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Ich habe heute von der Bestimmung des Gelehrten zu reden.
Ich befinde mich mit diesem Gegenstande in einer besonderen Lage. Sie alle, meine Herren, oder doch die meisten unter ihnen haben die Wissenschaften zur Beschäftigung ihres Lebens gewählt, und ich – so wie Sie; Sie alle – so lässt sich annehmen – wenden Ihre ganze Kraft an, um mit Ehre zum Gelehrten-Stande gezählet werden zu können; und ich habe gethan und thue das gleiche. Ich soll als Gelehrter vor angehenden Gelehrten von der Bestimmung des Gelehrten reden. Ich soll den Gegenstand gründlich untersuchen; ihn, wenn ichs vermag, erschöpfen; ich soll in der Darstellung der Wahrheit nichts vergeben. Und wie, wenn ich eine sehr ehrwürdige, sehr erhabene, vor allen übrigen Ständen sehr ausgezeichnete Bestimmung für diesen Stand auffinde; werde ich sie aufstellen können, ohne die Bescheidenheit zu verletzen, die übrigen Stände herabzuwürdigen, von Eigendünkel geblendet zu scheinen? – – Aber ich rede als Philosoph, dem es obliegt, jeden Begriff scharf zu bestimmen. Was kann ich dagegen, dass eben dieser Begriff im Systeme an der Reihe ist? Ich darf der erkannten Wahrheit nichts vergeben. Sie ist immer Wahrheit, und auch die Bescheidenheit ist ihr untergeordnet, und ist eine falsche Bescheidenheit, wo sie ihr Eintrag thut. Lassen Sie uns unseren Gegenstand vors erste kalt und so untersuchen, als ob er keine Beziehung auf uns hätte; ihn untersuchen, als einen Begriff aus einer uns völlig fremden Welt. Lassen Sie uns unsere Beweise desto mehr schärfen. Lassen Sie uns nicht vergessen, was ich zu seiner Zeit gar nicht mit geringerer Kraft darzustellen denke: dass jeder Stand nothwendig ist; jeder unsere Achtung verdient; dass nicht der Stand, sondern die würdige Behauptung desselben das Individuum ehrt; und dass Jeder nur insofern ehrwürdiger ist, inwiefern er der vollkommenen Erfüllung seines Platzes in der Reihe am nächsten kommt; – dass eben darum der Gelehrte Ursach hat, am allerbescheidensten zu seyn, weil ihm ein Ziel aufgesteckt ist, von dem er stets gar weit entfernt bleiben wird, – weil er ein sehr erhabenes Ideal zu erreichen hat, dem er gewöhnlich nur in einer grossen Entfernung sich annähert. –
»Im Menschen sind mancherlei Triebe und Anlagen, und es ist die Bestimmung jedes Einzelnen, alle seine Anlagen, so weit er nur irgend kann, auszubilden. Unter andern ist in ihm der Trieb zur Gesellschaft; diese bietet ihm eine neue, besondere Bildung dar, – die für die Gesellschaft – und eine ungemeine Leichtigkeit der Bildung überhaupt. Es ist dem Menschen darüber nichts vorgeschrieben – ob er alle seine Anlagen insgesammt unmittelbar an der Natur, oder ob er sie mittelbar durch die Gesellschaft ausbilden wolle. Das erstere ist schwer, und bringt die Gesellschaft nicht weiter; daher erwählt mit Recht jedes Individuum in der Gesellschaft sich seinen bestimmten Zweig von der allgemeinen Ausbildung, überlässt die übrigen den Mitgliedern der Gesellschaft und erwartet, dass sie an dem Vortheil ihrer Bildung ihn werden Antheil nehmen lassen, so wie er an der seinigen sie Antheil nehmen lässt; und das ist der Ursprung und der Rechtsgrund der Verschiedenheit der Stände in der Gesellschaft.«
Dieses sind die Resultate meiner bisherigen Vorlesungen. Einer Eintheilung der verschiedenen Stände nach reinen Vernunftbegriffen, welche recht wohl möglich ist, müsste eine erschöpfte Aufzählung aller natürlichen Anlagen und Bedürfnisse des Menschen (nicht etwa seiner bloss erkünstelten Bedürfnisse) zum Grunde gelegt werden. – Der Cultur jeder Anlage – oder was das gleiche heisst – der Befriedigung jedes natürlichen, auf einen im Menschen ursprünglich liegenden Trieb gegründeten Bedürfnisses, kann ein besonderer Stand gewidmet werden. Wir behalten uns diese Untersuchung bis zu einer anderen Zeit vor; um in gegenwärtiger Stunde eine uns näher liegende zu unternehmen.
Wenn die Frage über die Vollkommenheit oder Unvollkommenheit einer nach obigen Grundsätzen eingerichteten Gesellschaft entstünde – und jede Gesellschaft richtet sich durch die natürlichen Triebe des Menschen ohne alle Leitung und völlig von selbst gerade so ein, wie aus unserer Untersuchung über den Ursprung der Gesellschaft erhellet – wenn, sage ich, jene Frage entstünde, so würde die Beantwortung derselben die Untersuchung folgender Frage voraussetzen: ist in der gegebenen Gesellschaft für die Entwickelung und Befriedigung aller Bedürfnisse, und zwar für die gleichförmige Entwickelung und Befriedigung aller, gesorgt? Wäre dafür gesorgt, so wäre die Gesellschaft, als Gesellschaft, vollkommen, das heisst nicht, sie erreichte ihr Ziel, welches nach unseren ehemaligen Betrachtungen unmöglich ist; sondern sie wäre so eingerichtet, dass sie ihrem Ziele sich nothwendig immer mehr annähern müsste; wäre dafür nicht gesorgt, so könnte sie zwar wohl durch ein glückliches Ohngefähr auf dem Wege der Cultur weiter vorrücken; aber man könnte nie sicher darauf rechnen; sie könnte ebensowohl durch ein unglückliches Ohngefähr zurückkommen. –
Die Sorge für diese gleichförmige Entwickelung aller Anlagen des Menschen setzt zuvörderst die Kenntniss seiner sämmtlichen Anlagen, die Wissenschaft aller seiner Triebe und Bedürfnisse, die geschehene Ausmessung seines ganzen Wesens voraus. Aber diese vollständige Kenntniss des ganzen Menschen gründet sich selbst auf eine Anlage, welche entwickelt werden muss; denn es giebt allerdings einen Trieb im Menschen, zu wissen , und insbesondere dasjenige zu wissen, was ihm Noth thut. Die Entwickelung dieser Anlage aber erfordert alle Zeit und alle Kräfte eines Menschen; giebt es irgend ein gemeinsames Bedürfniss, welches dringend fordert, dass ein besonderer Stand seiner Befriedigung sich widme, so ist es dieses. –
Nun aber würde die blosse Kenntniss der Anlagen und Bedürfnisse des Menschen, ohne die Wissenschaft, sie zu entwickeln und zu befriedigen, nicht nur eine höchst traurige und niederschlagende; sie würde zugleich eine leere und völlig unnütze Kenntniss seyn. – Derjenige handelt sehr unfreundschaftlich gegen mich, der mir meinen Mangel zeigt, ohne mir zugleich die Mittel zu zeigen, wie ich meinen Mangel ersetzen könne; der mich zum Gefühl meiner Bedürfnisse bringt, ohne mich in den Stand zu setzen, sie zu befriedigen. Hätte er mich lieber in meiner thierischen Unwissenheit gelassen! – Kurz, jene Kenntniss würde nicht diejenige Kenntniss seyn, die die Gesellschaft verlangte, und um deren willen sie einen besonderen Stand, der in dem Besitze von Kenntnissen wäre, haben müsste; denn sie zweckte nicht ab auf Vervollkommnung des Geschlechts, und vermittelst dieser Vervollkommnung auf Vereinigung, wie sie doch sollte. – Mit jener Kenntniss der Bedürfnisse muss demnach zugleich die Kenntniss der Mittel vereinigt seyn, wie sie befriediget werden können; und diese Kenntniss fällt mit Recht dem gleichen Stande anheim, weil keine ohne die andere vollständig, noch weniger thätig und lebendig werden kann. Die Kenntniss der ersteren Art gründet sich auf reine Vernunftsätze, und ist philosophisch; die von der zweiten zum Theil auf Erfahrung, und ist insofern philosophisch-historisch (nicht bloss historisch; denn ich muss ja die Zwecke, die sich nur philosophisch erkennen lassen, auf die in der Erfahrung gegebenen Gegenstände beziehen, um die letzteren als Mittel zur Erreichung der ersteren beurtheilen zu können). – Diese Kenntniss soll der Gesellschaft nützlich werden; es ist demnach nicht bloss darum zu thun, überhaupt zu wissen, welche Anlagen der Mensch an sich habe, und durch welche Mittel überhaupt man dieselben entwickeln könne; eine solche Kenntniss würde noch immer gänzlich unfruchtbar bleiben. Sie muss noch einen Schritt weiter gehen, um den erwünschten Nutzen wirklich zu gewähren. Man muss wissen, auf welcher bestimmten Stufe der Cultur diejenige Gesellschaft, deren Mitglied man ist, in einem bestimmten Zeitpuncte stehe, – welche bestimmte Stufe sie von dieser aus zu ersteigen und welcher Mittel sie sich dafür zu bedienen habe. Nun kann man allerdings aus Vernunftgründen, unter Voraussetzung einer Erfahrung überhaupt, vor aller bestimmten Erfahrung vorher, den Gang des Menschengeschlechts berechnen; man kann die einzelnen Stufen ohngefähr angeben, über welche es schreiten muss, um bei einem bestimmten Grade der Bildung anzulangen; aber die Stufe angeben, auf welcher es in einem bestimmten Zeitpuncte wirklich stehe, das kann man schlechterdings nicht aus blossen Vernunftgründen; darüber muss man die Erfahrung befragen; man muss die Begebenheiten der Vorwelt – aber mit einem durch Philosophie geläuterten Blicke – erforschen; man muss seine Augen rund um sich herum richten, und seine Zeitgenossen beobachten. Dieser letzte Theil der für die Gesellschaft notwendigen Kenntniss ist demnach bloss historisch.
Die drei angezeigten Arten der Erkenntniss, vereinigt gedacht – und ausser der Vereinigung stiften sie nur geringen Nutzen – machen das aus, was man Gelehrsamkeit nennt, oder wenigstens ausschliessend nennen sollte; und derjenige, der sein Leben der Erwerbung dieser Kenntnisse widmet, heisst ein Gelehrter.
Eben nicht jeder einzelne muss, nach jenen drei Arten der Erkenntniss, den ganzen Umfang des menschlichen Wissens umfassen – das würde grösstenteils unmöglich, und eben darum, weil es unmöglich ist, würde das Bestreben darnach fruchtlos seyn und das ganze Leben eines Mitgliedes – das der Gesellschaft nützlich hätte werden können – ohne Gewinn für selbige verschwenden. Einzelne mögen sich einzelne Theile jenes Gebietes abstecken; aber jeder sollte seinen Theil nach jenen drei Ansichten: philosophisch, philosophisch-historisch und bloss historisch, bearbeiten. – Ich deute dadurch nur vorläufig an, was ich zu einer anderen Zeit weiter ausführen werde; um vor der Hand wenigstens durch mein Zeugniss zu betheuern, dass das Studium einer gründlichen Philosophie die Erwerbung empirischer Kenntnisse, wenn sie nur gründlich sind, gar nicht überflüssig macht, sondern dass sie vielmehr die Unentbehrlichkeit derselben am überzeugendsten darthut. – Der Zweck aller dieser Kenntnisse nun ist der oben angezeigte: vermittelst derselben zu sorgen, dass alle Anlagen der Menschheit gleichförmig, stets aber fortschreitend, sich entwickeln: und hieraus ergiebt sich denn die wahre Bestimmung des Gelehrtenstandes: es ist die oberste Aufsicht über den wirklichen Fortgang des Menschengeschlechtes im allgemeinen, und die stete Beförderung dieses Fortganges. – Ich thue mir Gewalt an, meine Herren, um von der erhabenen Idee, die jetzt aufgestellt ist, meine Empfindung noch nicht fortreissen zu lassen: der Weg der kalten Untersuchung ist noch nicht geendigt. Aber das muss ich doch im Vorbeigehen bemerklich machen, was diejenigen eigentlich thun würden, die den freien Fortgang der Wissenschaften zu hemmen suchten. Ich sage: thun würden; denn wie kann ich wissen, ob es dergleichen Leute giebt oder nicht? Von dem Fortgange der Wissenschaften hängt unmittelbar der ganze Fortgang des Menschengeschlechtes ab. Wer jenen aufhält, hält diesen auf. – Und wer diesen aufhält, – welchen Charakter stellt derselbe öffentlich vor sein Zeitalter und vor die Nachwelt hin? Lauter, als durch tausend Stimmen, durch Handlungen, ruft er der Welt und der Nachwelt in die betäubten Ohren: die Menschen um mich herum sollen, wenigstens so lange ich lebe, nicht weiser und besser werden; denn in ihrem gewaltsamen Fortgange würde auch ich, trotz alles Widerstrebens, wenigstens in etwas mit fortgerissen werden; und dies verabscheue ich; ich will nicht erleuchteter, ich will nicht edler werden: Finsterniss und Verkehrtheit ist mein Element, und ich werde meine letzten Kräfte aufbieten, um mich nicht aus demselben verrücken zu lassen. – Alles kann die Menschheit entbehren; alles kann man ihr rauben, ohne ihrer wahren Würde zu nahe zu treten; nur nicht die Möglichkeit der Vervollkommnung. Kalt und schlauer, als das menschenfeindliche Wesen, das uns die Bibel schildert, haben diese Menschenfeinde überlegt und berechnet, und aus der heiligsten Tiefe herausgesucht, wo sie die Menschheit angreifen müssten, um dieselbe im Keime zu zerdrücken und – sie haben es gefunden. – Die Menschheit wendet unwillig von ihrem Bilde sich weg. – Wir gehen zu unserer Untersuchung zurück. –
Die Wissenschaft ist selbst ein Zweig der menschlichen Bildung; jeder Zweig derselben muss weiter gebracht werden, wenn alle Anlagen der Menschheit weiter ausgebildet werden sollen; es kommt demnach jedem Gelehrten, so wie jedem Menschen, der einen besonderen Stand gewählt hat, zu, dass er strebe, die Wissenschaft, und insbesondere den von ihm gewählten Theil der Wissenschaft weiter zu bringen; es kommt ihm zu, wie jedem Menschen in seinem Fache; ja es kommt ihm weit mehr zu. Er soll über die Fortschritte der übrigen Stände wachen, sie befördern; und er selbst wollte nicht fortschreiten? Von seinem Fortschritte hängen die Fortschritte in allen übrigen Fächern der menschlichen Bildung ab; er muss ihnen immer zuvor seyn, um für sie den Weg zu bahnen, und ihn zu untersuchen, und sie auf denselben zu leiten; und er wollte zurückbleiben? Von dem Augenblick an hörte er auf zu seyn, was er seyn sollte; und da er nichts anderes ist, so wäre er gar nichts. – Ich sage nicht, dass jeder Gelehrter sein Fach wirklich weiter bringen müsse; wenn er nun nicht kann? aber ich sage, dass er streben müsse, es weiter zu bringen; dass er nicht ruhen, – nicht glauben müsse, seiner Pflicht Genüge gethan zu haben, bis er es weiter gebracht hat. So lange er lebt, könnte er doch immer noch es weiter bringen; übereilt ihn der Tod, ehe er seinen Zweck erreicht hat – nun wohl, so ist er für diese Welt der Erscheinungen seiner Pflichten entbunden und sein ernster Wille wird ihm für Erfüllung angerechnet. Gilt folgende Regel für alle Menschen, so gilt sie ganz besonders für den Gelehrten: der Gelehrte vergesse, was er gethan hat, sobald es gethan ist, und denke stets nur auf das, was er noch zu thun hat. Der ist noch nicht weit gekommen, für den sich sein Feld nicht bei jedem Schritte, den er in demselben thut, erweitert. Der Gelehrte ist ganz vorzüglich für die Gesellschaft bestimmt: er ist, insofern er Gelehrter ist, mehr als irgend ein Stand, ganz eigentlich nur durch die Gesellschaft und für die Gesellschaft da; er hat demnach ganz besonders die Pflicht, die gesellschaftlichen Talente, Empfänglichkeit und Mittheilungsfertigkeit , vorzüglich und in dem höchstmöglichen Grade in sich auszubilden. Die Empfänglichkeit sollte in ihm, wenn er auf die gehörige Art sich die gehörigen empirischen Kenntnisse erworben hat, schon vorzüglich ausgebildet seyn. Er soll bekannt seyn mit demjenigen in seiner Wissenschaft, was schon vor ihm da war: das kann er nicht anders als durch Unterricht – sey es nun mündlicher oder Bücherunterricht, – gelernt, nicht aber durch Nachdenken aus blossen Vernunftgründen entwickelt haben. Aber er soll durch stetes Hinzulernen sich diese Empfänglichkeit erhalten; und sich vor der oft, und bisweilen bei vorzüglichen Selbstdenkern, vorkommenden gänzlichen Verschlossenheit vor fremden Meinungen und Darstellungsarten zu verwahren suchen; denn niemand ist so unterrichtet, dass er nicht immer noch hinzulernen könnte, und bisweilen noch etwas sehr nöthiges zu lernen hätte; und selten ist jemand so unwissend, dass er nicht selbst dem Gelehrtesten etwas sollte sagen können, was derselbe nicht weiss. Der Mittheilungsfertigkeit bedarf der Gelehrte immer; denn er besitzt seine Kenntniss nicht für sich selbst, sondern für die Gesellschaft, Diese hat er von Jugend auf zu üben, sie hat er in steter Thätigkeit zu erhalten, – durch welche Mittel , werden wir zu seiner Zeit untersuchen.
Seine für die Gesellschaft erworbene Kenntniss soll er nun wirklich zum Nutzen der Gesellschaft anwenden; er soll die Menschen zum Gefühl ihrer wahren Bedürfnisse bringen, und sie mit den Mitteln ihrer Befriedigung bekannt machen. Das heisst nun aber nicht, er soll sich mit ihnen in die tiefen Untersuchungen einlassen, die er selbst unternehmen musste, um etwas gewisses und sicheres zu linden. Dann ginge er darauf aus, alle Menschen zu so grossen Gelehrten zu machen, als er etwa selbst seyn mag; und das ist unmöglich und zweckwidrig. Das übrige muss auch gethan werden; und dazu sind andere Stände; und wenn diese ihre Zeit gelehrten Untersuchungen widmen sollten, so würden auch die Gelehrten bald aufhören müssen, Gelehrte zu seyn. Wie kann und soll er denn aber seine Kenntnisse verbreiten? Die Gesellschaft könnte ohne Zutrauen auf die Redlichkeit und Geschicklichkeit anderer nicht bestehen, und dieses Zutrauen ist demnach tief in unser Herz geprägt; und wir haben es durch eine besondere Wohlthat der Natur nie in einem höheren Grade, als da wo wir der Redlichkeit und Geschicklichkeit des anderen am dringendsten bedürfen. Er darf auf dieses Vertrauen zu seiner Redlichkeit und Geschicklichkeit rechnen, wenn er es sich erworben hat, wie er soll. – Ferner ist in allen Menschen ein Gefühl des Wahren, welches freilich allein nicht hinreicht, sondern entwickelt, geprüft, geläutert werden muss; und das eben ist die Aufgabe des Gelehrten. Es würde dem Ungelehrten nicht hinreichen, um ihn auf alle Wahrheiten zu führen, deren er bedürfte; aber wenn es nur sonst – und das geschieht oft gerade durch Leute, die sich zu den Gelehrten zählen – wenn es nur sonst nicht etwa künstlich verfälscht worden ist – wird es immer hinreichen, dass er die Wahrheit, wenn ein anderer ihn darauf hinführt, auch ohne tiefe Gründe für Wahrheit anerkenne. – Auf dieses Wahrheitsgefühl darf der Gelehrte gleichfalls rechnen. – Also der Gelehrte ist, insoweit wir den Begriff desselben bis jetzt entwickelt haben, seiner Bestimmung nach der Lehrer des Menschengeschlechtes.
Aber er hat die Menschen nicht nur im allgemeinen mit ihren Bedürfnissen und den Mitteln, dieselben zu befriedigen, bekannt zu machen: er hat sie insbesondere zu jeder Zeit und an jedem Orte auf die eben jetzt, unter diesen bestimmten Umständen eintretenden Bedürfnisse und auf die bestimmten Mittel, die jetzt aufgegebenen Zwecke zu erreichen, zu leiten. Er sieht nicht bloss das Gegenwärtige, er sieht auch das Künftige; er sieht nicht bloss den jetzigen Standpunct, er sieht auch, wohin das Menschengeschlecht nunmehr schreiten muss, wenn es auf dem Wege zu seinem letzten Ziele bleiben und nicht von demselben abirren, oder auf ihn zurückgehen soll. Er kann nicht verlangen, es auf einmal bis zu dem Puncte fortzureissen, der etwa ihm in die Augen strahlt; es kann seinen Weg nicht überspringen: er hat nur zu sorgen, dass es nicht stille stehe und dass es nicht zurückgehe. In dieser Rücksicht ist der Gelehrte der Erzieher der Menschheit. – Ich merke hierbei ausdrücklich an, dass der Gelehrte bei diesem Geschäft, so wie bei allen seinen Geschäften unter dem Gebiete des Sittengesetzes, der gebotenen Uebereinstimmung mit sich selbst, stehe. Er wirkt auf die Gesellschaft; diese gründet sich auf den Begriff der Freiheit; sie und jedes Mitglied derselben ist frei; und er darf sie nicht anders behandeln, als durch moralische Mittel. Der Gelehrte wird nicht in die Versuchung kommen, die Menschen durch Zwangsmittel, durch Gebrauch physischer Gewalt, zur Annahme seiner Ueberzeugungen zu bringen; gegen diese Thorheit sollte man doch in unserem Zeitalter kein Wort mehr zu verlieren haben; aber er soll sie auch nicht täuschen . Abgerechnet, dass er dadurch sich an sich selbst vergeht, und dass die Pflichten des Menschen in jedem Falle höher seyn würden, als die Pflichten des Gelehrten; vergeht er dadurch sich zugleich gegen die Gesellschaft. Jedes Individuum in derselben soll aus freier Wahl und aus einer von ihm selbst als hinlänglich beurtheilten Ueberzeugung handeln; es soll sich selbst bei jeder seiner Handlungen als Mitzweck betrachten können: und als solcher von jedem Mitglied behandelt werden. Wer getäuscht wird, wird als blosses Mittel behandelt.
Der letzte Zweck jedes einzelnen Menschen sowohl, als der ganzen Gesellschaft, mithin auch aller Arbeiten des Gelehrten an der Gesellschaft, ist sittliche Veredlung des ganzen Menschen. Es ist die Pflicht des Gelehrten, diesen letzten Zweck immer aufzustellen, und ihn bei allem, was er in der Gesellschaft thut, vor Augen zu haben. Niemand aber kann mit Glück an sittlicher Veredlung arbeiten, der nicht selbst ein guter Mensch ist. Wir lehren nicht bloss durch Worte; wir lehren auch weit eindringender durch unser Beispiel; und jeder, der in der Gesellschaft lebt, ist ihr ein gutes Beispiel schuldig, weil die Kraft des Beispiels erst durch unser Leben in der Gesellschaft entsteht. Wie vielmehr ist der Gelehrte dies schuldig, der in allen Stücken der Cultur den übrigen Ständen zuvor seyn soll! Ist er in dem ersten und höchsten, demjenigen, was auf alle Cultur abzweckt, zurück, wie kann er Muster seyn, das er doch seyn soll; und wie kann er glauben, dass die anderen seinen Lehren folgen werden, denen er vor aller Augen durch jede Handlung seines Lebens widerspricht? (Die Worte, die der Stifter der christlichen Religion an seine Schüler richtete, gelten ganz eigentlich für den Gelehrten: Ihr seyd das Salz der Erde; wenn das Salz seine Kraft verliert, womit soll man salzen? wenn die Auswahl unter den Menschen verdorben ist, wo soll man noch sittliche Güte suchen?) – Also der Gelehrte in der letzten Rücksicht betrachtet, soll der sittlich beste Mensch seines Zeitalters seyn: er soll die höchste Stufe der bis auf ihn möglichen sittlichen Ausbildung in sich darstellen.
Dies ist unsere gemeinschaftliche Bestimmung, meine Herren, dies unser gemeinschaftliches Schicksal. Ein glückliches Schicksal, noch durch seinen besonderen Beruf bestimmt zu seyn, dasjenige zu thun, was man schon um seines allgemeinen Berufes willen, als Mensch, thun müsste – seine Zeit und seine Kräfte auf nichts wenden zu sollen, als darauf, wozu man sich sonst Zeit und Kraft mit kluger Kargheit absparen müsste – zur Arbeit, zum Geschäfte, zum einzigen Tagewerk seines Lebens zu haben, was anderen süsse Erholung von der Arbeit seyn würde! Es ist ein stärkender, seelenerhebender Gedanke, den jeder unter Ihnen haben kann, welcher seiner Bestimmung werth ist: auch mir an meinem Theile ist die Cultur meines Zeitalters und der folgenden Zeitalter anvertraut; auch aus meinen Arbeiten wird sich der Gang der künftigen Geschlechter, die Weltgeschichte der Nationen, die noch werden sollen, entwickeln. Ich bin dazu berufen, der Wahrheit Zeugniss zu geben; an meinem Leben und an meinen Schicksalen liegt nichts; an den Wirkungen meines Lebens liegt unendlich viel. Ich bin ein Priester der Wahrheit; ich bin in ihrem Solde; ich habe mich verbindlich gemacht, alles für sie zu thun und zu wagen, und zu leiden. Wenn ich um ihrer willen verfolgt und gehasst werden, wenn ich in ihrem Dienste gar sterben sollte – was thät ich dann sonderliches, was thät ich dann weiter, als das, was ich schlechthin thun müsste ? – Ich weiss es, meine Herren, wieviel ich jetzt gesagt habe; ich weiss es ebenso gut, dass ein entmanntes und nervenloses Zeitalter diese Empfindung und diesen Ausdruck derselben nicht erträgt; dass es alles dasjenige, wozu es sich nicht selbst zu erheben vermag, mit schüchterner Stimme, durch welche die innere Scham sich verräth, Schwärmerei nennt, dass es mit Angst seine Augen von einem Gemälde zurückreisst, in welchem es nichts sieht, als seine Entnervung und seine Schande; dass alles Starke und Erhebende einen solchen Eindruck auf dasselbe macht, wie jede Berührung auf den an allen Gliedern Gelähmten: ich weiss das Alles; aber ich weiss auch, wo ich rede. Ich rede vor jungen Männern, die schon durch ihre Jahre vor dieser gänzlichen Nervenlosigkeit gesichert sind, und ich möchte neben und vermittelst einer männlichen Sittenlehre zugleich Empfindungen in ihre Seele senken, die sie auch in Zukunft vor derselben verwahren könnten. Ich gestehe es freimüthig, dass ich eben von diesem Puncte aus, auf den die Vorsehung mich stellte, etwas beitragen möchte, um eine männlichere Denkungsart, ein stärkeres Gefühl für Erhabenheit und Würde, einen feurigeren Eifer, seine Bestimmung auf jede Gefahr zu erfüllen, nach allen Richtungen hin, soweit die deutsche Sprache reicht, und weiter, wenn ich könnte, zu verbreiten; damit ich einst, wenn Sie diese Gegenden werden verlassen und sich nach allen Enden werden verstreuet haben, in Ihnen an allen Enden, wo Sie leben werden, Männer wüsste, deren auserwählte Freundin die Wahrheit ist; die an ihr hängen im Leben und im Tode; die sie aufnehmen, wenn sie von aller Welt ausgestossen ist; die sie öffentlich in Schutz nehmen, wenn sie verleumdet und verlästert wird; die für sie den schlau versteckten Hass der Grossen, das fade Lächeln des Aberwitzes, und das bemitleidende Achselzucken des Kleinsinnes freudig ertragen. In dieser Absicht habe ich gesagt, was ich gesagt habe, und in dieser Endabsicht werde ich alles sagen, was ich unter Ihnen sagen werde.