Gustav Theodor Fechner
Einige Ideen zur Schöpfungs- und Entwicklungsgeschichte der Organismen
Gustav Theodor Fechner

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XI. Teleologische und psychophysische Verwertung des Prinzips der Tendenz zur Stabilität.

Sei die erste Anordnung der Teilchen der Erdmasse noch so unregelmäßig, wirr gewesen, ja denken wir uns die Teilchen nach Zufall mit der Hand in den Raum, den die Erde von Anfang an einnahm, gestreut, so wird doch durch das Wirken ihrer innern Kräfte und Mitwirken der Kräfte Seitens der andern himmlischen Massen nach dem Prinzip der Tendenz zur Stabilität die Erde notwendig mehr und mehr einem Zustande entgegengegangen sein und, sofern sie ihn noch nicht erreicht hat, ferner entgegengehen, von dem man nach populärem Ausdruck sagen kann, daß Alles möglichst gut darin zusammenpasst; und sollten in den andern himmlischen Massen die Teilchen beliebig anders als in der Erdsphäre verteilt gewesen sein, so werden sie doch nicht minder einem solchen Zustande entgegengegangen sein und ferner entgegengehen; ja nicht nur Alles möglichst in jedem Himmelskörper für sich zusammenpassen, sondern auch alle unter einander möglichst zusammenpassen. Denn was haben wir unter Zusammenpassen zu verstehen? Daß jeder Teil durch die Wirkung seiner Kräfte beiträgt, die andern und hiermit das Ganze in einen bestandfähigen, das ist aber eben in einen stabeln, Zustand zu versetzen und darin zu erhalten. Wir sprechen aber nur von möglichstem Zusammenpassen, weil im Allgemeinen nur eine Approximation an eine volle Stabilität erreichbar ist.

Das organische Reich unterliegt dem Entwicklungsgange im Sinne dieses Prinzips solidarisch mit dem anorganischen. Das kosmorganische Reich hat sich hiernach in ein möglichst zusammenpassendes organisches und unorganisches auseinandergesetzt oder vielmehr geht dem möglichst zusammenpassenden Verhältnisse fort und fort entgegen. Schon mit der ersten Auseinandersetzung war ein großer Teil der Anfangs bestandenen Verwirrung und ruhelosen Veränderlichkeit der Zustände gehoben, und noch heute arbeitet der Mensch die Erdoberfläche in dem Sinne weiter aus, und wird von Klima und Bodenverhältnissen dahin bearbeitet, daß die Verhältnisse zwischen Erde und Mensch immer stabler und hiermit immer zusammenpassender werden. Das organische Reich in sich aber hat sich nach demselben Gange in mehr oder weniger auf einander angewiesene Organismen auseinandergesetzt; das Prinzip der bezugsweisen Differenzierung und des Kampfes um das Dasein sind besprochenermaßen nur Hebel des Fortschrittes nach diesem Prinzip; indes das Prinzip der Vererbung die Erfolge des bisherigen Fortschrittes sichert.

Man darf nicht sagen, daß die Erreichung der vollen Stabilität in der Welt die Erreichung eines ewigen Stillstandes wäre, sondern nur die Erreichung des zusammenpassendsten, und darum zu keiner weiteren Veränderung Anlass gebenden; Bewegungszustandes in der Welt; und warum sollte sich das Passendste nicht in Ewigkeit wiederholen, wenn die ewige Wiederholung selbst das Passendste wäre. Nur kann ein Zustand, der zur ewigen Wiederholung führt, für die ganze Welt in keiner endlichen Zeit erreicht werden, und kann die ewige Wiederholung im Einzelnen nur insofern das Passendste sein, als sie in die des Ganzen hineintritt, wogegen kontinuierliche Änderungen des Einzelnen selbst dazu beitragen müssen, diesem Zustande des Ganzen approximativ entgegenzuführen.

Für den Begriff des Zusammenpassens und da hineintretenden Passens in vorigem Sinne können wir einen anderen damit zusammenhängenden Begriff, der aber vorzugsweise nur in Beziehung auf das organische Gebiet Anwendung findet, von unsrem Prinzip abhängig machen, den der Zweckmäßigkeit.

In der Tat, überlegen wir es näher, so heißen uns die Entwicklungsvorgänge, die Einrichtungen und Außenbedingungen eines Organismus nur eben insofern zweckmäßig, als sie zu einem approximativ stabeln organischen Zustande zu führen und einen solchen innerhalb gewisser Zeitgrenzen, wenn auch mit größeren oder geringeren Abänderungen, fortzuerhalten vermögen; denn das Sterben eines Organismus beruht nach materieller Seite auf dem Verluste der organischen Stabilität. Hiernach fällt das Prinzip der Tendenz zur Stabilität mit dem teleologischen Prinzip, so weit dieses auf die materielle Seite der organischen Welt beziehbar ist, zusammen. Damit aber, daß die Tendenz zum Ziele noch nicht die Erreichung des Zieles bedeutet und das Ziel überhaupt nur in Approximationen erreichbar ist, gewinnen wir auch den Gesichtspunkt dafür, daß die organische Welt trotz des Waltens des teleologischen Prinzips in ihr doch fortgehens noch so vielen Störungen unterliegt, die den Charakter der Unzweckmäßigkeit tragen.

Auch widerspricht der Umstand, daß das Prinzip der Tendenz zur Stabilität den Übergang der organischen Stabilität in unorganische durch den endlichen Tod des Organismus nicht nur nicht hindert, sondern sogar im Sinne der Förderung der Stabilität zum endlichen Ziele hat, nicht der Identifizierung mit dem teleologischen Prinzip, dient vielmehr derselben zur Bestätigung, weil ja letztres Prinzip, so weit es in der Welt wirksam ist — und weiter kann von ihm nicht die Rede sein — den Tod der Organismen eben so wenig hindert.

Indem nun die Tendenz zur Stabilität sich im Sinne des Kausalprinzips durch gesetzliche Wirkung von Kräften vollzieht, liegt darin die so oft vermißte Vereinbarkeit beider Prinzipe im physischen Gebiete, indem sich beide nur dadurch unterscheiden, daß man beim Kausalprinzip den Grund, beim teleologischen das Ziel einer und derselben gesetzlichen Auseinanderfolge ins Auge faßt.

Die jetzt in Mode stehende Verketzerung des teleologischen Prinzips beruht in der Tat nur darauf, daß man kein mit dem Kausalprinzip solidarisches Prinzip der Tendenz, wohin es zielt, zu finden weiß. Im Prinzip der Tendenz zur Stabilität aber hat man ein solches Prinzip.

Man hat der neueren Deszendenzlehre eine wichtige Bedeutung darin beigelegt, daß das teleologische Prinzip dadurch gründlich eliminiert werde, indem die organische Zweckmäßigkeit danach nur dadurch zu Stande komme, daß von allen nach dem Kausalprinzip möglichen und wirklich werdenden Einrichtungen nur die zur Erhaltung und Fortpflanzung befähigten d. i. eben zweckmäßigen sich forterhalten und fortpflanzen können, die andern von diesen verdrängt werden und eingehen, so daß es keines, auf die Zweckmäßigkeit besonders gerichteten Prinzips bedürfe. An sich seien dem, allein für das Geschehen in Anspruch zu nehmenden, Kausalprinzip zweckmäßige und unzweckmäßige Erfolge gleichgültig und entständen daher gleichgültig sowohl die einen als andern, aber nur jene könnten sich erhalten. — Gilt nun aber das Prinzip der Tendenz zur Stabilität, so sind dem dessen Wege führenden Kausalprinzips zweckmäßige und unzweckmäßige Erfolge in der Tat nicht gleichgültig, sondern ohne Zweckmäßigstes sofort vollständig zu erreichen, strebt es doch dieser Erreichung zu. Und wäre es nicht der Fall, so wäre überhaupt gar keine Gewähr gegeben, daß es je zu Einrichtungen, welche sich fortzuerhalten und fortzupflanzen vermögen, käme, da der denkbaren unhaltbaren Einrichtungen unendlich mehr als der haltbaren sind.

Inzwischen kann man von Zweckmäßigkeit überhaupt nicht gründlich ohne Mitrücksicht auf die psychische Seite der Existenz sprechen. Wenn wir beispielsweise die Erhaltung einer festen Ordnung des Himmels zweckmäßig nennen; so ist es deshalb, weil uns als empfindenden, ästhetisch bestimmbaren Wesen Ordnung überhaupt unmittelbar gefällt, und weil wir Erfolge dieser Ordnung im Sinne einer Mehrung unsres Wohlbefindens oder Verhütung des Gegenteiles spüren, indem wir uns in Raum und Zeit dadurch orientiert finden. Sonst wäre die Ordnung des Himmels aus dem Gesichtspunkte eines Zweckes so gleichgültig als das unregelmäßigste Herumfahren der Gestirne unter einander. Aus demselben Gesichtspunkte als die äußere Zweckmäßigkeit ist die innere zu betrachten. Sollte ein Organismus so eingerichtet sein, um sich 1000 Jahre in einem leidensvollen Zustande zu erhalten, so würde diese Einrichtung trotz der langen Erhaltung höchst unzweckmäßig sein; doch fallen allgemein gesprochen die innern Bedingungen möglichst langer Erhaltung oder langsamer Änderung eines stabeln organischen Zustandes mit den günstigsten innern Bedingungen des daran geknüpften Wohlbefindens zusammen, und kann man, wenn man die bestimmte Einrichtung eines Gegenstandes oder Systems vor Augen hat, bezüglich dazu Alles zweckmäßig nennen, was zur Erhaltung dieser Einrichtung beiträgt, ohne Rücksicht auf psychische Bedeutung; nur ist dies nicht der fundamentale Begriff der Zweckmäßigkeit.

Um nun das vereinbarte Prinzip der Kausalität und Teleologie mit auf die psychische Seite der Existenz zu übertragen, hat man nur anzunehmen, daß die physische Tendenz zur Stabilität Träger einer psychischen Tendenz zur Herbeiführung und Erhaltung eben der Zustände, worauf die physische geht, seiHierzu ein Zusatz am Schluß dieses Abschnittes. ; dabei aber in Rücksicht zu ziehen, daß die psychische Tendenz teils über teils unter der Schwelle des Bewußtseins sein und teils instinktiv, teils mit der Vorstellung der äußern Mittel, wodurch sie sich vollzieht, und des Zweckes selbst behaftet sein kann.

Je nach den Annahmen nun, die man in diesen Hinsichten betreffs der Bewußtseinsverhältnisse der Welt im Ganzen so wie einzelner Gebiete derselben stellt, kann diese Auffassung noch eine sehr verschiedene Ausführung erfahren. Jeder Versuch einer solchen Ausführung aber begegnet der fundamentalen Schwierigkeit, daß der Mensch wie jedes Einzelwesen überhaupt unmittelbar nur von seinem eigenen Bewußtsein weiß, ohne doch das Dasein von Bewußtsein über ihn hinaus leugnen zu können, mithin weder positive noch negative Annahmen darüber durch direkte Erfahrung bewähren oder widerlegen kann, womit hier ein Spielraum für indirekte Schlüsse bleibt, die mehr oder weniger Zutrauen erwecken, überall aber zuletzt nur in einem Glauben Abschluss finden können, dessen Bedürfnisse bei Verschiedenen verschieden sind. Wie ich selbst dieselben zu befriedigen suche, sagt in Kürze der folgende Abschnitt.

Jedenfalls wird man nach Vorigem die kausale und teleologische Ansicht des Geschehens als sich ergänzend anzusehen haben, statt wie so oft die eine um der andern willen zu verwerfen; und kurz sagen können, daß der kausalen Auseinanderfolge des Geschehens ein derartiges teleologisches Prinzip immanent sei, daß psychische und physische Tendenzen nach denselben Zielen gehen. Je nachdem nun der kausale oder teleologische Gesichtspunkt klarer vorliegt oder die Richtung der Betrachtung durch die Absicht derselben bestimmt ist, wird man sich vorzugsweise an den einen oder andern halten können.

Bei einer eingehendern teleologischen und psychophysischen Verwertung des Prinzips der Tendenz zur Stabilität, als um die es sich hier handelte, wird unstreitig noch auf Vieles eine Rücksicht zu nehmen sein, die hier nicht genommen ist, sofern es hier nur um Aufstellung der allerallgemeinsten Gesichtspunkte zu tun war. Es wird in Betracht zu ziehen sein, daß die Tendenz zur Stabilität zwischen gegebenen Teilen oder Systemen um so schwächer ist, je entfernter von einander und durch je weniger Zwischenglieder sie verbunden sind, daß aber auch die teleologische und psychophysische Beziehung zwischen den Teilen oder Systemen damit abnimmt und der teleologische und psychophysische Nachtheil, der an der Instabilität hängt, sich damit mindert; daß die Periodizität, auf welcher die Stabilität beruht, eine einfache oder eine zusammengesetzte, in kurzen oder langen Perioden sich vollziehende sein, und ein System nach gewissen Bestimmungen oder Teilen stabel sein kann, indes es nach andern instabel ist u. s. w. Aber alles das sind Punkte, die nur die Ausführung, nicht die Aufstellung des allgemeinen Prinzips und der allgemeinen Gesichtspunkte seiner Verwertung betreffen.

Zusatz.

Insofern bewußte Antriebe immer mit Lust oder Unlust in Beziehung stehen, kann auch Lust oder Unlust mit Stabilitäts- und Instabilitätsverhältnissen in psychophysischer Beziehung gedacht werden ; und es läßt sich hierauf die anderwärts von mir näher zu entwickelnde Hypothese begründen, daß jede, die Schwelle des Bewußtseins übersteigende psychophysi-sche Bewegung nach Massgabe mit Lust behaftet sei, als sie sich der vollen Stabilität über eine gewisse Grenze hinaus nähert, mit Unlust nach Massgabe, als sie über eine gewisse Grenze davon abweicht, indes zwischen beiden, als qualitative Schwelle der Lust und Unlust zu bezeichnenden, Grenzen eine gewisse Breite ästhetischer Indifferenz besteht; wobei zu erinnern, daß möglicherweise jede Art von Bewegung in der Welt, mit Ausnahme etwa der gleichförmigen, als psychophysisch zu fassen, das heißt fähig ist, bewußt zu werden, wenn nur ein, nach Verschiedenheit der Bewegung verschiedener Grad ihrer lebendigen Kraft überschritten wird, welcher gegenüber der qualitativen Schwelle, die sich auf die Form der Bewegung bezieht, als quantitative Schwelle zu bezeichnen ist. Die sich leicht beim ersten Blicke darbietende Schwierigkeit, daß die lustvollste, also nach der Hypothese den stabelsten Bewegungszustand in einem Teile unseres psychophysischen Systems hervorrufende, Einwirkung bei konstanter Forterhaltung mehr und mehr an Lustwirkung verliert und endlich gar der Unlust der Langeweile oder des Überdrusses Platz macht, dürfte sich teils dadurch heben, daß die innere Erregung, welche von der Einwirkung abhängt, nach dem Gesetze der Abstumpfung mehr und mehr der quantitativen Schwelle der Stärke zusinkt, wovon der Grad der Lust mit abhängt, teils durch die Voraussetzung einer solchen Einrichtung unseres psychophysischen Systems, daß ein approximativ stabler Zustand des ganzen Systems nur mit einem gewissen Wechsel der Erregung zwischen seinen einzelnen Teilen besteht, welchem die über eine gewisse Grenze fortgesetzte einseitige Erregung irgend eines darunter widerspricht. Der Anschauung des schönsten Gemäldes werden wir endlich überdrüssig, aber nicht, weil uns das Gemälde, sondern der mangelnde Wechsel zu mißfallen anfängt. Zu weiteren Ausführungen ist hier nicht der Ort; und zuzugestehen, daß die vorige Hypothese der Unsicherheit bisher nicht ermangelt.


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