Gustav Theodor Fechner
Einige Ideen zur Schöpfungs- und Entwicklungsgeschichte der Organismen
Gustav Theodor Fechner

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VII. Prinzip der abnehmenden Veränderlichkeit.

Im Ganzen herrscht jetzt sowohl in Betreff der Entwicklung der ganzen Erde als der organischen Geschöpfe auf ihr insbesondere die Ansicht vor, daß dieselben Kräfte, welche in dieser Beziehung noch heute tätig sind, von jeher tätig waren und umgekehrt. Indes abgesehen davon; daß man, nachdem die kosmorganischen Bewegungen ihre Wirkung in Bildung organischer und unorganischer Moleküle erschöpft haben, nichts mehr auf sie betreffs neuer Bildung derselben rechnen kann, hat man auch den molekular – organischen Kräften keineswegs mehr dieselbe Wirksamkeit wie früher zur Hervorrufung neuer organischer Bildungen beizulegen, nachdem sie nach dem Prinzip der Tendenz zur Stabilität schon zu approximativ stabeln Zuständen in dieser Hinsicht geführt haben. Allerdings können diese Zustände nur insofern als Endzustände gelten, als zugleich die der Außenwelt es sind, mit Bezug zu welchen die approximative Stabilität der organischen Zustände besteht; aber gleichviel, ob in dieser Hinsicht das Ziel erreicht ist, so ist doch seit den Urzuständen der Erde eine erhebliche Annäherung daran erfolgt, und können wir Veränderungen von einer Größe und Art, wie sie früher in der organischen und unorganischen Welt leicht und möglich waren, wo das Ziel noch ferner lag, jetzt nicht mehr eben so leicht und möglich finden.

Also waren in der organischen Welt wie in der unorganischen unstreitig alle Verhältnisse überhaupt von Anfange herein labil, beweglich, und statt daß sich dieselben organischen Formen immer von Generation zu Generation wiederholten, mochten sie sich erst stark von einer Generation zur andern, dann von einer Epoche zur andern immer in Zusammenhang mit den erst starken, dann allmäligen Änderungen der unorganischen Außenwelt ändern, bis mit deren sich fester stellender Gliederung und Entwickelung fester meteorologischer Kreisläufe auch die Gliederung und Wiederholung der Glieder der organischen Geschöpfe eine festere Gestalt gewann.

Zwar kann man gegen das hiermit aufgestellte Prinzip einer mit der Zeit fortschreitenden Abnahme der Veränderlichkeit der Organismen einen Einwand aus geologischen Tatsachen ziehen, der jedoch keineswegs durchschlägt. Die sedimentären Schichten, welche man nach dem Charakter der darin enthaltenen organischen Reste unterscheidet, sind im Allgemeinen um so dicker, je älter sie sind, und nimmt man die Zeit, welche zu ihrer Ablagerung diente, ihrer Dicke proportional, so würde derselbe Charakter der Organisation sich durch um so längere Zeit erhalten haben, je weiter man in der Zeit zurückgeht. Aber jene Annahme hat selbst nichts für sich. Vielmehr waren unstreitig die verwitternden, ab- und aufschwemmenden Einflüsse um so mächtiger und gab die Erdkruste bei noch größerer Wärme diesen Einflüssen um so leichter nach, je weiter man in der Zeit zurückgeht, so daß selbst abgesehen von der im 10. Abschnitt aufzustellenden geologischen Hypothese, welche eben dahin zielt, früherhin Schichten von größerer Dicke als jetzt in gegebener Zeit abgelagert werden konnten.

Auch scheint mir eine größere Variabilität der organischen Bildungen in früherer Zeit als jetzt insofern ein fast wesentliches Ingredienz der Deszendenzansicht; als man nach. dieser Ansicht den Entwicklungsgang des einzelnen organischen Geschöpfes als das ins Kurze gezogene Bild des Entwicklungsganges der ganzen organischen Welt oder als ein Zurückkommen Seitens des Individuums auf diesen Entwicklungsgang betrachtet. Auch der Embryo aber zeigt verhältnismäßig um so raschere und größere Veränderungen, je näher er seinem Ursprunge ist. Und kann man schon nicht schlechthin leugnen, weil die Möglichkeit der Berechnung fehlt, daß die gewaltigen Veränderungen, welche von den Organismen im Laufe der Entwickelung des ganzen Reiches durchschritten sind, nicht auch ohne Zuziehung einer früher stattgehabten größeren Variabilität durch eine Zeitlänge von Milliarden von Jahren möglich wurden und nur jetzt nicht mehr möglich scheinen, weil dazu neue Milliarden von Jahren gehören würden; so wird man es immerhin als einen Vorteil ansehen können, wenn man mit geringeren Zeitkosten und auf leichteren Vorstellungswegen zu demselben Resultate gelangt.

Wenn man von einer Unveränderlichkeit der Naturkräfte spricht und sich deshalb scheut, für die Vorgänge der Jetztzeit andere Kräfte in Anspruch zu nehmen, als für die der Vorzeit, so hat man freilich Recht; aber was würde man sagen, wenn Jemand nach dem Prinzip der Unveränderlichkeit der Kräfte annehmen wollte, daß ein Stein, der am Ende seiner Fallzeit 100 Fuß in der Sekunde durchlaufen ist, auch in der ersten Sekunde eben so viel durchlaufen habe. Vielmehr liegt im Gesetze des Falles selbst, daß er Anfangs weniger durchlaufen hat. Und so sollte man jedenfalls die Möglichkeit, daß im Gesetze organischer Entwickelung umgekehrt eine allmälige Verlangsamung dieser Entwickelung liege, im Auge behalten und, da man sie nicht nach der Beobachtung des ganzen organischen Reiches entscheiden kann, nach der Beobachtung seiner Glieder mit Rücksicht auf das Prinzip der Tendenz zur Stabilität mindestens nach Wahrscheinlichkeit entschieden halten.

In Abhängigkeit vom Vorigen steht eine Hypothese von sehr allgemeiner Tragweite, die in der Tat ohne die Annahme, daß die Organisation in früheren Zeiten variabler gewesen als jetzt, keinen Halt haben würde, und die es genügen mag an einem speziellen Beispiele zu erläutern.

Der Hahn hat Sporen an den Füßen, eine Federmähne, einen hohen roten Kamm. Man erklärt die beiden ersten Einrichtungen nach dem Prinzip des Kampfes um das Dasein dadurch, daß Hähne, an denen dergleichen sich zufällig ausbildete, durch die Sporen ihren Gegnern im Kampfe überlegen und durch die Mähne besser gegen deren Bisse geschützt wurden; also den Platz auf dem Felde des Kampfes behielten. Aber unstreitig hätte man lange auf das Eintreten solcher Zufälligkeiten warten müssen, und wenn man bedenkt, daß bei allen andern Tieren ähnliche Zufälligkeiten angenommen werden müßten, um das Zustandekommen ihrer Zweckeinrichtungen zu erklären, so wird der Vorstellung schwindeln. Ich denke mir vielmehr, als die Organisation noch leichter veränderlich war, vermochte das psychische Streben, dem Gegner im Kampfe tüchtig zuzusetzen, sich vor seinen Angriffen zu schützen, und der Zorn gegen ihn, die noch heute den Sporen in Tätigkeit setzen, die Federmähnen sträuben und den Kamm schwellen machen, diese Teile durch demgemäße Abänderung, der Bildungsprozesse wenn nicht an den fertigen Hähnen hervorzutreiben, aber die Anlage dazu den Keimen und hiermit den Nachkommen einzupflanzen, wobei ich natürlich die psychischen Bestrebungen und Zustände nur als die inneren Erscheinungen der physisch organischen ansehe, wovon jene Umbildungen abhingen, das ganze Spiel der psychischen Antriebe mit ihrer physischen Unterlage aber durch das allgemeine Prinzip der Tendenz zu stabeln Zuständen verknüpft halte, ohne eine speziellere Erklärung zu versuchen. Jetzt freilich vermöchte die stärkste Erbosung eines Hahnes keinen neuen Sporen und Kamm hervorzutreiben, weil sie eben schon hervorgetrieben sind, und die ganze Organisation auf einen approximativ stabeln Zustand in sich und in Verhältnis zur Außenwelt gelangt ist; obwohl wahrscheinlich doch eine Verstärkung des Sporen und Kammes im Läufe der Generation böser Hähne noch dadurch möglich ist.


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