Gustav Theodor Fechner
Einige Ideen zur Schöpfungs- und Entwicklungsgeschichte der Organismen
Gustav Theodor Fechner

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Einige Ideen zur Schöpfungs- und Entwickelungsgeschichte der Organismen.

Gustav Theodor Fechner.

Leipzig, Druck und Verlag von Breitkopf und Härtel. 1873.

Vorwort.

Die Lehre von der Schöpfung und Entwicklung der Organismen ist zugestandenermaßen durch Darwin in ein neues Stadium getreten, indem selbst die vielfache Opposition, die er gefunden, nur beigetragen hat, neues Leben in die ganze Lehre zu bringen. In Deutschland ist es unstreitig Häckel, welcher als Hauptvertreter der Deszendenzlehre in Darwin’s Sinne angesehen werden kann; und die lichtvolle, ohne zu großes Detail alles Wesentliche zusammenfassende und in eigener Entwicklung fortführende, Darstellung derselben in seiner, jetzt in vierter Auflage erscheinenden, "Natürlichen Schöpfungsgeschichte" ist in der Tat sehr geeignet, einen klaren Einblick in diese Lehre gewinnen zu lassen. Ich selbst gestehe, nach längerem Sträuben gegen die Deszendenzlehre zu ihr bekehrt worden zu sein. Freilich ist sie nach ihrer bisherigen Aufstellung nicht frei von Schwierigkeiten, Unwahrscheinlichkeiten, Lücken und Hypothesen, die nicht eben so sicher als die durch sie zu verknüpfenden Tatsachen sind. Warum sich also überhaupt an sie halten? Einfach aus dem Grunde, weil jede andere Lehre, durch welche man die Deszendenzlehre ersetzen möchte, an denselben Unvollkommenheiten in unverhältnismäßig höherem Grade leidet. Es gilt in der Tat hier ein fundamentales Entweder, Oder: Entwicklung der höheren Organisationsstufen aus den niedern, oder Neuschöpfung jeder höhern Stufe so zu sagen aus dem Urschlamm; und will man das Letztere nicht annehmen, was fruchtet eine bloß negierende oder bloß mäkelnde Opposition gegen das Erstere?

Spezialisten, die sich von der Frage nicht berührt finden, mögen sie bei Seite lassen; aber sie hängt mit zu vielen und zu wichtigen allgemeinen Fragen zusammen, um sie überhaupt bei Seite zu lassen; statt sich also von ihr abzuwenden, gilt es, ihr gerade ins Gesicht zu sehen. Und muß man hiernach den Grundpunkt der Deszendenzlehre zugestehen, so kann es sich nur noch darum handeln, die Unvollkommenheiten ihrer Ausführung zu heben, das Unhaltbare darin durch Haltbareres zu ersetzen. Schon verschiedene Versuche sind in dieser Beziehung gemacht worden, ohne bisher recht durchschlagend gefunden zu sein. Auch diese Schrift versucht sich in einigen Ideen dazu, die ihres Erfolges zu warten haben.

In der Tat hat man wohl zu unterscheiden, was zur Begründung und Entwicklung der Deszendenzlehre wesentlich ist und was nicht, was Sache der Tatsachen und was Sache ihrer Auslegung ist; und in diesen Hinsichten steht noch keineswegs Alles so fest und sicher, als es nach der Vertretung der Deszendenzlehre durch ihre entschiedensten Anhänger scheinen möchte. Vielmehr glaube ich, daß mit Vorteil für Hebung wichtiger Schwierigkeiten und größere Eingänglichkeit der ganzen Lehre noch eine Vertiefung der allgemeinen Prinzipien derselben, eine Modifikation ihrer Ansicht von der organischen Grundkonstitution und ein Umsturz der Ansicht von der allerersten Entstehung der Organismen möglich ist. Die Vertiefung suche ich in der Aufstellung eines allgemeinen Prinzips, welches alle organischen Entwicklungsgesetze verknüpfend unter sich begreift (III. und XI.), und was ich unter der Bezeichnung als Prinzip der Tendenz zur Stabilität der Aufmerksamkeit der Forscher insofern empfehlen möchte, als nicht nur die, so oft schon gegen Darwin und Häckel geltend gemachte, Forderung eines einheitlichen Planes der organischen Entwicklung, sondern auch die darüber hinaus gehende Forderung einer Vereinbarung des teleologischen und Kausalprinzips des gesamten Geschehens dadurch ihre Befriedigung in einem klaren, exakt formulierbaren Ausdruck findet. Die Modifikation suche ich darin, daß ich die organischen Grundeigenschaften nicht von einer eigentümlichen chemischen Konstitution und damit zusammenhängenden Aggregatform der Materie, sondern von einem molekularen Bewegungszustande abhängig mache (I. II.); den Umsturz endlich darin, daß ich die seither als notwendig behauptete und doch der Bewährung sich hartnäckig entziehende Ansicht von einer primären Entstehung der Organismen aus dem unorganischen Reiche heraus durch eine, aus Betrachtung des Urzustandes der Erde folgende, in gewissem Sinne gerade entgegengesetzte, Ansicht ersetze (V.), womit sich Vieles, was als Konsequenz der bisherigen Ansicht in der Deszendenzlehre fest zu stehen schien, zugleich umkehrt (VIII).

Mit all’ dem bleiben Darwin’s Gesetze der Züchtung durch Abänderung, Vererbung und Kampf um’s Dasein, worin das Wesentlichste seiner Lehre besteht, im Rechte; nur daß das Prinzip des Kampfes um das Dasein hier bloß als Korrektiv oder Ergänzung eines andern Prinzips von noch übergeordnetem Rechte (Prinzip der bezugsweisen Differenzierung, VI.) auftritt, was freilich, wie das Meiste in dieser Schrift und in der Deszendenzlehre überhaupt, nur hypothetisch ist, aber manchen haarsträubenden Unwahrscheinlichkeiten, die nach den bisherigen Hypothesen der Deszendenzlehre noch übrig bleiben, abzuhelfen wohl geeignet scheint.

Endlich kann ich den Widerspruch, den die meisten und entschiedensten Vertreter von Darwin’s Lehre gegen die Beteiligung einer bewußten schöpferischen Tätigkeit an der Entstehung und Entwicklung der Organismen erheben, wesentlich nur in einem innern Widerspruche der eigenen Ansichten dieser Gegner und einem, unter exakten Naturforschern nur zu hergebrachten, Fehlschlüsse begründet finden, worüber einige Bemerkungen im letzten Abschnitte.

Der Zustand meiner Augen hat mir nicht gestattet, der so weitschichtigen Literatur über die Darwinsche Lehre in ihrer ganzen Ausdehnung und in alle Spezialitäten hinein zu folgen, was mich abgehalten haben würde, diese Ideen zu veröffentlichen, wenn es sich nicht darin vielmehr um ganz allgemeine Gesichtspunkte als bloße Spezialitäten der Lehre handelte, und nicht hier Wege der Betrachtung eingeschlagen wären, welche überhaupt aus den bisher betretenen heraustreten oder herausführen. Dies hindert nicht, daß mir dies und das entgangen sein kann, worauf mit Bezug zu nehmen vielleicht Anlaß war; auch hat der Umstand, daß diese Schrift nur nach einer allgemeinen Erinnerung an den Inhalt der zu meiner Kenntnis gekommenen Schriften und Abhandlungen über die Darwinsche Lehre, ohne die Möglichkeit speziellen Rückganges darauf, niedergeschrieben werden konnte, verschuldet, daß man speziale Hinweise auf die einzelnen Autoren hier vermissen wird. Wegen beider Mängel wünsche ich Nachsicht bei Beurteilung dieser Schrift zu finden; sie würden doch nur dann schwer wiegen, wenn der eigentümliche Inhalt dieser Schrift nichts wöge. Diesem aber wünsche ich eine unbefangene Prüfung. Nachträglich zur genaueren Erläuterung einer, im ersten Abschnitte mehrmals gebrauchten Ausdrucksweise folgende Bemerkung:

Wenn ein Punkt b sich in Bezug auf einen Punkt a bewegt so nenne ich Kürze halber das Vorzeichen seiner Lage dagegen so lange unverändert, als die Bewegung seines Radius vector bezüglich dazu 180 0 nach keiner Seite überschreitet, hiergegen umgekehrt nach Maßgabe, als es der Fall ist.


Inhalt.

I. Unterscheidung des organischen vom unorganischen Molekularzustande und Verhältnisse zwischen beiden
II. Gründe für die vorige Auffassung
III. Prinzip der Tendenz zur Stabilität
IV. Anwendung des vorigen Prinzips auf die organischen Verhältnisse
V. Kosmoganische Verhältnisse. Urentstehung der Organismen
VI. Prinzip der bezugsweisen Differenzierung
VII. Prinzip der abnehmenden Veränderlichkeit
VIII. Verschiedene Entwicklungs-Verhältnisse des organischen Reiches, welche unter Voraussetzung seines kosmorganischen Ursprungs eine wesentlich andere Auffassung als bisher erfordern
IX. Abstammung des Menschen
X. Einige geologische Hypothesen und paläontologische Phantasien
XI. Teleologische und psychophysische Verwertung des Prinzips der Tendenz zur Stabilität
XII. Glaubensansichten


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