Heinrich Federer
Spitzbube über Spitzbube
Heinrich Federer

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8

Inzwischen zählte Pfarrer Imgrund zum weiß Gott wievieltenmal die Pulsschläge Eimils an den Schläfen und hoffte, bevor das Hundert voll sei, müsse endlich Hilfe kommen. Dann wischte er ihm das Blut ab, das wieder und wieder in kleinen dunklen Flecken zwischen den Lippen durchsickerte. Darob öffnete der Bub groß die Augen, schauderte zusammen und bat mit einer heißen Inbrunst der Blicke: hilf, hilf doch!

»Hast du schon oft so geblutet? Ich wußte das ja gar nicht . . . Rede nicht! Gib nur ein Zeichen.«

Eimil nickte ergeben.

»Hast du's denn immer verheimlichen können?«

Wieder nickte der Junge. Ein schwaches Lächeln huschte über sein Gesicht.

»Warum auch?« tadelte Imgrund betrübt.

Darauf lispelte Eimil etwas von Helden, die ihre Wunden verbergen, und von der Angst der Mutter. Nasenbluten machte er ihr weis.

Imgrund schüttelte den Kopf über solchen Wirrwarr von Edelmut und Torheit. »Wie soll ich also den Bruderklaus anreden?« fragte Eimil leise: »Großer Held Gottes etwa . . . oder Pater Patriä?« Er erquickte sich einen Moment bei den großen Worten.

»Sag' ihm einfach: Bruder, hilf dem Brüderlein!«

Eimil nickte demütig und fragte: »Wie redest du mit ihm . . .? Als du zu ihm sprangst von der Tagsatzung . . . wie hast . . . o erzähl' das . . . 's tut so wohl . . .«

»'s war viel Schnee und dunkel,« begann Imgrund, leuchtend von der großen Erinnerung, und kniete neben den Knaben und nahm ihn an beiden Händen. »In Sankt Niklausen mußt' ich das Hemd wechseln, so troff ich von Schweiß. Dort warnten sie mich, ins Tobel zu steigen. Die Ränfte seien vereist. Aber ich hatte keine Zeit zum Umweg, klemmte die Fußeisen an die Schuhe und kletterte hinab. Du weißt, es war grad vor Weihnacht, und ich dachte, sollt' es auch finster werden, o, irgendein Stern wie der von Bethlehem wird mich gewiß zur Zelle führen. Es ist doch für das gleiche Et in terra pax hominibus. Und so schloff und rutscht' ich eben hinunter, sprang übers Wasser und zum Klaus hinauf. Und als ich in die Zelle kam ohn' Sprach und Atem, da saß er unter dem Leiterchen an einem verlöschenden Feuer und sagte: sitz ab und sammle dich, Freund Heinrich. Was hetzest wie ein Hund? Wähnst denn Gottes Lieb' und Schnelligkeit noch zu überlaufen, kleines Vertrauen du! Glaubst, es häng' an deiner Sohle ganz allein das Vaterland, Krieg und Frieden? . . . Ich fiel zusammen. Denn wahrhaft, Büebli . . . aber wie ist dir? was schaust so groß? Was horchst denn . . .?«

Eimil Göldli machte ein ungeduldiges Zeichen, doch weiter zu fahren.

»Jawohl, ich hatte mich unterwegs so wichtig gedeucht, als ob gerade ich, Heini Imgrund, mit meinem schnellen Laufen das Land vom Bruderkrieg retten müsse . . .«

Eimil hörte gierig zu. Aber es war klar, daß er daneben noch etwas anderes zu hören schien, vom Berge her.

»Dann tätschelte er mich wie ein Kind auf die Backe; denn er will nie weh tun, auch beim gesalzensten Spruch nicht. Ich mußte erzählen, wie die Tagherren auf eins wieder bitter gegeneinander wurden, wie Städt' und Länder mit jedem Wort sich gehässiger anschnauzten, wie man sich schon laut und lauter das Wort Krieg ins Gesicht spuckte und es zum Ärgernis meiner lieben Stanser aus dem Ratsaal auf die Gasse hinaustönte wie von einem Konzil Toller und Voller. Schon wollten die Schwyzer und Zürcher zur Tür hinaus, da bat ich sie um einen barmherzigen Aufschub, um Euch zu rufen. Euch! . . . Und ich faßte ihn an beiden Ellbogen, als hielt' ich den Herrgott selber fest.«

Eimil lächelte blaß, zitterte leis mit den Ohren wie von jenem fernen Geräusch und flüsterte: »Und Er?«

»Er sah zu den verkohlenden Scheitern in der Grube und sagte gelassen: schau, Hitziger, da ist schon fast alles Asche und hat noch eben bis zur Decke gespritzt – Eimil, im selben Augenblick wußte ich, daß auch der Brand im Vaterländischen in diesem Nu gelöscht werde. Ich hatte vor, seine Ellbogen nicht mehr loszulassen, ohne Bruderklaus gar nicht nach Stans zurückzukehren. Die Tagherren, die kleinlichen, sollten ihn sehen, barfuß und barhaupt, von der Kutte geschüttelt alles Niedrige, Ewigkeit aus den Augen streuend . . .«

»O wie schön!« lispelte der Knabe.

»Und sie sollten seine Stimme hören, von der man meint, sie komme von der Sonne herunter, so erhaben tönt sie. Jetzt aber wußte ich, daß er nicht einmal mitkommen muß. Was sag' ich den Herren? bat ich getrost und gab seine Arme frei. Da sagt er mir die Worte. Weiß ich sie noch? Ich lief wie ein Pfeil heim, damit ich nichts vergesse und alles warm und frisch, wie's der Heilige gab, ins Rathaus bringe. Mir war, ich trage einen Blitz durch die Winternacht. Sicher hab' ich's nur matt und lau den Ratsherren übermeldet. Aber auch so noch war's mehr als genug. Sie fühlten, da sprach etwas, mit dem sich so wenig spaßen ließ als mit dem Tod, und was so klar und sicher war wie der Morgen. Die Herren sahen sich an und erschraken, daß sie so klein und übel waren, sie begannen mit Entschuldigen, baten sich alles Vorherige ab, umarmten sich zuletzt, und der Reding biß sich in den Bart, wie er immer tut, wenn ihn was erschüttert und er's nicht zeigen mag. Und jeder rief: ich geb' nach für Obwalden, ich für Bern, ich für Glaris! und man küßte mir die Hände, weil die Bruderklausenhand drin gelegen. O Eimil, das war eine heilige Stunde, du . . . aber wie ist dir? was siehst du dort hinauf? erblickst du was?«

»Horch!« gebot Eimil.

Imgrund hörte ein fernes Singen und dazwischen ein paar Trommelschläge. Es mußte ein Trüppchen Soldaten sein, die von Sachseln her die Hügel herauf stiegen. Aber Eimil schien nicht das, sondern etwas ganz anderes zu vernehmen. »Er kommt,« flüsterte er mit einem wirren, süßängstlichen Lächeln und strich sich, was er bisher nie getan hatte, die dicken Haare aus der Stirne, die immer wieder zurückfielen. »Hörst du, das ist sein Schritt . . . Aber wenn er mich sieht, so einen Bub, so was Kleines . . .«

»Und schlag ich nit, so schlagest du,
Drum hau und stech ich selber zu,
's lebt keiner für den andern.
Juhui! trumm, trumm!«

scholl es von einer Hügelhöhe keck durch die Nacht.

»Welch dummes Gefasel,« sagte der Pfarrer und schlug mit der Hand das ferne Echo wie eine Mücke vom Ohr weg . . . »Doch was sagtest du: so was Kleines? Ihm ist nichts zu klein.«

»Du hast ihn fürs Vaterland geholt . . . da glaub' ich schon, daß er hilft . . . Aber ich . . . Er wird glauben, ein König oder ein Bischof liege da . . . O du, was haben wir gemacht . . . Götti, Götti, wie unwichtig bin ich! . . . Werd' ich nicht kleiner gerade jetzt? . . . schau, schau, ich spür's doch . . . halt mich . . . siehst mich noch?«

»Göttibub Eimil, red' nicht so! Du träumst halb . . . Lass' das Haar . . . 's ist gut so . . . Eine Ameise ist ihm mächtig genug. Wie käm' er sonst? Wahrhaftig, ich hör' ihn auch . . . Jetzt nur noch einen Augenblick tapfer sein . . .«

»Ich bin mein eigner Thron und Turm,
Mein eigner Sturz und Totenwurm,
's stirbt keiner für den andern,
Juhui . . . trumm, trumm!« . . .

»Welch ein Leichtsinn,« antwortete Imgrund in die Stille hinaus. »Sicher sind es Söldner und wollen auch zum Klaus. Mit solchem Gesinge . . .! Aber, was machst denn mit dem Haar?«

»Es wächst und wächst und macht dunkel . . . hast keine Schere . . . ich seh' mich ja nicht mehr . . . Götti, wo bist? . . . Pst, Schritte . . . Jetzt, jetzt . . . wie schnell er kommt . . . Ich fürcht' mich fast . . . Götti, fass' mich um . . . mehr . . . ganz eng . . . an . . . so!«

Wieder rieselte Blut aus den Mundwinkeln. Der elende Körper bebte.

»Halt dich fest, Knab Gottes,« bat der Pfarrer, »mußt doch ein Held werden, fürchten nit Türk', nit . . .«

»Ach,« stöhnte der Junge tonlos.

»Und wenn nun nicht der Türk', sondern der Tod mit dir kämpfen wollte, der zehnmal stärker ist als Sultan Muhammed, wagst du's? zitterst nicht? 's ist mehr als Winkelried . . .«

Der Knabe nickte und preßte die Zähne zusammen.

»Das hab' ich gewußt, bravo . . . Aber bist auch rein genug,« fragte der Pfarrer heftig und von der schauerlichen Größe dieser Minute hingerissen, »hast den Schmutz der Erde weg? . . . Glänzt dein Schwert blank? . . . Du lächelst, nickst, verstehst . . .«

»Was sagst . . . was tun?« lallte der Junge. Er sah, wie sein Götti über ihm betete, ein herrliches Kreuz schlug, ihm zulächelte. Und zugleich hörte er ein Tosen, wie von einem ihm zuwogenden, unendlichen Meer. Und durch dieses ungeheure Geräusch klangen Schritte, rief man seinen Namen. Er kommt, Er ist da, Er, Er! Eimil wollte sich aufrichten, entgegenrufen . . . Wie nur hat der Götti gesagt? . . . Bruder hilf dem Brüderlein . . . Er streckt den Arm. Da schießt ein letzter Guß aus Mund und Nase, der lange Hals krümmt sich hintenüber, und mit dem Gesicht zum Nachthimmel erlöschen seine Augensterne. Aber es ist, als brennen dafür die Sterne dort oben wie von neuem Öl aufgefrischt.

Während Heini Imgrund der Leiche die Hände faltete und die Augendeckel schloß und ein hurtiges Totengebet der jungen Falkenseele nachsandte, damit es womöglich sie noch auf der Reise überhole und dem Wäger und Weiser allen Lebens gnädigst anempfehle, waren wirklich jene Schritte im Ohr des Sterbenden durch das Gras bis zum Gaden herangekommen und standen nun plötzlich wie erstarrt vor dem Toten still.

Dann aber entfuhr Dorotheen ein wildes, heiseres: »Tot?« Sie kauerte sich ins Gras und kratzte wie eine Henne am Boden und schrie und überschluckte sich: »Ist es das, o Himmel, ist es das . . .?« Aber der Omlibaschi winkte böse: »Pst! seid doch ruhig.« Denn das Mareili schlief auf seinen Armen und sein flinkes Schnäufchen wärmte ihm den Hals und liebkoste seine plumpe Seele, daß sie immer süßer auftaute und alles Liebe ersann, um das unschuldige Geschöpf nicht zu wecken. Er setzte sich neben die Leiche, leuchtete ihr ins Gesicht und brummte: »Das ist schnell gegangen. Wie er aufschwillt vom Brand! . . . Was nützt Euer Geschrei? Bindet ihm lieber das Kinn ein . . .« Mit dem gleichen kühlen Auge, mit dem er das noch halbwarme Wild jeweilen musterte, bevor er ihm die Füße zusammenband, betrachtete er die Leiche; »sonst grinst er uns morgen elend an.«

»Warum ist Er denn nicht gekommen?« fragte Imgrund trübe.

»O, o,« flennte Dorothe. »Das ist nicht recht . . . Mag er heilig sein über alle Cherubim, ich sag's ihm doch ins Gesicht: das ist nicht recht. Nein, nein, nein!«

»Was sprach er denn?« wiederholte Imgrund. »Sagte er wirklich nein, ich komme nicht?«

Nun erzählte Battist Omli, wie der Sohn Josef sie begleitet und den Bruderklaus geweckt habe. Sogleich trat der Einsiedler vor die Zelle und hörte der Dorothe ruhig zu. Dann fing das Mareili an in die Händchen zu klatschen und auf die Zehen zu stehen und seine Finger zu küssen und zu bitten: Komm schnell, der Eimil kann nicht warten . . . er kann nicht warten . . . Der Bruder habe schwer geseufzt: ihr Armen, ihr könnt nie warten. Gott wird euch schon warten lehren . . . So ungefähr! Dann machte er ein Kreuz über das Mareili und sprach: »Es ist ganz abgängig, daß ich schwacher Knecht komme. Ein Stärkerer hat euch schon geholfen. Gehet und sehet selber, ob er nicht der gesündeste Luzerner geworden ist!«

Wie der Baschi das sagte, raufte die alte Magd aufs neue im Gras vor Zorn und rief: »Und wir glaubten, das Wunder sei uns vorausgelaufen . . . und jetzt . . . o weh . . . so . . . ist das heilig?«

»Tut nicht wie ein Unchrist,« bat Imgrund düster. »Der Knabe ging tapfer von hinnen . . .«

»Gut, gut, jetzt soll er den Toten lebendig machen,« schwor sie, »es ist ihm nicht geschenkt . . .«

»Dem Eimil ist jetzt leichter als uns allen . . . Aber wozu das Gejammer . . . hier können wir nicht übernachten, Dorothe . . .«

»Zum Bruderklaus!« flehte die Alte. »Er muß helfen . . . Auch Sankt Peter und Paul haben Tote lebendig gemacht . . . Im Namen Jesu kann man alles . . . Warum hat der Bruder gewartet, als Eimil noch lebte. Ist das Wunder jetzt schwerer . . . gut, mach' er das mit dem Herrgott aus . . . 's ist seine Schuld.«

Wie eine alte Druide schimmerte die Greisin im weißen Haar und wilden Auge in das nächtige Feld hinaus. »Er muß, er muß . . . und er kann. O Herr Jesu, gib ihm die Seel' des Büebli zurück . . .« Müde klappte sie in den Knien zusammen.

»Ich fürcht',« warnte Imgrund, »Ihr macht uns noch den ganzen Himmel da oben zum Feind, wenn Ihr so weiter lästert. Wollet uns lieber helfen, daß wir bald zum Bruderklausenhaus hinaufkommen . . . Da, packet zu!«

Man legte das Mareili behutsam neben den Toten auf die Streue, stellte die Laternen rechts und links und brach im nächsten Gebüsch Äste für eine Bahre. Als man zurückkam, lag Mareilis Händchen auf Eimils Herz, als suche es dort etwas. Alle waren davon ergriffen. Es war gut, daß die zerrütteten Leidleute nun mit dem Traggeflecht und hernach mit dem Transport des lebenden und toten Kindes zur Fluh hinauf soviel Arbeit bekamen, daß sie kaum noch einen Atem zum Klagen übrig hatten.


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