Heinrich Federer
Spitzbube über Spitzbube
Heinrich Federer

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7

Das Alpnacherschiff der Brüder Häcki, das je nach Zuspruch am Dienstag oder Mittwoch von Luzern abstieß und den faulen Bürgler vor der Stansstader Enge überholt hatte, trug wahrhaft den Pfarrer Heini Imgrund, seinen fiebernden Göttibuben Eimil Göldli, das Mareili, die alte Magd Dorothe Rohrer und einen Viehhändler Jost Zoller so eilig es konnte nach Obwalden. Als der Pfarrer beim Abschied vom Göldlihaus den Knaben gewaltsam vom Rock schütteln wollte, verdrehte dieser die Augen, verlor den Atem und glitt mit gesträubtem Haar steif wie ein Toter zur Erde, so daß Imgrund wieder in die Stube zurücktrat im Kummer, hier gelte es, einen Verscheidenden auszutrösten. Allein bald merkte der Kilchherr, daß der Junge nicht gen Himmel, sondern in den Ranft fahren wollte. Mit einem Vertrauen, das aus den großen Augen über das ganze trübe Gesichtlein des Junkers wie eine Sonne leuchtete, verschwor sich der Knabe, wenn man ihn zum Niklaus gehen lasse, werde er vor zwölf Stunden der gesündeste Luzerner sein. Es ist etwas Bergeversetzendes in solchem Glauben, dachte der Priester, und angesteckt von der seltsamen Begeisterung, nahm er es auf sich, sein Patenkind auf dem kürzern Weg über Sarnen zum Wundermann im Ranfte zu bringen. Und war es einmal so weit, so mochte auch das Mareili mitkommen, um dem Bruder den Weg zu versüßen, und die alte Dorothe für die Pflege unterwegs. In Alpnachstadt bestieg man ein Wägelchen, von Sarnen an ging es mit einem Saumpferd den Wald hinauf zum Dorni und über die Sachsler Allmend zur Fluh empor. Den vielverehrten Pfarrer von Stans kannte man wohl und grüßte ehrerbietig. Aus Respekt wagte niemand nach dem Wer und Was der Kinder zu fragen.

Nicht genug konnte der Geistliche staunen, welch ein anderer Bursche der Eimil unterwegs geworden war. Nicht daß er sich aufrecht im Sattel hielt und alle Schwäche verbiß. Das konnte auch Stolz sein. Nein, gerade das Gegenteil, daß er so demütig wurde und so feierlich, je näher es dem Ranft zuging. Er verneigte sich tief vor einem langbärtigen Bergler. »Kennst du ihn denn?« fragte Mareili, das wie eine Gemse neben ihm am Bügel ging und immerfort plauderte und mit den Fingern zeigte. »Das könnte doch ein Verwandter von Ihm sein,« erklärte Eimil mit einer Stimme wie in der Kirche. »Man darf hier nicht so dumm schwatzen, Marei . . . könntest du nicht lieber ein paar Vaterunser beten?« Und der Junge selbst mit dem zerfallenen, ältlichen und häßlichen Gesicht beugte jedesmal den Kopf und bewegte leise die Lippen, wenn wieder ein Bildstöcklein von Christi Leiden und Sterben erzählte. Fühlte er die Ruhe der Berge oder berührte ihn schon der Schatten des Heiligen, den er so glühend suchte: er, der auf dem See noch gefabelt und gefiebert hatte wie ein Berauschter, atmete jetzt leichter, sein falbes Gesicht rötete sich und in seine gewaltigen Herrenaugen kam etwas von der Sanftmut und vom Frieden des obwaldnerischen Abendhimmels. Immer wieder strebte er nach der Hand des Pfarrers Götti und drückte sie an die eingesunkene Brust, um irgendwie seine Dankbarkeit zu verstehen zu geben.

»Warum willst du denn eigentlich gesund werden?« fragte Imgrund, als es eine Spanne weit eben ging. »Ist das denn durchaus nötig für dich oder,« schloß er lächelnd, »für die Welt?«

»Absoluti,« flüsterte der Knabe errötend.

»Man kann doch auch krank Gott dienen. Du weißt, der fromme Job . . .«

»Der war schon alt, und damals gab es noch keine Türken.«

»O die Philister, die Ägypter, die Assyrier, die . . .«

»Aber er war schon katzgrau und alt, Götti,« drängte Eimil so sanft, als bitte er um ein Ja. »Ich will dann auch gerne krank sein, wenn ich sechzigjährig bin. Doch jetzt, verstehst du, wo die Türken gegen uns kommen, kann ich doch nicht im Bett liegen. Als ein guter Göldli muß ich halt ins Feld.«

»Die Türken sind noch lange nicht am Rhein . . .«

»Der Kanzler von Innsbruck hat aber doch furchtbar um Soldaten gebettelt. Und weißt du, Götti, wir müssen pressieren . . . hüp, Rößli, hei, hüp!« Er zwickte das fette Pferd mit der Gerte unbarmherzig in die Weichen. »Wir müssen vor dem Österreicher zum Bruderklaus kommen. Wir geben ihm keine Soldaten, daß er mit uns großtun kann . . . Wir,« eiferte der Junker immer kurzatmiger, »wir wollen es selber ausmachen, mit eigenem Banner. Der Ludi Suter, der Mani Pfyffer, der Paul Segesser, denk', sogar der jüngere Sonnenberg, der doch hinkt und allzeit hustet, und viele andere Stadtbuben wollen mitkommen . . . Ich . . . ich kommandier' natürlich den Trupp.« Er mußte verschnaufen und sah von einer großen Seligkeit übergossen zum Mareili mit jenem Blicke hinunter, der ihr die Schleier und Geschmeide der ganzen Türkei versprochen hatte.

»Ich merke wohl,« rügte der Pfarrer spaßig, »mein Göttibub will einfach soldäteln. Es ist ihm ums Reiten und Raufen zu tun. 's könnt' auch gegen Christen sein. Zufällig sind es diesmal Türken.«

Eimil stutzte, und während er seine übergroßen Augen auf die nahen Gipfel heftete, die so gelb und still den abendlichen Sonnenschein trugen, sann er eine Weile nach, und die Stimme klang etwas heiser, als er gestand: »Vielleicht ist meine Bravura, Herr Götti, zu wild. Aber bedenket doch, wie der Sultan in die Sophienkirche geritten ist und das Kreuz heruntergerissen hat . . . und wohin er kommt, reißt er es von den Kirchen. Was wären . . .« er hustete tief . . .

»Heraus damit,« gebot der Pfarrer, »spuck' aus!«

»'s ist nichts,« erwiderte Eimil schwach, und leckte etwas Rötliches von den Lippen. »Ja, was wären unsere zwei Hoftürme, wenn er seinen Halbmond draufnagelte . . . oder auf deine Stanserkirche, Götti! Was wolltest du dann? Er macht eine Moschee daraus und . . . nichts für ungut . . . aber sicher, er hängt dich an die Dachtraufe.«

»St, st!« Der Pfarrer lächelte. »Du willst mir wohl bange machen. Und wirst dabei selber todbleich . . . Geh' nur, 's ist was Ernstes und Braves. Aber geh' wie ein frommer Kreuzfahrer für unsern lieben Heiland und nicht für bludden Holder und Kolder! Übrigens,« fuhr er gemütlicher fort und zeigte auf einen tiefgebogenen Greis, der eine Ziegenherde bergab trieb und auf dem Rückengestell zwei gewaltige Käse trug, aber ohne Schwanken, immer im gleichen langen, gesatzlichen Schritt, »übrigens sind wir keine Byzantiner, so fadendünn und seidenzart! und so ein Berg wie das Stanserhorn da drüben ist ein bißchen solider gebaut als das verlotterte Konstantinopel . . . Magst nicht einen Tropfen Geißmilch?«

»Gitz, Gitz, Gitz,« schäkerte Mareili ganz von Ziegen umdrängt und ließ sich die Hände lecken und lachte auf vor Kitzel. »Ihr da, lieber Mann,« bat der Pfarrer, »gäbet Ihr mir wohl ein Näpflein Milch für den Bub, 's ist ihm ein wenig blöd . . .«

»Ja schon; aber die Käse, wie abstellen?« beschwerte sich der Alte . . . »O bleibt nur ruhig,« versetzte Imgrund und stülpte die Ärmel zurück, »ich melk' schon, war doch auch mal Geißbub. Wo ist die frömmste?«

»Die blankweiße hinter Euch. Ich wart' ja schon . . . Aber ein Geistlicher . . . melken . . . mit so weißen Händen fürs Sakrament!«

»Ich brauch' auch gar nicht Milch, Götti,« rief es hochmütig vom Pferde.

»Freilich braucht so ein Türkenheld Milch, oder möchtest schon Hungariawein?« spaßte der Pfarrer. Er zog ein Holznäpflein aus dem Rucksack, setzte sich ins Gras und strich so leis und dringlich die Zitzen zwischen seinen Knöcheln, daß das Tier fröhlich gab, soviel es nur hatte. Eimil und Mareili labten sich.

»Die Geiß wird sich jetzt vor Stolz gar nicht mehr von mir melken lassen,« scherzte der Käser im Davontraben. »Gesegnet Gott den lieben Kindern da!«

»Was leben wir doch auf einer seltsamen Welt,« murmelte der Pfarrer. »Dieser gute Senn! Hätt' ich ihm gesagt: das sind Aristokratenkinder aus Luzern, so hätt' er euch in die Milch gespuckt. So verfeindet ist Obwalden mit eurer Stadt. Und doch sind wir Brüder! Und, Eimil, eigentlich auch die Türken sind unsere Brüder! Glaubst du, die wissen, daß sie unrecht haben?«

»Was, Götti, sie wissen es nicht?«

»Wer sagt es ihnen? Von Kind an hören sie das Gegenteil. Gerade wie du! Und so gibt es auch bei ihnen genug Eimils, die vor Sucht brennen, gegen die Christen zu ziehen.«

Eimil rümpfte die Stirne und horchte gewaltig.

»Sie meinen es so gut wie du. Wo fehlt es also? Darin, daß der Eimil von Konstantinopel und der Eimil von Luzern vergessen haben, sie seien vorher Brüder, bevor sie Feinde sein können. Ihr müßtet einander verstehen wollen, dann würdet ihr euch mit Liebe, nicht mit dem Säbel unterweisen. Und so wahr Christus gotthoch über Muhammed steht, so sicher würden wir die Türken meistern, wenn wir Christen wären. Man kann nicht anders, wenn man Christus sieht, man muß ein Christ werden. Aber so verunstaltet und versudelt sehen sie ihn in uns, daß sie vor einem solchen Christus ausspeien.«

»O Götti,« wehrte Eimil schmerzlich.

»Man predigt zum Beispiel in Luzern: liebet einander! . . . und wir da in Obwalden nochmals: liebet einander! . . . Und dennoch hassen sich beide christliche Völklein und würden einander am liebsten auffressen. Wenn nun die Türken solches Christentum sähen, Eimil, möchten sie es auch begehren? Im letzten Christmonat haben wir alle Glocken geläutet, weil uns der Bruderklaus vor dem Bruderkrieg bewahrt hat. Aber diese zwei Gernegroß, der Luzerner und der Obwaldner, haben sich nach der ersten Rührung wieder entzweit. Bub, lieber Bub, ich sag' dir, gegen den Türk' wird man leicht ein Held. Aber im Haß der Brüder nicht hassen, nicht mitschlagen, sondern lieben, das ist eine andere Bravura!«

Der Junker hörte, staunte, erblaßte. Dieser Heini Imgrund hatte an jenem Dezembertag . . . Jedes Kind weiß es . . . den Bruderklaus nach Stans geholt, als die Eidgenossen schon die Schwerter zogen. Der Einsiedler war nicht gekommen, aber hatte ihm seine Worte auf die Zunge gelegt, und schon das war genug. Man sagte, es seien merkwürdige, brennende, gewaltige Worte gewesen. Obwohl Eimil den Götti nicht ganz verstand, dünkte ihn doch, die merkwürdige, fast beleidigende Rede des Pfarrers müsse auch von jener heiligen Zunge kommen, und der gescheite Junge, der bisher aus keinem noch so kleinen Fenster ins wirkliche Leben hinausgesehen hatte, ahnte nun, daß es noch etwas viel Größerers und Schwierigeres gebe als das, was er gen Konstantinopel vorhabe.

Er erbebte beim Gedanken, daß er heute noch mit dem Bruderklaus davon reden könne.

Der Aufstieg wurde steiler, man mußte das Pferd im nächsten Bauerngut einstellen. Aber schon nach kurzem konnte Eimil nicht mehr weitermarschieren. Schwindel und Schwäche entfärbten das aufgeheiterte Gesicht mit einemmal. Im nächsten Buchenwäldchen legte man ihn aufs vorjährige dichte Laub am Boden. Gleich schlief er ein. Mareili suchte Buchnüsse für den Bruderklaus. Dorothe scheuchte die Mücken vom Knaben, betete und seufzte. Der Pfarrer verrichtete seine Vesper und Komplet unterm vordersten Baum. Die Sonne fiel. Die kleine Sachslerkirche in der Tiefe hatte schon Schatten, und Imgrund plante nur noch bis zum nächsten Bauernhaus am Flüelifelsen zu gelangen. Dann konnte man am Morgen in die Schlucht hinuntersteigen. Er ließ daher den Kranken schlafen, bis es dämmerte. Entsetzlich blutlos sah der Bursche aus, und einen Geruch wie von Verbranntem und Verwesendem blies er mit jedem Schnauf aus den gesperrten Nasenlöchern. Den Pfarrer bangte vor dem Aufwecken.

Aber da es nachtete, mußte er wohl oder übel den Knaben stupfen und bitten, es noch auf ein paar Schritte zu probieren. Eimil gehorchte willenlos, schleifte sich ein Weilchen vorwärts, fiel in die Knie und ließ sich noch ein Stück rücklings vom Pfarrer weitertragen. Er hielt sich mit Mühe am Halse des Imgrund fest und fragte, mit flackernden Augen die Höhen betrachtend: »Ist's noch weit, ich kann fast nicht mehr!« »Ich auch nicht,« seufzte Imgrund und legte den langen, fröstelnden Jungen sachte ins Gras. »Was tun wir?«

»Hab' keine Angst, Eimil,« ermutigte das Mareili gar listig, »so ist dir schon oft gewesen, nur daß du in der Stube sitzen konntest . . .«

Der Bruder zuckte beim Worte Angst unwillig. »Nein, so ist mir noch nie gewesen!«

»Doch, doch, Eimil! Damals, wo du mir die Puppe geköpft hast . . . weißt nicht? und hast noch Blut . . .«

»St, Dummes,« drohte Eimil.

»Was Blut?« fragten der Pfarrer und Dorothe erschreckt.

»Ach, Nasenbluten, wie oft . . .« Bitter zog er die Brauen zusammen und rief: »Probieren wir, ich glaub' es geht wieder.«

So schleppte man sich voran und hielt alle zwanzig Schritte. Mareili weinte leise in Dorothes Schürze hinein; diese betete immer lauter die Allerheiligen-Litanei, der Pfarrer aber schwitzte und pustete und erzählte, wenn sie verschnauften, was er nur Schönes vom Bruderklaus wußte:

»Als junger Hauptmann zog der Klaus gegen die Österreicher ins Thurgau hinunter und hat mannlich gefochten. Es gibt viele Obstbäume dort. Da haben die Unsrigen dem Herzog die Birnen und das Krönlein miteinander vom Ast geschüttelt. Aber da stand in grünen Wiesen ein Frauenkloster, und unser Mordiovolk, von Wein und Blut besoffen, wollte auch da schütteln und mosten. 's ist leichter, die Schliere, wenn sie grau wie das Meer hinter dem Schwändiberg hervorrumpelt, mit zwei Armen aufzufangen, als so eine unmenschliche Rotte zu bändigen. Aber der von Flüe kann's! Er spreizte sich vor das zerschmetterte Tor, und sein Zurück, sein Blick, sein Schwert blitzten, als säße der dreifaltige Gott drin. Wie wenn dir der Donnerschlag vor die Füße fährt, so war's. Kehrum und davon! . . . Wie geht's, Büebli, liebes, kannst wieder zwei Schritt gehen . . .?«

»Hundert, wenn du willst . . . aber erzähle, was geschah noch?«

»Doch einst,« fuhr Heini Imgrund milder fort, »viele lachen darüber, wir zwei aber nicht . . . also einmal sah der Klaus auf diesen stillen Bergmatten, die schon alle eingeschlafen sind, eine Ilge schneeweiß und schlank und hoch wie eine Pappel aus seinem Munde gen Himmel wachsen. Bravo, du lachst nicht! . . . Hör' nur: Wie er sich ganz in diese Gewaltsblume verschaut und verstaunt, trottet sein Gaul herzu und frißt ihm die Ilge rasch wie der Teufel weg . . .«

»Saperlott!«

»Unser Bruder erwacht vom Gesicht und denkt: aha, dieses Roß hab' ich einst in den Krieg gespornt, und wie es schnob und dampfte und wieherte, so noch viel mehr meine ehrsüchtige Seel'. Und hätte ihr doch der Friede so wohl getan, und schrie und stieg doch aus der Tiefe herauf eine Sehnsucht nach Höherem als diesem verrückten Lorbeerblättlein im Staub und . . .«

»Steh' ab . . . verschnaufen . . . etwas anderes,« gebot der Junge. »Geh' nur voraus, Marei, mit der Magd. Das ist für mich allein.«

Der Pfarrer flitzte sich den Schweiß mit dem Zeigfinger von der Stirne und sah düster ins dunkle Tal, aus dem sich der See etwas heller abhob. Träge und stumm lag das Wasser dort zwischen den Abhängen, von vielen Sternen wie vom Echo des Himmels, des niemals müden und niemals rastenden Himmels bespöttelt. Ein leiser Wind ging durch die Stauden, und eine eigentümliche Unruhe wie von Föhn und einem heimlichen Widerstreben der Natur, die nicht herbsten, nicht sterben, nicht in Nacht versinken wollte, atmete durch die einsame Landschaft. Manchmal hörte man einen Wisch Blätter von den abgeheimsten Birnbäumen rascheln. Lautlos versanken sie im feuchten Gras.

»Soll ich dir erzählen, wie er einmal ins Sinnen geriet und plötzlich vor einem Palasttor stand? Unter den Marmorstaffeln rann eine Quelle hervor aus Honig, Öl und Wein, unvermischt wie drei Seelen nebeneinander. Und seine Musik klingt drinnen, und eine Stimme lockt: wer Durst hat, schöpfe doch! Niklaus trinkt und fühlt eine Wonne und einen Aufschwung wie eine Lerche, wenn sie Sonne getrunken. Warum, denkt er, kommt doch niemand hier trinken? Er geht vors Dorf und sieht da ein Schaffen und Schuften mit Schaufel und Hammer und Mundorgel und frisch geschliffenen Säbeln; aber auch ein Müdewerden und Runzelnbekommen und Verschmachten . . . und doch wollen sie nicht zur Quelle . . .«

Jetzt unterbricht Eimil scheltend: »Warum immer solche Sachen . . . lieber Götti . . . vom Teufel erzähl', wie er ihn . . .«

»Ja,« lachte Imgrund gezwungen, »das war ein Hosenlupf! Man sagt, es habe gekracht bis nach Sarnen hinunter, und viele schauten zum Berg, ob denn eine Ribi komme. Der Satan hat Knochen wie das Stanserhorn. Aber der Klaus packt ganz sachte an, schiebt näher und näher, drückt, pufft, stößt und plötzlich eine Faust, ein Schlag, bumm, bumm, und die schwefelgelbe Majestät rasselt zu Boden wie fauler Schiefer . . . tschä, tschä, tschä . . .«

»Tschä, tschä,« jubelte Eimil sich vergessend, »da hat er's einmal . . . Gehen wir weiter . . .« Er lachte, versuchte zwei Schritte, hustete, wischte rasch etwas vom Munde, strauchelte und fiel dem Pfarrer in die Arme. »Es geht nicht mehr,« hauchte er, »Götti, ich muß abliegen.«

Pfarrer Imgrund trug den langen Burschen, der wie ein Tuch an ihm herunterhing, zu einem kleinen offenen Holzgaden, unter dessen Vordach Streue lag. Hier legte er ihn nieder. Ein dünner Faden Blut klebte dem Knaben übers Kinn hinunter. Er hatte nicht mehr die Macht gehabt, ihn abzuwischen, schloß die Augen und schimpfte nur heiser: »Ach, wie dumm ist das : . .!« Es war völlig Nacht geworden und Dorothe zündete ihre Handlaterne an. Weder sie, noch der Pfarrer getrauten sich von Eimil wegzugehen, und doch sollte man eilig den Bruderklaus holen. Da erscholl unweit Hundegebell. Mareili, das Wange an Wange neben dem Bruder lag und ihm die kalten Finger küßte, dieses witzige Mareili schoß auf, stand hinaus und ahmte wundervoll das Gebell eines antwortenden kleinen Hundes nach. Sogleich galoppierte der wirkliche Feldhund näher und spreizte sich mit wütendem Gekläff vor die verdächtige Gruppe, bis endlich ein junger, raufbärtiger Mann nachrückte, mit Drahtschlinge und Gurtmesser, wie man sie beim Marderfang braucht. »Gott sei Dank, das ist Hilfe!« rief Imgrund. »Junger Freund, geht sogleich mit der Dorothe und dem Kind da zum Bruder, er solle flugs herabkommen, der Heini Imgrund bitte. Ein elendes Büblein wolle zu ihm und sei hier stecken geblieben. Es brauche ihn wie Luft und Licht. Rasch, rasch! . . . Und du, Mareili, küss' ihm die Hand und sag', dein Bruder schrei' nach ihm mit aller Seele. Er müsse kommen . . .«

»Wer sind denn die?« fragte der Jäger mißtrauisch . . . »etwa Katzenstrecker? Der Zunge nach . . .«

»Ist das jetzt die Frage, du heller Christ?« brauste Imgrund auf. Er stand hoch und streng vor den Kerl hin, und seinen schwarzen Rock auseinanderschüttelnd wie ein Gewitter, donnerte er immer strenger: »Ja, Luzernerkinder, daß du es nur weißt! Und nun rechtsum und den Klaus geholt für den Junker Göldli, hurtig! . . . Und wenn du einmal vor dem ewigen Richter stehst, so bleich und steif wie der da, so zeig' deinen Obwaldner Kittel, du Affe, und probier', ob das genug ist für den Himmel, diese Dorfgerechtigkeit: Schau, Herrgott, ich bin ein Sachsler! . . . Probier!«

So wuchtig schleuderte er das dem Jüngling in den Bart, daß dieser rücklings zurückwich und der Frau und dem Mädchen mit der Laterne stumm winkte mitzukommen. In der Klemme zwischen dem gewaltigen Pfarrer, der ihm gleich das Jüngste Gericht auf den Buckel schmiß, und zwischen dem noch Gewaltigeren im Ranft, von dem männiglich wußte, daß er auf keine Standes- und Landesfarben, sondern nur auf das Schwarz und Weiß des Gewissens sah, wagte der Jäger lange Zeit nicht einmal den Mund zu öffnen. Schließlich aber, da er der Dorothe und dem ihm am Arm hängenden Kind mehrmals hatte über eine Holperigkeit weghelfen müssen, ermunterte er sich doch und wagte die kleine Bosheit: wozu sie denn in Feindesland betteln kämen? sie, die Bauernverächter und Bauernquäler, bei Obwaldnern betteln! Ob Luzernermilch so fad sei, daß sie noch die Obwaldnerkuh melken wollen . . .? Dieser Witz machte ihn frecher. »He, ihr Bettelleut' . . .?«

»Was singst?« fragte Mareili, sich mit dem Kopf vertraulich an seinem Ellbogen reibend. »Schau, wie mir der Hund schon flattiert . . . Nur nicht so wild, Bläßli . . . Er heißt doch Bläßli, hä?«

»Dax!« belehrte der Jäger. Der Duft des süßen Kindes stieg in seine grobe Nase und nahm auf unerklärliche Weise auch seine grobe und schon lange verwaiste Seele gefangen.

»Nein, Bläßli muß er heißen, nicht anders. Alle heißen Bläßli, die mir gefallen . . . Aber was singst du?« fragte es nochmals. Die seltsamen Töne der hiesigen Mundart reizten das Kind trotz Angst und Nacht zum Lachen. Sagte er doch Buir für Bauer und Brioder Klais für Bruderklaus und hob und senkte die Stimme wie beim Jodeln.

»So heiß' er meinethalb Bläßli,« gab dieser zu; »dummes Gof, und wie kauderwelschest du erst!«

Dankbar streichelte Mareili ihm den aufgekrempelten borstigen Arm bis zum Ellbogen.

»Aber so sagt,« plagte er sanfter, »seid ihr nicht arme Katzenstrecker?«

»Du Lappi du!« platzte jetzt Dorothe auf gut Obwaldnerisch heraus, »schwatz doch nicht so blödes Zeug mit einer Sachslerin. Bin ich etwa nicht eine Rohrer von der Furre wie du ein Omli vom Baschischütz bist?«

Der Jäger stand bockstill vor Verblüffung.

»Sind wir zwei etwa Herrenleut'? Amtsleut'? Was geht uns an, was die ordnen und unordnen. Lass' sie kochen und auslöffeln. Wir zwei wollen lieber im Frieden zum Ranft gehen und ein Leben retten. Das ist obwaldnerisch und luzernerisch . . . Was stehst du still, hop!«

Der Bursche brummte etwas Unverständliches.

»Übrigens war ich bei deines Vaters Taufe Schlottergotte und hab' ihm ein Pulverhorn voll kleiner welscher Rüebli geschenkt, wie man sie damals aus der Lombardei gebracht hat. Ich wollte, weil ihr alle so arge und verschriene Wildleute seid, daß niemand zur Taufe mit euch mochte, warnen: das ist dein Pulver, werd' ein sanfter Jakob, kein unholder Esau! . . . Man hat lange davon geredet. Aber die Rüebli hatten keine Kraft. Das Tiertöten sitzt euch im Blut . . . Nun, jetzt hilf' dafür ein Menschenleben erhalten.«

Unvermerkt war nun auch sie stillegestanden und hatte, um voller zu atmen, die Hände in die Hüften gestemmt und sah ihn schwatzhaft und mit den Lippen kauend an. Mareili ahmte einen Augenblick ihre famose Stellung nach und kicherte zum Omli empor. Dann aber schrie es heftig: »Weiter, weiter, der Eimil,« und das runde Gesicht wollte vom Lachen ins Weinen fallen. »Wir müssen laufen, gewiß schläft der Bruderklaus schon . . . Darf ich ihn am Bart zupfen, leis, leis: Doktor Bruderklaus, steh' auf und mach' mir den Bruder gesund! Nein, ich sag' Brioder wie du: mach' mir den Brioder gesund!«

»Er hilft schon, Schatzli du,« tröstete der Omli. »Schwatz nur, wie dir der Schnabel gewachsen ist.«

Die Alte hielt nur mühsam Schritt, aber mußte weiter belfern: »Jägert in Gottes Namen! Aber auf Kinder jägern, du blauer Herrgottshimmel, auf kleine unschuldige Kinderchen, zart wie Kaninchen, hoi, Omlibaschischütz, das gibt keinen Kranz. Das schmeckt nicht nach Tell!«

»Verdammte alte Drucke,« dachte der Jäger und mahnte doch so ungrob er konnte: »Da passet auf, es kommt ein Tritt . . . links . . . so!«

Sie fragte ihn über ihre Vettern und Basen aus, seufzte dann wieder und trieb zur Eile. Der struppige Führer wurde immer stiller und bedrückter. Endlich sagte er stockend: »Seht das Licht dort, da wohnt die alte Frau des Bruderklaus mit dem zweitjüngsten Buben. Geht jetzt und klopfet nur ans Fenster, wie es der Klaus auch immer macht, wenn er vorbeigeht . . .«

»Wie? was tut er dann? . . . und sie?« fragte Dorothe neugierig.

»Das weiß man auswendig im ganzen Land, wie er ernst grüßt und frägt: Schwester mein, steht alles gut? . . . Sie beuge den Kopf wie vor einem Engel und sage ganz froh: Ja, Bruder und Gemahl im Herrn, wir haben deinetwegen Segen bis unters Dach . . . 's ist ja wahr,« bemerkte der Omli dazu, »sie sind mordioreich . . .«

»Und?« trieb die Magd an.

»Und etwan sagt sie, der Kläusli studiere gut in Basel, und die gescheckte Kuh habe vorgestern gekalbert, ein prächtiges Junges, und mit Dörrobst seien noch die vier obern Schnitztröge gefüllt. Aber dem Ältesten, dem Venner, müss' er einmal sagen, daß er die Schillinge nicht so oft zähle. Sie kleben ihm an der Hand . . . Und sonst, das hat man oft gehört, und sonst, sagt sie, brauch' ich nichts, lieber Kläusi, als deinen Segen. Er macht ihr das Kreuz auf die Stirne, und sie, so erzählt sie selbst, denke dann allemal: das war mein Mann, im gleichen Haus und Bett einmal, und wird wieder mein Mann im Himmelreich sein, in einer Seele sozusagen. Jetzt aber, wo ich ihn so gnädig lange für mich und die Meinigen genossen, wollte ihn der Herrgott für sich und sein ganzes Land haben. Und so, heißt es landauf und ab, putzt sie ihm noch die Flecken von der Kutte und säumt ihm einen Zottel am Ärmel ein und fragt dann mit halber Angst: »Brauchst denn gar nichts von uns? Einen Laubsack jetzt, wo's kaltet, und wollene Socken?« Dann aber lächele er und sage: Du kleines Vertrauen! Was soll ich kalt haben bei Gott . . .? Aber einen Stoß Schafwolle in die Schuh'? bittet sie. Doch er läuft schon weg und spaßt: ich glaub', du würdest noch im Himmel dem Christkind wollene Strümpfe stricken, wenn's da unten schneit, oder einen Holdertee kochen, wenn's einmal zum Zeitvertreib husten wollt'. O ihr Röcke, ihr Röcke voll Falten und Sorgen . . .«

»Hm, hm,« brummte Dorothe nicht ganz befriedigt.

»Das erzählt man auswendig in allen Dörfern; aber ich wollt' vorhin sagen: geht hinüber und klopft ans Fenster und nehmt ihren Sohn mit in den Ranft . . . Ich warte hier unter dem Nußbaum.«

»Hopla, das wär' mir jetzt lustig. Fürchtest du dich gar?«

»So halb und halb.«

»Warum denn?«

»Eben das verflixte Jägern.«

»Narretei! Vorwärts, Omlibaschi!«

»Kein Spaß . . . wisset,« erzählte der Jäger ungern und doch wie zur Beichte getrieben, »'s war voriges Jahr ein Bär in der Gegend ruchbar. Der Klaus natürlich ängstigte sich nicht und hielt sein Zell' immer offen. Aber die Obrigkeit forcht' für ihn und tat so, als ob man nur wegen dem lieben Vieh hier herum nachts Jagd und Hut stelle . . . Nun ja, da ging halt mancher bei der Gelegenheit und jagte auch anderes Wild. Nämlich soweit der Klaus es merken kann, wird sonst nie gejagt um den Ranft herum. Er hat die Tiere lieb. Das merken sie und nisten gern um seine Kutte herum. Und so bin ich mal auch auf sotane Bärenjagd gegangen und hab' eine Rehgeiß getötet, fast vorm Kapellchen. Sie lief und lief mit dem Spieß in der Huft, und ich ihr nach. Mir brannten die Füß'. Sie purzelt über, ich knie aufs Tier und stoß' das Messer da in den Hals. Aber ich glaub', mir war schlimmer als dem Reh, sowie mich jemand hinten am eigenen Hals faßt und Bruderklaus dasteht wie ein Baum und mit seiner Stimm', Herrgott welch eine tiefe Stimm'! . . . also da sagt er: So . . . o . . . o! Und eine tragende!«

»Verklag' mich nicht, sonst büßen sie mich scharf,« bitt' ich . . . »Sie? wer sie . . .? Eine tragende . . .!« Immer das sagt er. Ich verstand nicht, was er noch dazu gepredigt hat vom Leben, wo's herkomm' und verfließ'. Aber er tat, als hätt' ich einen Menschen getötet oder gar ein ganzes Volk ausgerottet. Und fast hab' ich's auch geglaubt. Ich floh. Battist, rief er nach, heirat' nicht, dir würden keine Kinder reif . . . so was, denkt! Und in meiner Dummheit lief ich ins Haus hier und bot der Frau den Braten und meinte, das sühne. Ich Esel! Sie stand am Herd, kehrte sich um, wurde rot wie ein Hahn und zeigte mit der Hand zur Türe hinaus . . . Nein, dahin geh' ich nicht mehr. Immer seh' ich den Finger . . . weg . . . weg!«

Er, eine verwilderte Waise, der außer dem Dorf fast wie ein Zigeuner hauste, hatte seit vielen Jahren nie mehr ein Kind berührt. Der warme, süße Duft des Mägdleins in seinem Arm erfüllte ihn mit einer grenzenlosen Weichheit. Er begriff es selbst nicht, wieso er, der tagelang kein Wort sprach, da seine Untat erzählte. Aber es war etwas weich in ihm geworden und sprudelte und wollte einfach hinaus. Und erst jetzt, beim Erzählen, spürte er etwas Unklares, Schreckliches im Worte Niklausens: eine Tragende! heirat' nicht, dir würden keine Kinder reif! . . . Er drückte das Mareili gewaltig an sich und fühlte ein Würgen in der Kehle, als sollte er schreien. »Warum auch,« trotzte er gegen Dorothe, »habt Ihr meinem Vater ein Pulverhorn geschenkt. Konntet Ihr die Rüebli nicht in einem Körbchen spendieren? Ein Pulverhorn, das war dumm . . . Dort steht jemand am Fenster, geht jetzt . . . geht.«

Er gab dem Kind einen kleinen Schupf, schlich unter den Nußbaum und beobachtete scharf, wie die Zwei am Fenster grüßten, die Greisinnen sich rasch erkannten und die von Flüe ein paar ruhige Worte in die Stube hinein sprach. Gleich schritt ein lang gelockter Jüngling mit einer Laterne und einem schelmischen Lächeln zur Türe heraus, nahm das Mareili am Arm und ging voraus zum Ranfttobel hinunter, wo nichts als Nacht und Wassergetöse regierte. Widerwillig und doch mit einem inneren Müssen folgte ihnen der Omlibaschi von weitem und verwünschte den Bruderklausenbub, der das Kind in den Armen halten durfte.


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