Gustav Theodor Fechner
Einige Ideen zur Schöpfungs- und Entwicklungsgeschichte der Organismen
Gustav Theodor Fechner

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II. Gründe für die vorige Auffassung.

Die Gründe für vorige Auffassung des unorganischen und organischen Zustandes liegen in Folgendem:

Den Zustand der unorganischen Körper anders aufzufassen, liegt jedenfalls in den Tatsachen kein Grund vor; vielmehr treten die Tatsachen der Kristallisation und Elastizität ganz in die vorige Vorstellung hinein, und es ist um so weniger nötig, ausführlich darüber zu sein, als man den unorganischen Zustand von jeher nicht anders aufgefasst hat, ohne sich aber dabei je zum klaren Bewußtsein gebracht zu haben, daß der organische sich unmöglich eben so auffassen läßt.

Durch die Wirkung äußerer Druck- und Zugkräfte kann allerdings die Ordnung der Moleküle in unorganischen Körpern sehr gegen einander verschoben werden, und es ist denkbar, daß nur in minderm Grade auch die Ordnung der Teilchen der Moleküle selbst dadurch verschoben werden kann; nur widerspricht dies nicht der Charakteristik des unorganischen Zustandes, da von ihm bloß die Unmöglichkeit einer solchen Verschiebung durch innere Kräfte der Moleküle ausgesagt ist. Auch kehren beim Nachlaß solcher Kräfte die Teilchen alsbald durch Schwingungen von abnehmender Amplitude entweder in die alte Ordnung gegen einander zurück, oder nehmen eine neue an, in der sie ohne Zutritt neuer äußerer Kräfte verharren; ersteres, wenn die Elastizitätsgrenze durch Zug oder Druck nicht überschritten war, letzteres, wenn es der Fall war.

Auf die Auflösungs-, Diffusions- und chemischen Vorgänge zwischen unorganischen Massen, welche zu Ordnungsverschiebungen nach bestimmter Richtung Anlaß geben können, komme ich nach dem, was oben darüber gesagt ist, nicht zurück.

Was den organischen Zustand anlangt, so erscheint es aus mechanischem Gesichtspunkte überhaupt leichter, sich die Entstehung von Bewegungen mit Änderung der Ordnung der Teilchen, als von Schwingungen um relativ feste Gleichgewichtslagen mit Einhaltung einer festen Ordnung vorzustellen; ja unter dem bloßen Einflusse von Kräften, welche sei es das Gravitationsgesetz oder irgend ein andres Anziehungs- oder Abstoßungsgesetz befolgen, ohne das Vorzeichen der Richtung mit der Entfernung der Teilchen zu wechseln, würde an die Möglichkeit von Bewegungszuständen letzter Art, so weit ich es übersehe, nicht zu denken sein. Wenn nun aber doch die Erscheinungen dafür sprechen, daß dergleichen Platz finden können, mithin irgendwelche Kräfte dazu vorhanden sein müssen, so beweisen sie von der andern Seite, daß nicht alle materiellen Kräfte der Art sind, indem sonst die kontinuierlichen Bewegungen der Planeten nicht zu Stande kommen könnten. Muß aber einmal zugestanden werden, daß es sowohl Kräfte gibt, welche das eine, als welche das andere gestatten, so kann es auch unter den Molekularkräften solche geben, welche sowohl das eine als das andere gestattenNäheres hierüber s. im Zusatz am Schlusse dieses Abschnittes.; und daß dem wirklich so sei, wird direkt dadurch bewiesen, daß sich die charakteristischen Erscheinungen, wodurch sich die organischen von unorganischen Systemen unterscheiden, dadurch und in keiner andern Weise erklären lassen.

Wenn das einfachste organische Wesen, was wir kennen, ein strukturloses mikroskopisches oder höchstens stecknadelkopfgroßes protoplasmatisches Schleimkügelchen, ein sog. Moner, oder ein ähnlich konstituiertes weißes Blutkügelchen oder eine als einfache nackte Zelle mit Zellenkern sich darstellende Amöbe alle mannigfachen Gestaltänderungen, welche eine Kautschukmasse unter Verschiebung der Ordnung der Teilchen durch äußeren Druck, Zug anzunehmen vermag, spontan annehmen kann, so liegt in den Verhältnissen des unorganischen Zustandes kein Erklärungsgrund dafür; hingegen läßt sich das Zustandekommen solcher spontanen Gestaltänderungen unter unsern Voraussetzungen über den organischen Zustand sehr wohl repräsentieren, sei es, daß wir diese Geschöpfchen als einfachste organische Moleküle oder schon als organische Systeme solcher Moleküle oder selbst als Mischsysteme im angegebenen Sinne ansehen.

In der Tat unter erster Voraussetzung können die Teilchen des Moleküls im Laufe der ihre Ordnung ändernden Bewegung bald vielmehr innerhalb eines kugelförmigen, bald innerhalb eines langgestreckten zylinderförmigen Raumes versammelt bleiben, und dazwischen, so lange keine beschränkenden Bedingungen einer allseits freien Bewegung vorliegen, die verschiedensten Gestalten repräsentieren, wobei wir die Gestalt immer durch Flächen, welche durch die äußersten Teilchen gelegt werden, bestimmt denken. Damit ist nicht gesagt, daß alle diese mit dem organischen Zustand aus allgemeinem Gesichtspunkte verträglichen Gestaltänderungen bei jedem Moner auch wirklich eintreten werden, es vollzieht ja nicht wirklich alle möglichen, es vollzieht eben nur die, welche aus den eben bestehenden Bewegungen der Teilchen unter Mitwirkung veränderlicher äußerer Anregungen entstehen können; wobei nichts hindert, die materiellen Antriebe, insoweit sie wirklich spontan sind, von empfundenen spontanen Antrieben begleitet, ja diese als innere Erscheinung wesentlich daran geknüpft zu denken, insofern die psychophysische Schwelle dabei überstiegen wirdNach der Darlegung in meinen "Elementen der Psychophysik" bedarf jeder materielle Prozeß, welcher seiner Natur oder Form nach geeignet ist, Empfindung oder überhaupt ein Bewußtseinsphänomen mitzuführen, doch eines gewissen Grades der Lebhaftigkeit oder Stärke (lebendigen Kraft), welchen ich die Schwelle nenne, damit das Phänomen wirklich ins Bewußtsein trete; so lange die Schwelle nicht überstiegen ist, bleibt das Phänomen "unbewusst" und könnte man es so ansehen, als ob der materielle Prozess allein vorhanden wäre, wenn nicht die Bewegungen unter der Schwelle phychophysisch eben so gebraucht würden, das in der Psychologie eine so große Rolle spielende Gebiet des Unbewußtsten, als die Bewegungen über der Schwelle das des Bewußten zu repräsentieren. Meine Ansichten in diesen Hinsichten weichen wesentlich von den Hartmannschen ab, was aber nicht nötig ist, hier auszuführen, indem es hier nur galt, den in der Folge noch einigemal wiederkehrenden Begriff der Schwelle, so wie ich ihn verstehe, zu erläutern. Um ein kurzes Bild zu brauchen: wie Eisen erst, wenn es über einen gewissen Grad erhitzt ist, sichtbar glühend wird, bricht Bewußtsein erst hervor, wenn der Prozess, an den es sich zu knüpfen vermag, einen gewissen Grad der Stärke übersteigt.. Wir werden selbst nach einem später zu besprechenden allgemeinen Prinzip zuzugeben haben, daß ohne veränderliche äußere Anregungen der Bewegungszustand der Teilchen und hiermit die Gestaltänderung des ganzen Moleküls einem mehr oder weniger stabilen Zustande der Periodizität zustreben und schließlich in einem solchen endigen würde, ohne damit zuzugeben, daß dieser Zustand in Schwingungen der Teilchen um relativ feste Gleichgewichtslagen bestehen würde, welchen die Teilchen in unorganischen Molekülen spontan zustreben.

Nun fragt sich noch, ob selbst die einfachsten Organismen, die wir kennen, wirklich so gleichförmig konstituierte Massen sind, als sie unter dem Mikroskope erscheinen; aber sehen wir sie, statt für einfache organische Moleküle, für Systeme von solchen in organischem Verbande derselben an, so ändert sich die vorige Auffassung nicht wesentlich. Denn nach der Vorstellung, die wir uns von einem organischen Verbande organischer Moleküle machten, muß ein solcher alle Gestaltänderungen, die ein elastisches Gewebe mit eingeschlossenen festen Kugeln durch äußere Druck- und Zugkräfte rezeptiv annehmen kann, spontan annehmen können; indem die festen Kugeln hier durch die Kerne der Moleküle vertreten werden, deren Teilchen nicht wechselseitig zwischen den Molekülen übergreifen.

Aber auch selbst als Mischsystem könnten wir das Moner betrachten, indem wir es etwa mit unorganischer Flüssigkeit durchtränkt, oder es mit einem unsichtbaren, nur aber als biegsam vorzustellenden, unorganischen Netze durchzogen dächten; dann würde der Spontaneität der organischen Bewegungen kein anderes Hindernis dadurch erwachsen, als daß dadurch unorganische Massen von den organischen, an denen sie adhärieren, mit fortgezogen werden müssen.

Nicht minder werden Zellen mit Zellhaut ihre Gestalt noch in freiester Weise spontan ändern können, so lange nur die Festigkeit der Zellhaut nicht in Starrheit übergegangen ist. Ist dies der Fall, so hört freilich diese Möglichkeit der Gestaltänderung auf, was aber nicht ausschließt, daß der Zellinhalt sich fortgehens in organischer Bewegung befinde, und diese Bewegung sich selbst durch Interstizien der Zellhaut fortsetze, wie unstreitig in den Pflanzen geschieht.

Sind einmal spontane Gestaltänderungen so einfacher Wesen, als wir in Betracht zogen, vermöge der organischen Konstitution derselben möglich, so sind natürlich unter dem Miteinflusse äußerer Widerstände auch spontane Lokomotionen derselben möglich, ohne daß es der Zuziehung eines neuen Prinzips dazu bedarf.

Nach denselben Prinzipien lassen sich die spontanen Gestaltänderungen und Lokomotionen der zusammengesetztesten Organismen erklären; nur daß hier wegen Einschiebung größerer starrer Massen oder Anheftung der organischen Teile an solche die Gestaltänderungen und davon abhängigen Weisen der Lokomotion Beschränkungen erleiden und in bestimmte Formen gebannt sein können, wie es bei jenen einfachsten Wesen nicht eben so der Fall ist.

Man hat gefunden, daß Rädertierchen und andere kleine Organismen durch Eintrocknen in einen scheinbar toten unorganischen Zustand gebracht, durch Befeuchtung aber wieder zum Leben erweckt werden können, wofern nur die Temperatur beim Eintrocknen nicht bis zur Gerinnung des Eiweißes erhöht war. Es würde unstreitig schwer sein, sich vorzustellen, mag auch die Möglichkeit davon nicht im Allgemeinen geleugnet werden, wie durch Zufügung von unorganischem Wasser zu einem unorganischen Verbande unorganischer Moleküle neue Lebensbewegungen sollten erwachen können, nicht minder worin sich der bleibend tote Zustand der trocknen Tierchen nach der Gerinnung des Eiweißes von dem, der noch eine Wiedererweckung gestattet, unterscheidet. Beides im Zusammenhange aber repräsentiert sich, wenn wir in den der Wiederbelebung fähigen trocknen Tierchen die organischen Bewegungen noch in den organischen Molekülen fortgehend, aber zwischen denselben aufgehoben halten, so daß das ganze Tierchen in starrem Zustande erscheint; sei es, daß ein das Tierchen durchsetzendes Gerüst oder eine dasselbe umgebende Haut erstarrt, oder die organischen Moleküle selbst in festen unorganischen Verband treten, indes in den der Wiederbelebung nicht mehr fähigen Tierchen auch die organischen Bewegungen in den Molekülen selbst aufgehoben sind oder vielmehr sich in bloße Wärmeschwingungen verwandelt haben. Jedenfalls, wenn vor dem Austrocknen der Tierchen organische Bewegungen in den Molekülen bestanden, liegt eben so wenig ein klarer Grund vor, weshalb sie durch Entziehung des dazwischen interponierten unorganischen Wassers sollten ihre Form in die von Wärmeschwingungen ändern müssen, als ein Grund, welcher erklärte, daß, wenn die Wandlung doch erfolgt ist, durch bloße Zufügung von Wasser sich die unorganische Bewegung in organische rückverwandeln könne; daher mir in der Tat am wahrscheinlichsten scheint daß, so lange die Wiederbelebung durch Zufügung von Wasser noch möglich ist, die organischen Bewegungen in den organischen Molekülen der trocknen Tierchen noch fortbestehen.

Unter gleichem Gesichtspunkt als die getrockneten Rädertierchen werden sich die Jahrtausende lang in trocknem Zustande verbliebenen Getreidekörner aus den Pyramiden betrachten lassen, welche nur der Befeuchtung bedürfen, um zu keimen; und der Unterschied derselben von andern nicht mehr keimfähigen Samen sich ebenfalls darin suchen lassen, daß in jenen aber nicht in diesen die organischen, Bewegungen innerhalb der organischen Moleküle noch fortbestehen. Nun kann man es vielleicht für den ersten Anblick schwer denkbar finden, daß solche Bewegungen so lange Zeit fortbestehen sollten; aber warum schwerer in dieser Form als in der Form von Wärmeschwingungen, welche in Körpern, die nicht absolut kalt sind, nie aufhören.

Endlich wird man hierher auch den Fall ziehen können, daß gefrorene Infusorien und selbst Frösche nach vorsichtigem Wiederauftauen zu neuem Leben erwachen können, wie wenigstens neuerdings wieder entschieden behauptet wird, indes bei den meisten Organismen das Erfrieren dauernden Tod bedingt. So wenig nämlich durch Entfernen des zwischen den organischen Molekülen interponierten Wassers die organischen Bewegungen innerhalb dieser Moleküle notwendig die Form in die der unorganischen Wärmeschwingungen ändern, braucht dies durch, eine Temperaturerniedrigung zu geschehen, bei der das interponierte Wasser gefriert und dadurch das Ganze des Organismus zum Erstarren, bringt; es könnte sich vielmehr damit bloß die Amplitude der organischen wie unorganischen Bewegungen mindern, und nach Wiederauftauen das alte Lebensspiel beginnen. Indes ist der Übergang organischer in unorganische Zustände überhaupt so leicht, daß unter den meisten Bedingungen, unter welchen das Gefrieren erfolgt, auch dieser Übergang erfolgen kann, wonach dann kein Wiedererwachen möglich ist.

Natürlich sind das nur hypothetische Vorstellungsweisen, an deren Möglichkeit es mir aber doch nützlich scheint zu erinnern, weil man geneigt ist, den Phänomenen der Wiederbelebung ausgetrockneter und gefrorener Organismen eine fundamentale Wichtigkeit bei Aufsuchung des Grundes der Lebenserscheinungen beizulegen, die sie in der Tat haben würden, wenn die molekularen Zustände, um die sich’s dabei handelt, vielmehr Sache der Beobachtung als der Hypothese wäre.

Die Bewegungen von Flüssigkeiten in den Organismen können allerdings zum Teil recht wohl nach dem Prinzip der Diffusion (Endosmose, Exosmose) und Anziehungsbewegung zwischen den Teilchen chemisch differenter Flüssigkeiten, wie solche auch zwischen unorganischen Massen statt finden, erklärt werden; kämen aber solche Bewegungen bloß nach diesem Prinzip zu Stande, so müßte auch als Enderfolg danach eine Ausgleichung in dem (s. Abschn. 1) angegebenen Sinne erwartet werden, welche nicht eintritt, so lange das Leben fortbesteht; wogegen es sehr wohl denkbar ist, daß in Systemen, worin die Teilchen ihre gegenseitige Lage nicht bloß in einem Sinne tauschen können, eine solche Ausgleichung nicht zu Stande kommt. Außerdem hängen die Bewegungen von Flüssigkeiten in organischen Kanälen im Allgemeinen von rhythmischen Muskelkontraktionen ab, welche von spontaner organischer Nerventätigkeit ausgelöst werden.

Daß manche chemische Produkte organischer Tätigkeit auch außer den Organismen in Laboratorien erzeugt werden können, ist zuzugestehen; und man kann nicht voraussagen, was in dieser Beziehung überhaupt noch wird möglich werden können; jedenfalls muß man das Spiel der chemischen Verwandtschaften durch den Lebensprozeß als abgeändert ansehen; und es läßt sich wenigstens im Allgemeinen als möglich denken, daß der eigentümliche Bewegungsprozeß in den organischen Molekülen hierauf Einfluß hat; und dies wird dadurch bestätigt, daß, sowie die Lebenserscheinungen, die wir Anlaß haben von der organischen Bewegung in unserm Sinne abhängig zu machen, aufhören, alsbald eine durch die eintretende Fäulnis sich kundgebende Zersetzung erfolgt.

Das Alles zusammennehmend, kann ich die aufgestellte Ansicht von der organischen Grundkonstitution kaum bloß für eine Hypothese gelten lassen, halte sie vielmehr durch die Unmöglichkeit, die Lebenserscheinungen der Organismen anders als auf ihrem Grunde zu erklären, wesentlich gefordert. Dazu kommt noch, daß sie uns einen Angriffspunkt bieten wird, die erste Entstehung der Organismen in einer Urzeit der Erde denkbar erscheinen zu lassen, ohne unsere Zuflucht zur generatio aequivoca nehmen zu müssen.

Man hat zwar wohl gemeint, in einer besonders verwickelten Zusammensetzung und einem dadurch bedingten festweichen Aggregatzustande den Grund der eigentümlichen Lebensphänomene in den Organismen zu finden; und in der Tat kann die Verschiedenheit der organischen Konstitution von der unorganischen durch eine komplexe chemische Zusammensetzung begünstigt sein, ist aber doch nicht notwendig dadurch gegeben; denn ein Ei kann durch Kochen ohne Veränderung seiner komplexen chemischen Konstitution aus dem organischen in unorganischen Zustand übergehen, sofern wir diesen durch den Mangel der Lebenserscheinungen oder Entwickelungsfähigkeit, welche der organische Zustand darbietet, charakterisiert halten. lndessen bleibt dabei zweifelhaft und läßt sich durch Erfahrung nicht entscheiden, ob hierbei bloß der organische Verband oder auch die innere organische Konstitution der Moleküle zerstört wird, indem schon früher (Kap. I) darauf hingewiesen ist, daß auch ein anorganischer Verband organischer Moleküle denkbar ist. Und so bleibt allerdings auch denkbar, eben so, daß eine gewisse chemische Konstitution wesentlich für den organischen Zustand der Moleküle ist, als daß mit einer solchen dieser Zustand wesentlich gegeben ist. Sollte aber dem so sein, was ich ganz dahinstelle, so könnte es doch nur in sofern sein, als nur mit einer solchen und keiner andern chemischen Konstitution der Moleküle Bewegungen ihrer Teilchen von der geschilderten Art verträglich sein würden, und dasselbe gilt von dem festweichen Zustande organischer Massen. Wirklich gibt es festweiche unorganische Zustände genug, in denen von keiner Lebenserscheinung die Rede ist. Das Fundamentale bleibt also der Bewegungszustand, nicht die chemische Konstitution oder der Aggregatzustand.

Unorganische Moleküle können sich selbst bei gleicher chemischer Zusammensetzung noch durch Abweichungen in der Anordnung und Distanz der Teilchen unterscheiden und hiernach durch unorganischen Verband Massen von sehr verschiedenen chemischen und physikalischen Eigenschaften bilden. Nun ist es im Grunde nur ein Umstand mehr, wodurch sich Moleküle unterscheiden können, wenn sich solche auch durch den Bewegungszustand der Teilchen unterscheiden können. Aber nicht nur organische von unorganischen Molekülen, auch organische unter einander werden sich dadurch unterscheiden können, indem gegenüber den verhältnismäßig einfachen, wenig Variation gestattenden Schwingungszuständen der Teilchen in den unorganischen Molekülen, welche sich auf nur mehr oder weniger gestörte geradlinige und elliptische reduzieren mögen, die mannigfachsten Arten verwickelter Bewegung in den organischen Molekülen denkbar sind; und es scheint sogar für den ersten Anblick, daß sich die Entwickelung verschiedenartiger Geschöpfe aus Keimen, die allem Anschein nach chemisch gleichgeartet und von gleichgearteter Eiweißsubstanz umgeben sind, unter denselben äußeren Temperaturbedingungen gar nicht andere als mit Rücksicht auf solche Verschiedenheiten erklären läßt, wogegen man zur Erklärung nur anzunehmen braucht, daß in jedem Ei, aus dem sich ein anderes Geschöpf zu entwickeln vermag, ein Molekül oder eine Verbindung von Molekülen mit charakteristisch verschiedenen inneren Bewegungszuständen den Kernkeim bildet; auch ist nicht unmöglich, daß etwas der Art statt findet. Für wahrscheinlicher jedoch halte ich, daß die schon oben berührte, alsbald weiter zu besprechende Tendenz, zu stabilen Bewegungszuständen alle organischen Moleküle von gleicher chemischer Zusammensetzung auf einen ähnlichen, nur durch äußere Einwirkungen störbaren, Zustand innerer Kreislaufsbewegungen zurückführt, und jene verschiedene Entwickelbarkeit scheinbar gleichgearteter Keime vielmehr auf einer verschiedenen Verbandweise der organischen Moleküle, sofern solche nach entsprechenden Richtungen in verschiedenem Grade verschmolzen sein können, oder darauf beruht, daß die organischen Moleküle mit unorganischen in verschiedener Weise kombiniert sind; wobei die Unmöglichkeit, innere Unterschiede der Art, auch selbst mikroskopisch, wahrzunehmen, an der Kleinheit oder gleichförmigen Durchsichtigkeit der zu unterscheidenden Teile hängen kann. Notwendig nämlich werden mit Verschiedenheiten der einen oder andern Art verschiedene Ernährungs- und Teilungsverhältnisse der Moleküle zusammenhängen, aus denen eine verschiedene Entwicklung der Keime resultieren muss. In der Tat brauchen wir nur die Fortentwicklungsweise eines geborenen Geschöpfes von seiner Geburt an rückwärts bis zur ersten Keimanlage zu verfolgen, so kommen wir auf derartige Vorstellungen, die jedenfalls vor der bisher gehegten, daß die Keime ihre verschiedene Entwickelbarkeit einer verborgenen Verschiedenheit chemischer Konstitution verdanken, den Vorzug verdienen dürften.

Was bei unsrer wie bei jeder andern Ansicht über die Entwicklungsweise der Organismen zu erklären übrig bleibt, ist die Tatsache, daß die Keime, welche das ausgebildete Geschöpf absondert, mittels Durchschreitens durch eine Reihe von Metamorphosen die organische Form und Einrichtung des Mutterkörpers, wenn auch mit größeren oder geringeren Abänderungen, zu reproduzieren vermögen. Gestehen wir, daß wir den mechanischen Hergang dabei nicht verfolgen können, wohl aber gibt es ein sehr allgemeines Prinzip, welches ein sehr allgemeines Licht nicht nur auf das Zustandekommen dieses Erfolges, sondern auch die Entwicklungsweise des ganzen organischen Reiches ja der ganzen Welt wirft, ein Prinzip, was ich nach der Weise, wie es hier aufgestellt werden wird, bis zu gewissen Grenzen als apriorisches, darüber hinaus als empirisches, insofern aber die Empirie einen strengen und allgemeinen Beweis nicht zu liefern vermag, als ein zur allgemeinen Verknüpfung der Tatsachen des uns beschäftigenden Gebietes wohl geeignetes hypothetisches bezeichne, indes es seiner Natur nach einer allgemeinen mathematischen Begründung und Ausführung zugänglich sein dürfte und eine solche unstreitig noch finden wird. Kurz nenne ich es das Prinzip der Tendenz zur Stabilität. Hiervon im folgenden Abschnitte.

Zusatz.

Im 25. Kap. meiner Atomenlehre (2. Ausg.) habe ich zu zeigen gesucht, wie man durch eine gewisse Verallgemeinerung zur Annahme von multipeln Kräften (d.i. welche solidarisch durch Wechselwirkung von mehr als zwei Teilchen bestimmt sind) gelangen kann, die mit Änderung der Ordnungszahl der Kraft (je nachdem man die Wirkung zweier, dreier, vierer u. s. w. Teilchen auf einander in Betracht zieht) das Vorzeichen wechseln und um so rascher mit der Entfernung abnehmen, je höher die Ordnungszahl ist, so daß je nach Änderung der Entfernung der Teilchen von einander bald anziehende, bald abstoßende multiple Kräfte das Übergewicht gewinnen, bei meßbaren Entfernungen aber die Gravitation, der Ordnung nach die niederste, d. i. binäre, allein als anziehende Kraft merklich bleibt. Auch die ternäre Kraft ist nach dem allgemeinen Prinzip dieser Kräfte noch anziehend und steht bei gleichen Abständen aller drei Teilchen im umgekehrten Verhältnis der 6. Potenz derselben, die quaternäre und quinäre aber sind abstoßend u. s. f. Bleibt nun auch das Prinzip dieser Kräfte bis jetzt noch hypothetisch, so ist doch die Möglichkeit desselben schon seitens exakter Forscher gelegentlich anerkannt, indes eine exakte Bewährung und Verwertung desselben bis jetzt noch zu großen Schwierigkeilen unterliegt. Jedenfalls kann durch Berufung darauf die Vorstellbarkeit der hier in Betracht kommenden Verhältnisse erleichtert werden.

Kurz gesagt kommt das Prinzip dieser Kräfte darauf zurück, daß die multiple Kraft jeder gegebenen Ordnung umgekehrt proportional ist dem Produkte der Abstände sämtlicher zu dieser Ordnung gehörigen Teilchen von einander, d. h. eines jeden von jedem anderen, so aber, daß jeder Abstand doppelt, einmal mit positivem, zweitens mit negativem Vorzeichen, also als negatives Quadrat, in das Produkt eingeht, weil er nach der einen wie entgegengesetzten Richtung genommen werden kann, und daß die Kraft anziehend (in Bezug zum Schwerpunkt der multipeln Kombination) ist, wenn das Vorzeichen des ganzen Produktes negativ ist, abstoßend, wenn es positiv ist, wovon Ersteres bei ungerader, Letzteres bei gerader Zahl der negativen Abstandsquadrate, die das Produkt bilden, der Fall ist. Bei der binären Kraft der Gravitation reduziert sich das Produkt bloß auf ein negatives Abstandsquadrat bei der ternären setzt es sich aus 3 solchen zusammen, bei der quaternären Kraft gehen 6, bei der quinären 10 negative Quadrate in das Produkt ein; also sind die binäre und ternäre Kraft anziehend, die quaternäre und quinäre abstoßend u. s. f.

Läßt man das Vorhandensein dieser Kräfte zu, so wird man sich folgende Vorstellung machen können. Im ersten sehr ausgedehnten Zustande der Erde waren die Teilchen derselben noch so weit entfernt, daß bloß die binäre Kraft der Gravitation zwischen ihnen merklich war, unter dem Einfluß derselben aber, nach den im 5. Abschnitt anzustellenden Betrachtungen, schon Bewegungen entstanden, welche unserem Begriffe organischer Bewegungen entsprechen; daher ich diesen Zustand kosmorganisch nenne. Allmälig aber zog sich die Masse so weit zusammen, daß zwischen den dadurch genäherten Teilchen die ternäre Molekularkraft über die binäre Gravitation überwiegend wurde: und unter dem Haupteinflusse dieser ternären Kraft stehen unsere organischen Zustände, welche ich zu näherer Unterscheidung von den kosmorganischen molekularorganische nenne. Die unorganischen Zustände beruhen in der Hauptsache auf Wärmeoszillationen der Teilchen um Gleichgewichtslagen in solchen Entfernungen von einander, in welchen die ternäre anziehende Kraft in die quaternäre abstoßende übergeht. In zusammengesetzten Molekülen können für die Elementarkombinationen höherer Ordnung auch wohl Kräfte höherer Ordnung ins Spiel kommen.

Unter Voraussetzung der Richtigkeit dieser Auffassung müssen unorganische Moleküle bei gleicher chemischer Zusammensetzung dichter sein als organische, woraus aber nicht folgt, daß ein ganzer Organismus durch den Tod, hiermit Übergang in unorganischen Zustand, sich verdichten müsse, da die Bestandteile vielmehr durch Fäulnis oder Erhitzung sich trennen. Wenn dies nicht sofort mit dem Tode geschieht, so kann dies teils davon abhängig gemacht werden, daß die organische Konstitution nicht plötzlich in die unorganische übergeht – dauert doch die Reizbarkeit der Muskeln noch eine Zeitlang nach dem Tode fort –, teils daß die Organismen von einem mehr oder weniger unorganischen Gerüste aus Häuten, Sehnen, Knochen u. s. w. durchzogen sind, welche ihre Verhältnisse im Tode bewahren.

Ich habe die Hypothese der multipeln Kräfte in voriger Auffassung hier zusatzweise angeführt, weil sie sich den in dieser Schrift zu entwickelnden Ideen gut zu fügen und für die Vorstellung der dabei ins Spiel kommenden Kraftverhältnisse einen Anhalt zu bieten scheint; bin jedoch weit entfernt, hier Gewicht darauf zu legen, weil es doch bis jetzt nur eine, nicht erweisliche, wenn auch sonst manche Vorteile darbietende, Hypothese bleibt und über die Natur der molekularen Kräfte überhaupt verschiedene Ansichten möglich und schon aufgestellt sind. Auch ist bei der Allgemeinheit, in der sich die Betrachtungen dieser Schrift halten, nicht nötig, Gewicht auf eine spezielle Hypothese darüber zu legen: wenn nur überhaupt zugestanden wird, daß unter dem Einflusse der molekularen Kräfte nicht minder als unter dem Einflusse der Gravitation kontinuierliche Bewegungen mit Ordnungsänderung der Teilchen zu Stande kommen können; wogegen ich kein prinzipielles Hindernis finde.


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