Heinrich Federer
Spitzbube über Spitzbube
Heinrich Federer

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6

Er merkte gar nicht, daß der Quicker ihn schon lange am Arm hielt und drängte, doch ins Häuschen zu treten. Der Eingang war offen. Heinz tastete sich zur Küche vorwärts. Aber auch da war alles finster und still. Man hörte nur das Vieh sich an der Rückwand reiben. »'s ist niemand da,« murmelte Heinz. »So müssen wir doch zum Schlegel.« Unwillig, als wäre der gute Simon schuld daran, stieß er ihn vor sich her zum Ausgang. Langsam tappten sie der dunklen Masse oben am Hügel entgegen. Ein schwerer Turm, eine niedrige Kapelle, ein plumpes Gehäuse vornüber gegen den Abhang verschwammen da in der Finsternis zu einem noch finsterern, unförmlichen Klotz zusammen.

»Es sind also Pilger beim Ratsherrn, und das Seppeli und der Hans müssen aushelfen.« erklärte Heinz vor dem Wirtshaus.

»Morgen um fünf Uhr gehen wir aber bestimmt da hinunter,« flüsterte Simon und erschauderte beim »da hinunter«; denn man hatte rechter Hand eine gähnende Tiefe, von der jetzt nichts bemerkbar war als schweres, tiefes Wassergetöse aus einer grundlosen Nacht herauf. »Wir müssen . . . allein und ganz leise . . . ohne Gesell, nicht wahr?« bat er und griff nach Heinzens Arm.

Die Stubentür war offen. An einem langen Tisch an den Fenstern saßen drei Männer. Gerade unter dem Kreuz im Eck lehnte sich mit runden Armen ans unbequeme Getäfer ein hübscher Mönch von vierzig Jahren und rutschte und rückte unablässig, um es behaglicher zu bekommen. Er war fein rasiert, trug schön gekämmtes, über die Ohren gewundenes Haar und hielt den kleinen erdbeerroten Mund ein wenig offen, als fehlte ihm die Luft. Unter dem Doppelkinn sah man deutlich die Halsader schlagen. In diesen schnellen Schlag und in das stete Hüpfen der grauen Augensterne schien alles Leben des Mannes gedrängt zu sein. Der kahle Alte rechts und der fremdartige schwarze Jüngling links schüttelten eben die Köpfe über ihn, der offenbar etwas Scharfes, ja Aufreizendes gesagt hatte. Aber sie verneinten mit einer gewissen Ehrerbietigkeit. Brot und Näpfe mit Mehlklößen und Weinbecher lagen auf dem Tisch. Ein hellhaariges Mädchen mit überaus geradem, fein gestieltem Hals stand steil davor, hob eigensinnig das Kinn und wandte sich jetzt gegen die Eintretenden. Es erkannte Heinz und grüßte ihn mit einem zutraulichen Nicken, ohne die Hand zu bieten, als wäre man noch vor eine Stunde beisammen gewesen. »Ja, Ahni,« antwortete sie gegen den Ofen, wo der Gastwirt Klebli saß, »'s hat noch genug im Kessi . . . Wollt Ihr? Habt Ihr brav Hunger?« fragte sie keck vom einen zum andern.. »Ich komm schon mit in die Küche,« bestimmte Heinz; »dorthin, Kanzler!« Er wies ans andre Tischende. Aber Simon sah und hörte nichts als das mit einer klangvollen und schmerzlichen Stimme aus der Fensterecke gesprochene Wort: »Nein, liebe Herren, sagt, was ihr wollt; aber das ist kein Leben. In die Wüste muß man wieder gehen, um das Leben zu suchen wie weiland zu Erzvater Antonius.« Simon sah deutlich, wie die Ader am Hals des Mönchs schwoll und hämmerte, und wie seine kleinen Augen hin und her schossen, um einen rettenden Ausgang zu finden. Aber schon das rosige Fett ringsum schien eine solche Flucht zu vereiteln.

Simon Quicker erkannte sofort, daß dieser Mönch kein Gewächs aus dem Bauernboden hier, sondern etwas Vornehmes, Ausländisches und, nach der Kopfbedeckung zu urteilen, eine Art Magister sein müsse. Er setzte sich mit einer tiefen Verbeugung an das andre Tischende und horchte begierig, wie die zwei Genossen, der Junge mit dem langen, rabenschwarzen Schnurrbart und der stramme Kahlkopf, der sicher ein hiesiger Amtsmann und Großbauer war, dem Geistlichen widersprachen. »Das sind Ausnahmen,« erklärte der Greis. »Einen rettet es, zehn andre verdürbe es.« – »Dekan,« lachte zutraulich der junge Mann und legte seine damenhaft feine, schwer beringte Hand auf den Tisch, »Dekan Albert von Bonstetten, saget selber, was wäre zum Beispiel aus mir geworden, wenn ich Euch nicht aus der Cella Sankti Meinradi entsprungen wäre? Eine Jammerkutte, eine Not und Plage des Monasteriums! Nun ging ich an meinen Platz in der Welt, bin schon ungarischer Colonello und nehme muselmännische Nester aus.« Und er zeigte auf die gelbe Medaglia, die ihm auf die Brust fiel, jenen seltenen Türkenpfennig, in Gold geprägt, den der Papst nur für ausnehmend große Bravouren gegen den Halbmond verschenkte.

»Lieber von Sax, du wirbelst mir alles durcheinander wie vormals lateinische und griechische Vokabeln. Elapsus! Gut! Du warst noch nicht geschoren. Ich rede von uns Priestern,« der Dekan griff vielleicht zum erstenmal seit Jahren mit Scham in seine unklösterliche Haartracht, »von mir! Nein, nein, das muß aufhören, diese Weltlichkeit, dieses Gejage um den Gulden und Kranz. Wie besudelt deuchte ich mich von dem allem dort unten, als der Eremit mich nur ansah . . . Auch dieses Geschreibe da, das nur Eitelkeit ist und Schmutz, weg, weg . . .! Was staunet ihr?« eiferte er mit einer edlen Röte auf der Stirne. »Helfet mir eher, als daß ihr abwehret. Ich fühle, jetzt möchte ich heilig werden und jetzt habe ich recht . . . Tu' den Plunder weg! befahl mir der große Mann. Habt ihr gesehen, wie er mich auslachte, als ich das seidige Barett bürstete, da es mir zu Boden fiel. Fast hätt' ich's wieder fallen lassen. Dir tut der Plunder weh, glaub' mir, wiederholte er. Und ich dachte, als ich seine Bank und den Stein zu Häupten und den Stecken zu Füßen sah, ja, das muß man gerade haben zum Ruhen und zum Rennen, und alles übrige ist Plunder . . . O, ihr wollt mich nicht verstehen. Das ist mein Unglück. Immer wenn ich verstehe, wollen mich die andern nicht verstehen . . . und was kann man so allein?« seufzte Albert von Bonstetten und zog schmollend seine erdbeerfarbene Lippe in die Höhe. Er schob den Becher von sich und steckte den Zeigfinger wie in Atemnot zwischen den Hals und den steifen Kragenaufsatz. »Geht nur auch Ihr und holt Euch ein kaltes Bad dort unten,« lud er zu Simon Quicker hinüber mit einem bittern Scherzlächeln ein. »Ich bin gründlich gewaschen! aber ob ich sauber werde? Dieser Mann ist rein, und wir alle, alle sind unsauber!«

Simon blickte verlegen in den Napf, löffelte in seiner Milchsuppe herum und kam sich sonderbar ungeschützt vor. Aber umsonst winkte er Heinzen, der am Ofen neben dem Klebli und dem Seppeli etwas tiefer auf einem Schemel saß und ihn ärgerlich abwies. Er habe keinen Hunger und sitze hier besser.

»Euer Gnaden haben ihn also gesehen . . . gesprochen,« versuchte Quicker schüchtern.

»Und gefühlt! Domine mi, gefühlt wie eine Faust vom Himmel, wie ein Schwert aus dem Evangelium. Ich sag's Euch frei heraus: mehr wegen einem absonderlichen Menschen stieg ich hinunter. Aber nun weiß ich, daß ich der Absonderliche bin. Er steht in der schönen Ordnung. Wir sind außer Rand und Band. Tu' den Plunder weg! Aber wie soll man soviel Plunder wegbringen? Heißt das nicht schier, uns selbst wegtun, da wir uns selbst ganz und gar in Plunder verwandelt haben?«

»Hochwürdiger Dek . . .«

»Auch Ihr, Herr Landammann, müßt daran denken. Hat er Euch etwa gelobt wegen der französischen Pension? Und du, Filippo, hat er deine Medaglia auch nur bemerkt? Paperlapa! Wo ist der Türk? wo sollen wir reislaufen? Da, da, da!« er schlug sich mit dem weichen Handballen auf die Brust, »dienen im Herrn Jesus Christus und außer ihm ist nichts . . .! Das hat er gesagt. Mir war, die Berge krachten ein Ja dazu. O Freunde, er ist ein Wunder, ein Wunder! ich erkenn's, gottlob! Aber ihr Hartohrigen . . .« Indem er das sagte, ging es wie ein leichter Trost über ihn. Erschöpft lehnte er sich zurück und schaute zur Stubendecke empor, das kindlich schöne Doppelkinn streichelnd.

Landammann Reichlin von Schwyz schüttelte ungerührt und tief mißbilligend den Kopf. »Man weiß, Dekan, Ihr erhitzet Euch schnell für etwas Neues und Merkwürdiges. Aber mit aller Achtung gesagt, das ist nicht gesünder als ein Rausch. Ich bleibe lieber nüchtern . . . Laßt, laßt mich reden . . . Auch Ihr werdet wieder nüchtern. Der Klaus dort unten ist einer, der das Leben floh. Der hat gut vom Leben reden! Wenn ich nicht im Schnee stecke, friere ich nicht an den Füßen. Wir müssen draußen in der Welt stehen. Das ist eine andere Sache. Glaubt nicht, ich mißachte den Einsiedler. Ich hab' ihm da hinterrücks einen Faden vom Ärmel gestrupft, da, seht . . . diese braune Wolle . . . 's ist gutes Geweb aus Solothurn . . . hilft vielleicht daheim gegen Gliedersucht. Ein gesegneter Mann! Wenn er vom Himmel redet, glaub' ich alles. Das ist sein Fach. Aber wenn er von der Erde predigt, von der er im Loch da unten kaum eine Runzel sieht, wenn er von Kompagnien und Sold und unsern Marchen mit euch Äbtlichen schwatzt, da ist er ein Mensch und Irrgänger gerade und mehr als wir . . . da . . . da . . .«

»Und,« fuhr der Junker de Sax ungeduldig drein und klemmte den schwarzen Schnurrbartzipfel zwischen den schmalen Zeig- und Mittelfinger, »und es gibt genug kluge Leute, die tadeln, daß er nicht gut tat, von Frau und Kindern zu laufen, dem Kleinsten noch beinahe im Wickel, und sich zu . . . zu . . . zu verlochen und . . .«

»Besser als zu allen Dirnen laufen und Kinder da Kinder und dort, Herr Junker,« grollte eine rumpelige Stimme vom Ofen. »Wir haben's baß gesehen, bei Herren und Knechten . . .«

Der Dekan lehnte sich fröstelnd ins Eck und guckte in die Diele empor. Was jene entgegnet hatten, tat ihm halb wohl, und halb ungern hörte er nun den Spruch des Klebli.

»Das ist es nicht,« widersprach der Schwyzer, »seine Buben stehen aufrecht, der Hans wird nächsthin Landammann, und der Kläusli studiert unten in Basel Humaniora. Das ist es nicht. Jeder folg' seiner Stimme! Aber er lass' die andern unbeschwert, die solche Stimme nicht hören.«

»Gott redet in verschiedenen Sprachen zu uns, das ist gewiß,« lenkte von Bonstetten ein, ohne von der Zimmerdecke wegzublicken. »Und kein Mensch hat ein Ohr wie der andre.« Er erinnerte sich an den Brief des Königs von Frankreich, der ihn vor zwei Tagen beglückte und nach Paris einlud, »ans Ohr eines ganzen aufmerkenden Volkes . . .« »Nein,« sann er fort, »hier zwischen wilden Wassern und Wäldern könnt' ich nicht leben. Wie hart ist diese Bank, wie niedrig hängt die Decke, wie übel riecht es hier von Mensch und Mist! Paris hat Heilige wie die Wildnis . . . und ist Ohr und Mund der Welt . . .«

»Er soll nicht einmal lesen können,« witzelte von Sax, und seine schwarzen Misoxer Augen brannten mit südlichem Feuer, »keine Aventiure, nichts von Orlando . . .«

Der Dekan runzelte die Stirne. Das Lesen, da haben wir wohl den Schlüssel. Lesen heißt zu den Menschen gehen, in alle Welt eilen, nie genug Fenster auftun können für die edle Neugier der Seele, die uns vom Tier abscheidet. Aber nicht lesen können heißt noch das letzte Fenster zum Wissen zutun, den letzten Riegel vors Licht schieben und in seiner eigenen Dunkelheit erblinden . . . Dennoch, wie gescheit redete Bruderklaus! Welch eine Stimme war das: tu' weg den Plunder und lach'! Ja, das fügte er bei: und lach'! Tausend Bücher können nicht so lärmen wie dieses Wort mich anschrie. Und wie der Sprecher mich dabei durch und durchschaute. Sei es, er kann nicht Buchstaben lesen; aber mich hat er von A bis Z haarklein ausgelesen . . . Und jetzt schien dem Mönch, seine lateinischen Werklein über die Eidgenossenschaft, über das Kloster, über Sankt Meinrad, an denen er mit so unendlicher Stilmühe feilte, und die er Königen und Kaisern auf den Tisch legen wollte, all das sei erst recht Plunder. Aber gleichzeitig schob ihm der Junker Filippo de Sax das Bankkissen bequemer in den Rücken, so daß er den unebenen Wandbalken minder spürte. Eine süße Schwäche übermannte ihn. Ach nein, ich bin im Plunder geboren, ich werde wohl im Plunder sterben, ich kann nicht mehr ohne ihn sein. Wie soll ich auch? Abt Konrad jagt im Vorarlbergischen auf Hirsche, Kustos Barnabas erfindet neue Gemüse, ich wenigstens studiere gern, begeistere mich an den Psalmen, feiere die heilige Messe, grüble mich schwer ins Kirchen- und Weltgeschehen und keuche, engatmig wie ich bin, den Dienern Gottes in solche Wildnisse nach. 's ist nicht so schlimm, 's ist wahrlich nicht so schlimm. Probieren wir es so weiter. Tu' weg den Plunder! ja, sondern wir, was Plunder ist und Plunder scheint . . .! Etwas minder Politik . . . etwas mehr Bibel. Etwas minder Habsburg . . . etwas mehr Jerusalem . . . Ich wollte über König Rudolf schreiben . . . jetzt bei Gott, das ist ein Wink, jetzt schreib' ich über den Heiligen dahier . . . deutsch? . . . lateinisch? . . . Er schloß die Augen und formte im Geiste den Titel. Incipit prologus in hystoriam fratris Nicolai de Rupe heremite Underwaldensis . . .

»Der Dekan ist müd, reden wir leiser,« meinte der Schwyzer mit einem dünnen Lächeln. »Solche Bergtouren sind ihm ungewohnt.«

Ratsherr Klebli am geheizten Ofen hatte ein Bein aufgestreift und wischte manchmal mit einem Lappen Öl daran. Heinz, den leicht ekelte, konnte das nicht sehen und rückte den Schemel näher ans Seppeli, das neben dem Alten auf der Ofenbank saß. Er verstand von allem Gespräch nicht drei Worte, sondern schaute von seinem niedrigen Sitz zum saubern und zufriedenen Gesicht der Jungfrau empor, fast so unruhig und doch ergeben wie ein Hund zum Herrn. Sie ließ ihm die Hand und sagte leise Ja oder Nein auf das, was er flüsterte, aber was sie im Gerede der andern nicht beachten konnte. Ihr war nicht anders als vor vier Jahren, wenn sie bei ihm saß und Geschichten hörte. Nur erzählten jetzt die Männer da. Sie merkte auf alles, und es regte sie wohltuend an. Beim Vater hörte sie nie so Neues. Der Bruderklaus hatte schon oft mit ihr gesprochen, und jetzt urteilte sie, daß jede Partei übertreibe und sich Himmel und Erde recht brav in ihm mischen; und daß er sich von links und rechts nichts dreinreden lasse, hause, wo es ihm beliebe, lebe, wie es ihm behage; das gefiel ihr besonders. Hoch reckte sie den Hals und machte unwillkürlich ein angriffiges Gesicht.

Heinz jedoch dachte, daß sie wie Schnee auf ihn niederleuchte. Er erinnerte sich, wie er einst in der Mailänderschwüle zum Domgerüste emporkletterte, um jenen gewaltigen Schneeberg zu sehen, von dem man ihm erzählt hatte. So süß, so unbefleckt, aber auch so ferne, dünkte ihn, glänze jetzt ihr Gesichtlein zu ihm nieder; wie frisch gefallener Neuschnee, so rein und ach so kalt.

»Ihr solltet Lattich auflegen, nicht immer Öl schmieren,« mahnte der Schwyzer den Klebli. »Lattich saugt Hitz' und Dreck aus wie kein Balsam. Mein Kuoni hatte es haargenau so überm Knie. 's rührt von einem Flamänder, nicht?«

Ratsherr Klebli nickte verdrossen. »Seppi, der Junker will nochmal den Becher voll . . .« »Mach' schnell und sitz' wieder daher,« bat Heinz und zupfte sie wild am Rocksaum.

»Die hatten so rostige Hacken vorne,« erklärte der Schwyzer dem Junker. »Bindet also den Lattich locker aufs Bein über Nacht, das treibt den faulen Saft heraus. Dann mittags an die Sonne mit dem Knochen, die frißt das Gift rein weg. Mein Bub konnte wieder bolzgerad laufen.«

»Und mäht und ackert wieder, he?« höhnte der Invalide.

»Das war dann ein richtiger Degenstich ins Genick,« bemerkte der Schwyzer, ohne den Kahlkopf zu beugen.

»Und Ihr lasset Euch ölen und einfetten ganz anders als mein armes Bein und werbet und sorget für neue Krüppel. He, was meinst, Jungfer Steifhals,« schrie der Wirt zum Seppeli, »kann ich's mit meinem Hinkebein auch noch probieren, zu den Franzosen zu gehen und etwan zu sagen: da ist das rechte Bein, metzget es auch noch! Was meinst, Mädchen?«

Der Schwyzer zuckte bloß mit der Achsel. Dekan Albertus lächelte leise, ohne die Augen zu öffnen. Er schlief nicht, hörte alles aus einer müden Verträumtheit heraus und pröbelte daneben immer am Exordium herum: Natus est humili genere Nicolaus cognomine de Rupe . . . von Flüe . . . Das ist nicht Adel, dieses von, das die Bauern so leichtfertig brauchen . . . Das darf man auch bei einem Gottesfreund rügen . . .

»So schau doch ein wenig zu mir, Seppeli,« tuschelte Heinz, als die Jungfer dem von Sax vorgetrunken hatte. »Gefällt dir der Tschingg so?«

Sie lachte aus ihrer ganzen grauäugigen Ehrlichkeit auf ihn nieder und zerrte ihn zum Spaße am Ohr. »Das wär' wohl ein Narr,« antwortete sie mit ihrer klingenden Stimme dem Wirt, »auch noch das gesunde Bein!«

»Aber exakt so närrisch habt Ihr getan, Landammann. Das gleiche Kalb habt Ihr zweimal dem Metzger gegeben.«

»Toni,« warnte seine alte Schwester, die eben in den Kammern fertig geworden war und mit Seppelis Bruder, dem Hans, jetzt neben den Quicker hinsaß, der immer gebückter zuhörte.

»Er wollt' es so, Ratsherr,« erwiderte der Landammann kalt.

»Wie der Hans so das Hänsli,« murrte der Klebli.

»Toni!« warnte die Alte mit einem stechenden Blick aus dem verrunzelten Gesicht. »Heut' tut ihm das Bein wieder sonderlich weh,« entschuldigte sie zu den Gästen, »der Föhn! Und dann jährt es sich gerade noch. So hat er eben den Kolderi.« Sie schrumpfte danach mit dem Gesicht zusammen wie alte Baumrinde, so daß man Augen und Mund geradezu suchen mußte.

Ratsherr Anton Bitzi, genannt der Klebli, sah zur Wirtschafterin hinüber. Er verstand ihr Warnen. Sei doch vernünftig, hieß es. 's geht um deinen Hosensack.

Ach was, ob's einem Gast gefalle oder nicht, er muß jetzt einfach den Kropf leeren: »In Kerns sind vier Familien in diesem einen Jahr verlumpt vor nichts als Reisläuferei. Und ich sitz' da schon Jahr und Tag und putz' mir den Unrat vom Gebein und heiß' drum der Klebli, und ich schlaf' nicht nachts und schaff' nichts bei Tag und schäm' mich vor Sonn' und Mond, daß ich so faulenz' wie eine Kuh, o Herregott . . . Aber ich hab' doch das Bäbi da, die Rapauzel, und Haus und Vieh und zum Leben genug. Aber Michels zum Beispiel? Die fünf Waisen im Durrerhüttli, der Leonz Gäßli und all die andern Hungerteufel . . .! In Sarnen bauen sie jetzt hinten an der Aa einen Gaden für die Siechen. Was noch stelzen kann, bettelt . . . Donnerschlag, dein Alter, Heinz, ist auch so ein Pensionenfresser, der Landammann!«

Bei diesem Titel merkte der Bürgler auf. Alle schauten ihn an, aber nicht unwillig, sondern mit dem wohlwollenden Respekt, den ein so hoher Herrensohn verdient. Und Heinz fühlte die Bedeutung seines Namens angenehm mit. Er blickte mutwillig zum Seppeli auf, als wollte er auch da ein Kompliment holen. Aber es machte ein so unberührtes, gleichgültiges Gesicht, es war so überaus schön in seiner namenlosen Bauernfreiheit, daß ihm die ganze Bedeutungslosigkeit seines Ranges neben dem Mädchen klarer als je wurde und er wünschte, er könnte als ein ebenso unbekannter Bursche neben der unbekannten Jungfer sitzen.

Der Schwyzer hatte indessen gegen Heinz mehrmals lächelnd auf die Stirne getupft. Da fehlt es dem Klebli, sollte das heißen. Nun wollte er sich gemächlich zur Wehr setzen. Auch von Sax nestelte hitzig am Gurt und fing an zu schreien: das sind Ehrlosigkeiten, das . . . Aber der Ratsherr war schon aufgestanden und so elend am Stecken in die Mitte der Stube gehinkt, das Gesicht grauer als sein graues Haar, daß jedes Gegenwort erlosch. Nun erst sah Simon Quicker, daß der linke Ärmel vom Ellbogen weg leer niederhing. Gerade diesen Stumpen im Ärmel erhob der Greis jetzt statt einer Hand, und näherte ihn seiner Stirne, ohne sie bei weitem zu erreichen. Dann rief er mit einem wahrhaft tödlichen Ernst: »Da, du alter Pensionär, bin ich noch ganz frisch. Aber denen, die noch immer in die Metzget gehen, fehlt es da . . . und denen, die in die Metzget schicken, auch noch da, da, da!« Und wie er nun bei diesem geschrienen da! da! linkisch aufs Herz wies, ohne es mit dem Armstumpf zu fassen, lief allen und dem nahesitzenden Simon zumeist das Grauen über den Rücken.

Seppeli erschrak so sehr, daß es mit beiden Händen nach Heinzens Schultern griff. Er zog sie rasch daran herunter und fragte ungestüm: »Soll ich nicht mehr fort? soll ich hierbleiben? . . . Seppeli . . . Liebes . . . soll ich das Reisen und Kriegen . . .« »Pst, pst!« machte sie ernst . . . »der Ratsherr . . . hör' doch!«

»Nichts für ungut; aber heut' ist eben Remigi,« erzählte der Ratsherr mitten in der Stube so eilig, als brenne es ihn. »Dort gegen Flandria machen sie Feiertag. Und gerad an dem Tag und um die jetzige Nachtstund' kam's. Wallonen, falsche, meineidige! Kirchvogt Omlin von Sachseln hat uns, der kleinen Stadtwach', eben den Monatsbatzen um den Marktbrunnen herum ausbezahlt. 's war so finster, daß wir das Geld nur mit Greifen abzählten . . . Ja, da kam's aus allen Gäßlein, ohne Latern' und Fackel, so daß wir nicht sahen, wer und gegen wen. In allen Fenstern erloschen plötzlich die Lichter. Und daher und von den Dächern hagelt es, und sogleich spür' ich einen Hacken im Bein. Ich tast' hinunter, zerr' aus, fall' um, schleif mich sterbensübel zur Röhre, such' Wasser, mir hangen die Arme. Um mich säbelt und brüllt man. Nichts unterscheid' ich, alles schwarz. Ich trink' . . . Da fliegen Ziegel, Steine und weiß der Teufel was in den Trog. Ich fühl' Steifes und Zappeliges um mich, Kaltes und Heißes, mir schwindelt,« immer wilder hetzte den Sprecher die Erinnerung, »ich klettre auf eine der Röhren, schwing mich zur Nische oben am Brunnenstock empor, 's ist kein Heiliger, was drinnen steht, so ein welscher Laff, ich zerr' ihn am Sockel heraus, über meinen Kopf in den Brunnen . . . hei, das klatscht und spritzt! und unterweil kriech' ich in sein Loch, steh' auf, so steif ich kann mit dem blutigen Bein, als wär' ich selbiges Bild. Ich seh' nur Dunkles unter mir auf und ab und hör' ein Verschreien und Verkeuchen, daß mir das Haar aufsteht . . . . O ihr Leut', wer das im Ohr hat, wie der Omli brüllt': Brüoder, Brüoder . . .! Und ich glaubt', er jammere zum Brüoder Niklaus da unten im Ranft, der uns so dringlich vom Feldzug abgemahnt hat . . . Aber der Kirchenvogt hielt noch den jüngern Brüoder bei sich, und der gab keine Antwort mehr. 's ist bald still geworden. Die Wallonen zündeten jetzt ihre fingergroßen Kirchenkerzen an. Dann hoben sie jede Leich' am Haar auf, zündeten ihr ins Gesicht und ließen sie wieder fallen . . . Ich sah alle meine Kameraden, neun waren es, was für Gesichter! Fast alle haben Blut ums Maul, die Zähne hangen heraus, und die Augen sind zweimal größer, und mir ist, sie glotzen zu mir herauf: da ist noch einer, der braucht's nicht besser zu haben als wir, er hat sich auch verkauft, tötet ihn . . .! Und ich hör', wie die welschen Schufte das Geld jedem aus der Tasche klopfen und auf dem Sims abzählen. Und da ruft einer, dem es in die Hosen geht, ganz deutlich aus der Ohnmacht: nehmt, nehmt, auch was mir d'Mutter ins Futter genäht hat . . . nur lasset mir die Seel', die arme Seel' . . .! Was meint ihr, was geschah? Kein Wort . . . ich hör' nur etwas ins Tuch fahren, durch und durch, dreimal wie durch einen Sack . . . und jedesmal einen Schnarch. Dann wird's still. Das ist der Remigi Reinert vom Widelerhaus, noch nicht siebzehnjährig. 's ist grad sein Namenstag. Der war ungern bei uns, wollt' immer heimdesertieren, schnarchte nachts so jung und schwer . . . O ihr Leut', da sind mir die Sinne vergangen, ich fall' steif wie ein Buchenscheit an die Wand. Heut' vor elf Jahren war's um die Stund'! . . . Wo ich erwach', ist's still. Nur drüben in den Ratstuben brennen wieder die Fenster und pokuliert man. Mir sind die Lippen vor Brand zusammengewachsen. Aber ich wag' mich nicht zur Röhre hinunter, so schön das rauscht. Da hatt' ich Zeit, dem Brüoder zu rufen. Wenn ich mit dem Leben davonkomm, gelobt' ich, so will ich von nun an immer gegen das Reislaufen reden. Bei jedem Glas, das ich verzapf', will ich bitten: Most, Wein, Branz, sauft alles, nur kein Blut . . .! Ich bet' und verschmachte schier, und zuletzt, da das Wasser unter mir so himmlisch rauscht wie unsre Melchaa daheim, setz' ich den Durst übers Leben und schlüpf' hinunter und trink' und entkomm' zum Friedhof und von dort zu den Unsrigen. Die machen rechtsum, in die meineidige Stadt, und Schuldig und Unschuldig wird zusammengemordet. Da hat's mich noch den halben Arm gekostet . . . Ja, heut' war's . . . nicht wahr, du altes Bein, du merkst es auch . . . Ich dürst' und brenn', als ständ' ich noch dort im Brunnenstock. Jungfer Geradhals, einen Topf, einen Topf Milch . . .!«

Er krümmte sich auf seinen Stock nieder. Seppeli flog aus der erschütterten Stube hinaus. Zitternd hielt sie ihm dann den Napf an den Mund. Tränen schwammen ihr im Auge. Heinz half ihr den Alten zum Ofen führen. »Soll ich also auch gehen und verderben? Seppeli, um Gottes willen, so sag doch!« bat er. »Nein, nein,« bebte ihre entfärbte hübsche Lippe, »niemand soll mehr gehen . . . Bleibt doch alle da, wo wir es so schön und sicher haben . . . Lieber Gott, der arme Wideler . . . durch und durch . . . drei Stöße . . . Niemand darf mehr fort . . .«

»Und unser starkes Bellenz, das den Italienern den Riegel stößt vor unser Haus?« bemerkte jetzt der Schwyzer besonnen, »und der Thurgau und überhaupt was wir sind und haben, wenn wir nur das fließende Bein putzen und jammern wollten, wo wäre das alles? Wir wären leibeigen! Wir ständen heut' nicht so in strammen freien acht Orten, wie acht Künge . . .«

»In zehn jetzt, Landammann,« korrigierte der Junker, »Freiburg und Solothurn . . .«

»In acht Orten und Staaten da, nicht einmal in acht Dörfern . . . und jeder gefürstete Lump schöb' uns in seinen Sack . . .«

Albert von Bonstetten verzog die Lippen ein wenig.

»Aber ich dächte, jetzt seien wir groß und gefürchtet genug,« wandte der Klebli müder und milder ein. »Einmal heißt es doch, den Zaun zumachen, sagt Bruderklaus. Oder wollt Ihr ans Meer mit euren Sennenkäppi, die Walfisch' melken, haha!«

Der Schwyzer blickte ihn und alle in der Stube gelassen an. Sein Kahlkopf, die verwetterte Stirne, die kleinen scharfen Augen, das rasierte lange Kinn, alles verriet den Bauern, der mäht und mistet; und dennoch blitzte etwas Staatsmännisches über Dorf und Allmend weit Hinausreichendes, Unerschütterliches aus dem derben Manne. Ein römischer Konsul, träumte Albertus, der Schafe geschoren hat, die Wolle von sich schüttelt, aufs Forum geht und zum Kriege gegen Karthago rät.

»Groß genug, meinst du, Ratsherr! Man ist nie groß genug, wenn noch Größere da sind,« sagte er einfach und leerte sein Krüglein Milch.

»Ein famoses Wort!« lobte Albertus für sich. »Das notier' ich mir, sobald ich allein bin.«

»Übrigens,« belehrte der Landammann Reichlin kühl, »worum hadern wir? Niemand muß doch gehen, jeder ist frei. Gegen Buben, sechzehnjährige, wie deinen Remigi Wideler, haben wir doch ein obrigkeitlich Verbot aufgestellt . . . Etwas anderes war es gegen den Burgunder, den Tollen. Der wollt' uns an Haus und Hals. Da mußte man! Da waren wir ja zusammen, Ratsherr Bizi, im Urbaner Wäldli vor Murten . . . Ins Flämische, das Jahr darauf, hat Euch niemand befohlen. Nicht einmal nach Nanzig hätt' einer müssen . . .« Er überlegte einen Augenblick und knüpfte dann entschlossen Kittel und Brustlatz auf. »Aber man konnte, man durfte . . . und ich sag', ein gescheiter Eidgenoß mußte dort dem Karl den Rest geben . . . Ich ging bis Nanzig . . . Da!« Er hatte das grobe, verschwitzte Hemd aufgelitzt. Von der rechten Brustwarze bis zum Hals lief eine breite, gehöckerte Narbe wie ein Strick mit vielen Knoten. »Ich schick' nicht erst andere, Ratsherr, ich gehe voraus!«

Neugierig richtete der Dekan sich vor und rief bewundernd: » Spartiates es!« . . .

»Ich könnt' noch anderes zeigen an der Hüfte . . . aber,« schloß er unwillig und knöpfte rasch zu, »schon das paßte sich nicht, gar nicht.«

Indem war der Klebli zu ihm an den Tisch gehinkt, bot ihm die Hand und bat treuherzig: »Nichts für ungut, Kamerad. Mir brach heut' die Galle aus. Mir rauschen jene Brunnenröhren zu Rheincy noch heillos im Kopf . . . Aber geht nicht mehr! und keins von Euern Kindern! und niemand . . . Und nichts für ungut doch, wenn ich so brumme . . . kommet immer wieder, Ihr seid mir ein lieber Gast . . . ihr alle,« fügte er bei, mit einem kleinen Mißtrauen einzig den fremdartigen, einsilbigen Simon streifend; »Sommer und Winter ist hier offen, Herren . . . und 's ist schad', übermorgen kommt der neue Lombarderwein, das Faß liegt schon auf der Sust zu Alpnachstad. Von Monza herauf kommt er. Ich sag' euch, da sitzt ihr und trinkt es wie Milch, das glutig' Italia mittsdrin in unsern Bergstöcken! und ihr schaut aus den Fenstern da zum Bruderklaus hinab und werdet so zufrieden, daß ihr weiter gar nichts mehr begehrt, sicher nichts mehr als so ein Weinkrügli und den Bruderklausensegen drüber . . .«

Seine Schwester Bäbi zog die hundertfurchige Rinde ihres Gesichtes auseinander, gab ihm aus zwei Runzeln hervor einen zustimmenden Blick und dachte: wenn er will, redet er besser als unser Pfarrer und Kaplan zusammen. Die Fremde hat ihm halt doch's Maul gesalbt.

»Sieht man denn von da bis ins Tobel?« fragte von Sax und steckte den schwarzen Banditenkopf ins Dunkel hinaus. »Heija, da in aller Weltstiefe, wo ein Lichtlein herumtanzt, muß wohl der Ranft sein.«

»Ein Licht! Ihr träumt,« sagte Seppelis Bruder. »Der Klaus schläft ohne Kerzen.«

»Zwei, drei, vier!« rief von Sax, »seht selber!«

»Drei,« bestätigte Simon, von einem dunklen Argwohn erfaßt, als käme ihm dort jemand zuvor und verriete ihn wohl noch gar, da seine Sach' sonst schon übel genug stand.

Alles lief an die Fensterchen und sah wirklich in der Tiefe der Schlucht Laternen oder Fackeln hin und her fahren. Aber da man viele Kirchturm' hoch über dem unentwirrbaren Abgrund saß, sah das so winzig aus, wie das Flimmern der Leuchtkäferchen durch die Nacht.

»Was mag es sein?« fragte der Dekan und schob sich behend, indem er die Seidenmütze aufstülpte, mit dem Kopfe zum Fensterrahmen hinaus. »Pilger, so spät? Oder ein Unglück? oder gar ein Verbrechen? Hört, hört.«

Aber es wehte nur der Bergwind vom Sachslerberg stoßweise ans Haus, und aus der Tiefe toste fern und einförmig die Melchaa herauf. Unheimlich hoch gingen die Bergmassen in den Himmel. Ein Frösteln überlief den Dekan. Er schob den Fensterladen vor. Das Gleiche tat Simon Quicker.

»Jetzt ist es zu kalt und naß für Wallfahrer, im Gras zu übernachten,« bedeutete der Wirt. »'s können Hirten vom Melchtal sein. Bis über den Steg und die Fluh hinauf braucht es schon Laternen. Oder Holzer . . . aber halt, jetzt stehen sie still . . . das muß bei der Klause drüben sein. Also doch zum Brüoder! Nicht einmal die Nacht lassen sie ihm . . . Aber jetzt, ich seh' nichts mehr . . . wo sind sie hin? Am End' ins Kapellchen gegangen, schlafen dort über die Bänk' wie wir im Krieg etwan . . . Aha,« er schlug sich vor den Kopf, »ich Esel, das sind ja die zwölf Römischen, eija.«

»Was Römische?« fragte Albert aufmerkend.

»Ein Trüpplein nach Rom . . . fast alles Sarner. Der Ludwig Durrer führt sie, der Obristenbub . . . Ja, ja, das ist's . . . Der Heilige Vater Si . . . Siri . . .«

»Sixtus der Vierte,« half der Dekan, das Käpplein lüpfend.

»Hat sie geworben. Zwölfe glaub' ich gibt Obwalden . . . So für den Papst,« stotterte der Ratsherr und wurde zusehends unsicher, »dürfen sie schon gehen . . . Für Sankt Peter das Schwert ziehen, nicht? Das ist doch eine andere Sache, da wird der Bruderklaus ein Auge zutun und ihnen den Segen auf die Reise geben . . . Nun, nun, meinetwegen laufen sie nach Rom und Neapel und weiter; aber meine zwei ungleichen Knochen gehen jetzt den kürzesten Weg in Stroh . . . Gute Nacht allerseits . . . Bäbi!«

»Gute Nacht im Herren!« versetzte der Dekan mit lauter Kirchenstimme. »Also legen wir uns auch zur Ruhe. Wo schlaf' ich, Jungfer Bäbi?«

Die Alte erhob sich groß und braun wie ein Bergbaum und streckte die dürren Finger wie Zweige aus: »Du da . . .! er dort . . .! Ihr oben . . .« Alles erhob sich und ging ohne Widerwort auseinander.

Simon Quicker traf es, im kleinen, saubern Tenn zu schlafen, wo Seppelis Bruder und der Klebli übernachteten. Man hatte ihm einen guten Haufen Heu ins Eck geschüttet. Er breitete den Mantel darüber, zog das gelbe Brustkoller mit den gepufften Ärmeln aus und legte es sorglich unter den Kopf. Dann rutschte er den Beutel am Gurt näher ans Herz, schlug den Mantel über alles zu und bat die beiden Männer, die noch aufrecht auf ihren Heuschoben saßen: »Lasset die Laterne noch ein wenig neben mir brennen! ich lösch' sie dann!« Er wollte nicht eher einschlafen, bevor seine Lagergenossen schnarchten.

Die Lichter im Ranft, schwante ihm, müßten irgendeine ungute Bewandtnis mit seiner Mission haben. Dazu hatte ihm das Abenteuer des Klebli, der da im Streu noch sein Bein salbte, den Kopf schwer gemacht. Jedes Widerwort des Schwyzers hätte er küssen mögen. Aber einer dumpfen Unsicherheit war er doch nicht los geworden. Ein guter Wind für seine Mission wehte hierzuland jedenfalls nicht. Nicht einmal die Söldner des Papstes schienen über jedes Bedenken erhaben.

»Einen Stockösterreicher haben wir da ins Nest bekommen,« hörte er den Klebli ganz deutlich brummen. Dann tuschelten die zwei noch lange verdächtig mitsammen. »Ach, Sankt Leopold,« seufzte der Legat für sich, »jetzt bin ich nach viel Strapaze mitten unter die Grobiane dieser Wildnis und fast ans Ziel geraten. Hilf doch deinem Österreicher aus der Not. An ein paar Kapellen hab' ich dein Bild und Wappen gesehen. Denn das Land allum war einmal unser. Diese Käser und Melker haben rebelliert und es deinen Erben Stück für Stück weggeraubt. Was ich also hier hole, Gold oder Söldner, ist vom Unsrigen. Und Räuber darf man wieder ausrauben

Noch nicht ganz beruhigt, fuhr er nach einem Weilchen fort: »Du weißt ja, um was es mir zu tun ist . . . nicht so sehr ums Geld, nicht einmal mehr ums Inngüetl. Aber meine arme, elende Frau hofft ein Wunder, und dazu gehört vielleicht Geld . . . das ist so eine komplizierte Sache . . . gehören vielleicht Soldaten und jenes Güetl . . . aber alles um die Frau . . .« Und indem er so weit von daheim, im fremden Gebirg und Volk, ohne einen guten Freund und Trost, an dieses ferne, zarte Wesen dachte, wurden ihm die Augen feucht. Zugleich fühlte er eine schwere Schläfrigkeit. »Wenn sie alles sähe, alles wüßte, was ich da durchmachen muß . . . o Gertrud . . . 's ist nicht so leicht, ein Wunder zu bekommen . . . Aber du mußt es haben . . . vielleicht,« er klob sich in die Lenden, um wach zu bleiben, »vielleicht nicht ein plötzliches wie aus dem Evangeli gehüpft! vielleicht nur ein langsames . . . Daheim, in einem Garten, in einer vollen Sonne, auf eigenem, freiem Boden, und muß ich's auch von der Ersparnis kaufen . . . zu Scherben alle Tintenfässer! . . . so ein langsames Wunder sicher! . . . Ich hab' auch genug für mein Teil von den Herren und ihrem gnädigen Geld geschmeckt . . . Wie die zwei Kerle da immer noch brummen. Nicht geheuer ist's. Oder murrt der Wald so hinter dem Stall? oder ein Wasser? . . . Welch ein wilder Gau ist das! . . . Sigismund sollte hier nicht betteln, sondern befehlen dürfen . . .« Und der heilige Markgraf Leopold und der unheilige Erzherzog Sigismund verschwammen in seinem schon halbträumenden Gehirn zu einer Person . . . »Wißt ihr noch immer nichts von Eurem Vetter Battist?« hörte er fragen . . . »O der, wir rechnen ihn auf dem Friedhof,« kam es zurück . . . Quicker bemühte sich, aufzuhorchen . . . . »Aber,« sagte der Alte, »besser wär's daheim vor der Kernserkirch als in einem fremden Graben . . .« Oder hie im helvetischen Heu . . . bei offenbaren Räubern, vermochte Simon hinzuzudenken, und wollte nochmals nach der Geldkatze tasten. Aber sein Arm war wie Blei. Er lallte noch etwas Unverständliches und verlor das Bewußtsein . . . Tot ist tot, entgegnete Hansens helle Stimme; das wär' mir ganz gleich, wo ich dann lieg' . . . Auch im Meer? . . . Wo du willst, was spürt meine Seele davon? . . . Aber ich hier im Stall, gerad wie deine Mutter, bei den Geißen und Kälbern . . . He, schau mal, der Österreicher schläft. Was ist ihm denn da für ein Buch aus dem Kittelfutter geschlüpft? Der hat Geheimnisse . . .

Hans öffnete das Gebetbuch. Es war mit roter und schwarzer Schrift bedruckt, und dazwischen gab es kräftige Holzschnitte. Die beiden rückten die Laterne näher und besahen sich Blatt für Blatt. Da ein Fürst mit einer Kirche in der Hand. Jetzt ein Bischof mit einer Riesentraube. Nun klopft ein Einsiedler einem Abenteurer aufs Fell und zeigt in die Flußebene. Jetzt ein Mann und eine Frau, den Kopf unterm Arm . . . So was! Die Älpler staunten. Dann der von Judas geküßte Christus im Ölgarten. Judas preßte seine wulstige Lippe auf die Wange Jesu und schielte dabei zu den Ölbäumen, hinter denen die Legionäre hervorguckten. Aber auch Christus küßte, und aus seinen großen Augen tropfte eine mäßige Träne. Dennoch, er küßte. » Christe eleisChriste eleison: Christus, erbarme dich unser! . . . bekannte Bitte aus der hl. Messe. seufzte der Ratsherr, da er nicht wußte, was man von solcher Liebe sagen konnte. Hans wendete das Blatt. Da, schau, schau, war die ganze Rückseite mit seiner Hand beschrieben und Satz für Satz hübsch numeriert. »Hopla,« knurrte der Invalide, »da steht was Besonderes; könnten wir nur lesen! Der da im Heu hat's geschrieben. Er hat mir gleich mißfallen. Guckt in jeden Spalt, redet fast nichts und drückt den Katzenkopf in den Kragen. Der führt nichts Sauberes im Schild . . . Es paßt wohl zum Judas hieneben. Hans, weißt du was: geh' und frag' den Heinz . . . Er schläft auf der Stubenbank.«

»Sie sind ja gut Freund zusammen,« widersprach der Junge.

»Ja, schön,« lachte der Klebli, »hat er doch eben noch in der Küche zwei Gütterli eingesteckt, eins mit Wein und eins mit Essig, und gedeutet, er woll' seinem Habsburger beim Klaus einen Streich spielen . . . Lauf', Bub, 's wird den Heinz selber wundern, was das Gekritzel besagt . . .«

Hans fand den Bürgler böse die Stube auf und ab laufend, während das Seppeli verwundert am Fenster stand und ihm hin und her nachschaute. Sobald er sich mit dem Mädchen allein sah, war seine Leidenschaft wie ein nicht länger zu verhaltendes Gewitter losgebrochen. Er hatte sich auf das Jüngferchen geworfen, es Bräutchen und Weibchen auf Leben und Tod genannt und alla Milanese herzen und küssen wollen. Aber mit einem unvergleichlich raschen Gegenstoß hatte sie ihn abgeschüttelt, den Hals kühn gereckt und gefragt: »Jä, Heinz, was ist dir? Hast den Verstand in Mailand gelassen, he, du . . .!« »Hätt' ich nur auch das Herz noch dort,« schnaubte er und rollte die Ohren zusammen und ließ die Zähne blitzen. Aber das Seppeli stand kühl da und sah ihn fast mitleidig an. Sie ließ ihn ein Weilchen schluchzen und toben. Dann packte sie ihn fest am Ohr und sagte: »Weißt du noch, was vor vier Jahren dein Vater sagte: seine übrigen Buben hätten alle dicke, steife Ohren und können nur bauern. Aber der Jüngste, du Heirech, habest weiche, scharfe Ohren wie ein Hund, du könnest beinah noch das Denken hören im Kopfe; du dürfest dich darum nicht an ein Bauernwesen binden, du müssest in die Welt, zu den Vornehmen, und etwas Besonderes werden . . . Ja, das hat dein Vater vor uns zweien gesagt . . .,« sie gab das Ohr wieder frei. »Und mein Vater hat mir dazu noch erklärt, auf euch Bürgler sei kein Verlaß, ihr wollet zu hoch hinaus; da könne unsereiner nicht mitmachen, wir bleiben beim Käskessi . . . Sei vernünftig, Heinzel, 's ist einmal so . . .«

Aber er schüttelte gewaltig sein rotes Gelock und schluckte und schnaufte und wollte sie nochmals anpacken. Da reckte sie den Hals schmal und gerade wie eine Lanze, hob das Kinn hoch und erklärte fest: »Und wenn dein Vater und mein Vater auch wollten, ich will nicht!« Ungläubig starrte er sie an. Sie lachte ihm mitten ins Gesicht und versprach, das gehe auch bei ihm vorbei wie Wind und Regen. Tausendmal besser als so ein verlorner Hitzkopf gefalle es ihr, wenn sie die alten guten Kameraden blieben, er oft komme und so schön und wichtig wie früher erzähle und sie lasse, wie sie sei. Sie habe noch nie ans Heiraten gedacht. Sie sei doch erst siebzehnjährig. Sie sehe auch den Friedli Rohrer gern, und habe an der Kilbli munter mit dem Nazi Infanger getanzt. Aber ihn, den Heinz . . . renn' er doch nicht so die Stube auf und ab . . .! habe sie noch viel lieber, so gern wie Nidel und Birnenschnitz. Aber heiraten könnte sie keinen, auch ihn nicht. Zuerst wolle sie jetzt einmal lange Zöpfe, die man fünfmal um den Gupf winden könne . . . Ach was, sie wisse nichts und kenne nichts, sie glaub', sie bleib' ihr Lebtag ledig . . . Dabei öffnete sie vor Übermut das Fenster . . . Ihr sei nur wohl, wenn man sie machen lasse, was sie wolle, da, in Kerns, überall, gerade wie einen freien Vogel. Gierig sog sie die kühle Nachtluft ein.

»Aber Seppeli,« beschwor Heinz und stand vor sie hin und preßte wild und traurig ihre Handknöchel zusammen; »aber Seppeli, hast du denn einen Eiszapfen im Herzen?« Er konnte es nicht fassen, er, vor dem alle Mailänderröcke schwänzelten, leuchtete sie mit den goldflockigen Augen an und prunkte mit den vollen Lippen und strahlte mit dem wunderbaren Haar und spielte seine ganze junge, freche Schönheit wie Musik vor ihr auf, als müsse er sie damit eins, zwei, drei verzaubern und zerschmelzen. Aber sie blieb ganz ruhig und kühl. Ihre kieselgrauen Augen sagten: du dauerst mich wahrhaftig; aber was kann ich dafür? Heinz verstand diesen Blick. Er übergoß ihn wie mit Schneewasser. Dieses fischblütige Geschöpf da! Er stieß sie von sich. Schnee essen! sättigt das? Wie dumm ist doch alles mit den Mädchen . . .

»Kehr dich um, da steht der Hans,« sagte Seppeli und lächelte schon wieder mit dem frühern wunschlosen Kameradengesicht.

Hans Schäli spottete beide mit seinen tiefen, schelmenklugen Augen ordentlich aus. »Kinder seid ihr zwei und tut wie Große, ihr Narren! Der Heinz ist ein Gispel, ein Hurlibub, wie der April so wild und brausig. Und das Seppi! Man kann die Brunnenröhre gerade so gut küssen. Laßt, laßt, ihr Gofen,« beschwichtigte er. »Das sollst du lesen, Heirech, das hinter dem Judas. Deinem Österreicher ist es aus der Tasche geschlupft, und der Klebli meint, es steck' noch so ein Judas dahinter . . . Probier'!«

Heinz nahm mechanisch das Buch und las, wo Hansens Finger hintupfte, ohne Denken und Fühlen:

»Erstlich und vorab: in diplomatia nequaquam velociter!«

»Was heißt das?« fragten die Geschwister.

Voll Zorn und Bitterkeit schoß der Jüngling heraus: »Wenn du schwindeln willst, mach' langsam und schlau! . . . Aber ich bin kein Schwindler, Seppi. Ich hab dir alles brühwarm herausgeschüttet . . . ich kann nicht wie ein Küngel tun, du falsches Bäsi, ich bin ein Wolf oder ein Bär, meinetwegen, sag', was du willst . . .« Je gröber ihm die Wortklötze aus dem Munde kollerten, um so leichter wurde ihm.

Seppeli klopfte ihm begütigend auf die Achsel »Weiter,« forschte Hans, »das da!«

» Legatus numquam commoveatur! . . . Wer betrügen will, darf kein Herz haben,« übersetzte Heinz mit gelenker Bosheit. »Aber mir war es ernst, du federleichtes . . . du . . . du . . . Du hast kein Herz, du hast mich all die Zeit betrogen.«

»Was hab' ich betrogen, Heinz?« fragte das Mädchen und zeigte die kleinen Zähne, indem sie den Kopf fast hintenüber warf. Da er verwirrt die Augendeckel auf- und niederschlug, konnte sie doch nicht anders, als die ganze Geschichte spaßig finden. »Du bist mir der allerhübscheste Herr Vetter, und nichts davon und nichts dazu . . . und jetzt, bitti, bitti, Heinzel, lass' einmal die Fasnacht!«

Wieder floß es ihm wie kaltes Wasser über den heißen Kopf. Ich will dir schon nicht mehr Fasnacht machen, schwor er in sich hinein, du sollst dich noch gehörig langeweilen, du Eisfratz du . . .

»Lass' den Geradhals,« bat Hans, »mit dem ist nichts zu machen. Lies das mit roter Tinte! . . . der Klebli wartet.«

» Donare melum non mela!. . . . den Baum verschenken; aber nicht die Äpfel . . . Ja, das paßt zu dir,« schimpfte Heinz. »Du tust, als gehörest du mir, und will ich dann erst nur einen Apfel, bekomm' ich nicht einmal einen Schnitz . . . So behalt' denn deine Galläpfel, du Geizige!«

Seppeli mußte jetzt wirklich lachen. Sie verstand nichts von dem, was Heinz meinte, und ebenso wenig den Bruder, als er hinzutat: »Ja, die ist mir ein rechter Apfelbaum, knospet und bluestet. Aber Äpfel gibt's doch keine . . .«

»Sakra,« keuchte es von der Türe, »was schwatzt ihr?« Der Ratsherr in Hose und Hemd schlurfte herein. »Was steht drin? kannst du's verstehen?«

»Den Teufel kann ich's verstehen,« grollte Heinz, »dumme langweilige Sachen!«

»Versuch' nochmals, da, das scheint nicht mehr lateinisch. Das sind unsere Buchstaben. Bei Gott, da steht mein Name Hans . . . lies das!«

»Ein blöder Hans ist der Giovanni Lodovico Sforza. Er sah einmal Unterwaldnerkühe über den Domplatz gehen. Da sagte er: die vierbeinigen lass' ich am Strick holen, die zweibeinigen laufen mir von selbst nach . . .«

»Das kann er nicht gesagt haben,« schrie Heinz, sein rechtes Ohr zusammenbiegend. »Das ist eine österreichische Verleumdung. Er heißt nicht einmal Giovanni . . . Die Lügner! . . .«

»Sie sind alle gleich,« sagte der Ratsherr finster.

»Zum Fünften,« las jetzt Heinz mit Begier, »hat der Moro dem König einen Waldbruder aus Mandelteig mit einem Sonnenschein um den Kopf nach Paris geschickt und dazu notiert:›Iß mich, nur lass' mir den Heiligenschein, den hast du ja nicht nötig . . .‹«

»Saperment, ist das gesalzen,« sagte Heinz; »ihr müßt wissen, der Franzos war schon mit zwanzig Jahren vor Wüsttun kahl wie ein Rattenschwanz . . . O mi perdoni,« hastete er aus höfischer Gewohnheit hinzu, als er Seppeli neben sich sah, und wunderte sich, daß er schon so ruhig zu ihm reden konnte, als wäre es irgendeine aus vielen.

»Zum Sechsten,« fuhr er rasch fort, »ging der Herzog mit seinem Kaplan zum Lionardo, der im Refektorium der Prediger das Abendmahl malt und so faul ist, daß er jeden Monat bloß einen Apostel fertigbringt. Wer ist die? wer ist der? fragte der Moro bei jedem jungen Menschen auf der Straße. Endlich hat der Geistliche genug und belehrt scharf: »Herrlichkeit, das sind deine Kinder, vergiß es nie, sei Vater, nicht Herr! Deine Kinder im Geiste . . .!« »Noch mehr,« lachte der Herzog, »meine Kinder im Fleische . . .« Jetzt wurde es Heinzen schwül, und er blickte zum Seppeli, ob es den Unrat wohl gerochen habe. Sie aber lächelte ihn voll unwissender Unschuld an und schüttelte die kurzen, dicken Zöpfe.

»Im Fleische, ha, ha, ha,« gröhlte der Klebli, »hab' ich's nicht gesagt, so treiben sie's! Wär' doch der Schnauzzipfler da, der Junker! . . . Auch den Sigismund heißen sie den Stammvater von Innsbruck . . . Hopla, du Fratz, marsch, hinaus, das ist nichts für ein Milchkind.«

»Aber es ist doch ein Gebetbuch, so ein schönes mit Silberschlößchen und der Muttergottes auf dem Deckel,« entgegnete Seppeli.

»Warte, verdammter Spion,« schnaubte Heinz, den Unterkiefer vorstellend, »jetzt hast du dich wüst verraten!« Mit grimmigem Eifer stürzte er sich wieder ins Gekritzel. Es kamen nun Adnotationes. Der Legat solle zuerst einen Rosenkranz mit dem Bruderklaus beten und ihm ein achatenes Kreuz schenken, dann den Vers auf dem Gulden deuten: Nil sine Ejus spiritu! Dann der Türke, verbrannte Altäre, zertretenes Kreuz, gemarterte Nonnen, Apostaten und Sigismunds Harnisch kampfbereit. Zwischenhinein immer wieder der Türke und der Moro, noch schwärzer als ein Türke, ein Kirchen-, Eid- und Seelenschänder . . . Indem das Heinz las, rief ein angeborenes ritterliches Gefühl ihn immer lauter auf, für seinen Fürsten einzustehen und ihn nicht von jemand besudeln zu lassen, der noch viel schmutziger wäre. Er wußte wohl, was man vom Moro klatschte. Aber aus diesen tückischen und grotesken Schmierereien des Quickerbuches erstand nun gerade derjenige Moro vor seinen Augen, der immer gut mit ihm gewesen war, ihn dutzendmal zu Regel und Anstand ermahnt und ihn mit einer gewissen weichen Sorgsamkeit vor dummen Streichen gewarnt hatte. Er sah plötzlich jenes finstere traurige Antlitz, mit dem er ihm das Brevet gegeben, auf die Brust geklopft und gesagt hatte: Prüfe dich durch und durch, wir haben im Kastell schon genug Zwitter und Lumpe! . . . Nichts lass' ich auf ihm sitzen, er ist ein Edelmann, schwor Heinz. Und wie er den Moro immer gerechtfertigter und glänzender werden sah, tauchten im gleichen Atem auch das Kastell, die Paläste, der Dom aus den verblaßten Farben wieder voll süßer Form und Südsonne vor ihm auf, Säle, Spiele, Samt, leise Tänze und Gitarren und zwischen Türen und Fenstern melodisch parlierende Damen und . . . eine besonders. die nicht viel redet und gen Norden schaut . . .

Ich gehe zurück, beschloß er wirr und trotzig; aber nicht ins Schloß, in die Kaserne, zu meiner Kompagnie, und ich diene und tue meine Pflicht, und weiter will ich nichts . . . nicht scharmuzieren, nicht heiraten, nichts, will einfach brav sein und warten und etwa achten, ob dieser oder ein anderer Apfelbaum mir doch noch einmal Äpfel gibt . . . Weder schwärmerisch, noch grollend, sondern mit einer gewissen Hochachtung vor sich selbst betrachtete er jetzt das Seppeli, öffnete die Lippen, aber verwürgte dann den Satz: Wart nur, bald bin ich so frei wie du. Jetzt mußt du dann rufen, ich ruf' nicht mehr.

Er wollte ihr noch die Hand zum Abschied geben, besann sich aber, streifte den welschen Ring vor dem verblüfften Mädchen vom Finger, schob ihn in die Tasche, und nun erst schüttelte er ihr die Rechte. »Leb' wohl, Schneejungfer,« grüßte er rot und bleich durcheinander, »gefrier' nur mit Leib und Seele hier oben ein, ich mach' dir nie mehr heiß. Soll's einmal einen Zusammenhock geben, so mußt du schreien. Ob ich's dann hören will oder nicht . . . ade, Dummes, Böses . . .« Damit stürzte er hinaus.

Ratsherr Klebli und Hans schwatzten noch leise und wichtig zusammen. Zuletzt schnallte sich der Schäli die Holzböden an, nahm den Stock und lief zum Ranft hinunter, um den Bruder vor dem Schelm aus Innsbruck zu warnen. Auch der junge Bürgler komme nicht ganz sauber von Mailand herauf; aber vor allem schlimm sei der graue Schnautzli . . .

Der Ratsherr aber schob das Buch, aus dem der Erzfeind mit allen Kräften stank, dem Quicker wieder unter den Kopf und spuckte auf die Finger: »Aas du, faules, wir wollen dich schon lehren, unsere gute Obwaldnerluft verpesten.« Mit grimmigen Freuden schlief er ein und durchschnarchte die Nacht ohne Traum und Beinschmerzen.

Es war noch schweres Dunkel, als Simon erwachte und nichts als Rauschen und Wehen um die Hütte hörte. Eine eisige Luft zog zwischen den Balken herein. Bald nah, bald fern erklang eine Ziegenschelle. Simon fror. Er tastete hastig nach dem Beutel, wickelte sich enger ein, seufzte und spürte einen grauen Widerwillen vor dem Morgen. Er konnte nicht mehr einschlafen. Aus dem Abgrund rief der Bruderklaus: tu' den Plunder weg! Dieser Klausner wuchs gleichsam aus der Schlucht herauf und wurde immer größer, ragte über Sankt Niklausen empor und blitzte mit drohenden Augen durch Dach und Gebälke in seinen Heuwinkel hinein. Das war weder der Wald, noch das Wasser, was so furchtbar rauschte, sondern sein gewaltiger Bart. Und aus diesem Barte donnerte ein überirdischer Baß: tu' doch den Plunder weg, du Knirps, auch dein Gold, auch deinen Sigismund, auch Frau und Kind, tu' alles weg und denk' an deine Seele . . .! Ein Gruseln lief ihm über den Rücken. Schließlich weckte er den Hans Schäli neben sich und bat: »Bitte, erzählt mir etwas vom Bruderklaus, bis es dämmert.«

»Vom Bruderklaus . . . Ihr . . .? was wollt Ihr?« stammelte Hans schlaftrunken, »hahaha, der Österreicher . . . laßt mich schlafen. Ihr werdet vom Bruderklaus noch genug hören . . .«

Zitternd mummte sich Simon noch wärmer ein und wünschte bald den Tag, bald, daß es noch lange nicht tage.


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