mir!«

Hinter dem Denkmal zeichnen sich die Umrisse eines großen, prächtigen Hauses in die Luft, mit Türmchen und spitzen Giebeln und hellerleuchteten Bogenfenstern. Plötzlich durch die lautlose Stille 42 gedämpfte Klänge – Tanzmusik. Sie lauscht. Da droben in dem prächtigen Hause ist heute Ball. Wenn sie doch nur einmal sehen könnte, wie so ein glänzender Tanzsaal aussieht, wie sich die reichen, vornehmen Leute unterhalten, wie die jungen Mädchen gekleidet sind! – Sie schleicht um das Haus herum, bis zu dem Seiteneingang mit der teppichbelegten Treppe. Die Türe ist offen. Niemand da. Sie steigt die Stufen empor, langsam, nach jedem Schritt innehaltend, lauschend. Die Walzermusik tönt näher und näher. Und plötzlich steht sie an einer großen Glastüre, die in den Vorsaal führt. Die Musik schweigt. Sie drückt das Gesicht an die Scheiben und späht in den Raum.

Ballpause. Von rechts und links öffnen sich die Flügeltüren, und lachende, plaudernde Paare betreten den kühlen Vorsaal. Immer mehr Menschen kommen; alle gehen an der Glastür vorbei, hinter welcher das kleine Mädel steht und sein Gesicht an die Scheiben drückt. Die meisten bemerken sie kaum; die einen drängen sich zum Buffet, die anderen in den großen Speisesaal, andere setzen sich auf die dunkelroten Sofas, die um das palmengeschmückte Rondeau stehen, und fächeln sich nachlässig Wind zu mit den seidenen Tüchern. Die Blätter der Palmen schwanken langsam auf und nieder; alles 43 flimmert und glitzert im Schein der vielen elektrischen Lichter, die der glänzend gewichste Parkettboden wiederspiegelt. Da schreiten sie dahin, die Reichen, die Großen, denen sie ihr junges Dasein opfern muß. Aber der bittere Gedanke findet keinen Raum in ihrem Herzen, und mit großen, leuchtenden Augen blickt sie hinein in all die Pracht. Das herrliche Perlencollier, das die junge Frau dort trägt! Und in den Ohren trägt sie Brillanten, groß und strahlend! Einen, nur einen einzigen der funkelnden Steine möchte das kleine Mädel haben, dann wäre sie frei und könnte allein leben und brauchte nicht mehr die Roheiten des Vaters zu ertragen und das Keifen der Mutter. Die junge Frau spricht mit einem Herrn – jetzt wendet er sich mit einer Verbeugung zur Seite – das ist der Sohn des Fabrikschefs, wahrhaftig! Dort steht er in der Ecke und mustert die Frauen und Mädchen mit demselben kalten, ruhigen, prüfenden Blick, mit dem er heut Vormittag im Schersaal das Tuch gemustert hat, Stück für Stück von den Rollen herunterziehend. Auf dem roten Sofa sitzen ein paar ältere Frauen; sie sehen so müde und abgespannt aus und blicken nach der Uhr. Müde sind sie – und um sie herum ist soviel Licht und Farbe und Schönheit . . .

Von innen lehnt sich ein junger Mann mit 44 dem Rücken gegen die Glastür. Er streift den weißen Handschuh herab, zündet sich eine dünne Cigarre an und blickt den kräuselnden Rauchwölkchen nach, die langsam emporsteigen in Ringen, Schnörkeln, zerfließenden bläulichen Spiralen. Er blickt über die Köpfe der vielen Menschen gegen die Decke und nagt an seiner Unterlippe. Über dem ganzen Saal lagert ein müder, unbestimmter Duft von erotischen Parfüms, Cigaretten, betäubenden Treibhausblumen und warmen jungen Menschenleibern. Dort bei den Palmen aus grünem Leder stehen zwei von den großen Geschäftsleuten. Sie reden von den Chancen ihres Streichgarns und schimpfen auf die schlechte australische Schafwolle. Am Arm der schönen Frau mit dem Perlencollier geht jetzt ein hoffnungsvoller junger Beamter; die Dame ist die Gattin des Chefs und der junge Mann will Carriere machen – das weiß die ganze Stadt. Dort macht sich ein Rudel von Bankbeamten um die Töchter des Direktors niedlich. Der Alte steht daneben und gähnt herablassend. Im Speisesaal nebenan knallen Champagnerflaschen. Irgend ein Protz will zeigen, was er sich alles leisten kann. Der feine Rauch der Cigaretten zieht sich zur Decke und läßt die Gesichter der Frauen dort auf dem Sofa wie hinter blauen Schleiern erscheinen. Wenn ihr Gespräch einen Augenblick 45 stockt und die Gesichter erschlaffen, sieht man große, bläuliche Ringe um ihre Augen, wie bei müden Schauspielern, die sich mühsam aufrecht halten, um ihre Rolle zu Ende zu spielen. Und mitten in dem öden, schalen Treiben die jungen Backfische, die zum erstenmal auf einem Ball sind, mit großen, neugierigen Augen und einem Schimmer von Glück auf dem rosigen, süßen, dummen Gesichtel.

Wo ist das kleine blonde Mädel, dessentwegen er heute hieherkam? Er sucht sie mit den Blicken. Richtig, dort steht sie bei der großen Portiere, die Mama neben ihr. Die hält ihr soeben eine Vorlesung über das, was sich schickt und nicht schickt. Sie hat sich »kompromittiert«. Der kleine Blondkopf beugt sich vor und wird ganz rot; die weißbehandschuhten Finger rollen mechanisch eine Ecke der Tanzordnung zusammen und wieder auf. Aber sie ist ein braves Kind und wird der Mama schön folgen; sie wird nicht mehr während der Quadrille mit ihm auf der Galerie sitzen und so herzig plaudern wie eben vorhin, sondern artig da unten tanzen, mit allen Herren liebenswürdig sein, dasselbe süßliche Gesellschaftslächeln lernen, das die Mutter zur Schau trägt, bis die Welt jenseits von schicklich und unschicklich für sie mit eisernen Pforten verschlossen ist. Er lächelt bitter. Wieder ein Stück 46 der ungeheuren Lebenslüge, die sie alle mit sich herumtragen, die er erbarmungslos gegen seine Illusionen mit wollüstiger Grausamkeit an ihnen aufgedeckt hat. Und er fühlt, daß er selbst um kein Haar besser ist, daß seine eigenen Lebenslügen vielleicht noch häßlicher sind als die der andern; und das Traurigste: daß diese Lügen so notwendig sind wie die Wahrheit selbst, weil sie die Welt zusammenhalten wie mit rostigen Klammern, die ihre lastenden Balken zu zersprengen drohen und die man doch nicht entfernen kann, weil sonst das Haus in Trümmer stürzt.

Plötzlich hört er hinter seinem Rücken einen leisen Seufzer. Erstaunt wendet er sich um. Da steht das kleine Proletariermädel mit den rotgefrorenen Backen und dem sehnsüchtigen, feuchten, halbgeöffneten Mund. Das graue Wolltuch ist über die Schulter herabgeglitten und läßt das strohblonde Haar sehen, das sich in zwei dünnen Zöpfen über die niedrige Stirne legt; die hellblauen Augen blicken verlangend in den Saal, als guckten sie durch ein Astloch in den Garten des Paradieses – und von dem Antlitz des jungen Mannes löst sich die starre, kalte Gesellschaftsmaske, und er lächelt – er lächelt halb belustigt, halb mitleidig das kleine Ding da draußen an. – – 47

Das Mädel hat den Blick gefühlt. In das schmale Gesicht schlägt plötzlich eine rote Blutwelle; ein Strahl aus der fremden Welt hat sie getroffen, aus jener glänzenden, duftigen, wonnigen Welt jenseits der Glastüre . . . Da nähern sich harte, strenge Schritte. Ein Diener in dunkelblauer Livree mit silbernen Borten tritt aus einer Seitentür und kommt stirnrunzelnd auf sie zu. Sie wendet sich rasch und huscht die Treppe hinab.

Den Blick aber, den sie da droben empfing, diesen stillen, warmen, glückverheißenden Blick nimmt sie mit hinaus in die glitzernde Wintermondnacht, in die erbarmungslose Öde ihrer elterlichen Wohnung. 48



 << zurück weiter >>