Gustav Theodor Fechner
Einige Ideen zur Schöpfungs- und Entwicklungsgeschichte der Organismen
Gustav Theodor Fechner

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X. Einige geologische Hypothesen und paläontologische Phantasien.

l) Im Allgemeinen nimmt man an, daß die feste Erdkruste sich durch fortgehende Erstarrung des glühend flüssigen Kernes, von Außen nach Innen an Dicke zunehmend, gebildet habe, und unterscheidet Urgebirgsmassen als ursprüngliche Produkte dieser Erstarrung und neptunische oder sedimentäre Massen als solche, welche aus diesen Massen durch Verwitterung, Zertrümmerung, Ab- und Aufschwemmung hervorgegangen sind. Nun gestehe ich, nicht geologische Kenntnisse genug zu haben, um beurteilen zu können, ob folgender Modifikation dieser Ansicht, die mir manche Vorteile darzubieten scheint, erhebliche Schwierigkeiten entgegenstehen, denen dieselbe dann allerdings zu weichen hätte.

Unstreitig geschah die Bildung des glühend flüssigen Kernes der Erde nur sehr allmälig durch Niederschlag und Verdichtung aus der kosmorganischen Urmasse; indem sie mit größter Verdichtung um den Schwerpunkt begann. Je mehr sich der Kern vergrößerte, desto mehr nahm zugleich die Verdichtung und Glut der neu zugefügten Schichten ab; also konnte er sich nur so lange vergrößern, bis die Ausstrahlung mit der zum Schmelzen nötigen Erhitzung ins Gleichgewicht kam; und indem die Ausstrahlung des ganzen Systems fortging, indes die Erhitzung durch die Verdichtung nach Außen hin immer mehr abnahm, begann die Erstarrung. Aber der Zeitpunkt der beginnenden Erstarrung konnte erheblich eher eingetreten sein, als schon alle der Verdichtung zur festen Masse fähige Materie aus den vom Zentrum entfernten Regionen des Systems sich auf den Kern niedergeschlagen hatte; und so meine ich, daß, während die Dicke der festen Kruste von Außen nach Innen wuchs, nicht nur tropfbares Wasser sondern auch, und zwar wohl noch früher als dieses, feste Substanzen, aber nicht in geschmolzenem sondern lockerem Aggregatzustande sich nach Außen auf die Erdkruste ablagerten, und wegen ihrer Lockerheit nicht nur den Fluten des Wassers leichtes Spiel machten, sie hier und da abzuschwemmen und wieder aufzuschwemmen, sondern auch den Pflanzen einen zur Einwurzelung vorbereiteten Boden gewährten; dies die neptunischen oder sedimentären Schichten.

Eine gewisse Erleichterung, sich zur vorigen Auffassung zu bequemen, kann man vielleicht darin finden, daß sogar noch heute feste kosmische Masse aus den himmlischen Räumen, freilich in verhältnismäßig seltenen Bruchstücken, den Sternschnuppen und Feuerkugeln nämlich, auf die Erde herabregnet und die feste Masse derselben kontinuierlich vermehrt. In einem Referate über den jetzigen Stand der Sternschnuppen- und Kometenlehre (Europa 1873. Nr. 9) lese ich: "Man hat berechnet, daß von solchen Meteoren (Sternschnuppen und Feuerkugeln), welche dem unbewaffneten Auge in einer hellen Nacht ohne Mondschein sichtbar werden, jährlich nicht weniger als 7½ Millionen in unsern Luftkreis eintreten, und daß mit Hinzurechnung derjenigen, welche durch das Fernrohr wahrnehmbar werden, die Summe auf 400 Millionen steigt.... Die hunderte von Millionen, die in unsrem Luftkreise verbrennen, vermehren das Gewicht der Erde durch ihre Asche in 3 Jahren um 1000 Tonnen."

Nun sind allerdings die Meteore dieser Art dem irdischen System an sich fremdartige Massen, welchen dies System bloß bei seinem Gange durch den Weltraum begegnet und welche wegen der Schnelligkeit der Bewegung durch die Luft in Glut geraten und zum Teil verdampfen, indes es sich vorhin um einen langsamen Niedergchlag von fester, unserm System selbst angehöriger, Materie handelte; also findet in diesen Beziehungen keine reine Vergleichbarkeit statt; indes läßt sich denken, daß, wenn die Erde noch heute so viele feste Materie auf ihrer Bahn aufzusammeln findet, auch an ihrem Umfange selbst durch lange Zeiten ihrer Bildung hindurch Stoff dazu vorhanden und allmälig niedergeschlagen worden sein kann.

2) Hergebrachterweise stellt man sich vor; daß, als die Oberfläche der festen Erdkruste kalt genug geworden war, um tropfbares Wasser auf sich zu dulden, und in Folge dessen sich Wasser darauf niederschlug, die ganze Erde sich in Zusammenhang mit einem Meere umgab, aus dem erst später Land durch hier und da erfolgende partielle Hebungen emporstieg. Inzwischen sehe ich keinen Grund, warum solche partielle Hebungen der festen Erdkruste nicht schon erfolgt sein sollten, während sie noch zu heiß war, um tropfbares Wasser auf sich zu dulden, da unstreitig unregelmäßig hie und da auf die Kruste wirkende hebende, sie wohl selbst brechende und aufrichtende, Kräfte um so leichter angenommen werden dürfen, je mehr man in die Urzeit zurückgeht, und die Hebung und Zerbrechung selbst um so leichter sein mußte, je dünner die feste Erdkruste noch war; hiernach aber konnten von vorn herein aus dem sich niederschlagenden Meer Höhen herausragen und würde wenigstens von hier aus keine Schwierigkeit bestehen, die ersten Landgeschöpfe mit den ersten Seegeschöpfen zugleich gebildet zu denken. Wenn aber doch in den ältesten geologischen Schichten nur Reste von Seegeschöpfen gefunden werden, so ist dies kein Gegengrund gegen eine solche gleichzeitige Bildung, da anerkanntermaßen überhaupt ein größeres Hindernis für die Erhaltung der frühesten Landgeschöpfe als Seegeschöpfe bestanden hat. Indem nämlich Hebungen und Senkungen des Bodens früher wie noch heute und unstreitig früher noch viel mehr als heute wechselten, wurden die Reste der Landgeschöpfe bei der Senkung des Bodens unter das Meer zertrümmert und abgespült, indes die Reste der Seegeschöpfe sich bei Hebung des Bodens in den während der Senkung allmälig abgelagerten Sedimentschichten erhalten konnten. Bekanntlich erklärt man hieraus, daß in zwei über einander liegenden geologischen Schichten Reste von sehr verschiedenartigen Organismen vorkommen können, indem zwischen die Ablagerung dieser Schichten unter dem Meere eine Zeit der Hebung an dieser Stelle fiel, woraus sich keine organischen Reste erhalten haben.

3) Um in einem Gebiete, wohin der sichre Schluß nicht reicht, der Phantasie einigen Spielraum zu gönnen, so stelle ich mir unter Voraussetzung der ersten der vorigen Hypothesen vor, daß der feste Stoff sich von vorn herein auf die feste Erdkruste nicht als trockene rein unorganische Masse, sondern in Form eines mit organischer Substanz und organischer Bewegung durchsetzten dichten Schleimes (um diesen, der Anschaulichkeit dienenden, kurzen Ausdruck zu gebrauchen) niederschlug, in dessen erst abgesetzten Schichten der organische Stoff noch durch die Hitze der Erdkruste verbrannte, indes er in den später niedergeschlagenen Schichten bestandfähig blieb. Diese ganze dichte Schleimmasse hing von vorn herein zusammen. Durch die ersten lebendigen Zusammenziehungen derselben aber wurde die unorganische Masse ausgeschieden, und indem die Zusammenziehungen nach lokaler Verschiedenheit der Innern Konstitution der Masse ungleichförmig erfolgten und lokal verschiedene äußere Trennungsbedingungen hinzutraten, spaltete und differenzierte sich die ganze organische Masse in größere und kleinere Geschöpfe, die sich zum Teil wohl noch weiter spalteten und differenzierten, und als Schaaltiere, Korallen, Pflanzen oder Voreltern solcher teils enger teils weniger eng mit der ausgeschiedenen unorganischen Materie verwachsen blieben und nach dem Prinzip bezugsweiser Differenzierung ergänzende Existenzbedingungen bereit fanden, ein jedes Geschöpf insbesondre mit einem besondern Teile des unorganischen Reiches.

Auch das Urmeer denke ich mir von vorn herein im Zusammenhange mit organischem Stoffe nur lockrer und loser, schwamm- oder netzartig, und das Luftmeer noch lockrer von einem zusammenhängenden organischen Bläschenschaum, durchwoben, hieraus das Wasser und die Luft wie vorhin das Erdreich durch die Zusammenziehung der organischen Materie selbst unter Zerreißen des Zusammenhanges derselben ausgeschieden, wonach von vorn herein kleinere und größere Geschöpfe insularisch im Meer schwimmen, wolkenartig in der Luft schweben und sich noch weiter spalten und differenzieren mochten, wobei schon zeitig, wenn nicht von Anfang herein, ein Infusorienstaub abgespaltet wurde.

Unter einer noch einheitlichem Gestalt stellt sich der Entwicklungsprozess der organischen Welt dar, wenn man sich ohne Rückgang auf eine vorgängige Trennung in drei Reiche vorstellt, daß es dasselbe einheitliche Geschöpf war, welches eine feste Schale und einen festen Boden nach unten ausschwitzte, das tropfbare Meer darüber aussonderte, und die Luft darüber ausatmete, und zuerst ein durch alle drei Reiche in organischem Zusammenhange durchgewachsenes Geschöpf darstellte, welches sich erst später teilte und differenzierte.

Freilich, in den paläontologischen Schichten findet man nichts von solchen Geschichten aufgeschrieben; aber reichen ihre nur in vereinzelten Buchstaben geschriebenen Schriftzüge überhaupt bis in den Anfang der Geschichte? Freilich nimmt man an, daß die Landtiere sich erst aus den Wassertieren und die Lufttiere am spätesten von allen entwickelten; aber ist man an diese Annahme durch die paläontologischen Tatsachen gebunden? Wohl, wenn sich die vorigen Phantasien, wofür ich sie nur gebe, nicht mit der Paläontologie vertragen sollten, worüber zu urteilen den gründlichem Kennern zusteht, so kostet es nichts, sie aufzugeben, und man mag dann den Anhalt für die Vorstellung, wie der Übergang vom kosmorganischen zum molekular – organischen Zustande geschehen sei, in andern Phantasien oder triftigeren Vorstellungen suchen, oder die Frage nach dem Genaueren dahinstellen. Nur um den Versuch eines solchen Anhaltes aber war es hier zu tun.


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